28.6.2005   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 157/150


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Beziehungen zwischen den Generationen“

(2005/C 157/28)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 29. Januar 2004 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Stellungnahme zum Thema „Beziehungen zwischen den Generationen“ auszuarbeiten.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 25. November 2004 an. Berichterstatter war Herr BLOCH-LAINÉ.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss verabschiedete auf seiner 413. Plenartagung am 15./16. Dezember 2004 (Sitzung vom 16. Dezember) mit 143 gegen 2 Stimmen bei 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   PRÄAMBEL

1.1

Die Gestaltung der Beziehungen zwischen den Generationen (1) ist ganz offenkundig einer der Schlüsselfaktoren für den Grad des Zusammenhalts jeder Gesellschaft — auch der unsrigen — und folglich auch für den Grad des Zusammenhalts des sich entwickelnden gesamten geopolitischen Umfelds, aus dem der VERBAND der Generationen erwächst.

1.2

Ein für die europäischen Gesellschaften typisches Phänomen ist die Überalterung der Bevölkerung. Dieses Phänomen ist für diese Gesellschaften von ausschlaggebender Bedeutung und stellt sie vor komplexe Herausforderungen, die sie richtig einschätzen und mit möglichst großer Genauigkeit und Voraussicht bewältigen müssen. Sie müssen das definieren und umsetzen, was als „die Politik der Lebensalter“ (2) bezeichnet werden kann. Gemeint sind damit keine augenblicklichen, partiellen und unzusammenhängenden Aktionen, sondern eine globale und systematische Gesamtstrategie, die darauf abzielt, langfristig den Zusammenhalt und die Solidarität der immer zahlreicheren Generationen, die in unserer Gesellschaft nebeneinander leben, zu fördern.

1.3

Nun lässt aber die Bestandsaufnahme unabhängig von den nationalen Unterschieden und Besonderheiten den Schluss zu, dass in dieser Hinsicht kaum etwas erreicht wurde. Nach Auffassung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses ist dieses Problem für die Zukunft Europas von entscheidender Bedeutung. Der Ausschuss hegt die Absicht, ihm zukünftig auf Dauer einen herausragenden Platz unter den von ihm vertretenen Anliegen sowie in seinem Arbeitsprogramm einzuräumen.

Dies rechtfertigt die vorliegende Stellungnahme und gibt ihr ihren Sinn. Ziel ist,

zunächst auf einige Feststellungen und Überlegungen zu verweisen (2) und

anschließend einige Leitlinien und Empfehlungen zu formulieren (3).

2.   FESTSTELLUNGEN UND ÜBERLEGUNGEN

2.1

Mit den nötigen Vorbehalten kann Folgendes festgestellt werden: In den letzten fünfzig Jahren haben unsere Länder und ihre Institutionen das nie gekannte Spektrum an Mitteln und Verfahren zur Prognose, das ihnen für die Gestaltung und Umsetzung der Politiken in dem Bereich des Untersuchungsgegenstands zur Verfügung stand und mit dem dessen verschiedene Aspekte und Teilbereiche am wirksamsten angegangen werden können, nicht optimal genutzt.

2.1.1

Eine solche Behauptung erfordert jedoch, dass wir uns vor drei Übertreibungen hüten:

2.1.1.1

Die eine besteht darin zu sagen, dass eine präzise Voraussage zu treffen in diesem Fall sehr einfach war. Dies ist jedoch falsch. Die Bevölkerungswissenschaft ermöglicht es zwar, mithilfe anerkannter Methoden die mittel- und langfristigen Entwicklungen vorzuzeichnen. Doch bekanntlich können auf eine solche Art und Weise erstellte Perspektiven von zufallsbedingten wirtschaftlichen, soziologischen und politischen Faktoren beeinflusst werden. So sind Geburten, Sterbefälle und Wanderungsströme zwar einer natürlichen Fluktuation unterworfen, sie werden jedoch auch von Außenfaktoren wie Wirtschaftswachstum bzw. Konjunkturschwäche, soziale Unsicherheit, Traditionen, politisches Umfeld und Ausmaß der Zuversicht der Bürger in die Zukunft beeinflusst. Darüber hinaus stellen Experten ausgehend von demographischen Daten auf Durchschnittswerten beruhende zentrale Hypothesen auf, wobei sich diese Durchschnittswerte jedoch von Experte zu Experte unterscheiden.

