30.4.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 117/58


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Handelspolitische Aspekte des industriellen Wandels, insbesondere im Stahlsektor“

(2004/C 117/15)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 17. Juli 2003 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Handelspolitische Aspekte des industriellen Wandels, insbesondere im Stahlsektor“.

Die Beratende Kommission für den industriellen Wandel wurde mit der Vorbereitung der diesbezüglichen Arbeiten des Ausschusses beauftragt.

Der Ausschuss beschloss auf seiner 408. Plenartagung am 28./29. April 2004 (Sitzung vom 29. April), Herrn Lagerholm zum Hauptberichterstatter zu bestellen, und verabschiedete mit 46 gegen 16 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung, Ziel und Umfang der Stellungnahme; Begriffsbestimmungen

1.1

Der Stahlsektor, sein Prozess des beständigen Wandels und die Auswirkungen der Handelspolitik auf diesen Prozess stellen ein Fallbeispiel dar, das sich für andere Industriesektoren als äußerst wertvoll erweist.

1.2

Für die Zwecke dieser Initiativstellungnahme fallen unter den Begriff „Stahlsektor“ alle Industrietätigkeiten im Zusammenhang mit der Stahlherstellung und dem Stahlvertrieb, unter Berücksichtigung ihrer wichtigen Funktion für die europäischen Stahl verbrauchenden Branchen. Der Umfang dieser Stellungnahme und die darin enthaltenen Empfehlungen gehen somit weit über die Stahl erzeugende Industrie hinaus.

1.3

In diesem Dokument bedeutet „industrieller Wandel“ den normalen und fortwährenden Prozess eines Industriesektors, proaktiv auf die dynamischen Bewegungen innerhalb seines Wirtschaftsumfelds zu reagieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben und Wachstumschancen zu schaffen. Änderungen in der Struktur des Sektors sind weniger als ein Ziel dieses Prozesses denn als ein Ergebnis der Reaktion auf diese Bewegungen zu verstehen. „Umstrukturierung“ bezieht sich auf eine besondere Art des industriellen Wandels und ist in der Regel ein unvermittelt einsetzender Prozess einer (häufig erzwungenen) Anpassung an die Bedingungen des Wirtschaftsumfelds, mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit wiederzuerlangen, was Unterbrechungen der Geschäftstätigkeit zur Folge hat. Vorrangiges Ziel der Umstrukturierung ist eine grundlegende Änderung der Strukturen dieses Sektors.

1.4

Es liegt auf der Hand, dass der industrielle Wandel großenteils von strukturellen Änderungen im Wirtschaftsumfeld insgesamt getrieben wird, insbesondere dem dynamischen Wandel der Markterfordernisse. Auch interne Politiken (auf nationaler und/oder EU-Ebene) in den unterschiedlichsten Bereichen — d.h. Recht, Währung, Umwelt, Energie und nicht zuletzt Soziales — haben erhebliche, bisweilen gar entscheidende Auswirkungen auf den industriellen Wandel. Dies lässt sich natürlich sehr deutlich am industriellen Wandel im Stahlsektor der EU in den letzten 20 Jahren beobachten. Diese Stellungnahme befasst sich jedoch lediglich mit der Handelspolitik der EU, die definitionsgemäß ein externes Element ist und den politischen Rahmen für Handelsströme zwischen der EU und anderen Ländern oder Wirtschaftsregionen der Welt absteckt.

1.5

Folglich muss berücksichtigt werden, dass mit dieser Stellungnahme nicht beabsichtigt wird, den industriellen Wandel im Stahlsektor der EU einschließlich aller vorstehend genannten (internen) Politiken, sondern lediglich die wechselseitige Abhängigkeit zwischen dem Stahlsektor und der (externen) Handelspolitik zu beschreiben.

1.6

In diesem Zusammenhang muss auch verstanden werden, dass der Erweiterungsprozess der EU längst kein handelspolitisches Thema für die EU mehr ist, was er in den frühen Phasen der Beitrittsverhandlungen mit den damaligen Beitrittskandidaten noch weit gehend war. Im Mai dieses Jahres wird ein erweiterter Binnenmarkt entstehen, und das bedeutet, dass alle künftigen EU-Politiken, die der Unterstützung des industriellen Wandels — insbesondere der Umstrukturierung des Stahlsektors in den Beitrittsländern, die immer noch notwendig ist — dienen sollen, Bestandteil der EU-internen Politik sein müssen.