2.1.1.2

Zum anderen dürfen die aufgeklärten, zielstrebigen Programme und die Erfolge nicht unterschätzt werden, die im Laufe der letzten fünfzig Jahre in den Bereichen Gesundheit, Sozialschutz, Solidarität, Bildung, Ausrüstungen und Infrastruktur, Raumplanung, sozialer Dialog, Verbandsleben usw. erzielt wurden.

2.1.1.3

Eine dritte Übertreibung bestünde darin, die innovativen und viel versprechenden, prospektiven Maßnahmen zu unterschätzen, die der Rat, das Europäische Parlament und die Kommission auf zahlreichen Gebieten unternommen bzw. bei denen sie mitgewirkt haben.

2.1.2

Dennoch wurden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bestimmte aus sozialer Sicht gefährliche Folgen der Überalterung der Bevölkerung in unseren Ländern nicht ausreichend wahrgenommen und vorhergesehen. Der Ursprung dieses demographischen Phänomens liegt in der Verknüpfung zweier vorhersehbarer und sich seit langem abzeichnender Tendenzen: längere Lebenserwartung und starker Geburtenrückgang. Ungeachtet der Unterschiede bzw. Nuancen bei den Vorhersagen der Zukunftsforscher wurde die Unvermeidbarkeit dieses Phänomens nicht in Zweifel gezogen.

2.1.3

Manche Versäumnisse, Unterlassungen oder Fehler bei der vorausschauenden Berücksichtigung einer derzeitigen, zwingenden und langfristigen Realität sind jedoch eine unleugbare Tatsache: das immer häufigere Nebeneinanderleben von drei, ja sogar vier, und nicht wie bislang zwei Generationen in den EU-Mitgliedstaaten;

2.1.4

Diese mangelnde Anpassung betrifft leider zahlreiche Bereiche, darunter die folgenden:

Rentenfinanzierung: In Bezug auf mehrere EU-Mitgliedstaaten kann zumindest behauptet werden, dass Maßnahmen zur Bewältigung des Problems zu lange aufgeschoben wurden; dass es verspätet, „mit heißer Nadel gestrickt“ und unter konfliktauslösenden Bedingungen angegangen wurde, was hätte vermieden werden können;

Den Platz der gegenwärtig am stärksten vertretenen Altersgruppen in den Unternehmen und Verwaltungen und ihre jeweiligen Beiträge zu deren Funktionsweise: Zur Lösung von Fragen im Zusammenhang mit dem Personal und der Verringerung der Betriebskosten wurden in einigen Fällen Maßnahmen ergriffen, ohne in ausreichendem Maße die „Kollateralschäden“ und die schlimmen Folgen kurzfristiger Ausweichlösungen zu berücksichtigen;

Weiterbildung: Die unter den älteren Arbeitnehmern herrschende Besorgnis im Zusammenhang mit der Verlängerung der Lebensarbeitszeit wurde hier und da zu oft vernachlässigt;

Städtebau, Lebensraum und staatliche und private Infrastruktur: Bei der in diesen Bereichen vorherrschenden Planung wurden die besonderen Bedürfnisse der jüngsten und ältesten Altersgruppen sowie der Familien, unabhängig davon, ob diese intakt sind oder nicht, zu oft außer Acht gelassen;

Weitergabe des materiellen Erbes: Die rechtlichen und steuerlichen Regelungen sind in den wenigsten Fällen neu durchdacht und an die demographische Entwicklung angepasst worden;

Beziehungen zwischen dem Bildungswesen und der Arbeitswelt: In diesem Bereich haben nur wenige Länder Fortschritte zu verzeichnen, während sehr viel mehr Länder im Rückstand sind;

Wahrung, Aufwertung und gemeinsame Nutzung des Erfahrungsschatzes: Bei den technologischen Fortschritten, den Innovationen im Management und einer gewissen Huldigung des „Jugendwahns“ wurde den Risiken der Verschwendung von Wissen, Fähigkeiten und Erfahrung nicht genügend Rechnung getragen;

Die „Kulturen“: Manches Mal wurden aufkommende Kulturphänomene zu willfährig verherrlicht (3), ohne dass dabei zwischen Modeerscheinungen und Innovationen, die dauerhaften Fortschritt bringen, unterschieden wurde. Es wurde tatenlos zugesehen, wie sich Phänomene wie das Vergessen der eigenen Vergangenheit, Missachtung, Angst und Ablehnung ausbreiteten und damit zu einer Spaltung zwischen den Generationen führten.