2.   Bedeutung der Handelspolitik im Stahlsektor

2.1

Unternehmen konkurrieren in einer zunehmend global ausgerichteten Wirtschaft miteinander, und die Gegebenheiten, die sie auf den Weltmärkten vorfinden, sind entscheidende Determinanten ihrer Wettbewerbsfähigkeit und ihrer Wachstumschancen. Diese Gegebenheiten werden in hohem Maße durch die von den Politikgestaltern geschaffenen Rahmenbedingungen beeinflusst, d.h. von Wettbewerbs- und Binnenmarktvorschriften, internationalen Handelsregelungen und spezifischen Regeln und Abkommen über Handelsprozeduren. Die Rahmenbedingungen sind das Ergebnis von Handelspolitiken sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene. Idealerweise sollten sie einen andauernden Prozess des industriellen Wandels, der die Dynamik der globalen Wirtschaft widerspiegelt, anregen und erleichtern. Auf keinen Fall aber sollten sie den industriellen Wandel negativ beeinflussen und den freien und fairen internationalen Wettbewerb behindern. So sollte das vorrangige Ziel der Handelspolitik vielmehr darin bestehen, die Offenheit des Welthandelssystems zu sichern und das „Fairplay“ bei gleichen Wettbewerbsbedingungen für die Unternehmen zu stärken.

2.2

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Handelspolitik einen äußerst wichtigen Aspekt des politischen Rahmens der Europäischen Union darstellt, da die EU eine exportorientierte Volkswirtschaft ist, die beträchtliche Handelsbilanzüberschüsse aufweist. Somit ist die Handelspolitik ein wichtiger Antriebsfaktor für das Wirtschaftswachstum. Das Vorhandensein eines Kommissionsmitglieds und der GD Handel innerhalb der Europäischen Kommission spiegelt die vitalen Interessen der Gemeinschaft im Zusammenhang mit der Verwaltung der Handelspolitik umfassend wider. Die Lissabon-Strategie zur Unterstützung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft ist sicherlich zunächst auf die Verstärkung der internen Parameter bedacht; der Erfolg derartiger Bemühungen wird sich größtenteils jedoch nur in globalen Märkten zeigen, die natürlich ausschließlich durch eine einschlägige und ebenso erfolgreiche handelspolitische Entwicklung erreicht werden können.

2.3

Im Stahlsektor ist die Handelspolitik von sehr großer Bedeutung. Neben Öl ist Stahl das am häufigsten länderübergreifend gehandelte Industrieerzeugnis. Heute wird ungefähr ein Drittel der Gesamtstahlproduktion weltweit grenzübergreifend gehandelt: Das ist nahezu doppelt so viel wie vor 30 Jahren. Die für den internationalen Stahlhandel geltenden Bedingungen zählen deshalb zu den wichtigsten Faktoren der Wettbewerbsfähigkeit dieses Sektors. Ähnliches kann in Bezug auf die nahezu unbegrenzte Vielfalt der Stahl verarbeitenden Branchen und ihre Erzeugnisse gesagt werden, d.h. die Automobil-, Schiffsbau- und Maschinenbauindustrie. Die Handelspolitik hat unmittelbaren Einfluss darauf, wie der Stahlsektor mit seinen unterschiedlichen Segmenten auf seinen Binnenmärkten auf Wettbewerb reagieren kann und wie er Zugang zu den Märkten von Drittländern erlangt. Die Handelspolitik ist von maßgeblicher Bedeutung für die Gestaltung des auf Regeln basierenden Systems, in dessen Rahmen der Weltstahlhandel tätig ist, und des Ausmaßes, in dem diese auf Strukturveränderungen seiner wirtschaftlichen Rahmenbedingungen reagieren kann.

2.4

Die Bedeutung des internationalen Stahlhandels lässt sich an der Tatsache ablesen, dass über 40 % aller derzeitigen WTO-Konflikte stahlbezogen sind. Diese Zahl spiegelt die beständigen Herausforderungen des Sektors in Bezug auf ineffiziente Kapazitäten wider, die häufig durch staatliche Beihilfen gefördert werden und die Handelsströme verzerren, und zeigt an, dass die Anwendung der bestehenden Abkommen über Regeln für den internationalen Handel durch die Mitglieder der WTO grundsätzliche Mängel aufweist.

2.5

Schließlich darf nicht vergessen werden, dass der Stahlsektor der EU ein wesentliches Element der europäischen Wirtschaft darstellt und in erheblichem Maße zur wirtschaftlichen Entwicklung beiträgt. Stahl ist das grundlegende und nach wie vor wichtigste Industriegut mit einem geschätzten Gesamtmarktvolumen von über 350 Mrd. EUR — mehr als das Zehnfache des Marktvolumens jedes anderen Industrieguts — und für die Infrastrukturentwicklung sowie für die meisten der verarbeitenden Gewerbe von maßgeblicher Bedeutung. Dank einer hocheffizienten Stahlproduktion ist die EU in der Lage, allen Markterfordernissen, die die bedeutenden Stahl verarbeitenden Branchen entwickeln, gerecht zu werden; die Produktion wird großenteils durch ebenso effiziente Stahlvertriebssysteme unterstützt, die ungefähr zwei Drittel des Marktangebots regeln und eine ständig wachsende Palette an Dienstleistungen für die Stahlverarbeitung erbringen. Ohne ihre eigene, stark wettbewerbsorientierte Eigenstahlproduktion könnte sich die Gemeinschaft nicht auf ihre eigenen Ressourcen und ihr eigenes Know-how stützen, um die Wettbewerbsfähigkeit der Stahl verarbeitenden Branchen der EU weiter an die Weltspitze zu entwickeln. Die Aufrechterhaltung eines florierenden Stahlsektors sollte für die EU daher ein wichtiges politisches Anliegen sein.

3.   Handelspolitische Aspekte des industriellen Wandels in der Stahlproduktion der EU

3.1

Die Stahlproduktion in der EU-15 hat seit Anfang der 1980er Jahre umfangreiche Umstrukturierungsmaßnahmen durchgeführt: eine Verringerung der markteffizienten Stahlproduktionskapazität um 50 Mio. Tonnen, die Schließung von mehr als 50 % der Produktionsstätten und die Reduzierung der Zahl der Beschäftigen in der Stahl herstellenden Industrie von 900.000 auf 250.000. Die EU-15 ist nach China der zweitgrößte Stahlerzeuger der Welt mit einer Produktion von ungefähr 160 Mio. Tonnen Rohstahl pro Jahr, ca. 20 % der weltweiten Stahlproduktion. Ihr Umsatz liegt bei schätzungsweise 80 Mrd. Euro.

3.2

Heute zählt die europäische Stahlproduktion (EU-15), was Herstellungskompetenz, Ausrüstungsleistung, Produktqualität, Vertrieb und Dienstleistungstätigkeiten sowie Innovationskapazität betrifft, weltweit zu den Besten. Sie ist gekennzeichnet durch das Nebeneinanderbestehen einer Reihe sehr großer und wirklich globaler Akteure, einer Reihe kleinerer und stärker spezialisierter Erzeuger sowie zahlreicher hocheffizienter Vertriebs- und Dienstleistungszentren. Der schmerzhafte Umstrukturierungsprozess in den 1980er und der ersten Hälfte der 1990er Jahre, auf den ein Privatisierungs- und Konsolidierungsprozess folgte, hat den Stahlsektor zu einer modernen und wettbewerbsfähigen Branche gemacht, die sich mit Blick auf ihre Zukunft und ihre Befähigung zur erfolgreichen Bewältigung der Herausforderungen, die der beständige Wandel unter freien und fairen Handelsbedingungen mit sich bringt, durchaus zuversichtlich zeigen könnte.

3.3

In einem Markt, der auch wirklich den Regeln des freien und fairen Wettbewerbs unterliegt, wäre die Stahlproduktion der EU-15 sogar noch wettbewerbsfähiger als heute. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Stahlproduktion in der EU wird jedoch durch protektionistische Maßnahmen und marktverzerrende Praktiken in Drittländern bedroht, wie etwa die von der US-Regierung ergriffenen Schutzmaßnahmen gemäß Abschnitt 201 des US-Handelsgesetzes, die von WTO-Gremien als nicht mit den WTO-Regeln in Einklang stehend befunden wurden. Außerdem bringen unrentable Überkapazitäten weltweit das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage und somit die Stahlpreise weiterhin aus dem Lot, insbesondere in ungünstigen globalen Marksituationen.

3.4

Bei der weit reichenden Umstrukturierung der europäischen Stahlproduktion in den 1980er und 1990er Jahren spielte die Handelspolitik eine maßgebliche Rolle. Als Reaktion auf die Zunahme der Einfuhren aus Drittländern brachte die Kommission auf Grundlage des Vertrags über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ihre Außenaspekte, die so genannten „volets externes“, auf den Weg: ein Maßnahmenbündel zum Außenschutz, das im Wesentlichen aus bilateralen Abkommen mit den wichtigsten Stahl exportierenden Ländern über die freiwillige Beschränkung ihrer Lieferungen in die Gemeinschaft bestand und die internen Maßnahmen zur Kontrolle der staatlichen Beihilfen, zur Unterstützung der Umstrukturierung und zeitweiligen Marktregulierung ergänzte. Diese Maßnahmen blieben während der gesamten Krisenzeit in Kraft und stabilisierten die Einfuhren bei ungefähr 10 % des sichtbaren Verbrauchs.