2.1.5

Wirksamkeit der Indikatoren des Sozialstaats: Der Ausschuss begrüßt die Arbeit der Untergruppe „Indikatoren“ des Koordinierungsausschusses für Sozialschutz und insbesondere die Definition der vorgeschlagenen Indikatoren (bzw. die Präzisierung der vorherigen Definitionen). Dadurch ist es heute möglich, je nach Altersgruppe eine Reihe von Indikatoren aufzustellen (beispielsweise für das Armutsrisiko). Diese Arbeit muss unbedingt fortgesetzt werden, insbesondere um eine Palette an Indikatoren zusammenzustellen und zu konsolidieren, mit deren Hilfe die Lage der verschiedenen Altersgruppen sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht zunehmend besser bewertet werden kann.

3.   LEITLINIEN UND EMPFEHLUNGEN

3.1

Warum wurden in den letzten Jahrzehnten diese realen und wesentlichen Probleme übergangen? Dies ist ein wichtiges und umfangreiches Thema für soziologische und politische Überlegungen, und es wäre unangemessen, sich damit in der vorliegenden Stellungnahme nur oberflächlich zu befassen. Der Ausschuss ist jedenfalls fest davon überzeugt, dass er als beratende Einrichtung den Zwängen und dem Druck des Ausgleichs weniger ausgesetzt ist als die Entscheidungsträger. Die Vielschichtigkeit seiner Mitglieder, ihre freiwillige und anhaltende Zusammenarbeit, der Austausch von Erfahrungen, Wissen, Anliegen und Informationen zwischen ihnen, ihre vereinten Intuitionen und Analysen, ihre Fähigkeit, angemessene Methoden vorzuschlagen, ihre Verwurzelung in der und ihr Engagement für die so genannte „partizipative Demokratie“ sind potenzielle Trümpfe und Vorteile, die dem Ausschuss Arbeitsbereiche eröffnen, deren er sich mehr als bisher annehmen kann und muss. Dies gilt u.a. für die „Beziehungen zwischen den Generationen“.

3.1.1

Um sich mit einem solch komplexen Gebiet befassen zu können, muss mit Besonnenheit und Scharfblick vorgegangen werden:

3.1.1.1

Der Ausschuss muss in dem ihm vorgegebenen Rahmen bleiben und Zielsetzungen vermeiden, die in keinem Verhältnis zu seinen Mitteln stehen bzw. mit seinem Zuständigkeitsbereich nicht übereinstimmen.

3.1.1.2

Die vorausschauende Überlegung — auch „Voraussicht“ genannt — ist weder mit Planungsarbeit noch mit Futurologie zu verwechseln.

3.1.1.3

Die gewissenhaftesten Wissenschaftler betonen gerne, dass ihr Wissen lediglich eine „Abfolge von Versuch und Irrtum“ sei. Nun ist die Ökonomie keine exakte Wissenschaft, die Sozialwissenschaften sind es noch weniger. Somit leuchtet es ein, dass auch die sozioökonomische Prognose nicht gegen Irrtümer gefeit ist.

3.1.1.4

Für einige der zahlreichen Aspekte der Beziehungen zwischen den Generationen sind Aktionen mit wiedergutmachender Wirkung angebracht, bei einigen ist ein Kurswechsel erforderlich, während andere wiederum umfassende Forschungs- und Erfindungskapazitäten abverlangen. Sowohl die einen als auch die anderen müssen richtig abgegrenzt und auseinander gehalten werden, wobei gefährlichen oder nutzlosen Utopien in jedem Fall mit Misstrauen zu begegnen ist.