3.5

Die Stahlproduktion in den neuen Mitgliedstaaten, die der EU im Mai 2004 beitreten, durchläuft nach wie vor einen Prozess des Strukturwandels, der maßgeblich geprägt ist durch den drastischen Abbau unrentabler Überkapazitäten, die Anpassung der Stahlherstellungstechnologie an moderne Standards, die Stärkung der Wirtschafts- und Marktsynergien durch Konsolidierungsanstrengungen und die Bewältigung des Paradigmenwandels vom produktionsorientierten hin zum markt- und verbraucherorientierten Unternehmertum. Die EU-15 unterstützte diesen Prozess durch eine Reihe bilateraler Abkommen mit den Beitrittsländern in den Jahren vor dem Beitritt, indem sie die auf den EGKS-Instrumenten basierenden EU-Regeln anwandte. Diese Regelungen gingen so weit, der Europäischen Kommission das Recht auf Kontrolle und Genehmigung nationaler Umstrukturierungspläne zu übertragen.

3.6

Als Ergebnis wird sich die Stahlproduktion der EU in der erweiterten Union auf dem Weltmarkt in neuer Form präsentieren. Einerseits wird ihre Position durch den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten gestärkt, und die Union wird wieder zum Nettostahlexporteur. Andererseits werden die Strukturen der Stahlproduktion der EU schon allein durch die Tatsache geschwächt, dass die Stahlunternehmen in diesen Ländern noch immer einen Umstrukturierungsprozess durchlaufen. Die Handelspolitiken werden diese Umstände berücksichtigen müssen, wenn auch im Rahmen eines auf Regeln basierenden Systems.

4.   Künftige Herausforderungen für die Handelspolitik und den industriellen Wandel

Heute ist die europäische Stahlindustrie extrem anfällig gegenüber Politiken und Praktiken, die Handelsprozeduren zuwiderlaufen. Der europäische Stahlmarkt ist weltweit der offenste. Im Gefolge des Doppel-Null-Abkommens für Stahl in der Uruguay-Runde werden die Zollsätze für Stahleinfuhren in die EU 2004 abgeschafft. Die Stahleinfuhren nach Europa sind in den letzten Jahren enorm angestiegen, von 14,5 Mio. Tonnen im Jahr 1997 auf 24,6 Mio. Tonnen im Jahr 2002 — dies entspricht einer Zunahme von 70 % — und haben die EU, die jahrzehntelang Nettoexporteur war, 1998 zu einem Nettostahlimporteur gemacht. (2003 lagen die Exporte wiederum geringfügig über den Importen.)

Davon ausgehend, lassen sich mit Blick auf die Zukunft einige Herausforderungen ermitteln, die in den kommenden Jahren den Rahmen für die handelspolitischen Aspekte des beständigen Wandels im Stahlsektor bilden:

Die ehemaligen Sowjetrepubliken Russland, Ukraine und Kasachstan, die keine WTO-Mitglieder sind, stellen eine Region dar, in der die EU-Handelspolitik aufgrund der bilateralen Abkommen mit diesen Ländern zur Regulierung des Handels mit Stahlerzeugnissen noch immer speziell auf die Stahlindustrie abgestellt ist. Diese Abkommen stellen eine reife und pragmatische Antwort auf die Herausforderungen dieser im Übergang befindlichen Volkswirtschaften dar: Sie gestatten eine gesteuerte Entwicklung des Handels und vermeiden Handelsspitzen und eine Antidumpingreaktion in einer Zeit, in der die Industrien dieser Länder ihre Kapazitäten anpassen und ihren internationalen Verbrauch ausbauen. Der mögliche Beitritt Russlands zur WTO ist ein weiteres wichtiges Element für die Stahlindustrie in der EU.

Im Vergleich zu anderen Industriesektoren ist die Stahlindustrie auf weltweiter Ebene noch immer stark zersplittert, und der Konsolidierungsprozess hat nur in einigen wenigen Regionen, darunter der EU, stattgefunden. Es ist jedoch zu erwarten, dass Stahlunternehmen im Zuge des Globalisierungs- und Konsolidierungsprozesses auf ihren Industriemärkten in den kommenden Jahren zunehmend regionsübergreifende Zusammenschlüsse und Allianzen anstreben werden. Im Rahmen von multilateralen Handelsabkommen sollte dieser dynamischen Bewegung durch die Aufhebung von Hemmnissen für ausländische Investitionen und des unternehmensinternen Handels Rechnung getragen werden.

In einer globalen Wirtschaft existiert das Konzept des „Heimatmarktes“ nicht mehr. Eine Vielzahl von Stahl erzeugenden und vertreibenden Unternehmen verfügen bereits über Betriebe in anderen Regionen und umwerben die dortigen Kunden als „ansässige“ Lieferanten. Im Rahmen künftiger Handelspolitiken muss nicht nur diesem Trend in Richtung Internationalisierung, sondern auch anderen Entwicklungen dieser Branche Rechnung getragen werden, mit neuen Stahl erzeugenden Regionen, die sich im weltweiten Stahlmarkt positionieren wollen. Viele Stahlunternehmen in Entwicklungsländern sind schon jetzt modern und wettbewerbsfähig, und ihre Vorzugsbehandlung im Welthandelssystem ist daher nicht zu rechtfertigen.

5.   Bemerkungen des Ausschusses zu den Schlüsselthemen der Handelspolitik im Stahlsektor

Der Stahlsektor der EU möchte aufgrund seiner derzeitigen Position und angesichts seiner künftigen Herausforderungen in dem Bestreben, auf die dynamischen Bewegungen in seinem Wirtschaftsumfeld erfolgreich reagieren zu können, weltweit die gleiche Offenheit und Fairness auf den Stahlmärkten sehen, wie diese in der EU bei Einfuhren aus Drittländern vorhanden sind. Ungeachtet der negativen Ergebnisse der WTO-Konferenz im September 2003 in Cancún bietet die Doha-Runde nach wie vor Gelegenheit für beträchtliche Fortschritte auf dem Gebiet des uneingeschränkten Marktzugangs zwischen WTO-Mitgliedern. Sie ermöglicht außerdem Diskussionen über eine Verbesserung der bestehenden Regeln und eine Feinabstimmung und Verstärkung der bestehenden Prozeduren, insbesondere der Antidumpingmaßnahmen. In einer weiter gefassten Perspektive würde sich die tatsächliche Aufnahme von Verhandlungen über die so genannten Singapur-Fragen wie Handelserleichterung sowie Handel und Wettbewerb für die europäische, ja weltweite Stahlindustrie in der Tat als nutzbringend erweisen.

Ohne die Möglichkeit, den Marktzugang durch bilaterale oder regionale Vorgehensweisen mit jenen Regionen oder Ländern zu verbessern, an denen die EU vom Handelsstandpunkt aus das größte wirtschaftliche Interesse hat, völlig auszuschließen, ist den Interessen des Stahlsektors am besten im Rahmen eines multilateralen Handelssystems (WTO) gedient. Dieses sollte auf Regeln basieren, die konsequent von allen Ländern in einzelstaatliches Recht umgesetzt werden und Instrumente bereitstellen, die objektiv und ohne politisches Eingreifen angewandt und von allen Ländern auf gleicher Grundlage umgesetzt werden. Angesichts der stahlbezogenen Handelspolitiken und -praktiken bestimmter Länder in den vergangenen Jahren sollte die EU ihre Anstrengungen gezielt auf folgende Punkte ausrichten:

Schwerpunkt auf verbessertem Marktzugang und der Beseitigung von Handelsschranken;

verschärfte Bestimmungen für fairen Handel: Bekämpfung von Dumping, Abbau von Subventionen, Schutzmaßnahmen;

gezielte und verantwortungsvolle Nutzung von WTO-Instrumenten: zügige, gemäßigte und angemessene Rechtsmittel zur Bekämpfung unlauterer Einfuhren;

vor allem jedoch: Unterbindung des Missbrauchs von Handelsinstrumenten für nationalistische und protektionistische Zwecke und Beurteilung von Handelssachen aufgrund ihrer wirtschaftlich-technischen anstatt ihrer politischen Merkmale;

stark unterschiedliche Standards im sozialen und Umweltbereich in verschiedenen Teilen der Welt beeinflussen die Handelsströme nicht nur im Stahlsektor, sondern auch in vielen anderen Branchen. Die Unterschiede zwischen Wirtschaftsregionen in Bezug auf die Gewährleistung grundlegender sozialer Rechte und des Umweltschutzes haben wirtschaftliche Verzerrungen im weltweiten Wettbewerb zur Folge und sollten nicht nur als Probleme der betroffenen Industriesektoren, sondern der Politikkonzeption insgesamt — einschließlich der Handelspolitik — erachtet werden.