3.1.2

In Bezug auf die Methode, die der Ausschuss anzunehmen beabsichtigt, um seiner Rolle im Rahmen seiner einschlägigen Ziele gerecht zu werden, verfolgt er den Weg einer möglichst engen Zusammenarbeit mit den EU-Organen, d.h. mit dem Rat, dem Europäischen Parlament und der Kommission. Diese Entschlossenheit ergibt sich gleichzeitig aus den unter Ziffer 2.1.1.3 und Ziffer 3.1.2 dargelegten Überlegungen, aus dem Willen, sowohl den Wortlaut als auch den Geist der Rechtstexte zu respektieren und schließlich aus der einfachen Tatsache, dem „gesunden Menschenverstand“ Rechnung zu tragen.

3.1.2.1

Der Bereich der „Beziehungen zwischen den Generationen“ ist außerordentlich umfangreich. Im ersten Ansatz konnte nur eine recht allgemein gehaltene Bestandsaufnahme skizziert werden.

3.1.2.2

Der Ausschuss hat sich dafür entschieden, mit der vorliegenden ersten Stellungnahme den EU-Institutionen einige Anregungen für weitere Überlegungen vorzulegen. Wenn es die Institutionen für angebracht halten, könnten diese — unter noch festzulegenden Bedingungen, doch mit dem Wunsch nach Interdependenz — in Zusammenarbeit mit ihnen behandelt werden. Folgende Anregungen, die in keinerlei Rangordnung stehen, werden angeführt:

Umfang, Bedeutung und Grenzen der Rolle und der Verantwortung, die den Familien in der künftigen Organisation der Gesellschaft zukommen soll (den Kindern, Erwachsenen, Eltern, Großeltern);

Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt und kollektive Einrichtungen für die Kinderbetreuung;

Einsamkeit und Isolation in den europäischen Gesellschaften: ältere Menschen (4), benachteiligte Jugendliche, „Armut in der Kindheit“;

Generationenverträge und Solidarität zwischen den Generationen: Wie lassen sich unter Berücksichtigung der Zwänge und des Drucks der Gegenwart sowie der Ungeborenen, die noch nicht zu Worte kommen können, sozial und politisch gutverträgliche — d.h. der Zukunft Rechnung tragende — ausgewogene Entscheidungen treffen?

Städte- und Raumplanung und Beziehungen zwischen den Generationen: Bei den in den letzten Jahren angewandten Städteplanungs- und Wohnungsbaukonzepten wurden wichtige neue, generationenabhängige Bedürfnisse oft außer Acht gelassen. Die Probleme ergeben sich hierbei insbesondere:

aus der (positiven) Entwicklung des autonomen Wohnens älterer Personen und aus ihren Beziehungen zu jüngeren Generationen, d.h. Kindern und Jugendlichen;

aus dem notgedrungenen Zusammenleben alleinstehender Jugendlicher (Studenten, junge Arbeitnehmer) in Standardwohnungen, die nicht für solche Zwecke konzipiert sind;

aus der — trennenden und provisorischen — Unterbringung so genannter „Problemfamilien“.

Welche Rolle kann und muss der „partizipativen Demokratie“ bei der Gestaltung der Beziehungen zwischen den Generationen zukommen?

3.2

Der Ausschuss hat beschlossen, von nun an in Form genauer formulierter und auf die nähere Zukunft ausgerichteter Empfehlungen auf zwei allgemeine Aspekte aufmerksam zu machen, die ebenfalls in Zusammenarbeit mit den EU-Organen angegangen werden können, wenn diese zustimmen.

3.2.1

Lebensarbeitszeit: Dieser Aspekt veranschaulicht am deutlichsten die mangelnde Klarheit und die fehlende Weitsicht der europäischen Länder in Bezug auf die Herausforderungen, die aufgrund der sich seit langem abzeichnenden Überalterung ihrer Bevölkerungen an sie gestellt werden.