Die wichtigsten Elemente dieser grundlegenden Aussagen können unter Berücksichtigung folgender Aspekte eingehender bewertet werden.

5.1   Marktzugang

5.1.1

Wie vorstehend bereits gesagt, ist der europäische Stahlmarkt weltweit der offenste, und die europäische Stahlindustrie ist extrem anfällig gegenüber Politiken und Praktiken, die Handelsprozeduren zuwiderlaufen. Folglich ist es für die europäische Stahlindustrie von Belang, ebendiese Offenheit weltweit auf allen Märkten vorzufinden. Deshalb müssen weiterhin sowohl europäische als auch multilaterale Instrumente der Handelspolitik eingesetzt werden, um Hindernisse des Markzugangs in Drittländern zu beseitigen und gleichzeitig wirkungsvolle Hilfsmittel gegen unlautere Handelspraktiken vonseiten der Drittländer, die Zugang zum Stahlmarkt der EU erhalten, bereitzustellen. Der wirksame Einsatz handelspolitischer Instrumente ist ein legitimes Interesse der Stahlindustrie.

5.1.2

Priorität der EU ist es, aus der Doha-Runde effektive Gewinne in puncto Marktzugang zu erzielen, und zwar durch die Senkung von Zöllen und die gleichzeitige Beseitigung nichttarifärer Hemmnisse. Die besondere und differenzierte Behandlung für Entwicklungsländer sollte nur fallweise je nach dem Grad der Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Länder und Sektoren angewandt werden. Durch die besondere und differenzierte Behandlung als solche sollte die Abschaffung von Zöllen durch Entwicklungsländer mit einer stark wettbewerbsfähigen Stahlindustrie nicht verhindert werden.

5.1.3

Effektive Gewinne in puncto Marktzugang lassen sich nur erreichen, wenn Zollsenkungen mit der Beseitigung nichttarifärer Hemmnisse einhergehen. Darüber hinaus kann auch die Anwendung bestehender WTO-Regeln ein Hindernis für den Marktzugang darstellen. Die Doha-Runde bietet den Regierungen Gelegenheit, bestehende Regeln zu klären und ihre Anwendung auf der Grundlage bewährter Praktiken zu harmonisieren.

5.2   Antidumping

5.2.1

Antidumpingmaßnahmen sind immer noch notwendig, um die europäische Industrie vor unfairen Handelspraktiken zu schützen, doch der Einsatz von Antidumpinginstrumenten muss unparteiisch und nichtdiskriminierend erfolgen, und seine Regeln müssen unterschieds- und ausnahmslos auf alle angewandt werden, es sei denn, dies ist durch die WTO-Bestimmungen spezifisch geregelt. Zu diesem Zweck müssen Diskussionen geführt werden, um eine größere Harmonisierung der Umsetzung der bestehenden WTO-Dumpingabkommen zu erzielen, vorzugsweise in Richtung der Antidumpingstandards der EU.

5.2.2

Wichtige Ziele für eine harmonisierte Anwendung und Stärkung des Antidumpingabkommens sollten in erster Linie auf die Effizienz und Wirksamkeit des Instruments ausgerichtet sein: faire und zügige Zeitplanung, frühe vorläufige Feststellung von Verstößen, obligatorische Annahme der so genannten Regel des niedrigeren Zolls, um nur die wichtigsten zu nennen.

5.2.3

Wenn das wichtigste Ziel einer weltweiten Anpassung der EU-Standards in Bezug auf Antidumpingverfahren nicht erreicht werden kann, sollte die EU ihre eigene Anwendung der Antidumpingregeln optimieren und deren Wirksamkeit, Effizienz, Transparenz und Objektivität verbessern. Der europäische Stahlsektor muss in die Lage versetzt werden, sich wirksam gegen Dumping- oder subventionierte Einfuhren aus Drittländern zu wehren. Die EU-Gesetzgebung zu Antidumping- und Antisubventionsverfahren ist wesentlich liberaler aufgestellt, als dies von der WTO vorgeschrieben ist bzw. in anderen Ländern, insbesondere den USA, praktiziert wird. Dies gilt beispielsweise für die Klausel des Gemeinschaftsinteresses und die Regel des niedrigeren Zolls. Die praktische Umsetzung in der EU weist darüber hinaus im Vergleich zu anderen Ländern Schwächen auf, da sich die Europäische Kommission weigert, als Reaktion auf drohende Verstöße Verfahren einzuleiten und stattdessen einen Nachweis von bereits eingetretenen Verstößen fordert. Darüber hinaus nimmt die Kommission maximale Zeitfristen für Ermittlungen in Bezug auf EU-Regeln in Anspruch, was zu weiteren Verzögerungen führt. Schließlich benötigt die EU eine raschere und wirksamere Überwachung der Handelsströme. Diese und andere Mängel sollten behoben werden.

5.3   Subventionen

5.3.1

Subventionen werden im Rahmen der Doha-Runde sowie innerhalb der OECD diskutiert, wobei das Hauptziel Letzterer der Abschluss einer Vereinbarung über spezifische Stahlsubventionen ist. Die laufenden Diskussionen innerhalb der OECD zu Vereinbarungen über Stahlsubventionen sind von außerordentlicher Bedeutung. Eine internationale Vereinbarung über ein generelles Verbot von (direkten oder indirekten) staatlichen Beihilfen jeder Art für Stahlunternehmen, wobei lediglich einige wenige Ausnahmen zugelassen wären, hätte äußerst positive Auswirkungen auf die länderübergreifenden Handelsbeziehungen. So sollte das neue internationale Subventionsübereinkommen vor allem die Ursachen der Differenzen im Stahlhandel angehen: subventionierte Überschüsse und ineffiziente Produktionskapazitäten. Durch diese ineffizienten Kapazitäten werden die Handelsprobleme der Industrie verstärkt, indem mehr Material produziert wird, als von den internationalen Märkten, insbesondere den offensten wie etwa der EU, aufgenommen werden kann.

5.3.2

Eckpfeiler eines neuen internationalen Übereinkommens sollte das Verbot aller spezifischen Subventionen außer für eine begrenzte Zahl von Ausnahmen sein, wie sie im Europäischen Stahlbeihilfenkodex vorgesehen sind, wobei die wichtigsten Subventionen diejenigen für permanente Schließungen einschließlich staatlicher Beihilfen zur Bewältigung der sozialen Folgen sind. Alle allgemeinen Subventionen außer jenen, die zur Schaffung neuer Kapazitäten bzw. zum Weiterbetrieb unwirtschaftlicher Kapazitäten beitragen, sollten gestattet sein. Für Entwicklungsländer kann die besondere und differenzierte Behandlung ins Auge gefasst werden. Befristete Ausnahmebestimmungen für diese Länder sollten von der langfristigen Finanzierbarkeit der Mittelempfänger und von der Kapazitätsreduzierung entsprechend der erhaltenen Subventionen abhängig gemacht werden.

5.3.3

Die Verhandlungen sollten weiter darauf abzielen, wirksamere (Voran-)Melderegeln festzulegen, um den präventiven Ansatz zu stärken, und ein abschreckendes System von Sanktionen einzurichten, einschließlich der Aufnahme automatischer Sanktionen bei Verstößen gegen die Vormeldepflicht.

5.3.4

Unter Berücksichtigung der Zahl der Teilnehmer und ihrer bisher stark divergierenden Positionen bestehen jedoch große Bedenken, dass die laufenden OECD-Verhandlungen in einen Kompromiss münden, eine scheinwahrende Vereinbarung, die die bestehenden Prozeduren nicht wirklich verbessern würde. Ein solches Abkommen sollte von der EU nicht unterstützt werden.

5.4   Handelspolitik, industrieller Wandel und die soziale Dimension

5.4.1

Die Umstrukturierung des europäischen Stahlsektors in den achtziger und frühen neunziger Jahren hatte verheerende Auswirkungen auf die Beschäftigung. Die von der Europäischen Kommission während dieser Zeitspanne eingesetzten handelspolitischen Instrumente wurden verwendet, um den Umstrukturierungsprozess zu unterstützen. Damals wie heute müssen sozial- und beschäftigungspolitische Fragen aber eine Rolle spielen, damit gewährleistet werden kann, dass die Förderung von Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum im Kontext des Prozesses des industriellen Wandels Bestandteil der ausgewogenen Umsetzung der Handelspolitiken ist. Durch beständige Fortbildung der Arbeitnehmer und Verbesserung der Qualität der Arbeit tragen sie in großem Maße dazu bei, dass der industrielle Wandel reibungslos und erfolgreich vollzogen wird und den Interessen aller Beteiligten dient.

5.4.2

Die zunehmende Forderung nach sozialer Verantwortung von Unternehmen kann letztendlich einen positiven Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Stahlsektors im Sinne des europäischen Sozial- und Wirtschaftsmodells leisten.