3.2.1.1

Mit der Verkürzung der beruflichen Laufbahnen geht wirtschaftliches, soziales und kulturelles Potenzial verloren. Sie hatte mit Blick auf die Arbeitsplatzteilung und die Zunahme der Beschäftigung unter Jugendlichen nicht die erhoffte Wirkung. In vielen Ländern wird sie als eine „Steuerungsgröße“ erachtet und genutzt, als eine kurzfristige Ausweichlösung.

3.2.1.2

So führten Vorurteile und starre Vorstellungen dazu, dass sowohl bei den politischen Entscheidungsträgern als auch bei den Unternehmen und in der öffentlichen Meinung die Überzeugung entstand, ältere Arbeitnehmer würden sich relativ schwer an die Entwicklung der Produktivitätstechnologie und der Managementmethoden anpassen und die Produktivitätsfortschritte bremsen.

3.2.1.3

Seit mehreren Jahren werden jedoch einschlägige Analysen, dringende Warnungen und gute Empfehlungen formuliert. Insbesondere der Weitblick, die Beständigkeit und die Qualität der von der Kommission auf diesem schwierigen Gebiet unternommenen Anstrengungen müssen unterstrichen werden. Ferner ist auf die Arbeiten der OECD, der zahlreichen Forschungseinrichtungen, der Berufsverbände und der Wirtschafts- und Sozialräte in verschiedenen Ländern hinzuweisen.

3.2.1.4

Das Spektrum der Mittel, die eingesetzt werden können, um eine Trendwende auszulösen, ist heute relativ gut bekannt. Dazu gehören eine bessere Gewährleistung der Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer mithilfe einer Optimierung der Methoden zur beruflichen Weiterbildung, die Verbesserung der Qualität der Arbeitsplätze und die Steigerung der Flexibilität der Arbeitszeiten, um eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Privatleben herzustellen; die Bildung „gemischtaltriger Arbeitsgruppen“ in Unternehmen und Verwaltungen; die Förderung des Selbstvertrauens bei älteren Arbeitnehmern; die Stärkung der Maßnahmen zum Schutz ihrer Gesundheit; die langfristige Gewährleistung einer besseren Planung der Laufbahnentwicklung; die Schaffung von Anreizen im Renten- und Steuersystem u.a.

3.2.1.5

Der Europäische Rat hat insbesondere in Lissabon und Stockholm seinen Willen erklärt, durch Anreize zur Förderung freiwilliger Entscheidungen auf eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit in Europa hinzuwirken.

3.2.1.6

Abgesehen von einigen wenigen Ländern lässt sich jedoch feststellen, dass

in den Steuer- und Sozialversicherungssystemen sowie in den Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen Aspekte und Regelungen enthalten sind, die explizit oder implizit sehr stark den Entritt in den vorzeitigen Ruhestand fördern;

die bei den Ratstagungen formulierten Ankündigungen und Absichten nicht in ausreichendem Maße in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden.

3.2.1.7

Es herrscht Einigkeit darüber, dass eine Trendumkehr und eine Veränderung der Gepflogenheiten nicht durch das Wunder einer raschen Umstellung eintreten kann.

Aufgrund der Kraft der Gewohnheiten, der vielfältigen Arten, Größen und „Kulturen“ der Unternehmen und Verwaltungen, der normalen und legitimen Probleme beim sozialen Dialog über dieses Thema kann nicht einfach eine Abschaffung der Errungenschaften im sozialen Bereich propagiert werden, weil der Misserfolg damit programmiert wäre. Stattdessen müssen umfassende, relativ komplexe Strategien umgesetzt werden, um die gewünschte Entwicklung zu erreichen. Der Wandel kann nur über einen relativ langen Zeitraum hinweg vollzogen werden. Dies ist ein weiterer Grund, um keine Zeit zu verlieren und umgehend mit der Konzipierung und Umsetzung dieser Strategien zu beginnen.

3.2.2

Der Ausschuss bringt nachdrücklich den Wunsch zum Ausdruck, dass die politischen Entscheidungsträger der Union — das heißt Parlament und Rat — in den Mitgliedstaaten, in denen sie gewählt bzw. beauftragt wurden, deutlicher, genauer und aktiver auf eine bessere Übereinstimmung zwischen Worten und Taten hinwirken. Im gemeinsamen Interesse einer Europäischen Union, die ihre Absicht erklärt hat, zum erstrangigen Wirtschaftsraum auf globaler Ebene zu werden, sollten die politischen Entscheidungsträger folglich

in den geltenden Rechts- bzw. Vertragssystemen ihres jeweiligen Landes die Regelungen ermitteln, die explizit oder implizit die freiwillige Verlängerung der Lebensarbeitszeit behindern;

die guten Empfehlungen der Kommission wirksamer und stärker als bisher weitergeben und diese Richtlinien schneller und entschlossener umsetzen;

Informations-, Anregungs- und Überzeugungskampagnen bei den wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungsträgern und Partnern durchführen und für eine bessere Kommunikation mit den Medien ihres Landes Sorge tragen.

3.2.3

Die Alterstrukturen in Europa ins Gleichgewicht bringen: Es sei nur auf die äußerst alarmierenden Aussichten hingewiesen, die in zahlreichen Studien über die Auswirkungen dargestellt werden, die die niedrigen Fruchtbarkeits- und Geburtenraten auf die Bevölkerungsstruktur der Europäischen Union haben werden. Eine unzureichende Generationenerneuerung, die durch die Einwanderung mit Sicherheit nicht kompensiert wird, kann nur zu einer Schwächung der Stellung Europas in der Welt führen. Innerhalb Europas kann sie wirtschaftliche und finanzielle Probleme verursachen und zu Brüchen und unerwünschten Konflikten zwischen den Generationen führen.

3.2.3.1

Wird die Wiederherstellung einer ausgewogenen Altersstruktur in den europäischen Ländern als langfristiges Ziel erachtet, so folgt daraus, dass die Europäische Union in ihren Mitgliedstaaten mehr geburtenfördernde Maßnahmen treffen und sich zu diesem Zweck verstärkt mit den Familienpolitiken in ihren Mitgliedstaaten auseinander setzen muss. Ein mangelndes Interesse für die Familienpolitik kann der Union nicht vorgeworfen werden: Der Ministerrat hat in diesem Bereich mehrmals Vorschläge unterbreitet. Doch die auf der Ebene der Union dargelegten Leitlinien sind nach wie vor lückenhaft und enthalten einige gerechtfertigte und interessante, aber nur bruchstückhafte Vorgaben (5).

3.2.3.2

Sich verstärkt und besser in diesem Bereich zu engagieren, wäre gewiss nicht einfach: Die Politiken der einzelnen Mitgliedstaaten sind überaus heterogen und geburtenfördernde politische Maßnahmen sind kostenträchtig. Darüber hinaus herrscht zwischen Fachleuten und Entscheidungsträgern große Uneinigkeit über die tatsächliche Wirkung und den Grad der spezifischen Wirksamkeit dieser politischen Maßnahmen. Nach Auffassung des Ausschusses würden solche Überlegungen jedoch trotz ihrer Tragweite eine andauernde relative Zurückhaltung der EU-Organe nicht rechtfertigen.

3.2.3.3

Der Ausschuss hält es für wünschenswert, dass die Organe der EU auf diesem Gebiet eine Strategie entwickeln, die diesen Namen verdient, wobei die zahlreichen Aspekte dieses Themas zu berücksichtigen sind. Ferner sollten die EU-Organe die Mitgliedstaaten dazu anregen, im Rahmen ihrer Familienpolitiken langfristig auf die Wiederherstellung einer ausgewogenen Altersstruktur in den Mitgliedstaaten der Union hinzuwirken.

3.2.3.4

Der Ausschuss ist bereit und es ist sein Wunsch, aktiv und im Rahmen seiner Möglichkeiten an den Arbeiten mitzuwirken, die eine solche Vorgehensweise — sollte sie gewählt werden — erfordert.

4.   FAZIT

4.1

Die Gesellschaften Europas und die europäische Gesellschaft, die erstere gemeinsam aufbauen wollen, sind und werden stets mit Risiken sozialer, politischer, ethnischer und kultureller Brüche konfrontiert werden. Es muss alles daran gesetzt werden, dass zu diesen Risiken nicht auch noch die Gefahr einer Spaltung zwischen den Generationen hinzukommt.

4.2

Rahmen und Zeithorizont der Probleme in den Beziehungen zwischen den Generationen sind wesensgemäß langfristiger Natur. Dasselbe gilt folglich auch für die Suche nach ihren Lösungen.

4.3

Wegen der Vielzahl und der Komplexität der sektorbezogenen Komponenten, die zu berücksichtigen sind, muss ein vorausschauender, umfassender und systemischer Ansatz konzipiert und entwickelt werden. Denn schließlich existieren die einzelnen Aspekte der Wirklichkeit in diesem, wie in jedem anderen Bereich nicht nebeneinander und lassen sich nicht voneinander trennen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass eine gute Gestaltung der Beziehungen zwischen den Generationen äußerst positive ökonomische Auswirkungen hätte.

4.4

Obgleich nichts überstürzt werden darf und die Regeln des Subsidiaritätsprinzips in jedem Falle eingehalten werden müssen, ist es dennoch wünschenswert, dass die Europäische Union wie auch ihre Mitgliedstaaten weder eine abwartende noch eine minimalistische Haltung einnehmen.

4.5

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss misst diesen Überlegungen, denen offenkundig zunehmende Aufmerksamkeit geschenkt wird, die aber bislang noch nicht den ihnen gebührenden Platz in den politischen Anliegen der Mitgliedstaaten und der Union eingenommen haben, große Bedeutung bei.

4.6

Diese Stellungnahme ist eine Antwort auf die Herausforderung, zu einer größeren Abstimmung bezüglich dieses entscheidenden Themas beizutragen, das eine koordinierte und langfristige Mitwirkung verschiedener Akteure voraussetzt. Kurzsichtige Interessen dürfen dabei nicht im Vordergrund stehen. Es erfordert die Kontinuität einer konstruktiven Absicht. Es geht um die schrittweise Ausarbeitung eines neuen Paktes zwischen den Generationen in der Europäischen Union  (6) .

4.7

Diese Stellungnahme ist alles andere als ein abgeschlossenes Dokument. Es wird nicht der Anspruch erhoben, Patentlösungen vorzulegen. Vielmehr wird vorgeschlagen, die Arbeiten aufzunehmen, sie langfristig anzulegen und sich für einen relativ langen Weg zu rüsten.

4.8

Der Ausschuss spricht sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt dafür aus, innerhalb einer realistischen Frist ein öffentliches Diskussionsforum zu diesem weitgefassten Thema zu veranstalten. An einer solchen Konferenz sollten unter anderem politische Entscheidungsträger, Vertreter der europäischen Institutionen, Akteure der organisierten Zivilgesellschaft und Sachverständige teilnehmen. Der Ausschuss erbietet sich, die Einleitung und Organisation einer solchen Initiative zu übernehmen.

4.9

Das Engagement des Ausschusses auf diesem weiten Gebiet kann und muss auf der gesamten Wegstrecke stets in enger Zusammenarbeit mit den EU-Institutionen erfolgen.

Brüssel, den 16. Dezember 2004

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Die „Beziehungen“ umfassen hier verschiedene Aspekte (wirtschaftlich, gesellschaftlich, kulturell, politisch u.a.).

(2)  Der Ausdruck findet sich in einem Bericht (Berichterstatter: Jean Billet) des französischen Wirtschafts- und Sozialrats aus dem Jahr 2004.

(3)  Bisweilen nicht ohne kommerzielle Hintergedanken.

(4)  Vgl. insbesondere Stellungnahme des EWSA zum Thema „Hin zum 7. Rahmenprogramm für Forschung: Forschungsbedarf im Rahmen des demographischen Wandels - Lebensqualität im Alter und Technologiebedarf“ - Berichterstatterin: Frau HEINISCH - CESE 1206/2004 vom 15. September 2004.

(5)  Problemfamilien; Kinderbetreuung; Mutterschafts- bzw. Elternurlaub u.a.

(6)  Es sei in diesem Zusammenhang auf den Nutzen des Berichts der Hochrangigen Gruppe für die Zukunft der Sozialpolitik in einer erweiterten Europäischen Union vom Mai 2004 hingewiesen.