5.4.3

Den Interessen der Arbeitnehmer ist am besten mit einer Industrie gedient, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht und sich nicht hinter ihrer nationalen Regierung zu verstecken braucht, um sich vor hartem, aber fairem Wettbewerb zu schützen. Eine stabile Beschäftigungslage, gute Arbeitsbedingungen und positive Zukunftsaussichten: Bei der Erreichung dieser Ziele kann der freie und faire Handel nur förderlich sein. Schließlich hat der Stahlsektor von heute verstanden, dass sein Prozess des industriellen Wandels so gestaltet werden sollte, dass Entwicklungen vorweggenommen und abrupte Verschlechterungen und strukturelle Schäden mit inakzeptablen sozialen Konsequenzen vermieden werden.

6.   Schlussfolgerungen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

In Anbetracht der Ergebnisse dieser Initiativstellungnahme zum Thema „Handelspolitische Aspekte des industriellen Wandels, insbesondere im Stahlsektor“ gelangt der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss zu folgenden Schlussfolgerungen:

6.1

Der Stahlsektor der EU ist angesichts der ihm zugrunde liegenden wettbewerbsfähigen technologischen Wissensbasis und aufgrund seiner strategischen Bedeutung für die Infrastrukturentwicklung innerhalb der EU und für die meisten verarbeitenden Gewerbe von vitalem und strategischem Interesse für die Europäische Union.

6.2

Der industrielle Wandel im Stahlsektor der EU ist durch den konsequenten Einsatz der Instrumente der EGKS im Umstrukturierungsprozess auf wirksame Weise verstärkt worden — nicht zuletzt durch den sozialen Dialog, der integraler Bestandteil dieses Prozesses gewesen ist. Dies hat zwar nicht verhindern können, dass der Umstrukturierungsprozess mit tief greifenden Folgen für die Beschäftigung verbunden war, diese sind aber im Vergleich mit anderen Sektoren durch vielfältige soziale Maßnahmen wesentlich gemildert worden. Die Handelspolitik, welche Gegenstand dieser Stellungnahme ist, hat zusammen mit den handelspolitischen Maßnahmen, die zur Unterstützung anderer Instrumente ergriffen wurden, eine wichtige Rolle in diesem Umstrukturierungsprozess gespielt. Der Stahlsektor der EU kann deshalb, was die Folgen des industriellen Wandels und die Auswirkungen der Handelspolitik auf den potenziellen Erfolg des Änderungsmanagements angeht, durchaus als Fallbeispiel dienen, aus dem für andere Industriesektoren Lektionen gezogen werden können.

6.3

Die Handelspolitik ist ein wesentlicher Bestandteil der von den Politikgestaltern gesetzten Rahmenbedingungen des Marktes und muss ein “Fairplay„ bei gleichen Wettbewerbsbedingungen gewährleisten, von dem die Wettbewerbsfähigkeit und die künftigen Wachstumschancen des Sektors großenteils abhängen.

6.4

Im Stahlsektor der EU bestehen erhebliche wechselseitige Abhängigkeiten: zwischen dem industriellen Wandel einerseits, der darauf abzielt, bestehende Wettbewerbsfähigkeit beizubehalten, fehlende Wettbewerbsfähigkeit auszugleichen oder verloren gegangene Wettbewerbsfähigkeit wiederzuerlangen, und den handelspolitischen Strategien andererseits, die darauf ausgelegt sind, den notwendigen Erfolg des Änderungsmanagements auf inländischen wie internationalen Märkten zu gewährleisten. Im Ergebnis macht der Ausschuss die folgenden handelspolitischen Empfehlungen, um den industriellen Wandel künftig unterstützen zu können:

Als exportorientierte Volkswirtschaft sollte die Europäische Union weiterhin eine allgemeine Politik des offenen Marktzugangs verfolgen, unter der Voraussetzung, dass gemeinsame Regeln des fairen Handels beachtet werden.

Die Europäische Union sollte die Entwicklung multilateraler Handelsregelungen wie das geplante Stahlsubventionsübereinkommen auf den Weg bringen und verbessern, ohne dabei die bereits bestehenden hohen EU-Standards zu gefährden.

Die Europäische Union sollte weiterhin bilaterale Abkommen mit wichtigen Handelspartnern abschließen, insofern multilaterale Regelungen die Gemeinschaftsinteressen (noch) nicht abdecken können.

In allen Fällen unlauterer Handelspraktiken sollte die Europäische Union die vorhandenen Handelsschutzinstrumente wirksam einsetzen und die Nutzung der WTO-Regeln zur Streitbeilegung unterstützen.

Brüssel, den 29. April 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH