Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament Beziehungen zur Russischen Föderation /* KOM/2004/0106 endg. */
MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DEN RAT UND DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT Beziehungen zur Russischen Föderation 1. Einleitung Der Europäische Rat vom 12. Dezember forderte den Rat und die Kommission auf, einen Bewertungsbericht zu erstellen und Maßnahmen vorzuschlagen, die der Stärkung der strategischen Partnerschaft und der Wahrung der der Partnerschaft zugrunde liegenden Normen dienen. Mit dieser Mitteilung entspricht die Kommission der Aufforderung des Rates. Diese Mitteilung dient bei der für Februar im Rat Allgemeine Angelegenheiten und Auswärtige Beziehungen vorgesehenen Überprüfung der Russlandpolitik der EU als Orientierung und ist gedacht als Unterstützung bei der Ausarbeitung eines kohärenteren und pragmatischeren Russland-Konzepts der EU, in dem sich die Auffassungen der 25er-Gemeinschaft widerspiegeln; zunächst soll es den Erfolg des Gipfels vom Mai 2004 sicherstellen und im weiteren Verlauf die Entwicklung der Kooperation zwischen der EU und Russland fördern. Diese Mitteilung plädiert ferner für eine Überprüfung der EU-Politik gegenüber Transkaukasien und den westlichen Neuen Unabhängigen Staaten. Die wesentlichen Ziele, die die EU in ihren Beziehungen zur Russischen Föderation verfolgt, wurden nach ausgiebigen Diskussionen der Mitgliedstaaten untereinander im Zuge der Vorbereitung des Gipfels von Sankt Petersburg im Mai 2003 formuliert. Bei der Gelegenheit kamen die Mitgliedstaaten mit der Russischen Föderation überein, auf die Errichtung von vier ,gemeinsamen Räumen" hinzuarbeiten. [1] Man kam überein, diese Arbeit namentlich im Rahmen des PKA in Angriff zu nehmen. In diesem Stadium kommt es der EU vorrangig darauf an, die effizientesten Wege zu finden, wie sich das vereinbarte Ziel der Errichtung der "gemeinsamen Räume" erreichen lässt. Vorgesehen ist in diesem Zusammenhang, sämtliche Elemente der Nachbarschaftspolitik der EU - z. B. das geplante neue Nachbarschaftsinstrument - zu nutzen, die für die EU und die Russische Föderation von Interesse sind. [1] Gemeinsamer Wirtschaftsraum, gemeinsamer Raum im Bereich Freiheit, Sicherheit und Justiz, gemeinsamer Raum für die Zusammenarbeit im Bereich der äußeren Sicherheit sowie ein gemeinsamer Raum für die Bereiche Wissenschaft, Bildung und Kultur. Dem Aufbau einer echten strategischen Partnerschaft mit dem gewichtigen Partner Russische Föderation auf der Basis positiver Interdependenz kommt erhebliche Bedeutung zu. Die Russische Föderation ist der größte Nachbar der EU und rückt mit der Erweiterung noch näher an sie heran. Die Russische Föderation nimmt nicht nur als Akteur der Weltpolitik und im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Schlüsselstellung ein, sondern übt darüber hinaus erheblichen Einfluss auf die NUS aus. Sie ist einer der großen Energielieferanten der EU und wird in dieser Funktion künftig eine noch beherrschendere Rolle spielen. Trotz der relativ klein dimensionierten Wirtschaft ist Russland ein wichtiger Absatzmarkt für Erzeugnisse und Dienstleistungen aus dem EG-Raum, mit erheblichem Wachstumspotential. Die Fortsetzung der Reformen und die Modernisierung der Wirtschaft Russlands liegen im Interesse der EU. In diesem Zusammenhang begrüßt die Kommission das Wirtschaftswachstum Russlands in den letzten Jahren. Die EU und die Russische Föderation haben jeden Grund, in Bereichen wie Umwelt, Migration, Volksgesundheit, Kriminalitätsbekämpfung, Forschung und anderen die Sicherheit, Stabilität und das Wohlergehen in Gesamteuropa berührenden Bereichen zusammenzuarbeiten. Die Russische Föderation hält vor dem Hintergrund einer bereits bedeutenden und weiter zunehmenden wirtschaftlichen Interdependenz und einer allmählich Gestalt annehmenden Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU für ihre Beziehungen zur EU eine umfangreiche Wunschliste bereit. Die Positionen der EU und der Russischen Föderation konvergieren in vielen Fällen, namentlich in Bezug auf die Forderung eines echten Multilateralismus unter der Ägide der Vereinten Nationen, den Friedensprozess in Nahost, den Kampf gegen den internationalen Terrorismus sowie den Kampf gegen die Verbreitung von MVW. Auch im Kontext der Nordischen Dimension hat es bereits eine erfolgreiche Zusammenarbeit gegeben, und die EU begrüßt die russischerseits geleistete Unterstützung von ITER. Der 2000 auf dem Gipfel EU-Russland eingeleitete viel versprechende energiewirtschaftliche Dialog hat in einem strategisch für die EU und die Russische Föderation wichtigen Bereich zu greifbaren und willkommenen Ergebnissen geführt, und Russland ist für die EU gegenwärtig der wichtigste Einzellieferant von Kohlenwasserstoffen. Die Beziehungen sind jedoch aufgrund abweichender Einschätzungen der EU und der Russischen Föderation in einer Reihe von Angelegenheiten zunehmend Belastungen ausgesetzt, wie z.B. im Zusammenhang mit Dossiers wie die Ratifizierung des Protokolls von Kyoto, die Überflugrechte für den sibirischen Luftraum, der Abschluss weiterer PKA, die Aushandlung von Abkommen im Veterinärbereich und die Zertifizierungen im Zusammenhang mit Exporten. Hinzu kommt, dass die Russische Föderation nun auch gegenüber einer Reihe von Beitrittsländern und den NUS mit größerer Bestimmtheit auftritt. Das könnte Auswirkungen auf die russischen Beziehungen zur erweiterten EU, auf die Bemühungen zur Lösung festgefahrener Konflikte und - namentlich im Kontext der europäischen Nachbarschaftspolitik - auf die Zusammenarbeit der EU mit den NUS haben. Die EU weiß regionale Initiativen zur wirtschaftlichen Integration von Partnern wohl zu schätzen, die beschließen, im Einklang mit ihren internationalen Verpflichtungen und Erwartungen zusammenzuarbeiten. Das im September 2003 von der Russischen Föderation, der Ukraine, Kasachstan und Belarus unterzeichnete Übereinkommen über einen einheitlichen Wirtschaftsraum muss jedoch sorgfältig auf seine möglichen Auswirkungen auf die Funktionsweise des Gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraums und auf ein eventuelles künftiges Freihandelsabkommen hin überprüft werden. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die gewünschten Fortschritte in Bezug auf die vereinbarten Zielsetzungen der EU gewinnen die Abstimmung der Positionen der Kommission und der Mitgliedstaaten und das Sprechen mit einer Stimme ihre ganze Bedeutung. 2. Die jüngste Entwicklung in der Russischen Föderation Die vier Amtsjahre von Präsident Putin zeichnen sich durch einen deutlichen Trend in Richtung Konsolidierung der föderalen Kontrollfunktionen und Stärkung des Staatsapparats aus. Das Ergebnis ist größere Stabilität, was an sich - namentlich nach der Ungewissheit der Jelzin-Ära - zu begrüßen ist. Doch gleichzeitig haben auch die ethischen Normen erheblich an Stellenwert eingebüßt, auf die sich die EU und die Russische Föderation als Mitglied des Europarats und der OSZE verpflichtet haben. In der Tat lassen Berichte internationaler Organisationen wie OSZE und Europarat über die Duma-Wahlen im Dezember 2003, die Vorkommnisse in Tschetschenien und Hinweise auf selektive Anwendung der Gesetze Fragen darüber aufkommen, inwieweit die Russische Föderation willens und fähig ist, universelle und europäische Ethiknormen zu wahren und einen demokratischen Reformkurs einzuhalten. Unter Präsident Putin hat sich eine relativ robuste wirtschaftliche Erholung (von niedrigem Niveau aus) vollzogen, mit wirtschaftlichen Fundamentalgrößen, die insgesamt gesehen im positiven Bereich liegen. In den Jahren 1999 bis 2003 erreichte das BIP im Schnitt ein Wachstum von 6,5 % jährlich, und die Inflation hat sich auf 12 % abgeschwächt. Steuererhebung und Ausgabendisziplin haben sich verbessert, so dass der Haushalt der Föderation von 2003 einen Überschuss von 1,5 % des BIP ausweisen konnte; aufgrund des Handelsbilanzüberschusses konnte Russland trotz erheblicher Schuldendienstleistungen und umfangreicher Kapitalausfuhren eine starke Leistungsbilanzposition behaupten. Dies sind zum Teil die Ursachen dafür, dass Präsident Putin mehr als 70 % Zustimmung seitens der Bevölkerung für sich verbuchen kann und der große Favorit für die Präsidentschaftswahlen im März 2004 ist. Das ist vor dem Hintergrund eines sich verschärfenden Sozialgefälles (nach letzten Schätzungen liegt der Lebensstandard in der Russischen Föderation für mehr als 31 Millionen Menschen inzwischen unterhalb der offiziellen Armutsgrenze), Bevölkerungsschwund und Überalterung zu sehen, was nicht durch Zuwanderung von Russen aus den Neuen Unabhängigen Staaten kompensiert wird. Der möglicherweise erhebliche Rückgang der Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten könnte sich auf lange Sicht als destabilisierender Faktor erweisen. All dies wirkt sich auf die Zukunftsfähigkeit der Entwicklung und das Wirtschaftswachstum aus. Angaben zur Wirtschaft und demographischen Entwicklung in der Russischen Föderation finden sich im Anhang. Das Tempo, mit dem seit der Jahresmitte 2000 Wirtschaftsreformen verabschiedet wurden, ist beeindruckend, doch das Kernproblem sind nach wie vor die Umsetzung und die Durchsetzung der Rechtsvorschriften, und die Korruption ist immer noch ein erhebliches Hindernis. In den letzten Monaten haben die Reformen an Schwung verloren. Einige Reformen wurden im Zuge der durch die Wahlen bedingten Umorientierung politischer Kräfte verwässert bzw. zurückgenommen, oder sind mit massiven Interessen kollidiert. Im Zusammenhang mit den Reformen bleibt noch viel zu tun, namentlich im Bereich der natürlichen Monopole (Bahn, Energie und insbesondere Erdgas) sowie in der Bürokratie und im Finanzsektor, im Wohnungsbau, in den kommunalen Versorgungsdiensten, im Gesundheits- und im Bildungswesen. Die Reformen und die wirtschaftliche Erholung waren nicht von einer ausreichenden Diversifizierung der russischen Wirtschaft begleitet, die ihre Basis nach wie vor in den traditionellen Bereichen - Energie und Grundverarbeitung - hat. Der starke Energieanteil am russischen Export setzt die Wirtschaft dem Risiko externer Schocks aus. Unterdessen schneidet die Russische Föderation im Vergleich mit den anderen Schwellenländern beispielsweise in Bezug auf Attraktivität für ADI weniger gut ab, was eine Überalterung des Kapitalbestands und einen Verfall der Infrastruktur zur Folge hat. 3. Derzeitiger Stand der Beziehungen Die EU und die Russische Föderation haben sich auf ehrgeizige politische Erklärungen geeinigt (beispielsweise zum Thema 'gemeinsame Räume', Energiedialog, Zusammenarbeit im Umweltschutz [2] sowie Zusammenarbeit in den Bereichen Politik und Sicherheit) und Strategien für ihre Beziehungen ausgearbeitet, wozu auch die ,Gemeinsame Russlandstrategie der EU' und die ,mittelfristige Strategie der Russischen Föderation für ihre Beziehungen zur EU' gehören. Doch trotz gemeinsamer Interessen, wachsender wirtschaftlicher Interdependenz und einiger Schritte voran sind die Fortschritte in der Sache insgesamt unzureichend. [2] Anlässlich der zwei Gipfeltreffen des Jahres 2001 wurde das starke gemeinsame Interesse an einer Vertiefung der Zusammenarbeit im Umweltbereich bekräftigt. Die EU braucht für alle Bereiche, in denen sie tätig wird, mehr Koordinierung und Kohärenz und muss sich gegenüber Russland klar und unmissverständlich artikulieren. Die EU kann nur im Wege eines echten Engagements und unter voller Nutzung des gesamten Verhandlungsgewichts dazu beitragen, dass in der Russischen Föderation - zum Nutzen beider Seiten - ein voll funktionsfähiges, auf Regeln gegründetes System Fuß fassen kann. Dies ist nicht nur im Zusammenhang mit der Wahrung von Demokratie und jener zentralen europäischen Werte von Bedeutung, zu denen sich auch die Russische Föderation als Mitglied des Europarats und der OSZE bekennt, sondern auch für die wirtschaftlichen und sonstigen Beziehungen der EU zu Russland. Eine transparente diskriminierungsfreie Umsetzung der vereinbarten Regeln seitens der russischen Wirtschaft muss z.B. mit Blick auf eine WTO-Mitgliedschaft unbedingt gewährleistet sein. Die Einhaltung universeller und europäischer Werte durch Russland wird die Natur und die Qualität unserer Partnerschaft entscheidend bestimmen. Die EU bemüht sich um eine Festigung ihrer Beziehungen zu den westlichen NUS und zu den transkaukasischen Staaten. In diesem Zusammenhang sollte sie jede Gelegenheit nutzen, um mit Russland bei der Lösung festgefahrener Konflikte, der Beherrschung von politischer Instabilität und bei der Förderung des Wirtschaftswachstums zusammenzuarbeiten. 4. Die nächste Etappe Es liegt im Interesse der EU, in Russland einen offenen, stabilen und demokratischen strategischen Partner zu haben, der in der Lage ist, europäische Normen zu wahren, Reformen voranzubringen, Verpflichtungen einzuhalten und in Zusammenarbeit mit der EU in den NUS eine konstruktive Rolle zu spielen. Neben einer Reihe von Faktoren ist dabei insbesondere zu beachten, dass die EU - ein konkretes, auf den Realitäten aufbauendes ausgewogenes und in sich stimmiges Konzept entwerfen, - mit Russland eine vertiefte Zusammenarbeit eingehen, - Kohärenz in ihrer Politik gewährleisten und - die Arbeitsweise der vorhandenen Kooperationsstrukturen verstärken muss. Ein konkretes, auf den Realitäten aufbauendes ausgewogenes und in sich stimmiges Konzept Die EU muss zwecks Förderung und Schutz ihrer Interessen in der Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation ihren ganzen Einfluss geltend machen und auf eine ausgewogene Partnerschaft hinwirken. Das bedeutet, dass in Bereichen gemeinsame Positionen anzustreben sind, in denen EU-Interessen mit dem Ehrgeiz Russlands zusammenfinden, Fortschritte zu erzielen. Die EU muss den Realitäten entsprechende Standpunkte ausarbeiten, die dazu dienen können, den russischen Gesprächspartnern mit aller Klarheit die politische Linie der EU zu präsentieren. Zu vermeiden sind die Politisierung wirtschaftlicher und technischer Angelegenheiten, es ist darauf zu achten, dass vorgeschlagene Verknüpfungen sich stets auf miteinander in Zusammenhang stehende Angelegenheiten beziehen. Mit einem derartigen Konzept wird die EU stärker überzeugen und einen Beitrag zu einer Partnerschaft leisten können, die mehr Substanz hat und zukunftsweisend ist. Dieses Konzept hat sich in den Verhandlungen über Transitreisen russischer Bürger von und nach Kaliningrad bewährt und zu gewissen Fortschritten in Bezug auf den beantragten Beitritt der Russischen Föderation zur WTO geführt. Es könnte auch für folgende Bereiche von Vorteil sein: - Erstreckung der PKA-Bestimmungen auf die zum 1. Mai 2004 beitretenden Staaten und Einbeziehung der Russischen Föderation in bestimmte Handelspräferenzen. - Abschluss eines Rückübernahmeabkommens mit der Russischen Föderation und Erleichterungen bei der Visaerteilung (unter Ausnutzung der im Schengen-Abkommen vorhandenen Spielräume). - Tatkräftige Zusammenarbeit mit der EU bei der Lösung festgefahrener Konflikte in der gemeinsamen Nachbarschaft und Bereitschaft der EU, die Zusammenarbeit in den Bereichen Krisenbeherrschung und Zivilschutz auf ein höheres Niveau zu heben. - Ratifizierung des Protokolls von Kyoto durch Austausch und verstärkte Zusammenarbeit in Energiefragen, eingeschlossen Fortschritte bei den Verhandlungen über den Handel mit spaltbarem Material. Engagement Die EU kann Einfluss auf die Entwicklung in Russland nehmen, wenn sie bereit ist, heikle Angelegenheiten mit Russland klar und offen anzugehen. Die EU in ihrer Gesamtheit muss bekräftigen, dass die Wahrung der gemeinsamen europäischen Normen nach wie vor das Fundament für engere Beziehungen ist. Daraus folgt, dass Bedenken wegen politischer Ereignisse der letzten Zeit, bei denen eine diskriminatorische Rechtspraxis und Verstöße gegen die Menschenrechte erkennbar wurden, von der EU und ihren Mitgliedstaaten mit Entschiedenheit und konsequent artikuliert werden müssen. Darüber hinaus müsste die EU zwischenmenschliche Kontakte auf unterer Ebene weiter fördern, wozu auch Partnerschaften im Bildungsbereich zählen, die dazu dienen, für die gemeinsamen europäischen Ethiknormen zu werben. Die EU muss ferner deutlich Bereitschaft zeigen, mit den NUS auf der Grundlage eigener Strategieziele - und möglichst unter Einschluss der Russischen Föderation - eng zusammenzuarbeiten. Tauchen schwierige Fragen auf, versucht Russland erfahrungsgemäß immer wieder zu deren Lösung neue Verhandlungsstrukturen zu schaffen. Die EU sollte klar ihre Bereitschaft bekunden, mit Russland in allen schwierigen Fragen von beiderseitigem Interesse zusammenzuarbeiten und weiterhin mit Blick auf konkrete Ergebnisse der Substanz den Vorzug vor Formfragen geben. Kohärenz der Strategie Die Zusammenarbeit zwischen der EU und der Russischen Föderation muss ausgewogen sein und in ihr müssen die beiderseitigen Interessen zur Geltung kommen. So ist für die Russische Föderation im Bereich Justiz und Inneres die Vereinfachung der Visaerteilung die oberste Priorität, doch gleichzeitig hat auch die EU ein Interesse daran, dass auf russischer Seite bestimmte Verfahren vereinfacht werden. Als Fortschritt in diesem Bereich ist zu werten, das die EU in Kürze einen Vorschlag für die vereinfachte Erteilung von Visa für Forscher aus Drittländern vorlegen wird. Wenn es Fortschritte bei den Visaverfahren gibt, dürfte es der EU gelingen, in der für sie so wichtigen Frage der Rückübernahme Fortschritte zu erzielen, wobei dies letztlich auch für Russland von Interesse ist, da mit Fortschritten in dieser Frage ein Klima des Vertrauens entstehen würde, das für eine wirksame gemeinsame Bekämpfung der illegalen Migration wichtig ist. Die EU muss auch allgemeinere J&I-Themen weiter verfolgen, wie beispielsweise die Zusammenarbeit in der Grenzsicherung und im Kampf gegen organisierte Kriminalität, Korruption und illegale Migration. Fortschritte im energiewirtschaftlichen Dialog wären ebenfalls zu begrüßen. Um zu gewährleisten, dass die EU die Möglichkeit erhält, mit einer Stimme zu sprechen, müssen parallele Initiativen eng koordiniert werden und der Unterstützung der allgemeinen Russland-Strategie der EU dienen. Die EU muss sich auf Kernziele und klare Positionen einigen. [3] Das bedeutet unter anderem, dass vor Gipfelveranstaltungen jeweils ein Papier mit den angestrebten Zielen erstellt werden muss, in denen deutlich "rote Linien" für die EU-Positionen aufgezeigt werden, über die die EU nicht hinausgeht. Diese von der EU vereinbarten Ziele und Positionen müssten sämtlichen Akteuren der EU in Moskau und in Brüssel als Richtschnur dienen. [3] Die Positionen der Gemeinschaft in Bezug auf Themen, die für die EU von vorrangiger Bedeutung sind, wo aber Russland zurzeit jeglichen Fortschritt blockiert, sind im Anhang aufgeführt, und zwar: Ratifizierung des Protokolls von Kyoto, Sicherheit im Seefrachtverkehr und nukleare Sicherheit, Rückübernahmeabkommen, Erleichterungen bei der Austeilung humanitärer Hilfe, Ratifizierung von Grenzziehungsabkommen mit Lettland und Estland, Abschluss weiterer PKA, Entgelt für die Überflugrechte für den sibirischen Luftraum, Zusammenarbeit beim Projekt Galileo, Reform des Energiesektors sowie russische Schutzmaßnahmen. Kooperationsstruktur Die derzeitige Kooperationsstruktur und insbesondere das PKA sind weder überholt noch sind alle ihre Möglichkeiten ausgeschöpft. Mit dem PKA werden der Kooperation zwischen der EU und der Russischen Föderation keinerlei Schranken auferlegt. Die Kommission muss sich um ein stärkeres russisches Engagement namentlich auf Arbeitsebene bemühen. Die EU muss sich darum bemühen, mit Russland ohne weiteren Verzug zu einer allgemeinen Einigung über die zu schaffenden Strukturen zu gelangen. Es liegt im Interesse der EU, die Diskussion über Verfahren rasch zu Ende zu bringen, um damit beginnen zu können, das gemeinsame Arbeitsprogramm voranzubringen. Der vorhandene Rahmen sollte die Grundlage für die Kooperation der EU sein. Es muss mehr getan werden, damit die PKA-Einrichtungen flexibler werden und effektiver arbeiten. Der Ständige Partnerschaftsrat sollte im Troikaformat eingerichtet werden. Durch Einwirkung dieses Rats könnten die Beziehungen EU/Russland wieder an Fahrt gewinnen, und zwar durch Intensivierung der Kooperation der EU mit den maßgeblichen russischen Ministerien, durch Einbeziehung der Präsidialverwaltung und dadurch, dass er verhindert, dass für beide Seiten wichtige Initiativen im Sande verlaufen. Der SPR erfuellt in der Tat Russlands Wünsche nach Flexibilität und Engagement und gewährleistet gleichzeitig Kohärenz und Transparenz der EU. Die EU sollte sich darauf vorbereiten, Sitzungen des SPR im Bereich Justiz & Inneres, Umweltschutz, Energiewirtschaft und Verkehr zu programmieren. Im Bereich Justiz & Inneres finden bereits seit April 2001 Troikasitzungen auf Ministerebene statt. Bei diesen Treffen im neuen SPR-Format könnten sich die Kommission, der Ratsvorsitz und die Russische Präsidialverwaltung zusammenfinden (wobei letztere die Koordinierung sämtlicher russischen Ministerien vornehmen kann, die an direkten J&I-Kontakten interessiert sind). Bislang lässt sich kein Bedarf für zusätzliche Strukturen erkennen, doch gegebenenfalls könnten informelle Begegnungen auf hoher Ebene organisiert werden. Die jüngste russische Anregung, spezifische J&I-Themen auf hoher Ebene zu diskutieren, verdient in diesem Zusammenhang besondere Beachtung. Die Kommission muss die Arbeit der Unterausschüsse mit neuem Schwung erfuellen. Wenn es ihr gelingt, diesen Gremien Diskussionsstoff mit mehr Substanz zu bieten, wird sich die russische Seite stärker motiviert fühlen, ihrerseits aktiv zu werden. So könnte beispielsweise ein Unterausschuss für den Bereich Justiz & Inneres eingerichtet werden. Die EU muss außerdem das Niveau ihrer Russland gewährten Hilfe überdenken, und sie muss sich dabei im Klaren darüber sein, dass die bisherigen Ergebnisse allenfalls mittelmäßig sind und dass es nicht gelungen ist, befriedigende Rahmenbedingungen für die Abwicklung zu schaffen (zum Beispiel Befreiung von der Mehrwertsteuer und anderen Abgaben vor Ort bzw. geeignete Arbeits- und Sicherheitsbedingungen für die Leistung von humanitärer Hilfe). 5. Schlussfolgerung Die auf dem Petersburger Gipfel im Mai 2003 vereinbarte strategische Zielsetzung für die Beziehungen zwischen der EU und der Russischen Föderation hat weiterhin Bestand. Erklärtes Ziel ist es, im Rahmen des PKA so genannte ,gemeinsame Räume' zu errichten und zwar den gemeinsamen Wirtschaftsraum, den gemeinsamen Raum im Bereich Freiheit, Sicherheit und Justiz, einen gemeinsamen Raum für die Zusammenarbeit im Bereich der äußeren Sicherheit sowie ein gemeinsamer Raum für die Bereiche Wissenschaft, Bildung und Kultur. Damit dieses Ziel erreicht werden kann, muss die EU eine bessere Form für ihre Zusammenarbeit mit der Russischen Föderation finden. Geboten ist eine Straffung der Koordinierung der Russland-Politik. Die Kommission richtet deshalb folgende Empfehlungen bezüglich des weiteren Vorgehens der EU an den Rat: - Aufbau einer echten strategischen Partnerschaft mit Russland, statt feierlicher politischer Erklärungen, Aufstellung einer themenbezogenen Strategie mit entsprechendem Arbeitsplan. Die EU sollte sich für Gespräche mit Russland über sämtliche Themen bereithalten und nicht zögern, energisch für EU-Interessen einzutreten; - Bekräftigung des Grundsatzes, dass das Fundament einer so gearteten Partnerschaft in gemeinsamen ethischen Normen und gemeinsamen Interessen besteht. Das impliziert, dass in Russland übliche Vorgehensweisen, die universellen und europäischen Prinzipien zuwiderlaufen - wie beispielsweise in den Bereichen Demokratie, Menschenrechte in Tschetschenien und Medienfreiheit sowie hinsichtlich einiger Aspekte des Umweltschutzes - in aller Offenheit zur Sprache zu bringen sind; - Umsetzung eines ausgewogeneren Arbeitsplans für die Zusammenarbeit mit Russland und mehr Kohärenz in der Politik. Die EU müsste zu Beginn jeder Präsidentschaft eine Liste der Kerninteressen der EU ausarbeiten, in der die Ziele und gemeinsamen Positionen klar ausgewiesen sind; - Verknüpfung miteinander in Beziehung stehender Angelegenheiten, sofern dies dem EU-Interesse dienlich ist; - Unverzügliche Einsetzung des Ständigen Partnerschaftsrats und Prüfung der Möglichkeiten für eine Steigerung der Effizienz der übrigen PKA-Einrichtungen. Durch klare Formulierung ihrer Interessen, Ziele und Prioritäten und straffere Koordinierung ihrer Russlandpolitik wird es der EU möglich sein, in der Sache der Errichtung der "Vier gemeinsamen Räume" voranzukommen. Die EU muss Russland daher konkrete Vorschläge zur Entwicklung und inhaltlichen Gestaltung der "Gemeinsamen Räume" vorlegen. Sie sollte den Entwurf zu einem gemeinsamen Aktionsplan für Russland vorlegen, der alle vier "Gemeinsamen Räume" einschließlich und insbesondere Energie umfasst. Dies hat im Einklang mit der Nachbarschaftsstrategie der EU zu geschehen und muss einschlägige Aspekte dieser Strategie enthalten, die für die EU und Russland von gemeinsamem Interesse sind. Ebenso sollte dieser Ansatz auf der bestehenden guten Zusammenarbeit in speziellen Bereichen aufbauen. Ein proaktives Konzept, in dem die EU nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit klar realistische Ziele formuliert, wäre als Zeichen ihres echten Engagements für Russland von erheblicher Signalwirkung. Bis zum Gipfel im Mai könnte mit Russland auf eine Einigung in den wesentlichen Punkten eines solchen Aktionsplans hingearbeitet werden, in der Perspektive, dass ein solcher Aktionsplan dann auf dem Gipfel im Herbst verabschiedet werden könnte. Dieser gemeinsam vereinbarte Plan könnte dann die einseitige Gemeinsame EU-Strategie für Russland ablösen. Die EU sollte jedoch nicht vor einer Einigung über die Einbeziehung der neuen Mitgliedstaaten in das PKA mit Russland konkrete Gespräche über einen Aktionsplan aufnehmen. Die Kommission empfiehlt ferner, dass die EU in den transkaukasischen Staaten (auch über die Vermittlung des Besonderen Repräsentanten der EU) und in den westlichen NUS nach Möglichkeit in Zusammenarbeit mit Russland eine kohärentere Politik verfolgt. Das Ziel sollte dabei sein, die EU-Beziehungen zu diesen Staaten voranzubringen und zu deren wirtschaftlicher Entwicklung und politischer Stabilisierung beizutragen, was auch die Lösung festgefahrener Konflikte einschließt. ANHÄNGE Die russische Wirtschaft: Jüngste Entwicklungen und Perspektiven aus Sicht der EU Bedeutende Fortschritte seit 1998 Seit der Finanzkrise des Jahres 1998, die das Ende der ersten Phase der beschwerlichen Transformation Russlands nach Ende der Sowjetära prägte, ist Russland auf dem Weg zu Wachstum und wirtschaftlicher Stabilität ein gutes Stück vorangekommen. Ganz im Gegensatz zum vorhergehenden Jahrzehnt mit seinen wirtschaftlichen und sozialen Turbulenzen hat Russland im Zeitraum 1999-2003 nicht nur schrittweise ein stabileres und besser vorhersehbares politisches Umfeld geschaffen, sondern kann auch eine ansehnliche Bilanz bei Wirtschaftswachstum, makroökonomischer Stabilisierung und politischen Reformen vorweisen. In diesen fünf Jahren sank das reale BIP dank 1. der hohen Preise für die wichtigsten russischen Ausfuhren (vor allem Öl und Gas), 2. der Abwertung des Rubel und 3. einer besonnenen makroökonomischen Politik um fast 40% bzw. im Jahresdurchschnitt um 6,5% (siehe Tabelle). Das Land hat makroökonomische Stabilität erreicht: Die Inflation ging drastisch zurück, die öffentlichen Ausgaben wurden dank der Lehren aus der Krise von 1998 unter Kontrolle gebracht, der Anstieg der Öleinnahmen zog keine entsprechende Erhöhung der Ausgaben nach sich, sondern schlug sich während vier Jahren in einem Haushaltsüberschuss wider und der Wechselkurs des Rubels ist nach dem Verlust der Hälfte seines Werts (real) in den Jahren 1998/99 stetig gestiegen - real und zuletzt sogar nominal. Das Wachstum und die Stabilisierung der Finanzen haben zu einer umfassenden und anhaltenden Erhöhung des verfügbaren Einkommens (allein in den ersten zehn Monaten des Jahres 2003 stiegen die realen persönlichen Bareinkommen um 16%) und zu einer Senkung der Armutsquote geführt (von einem Spitzenstand von 40% der Bevölkerung im Jahr 1999 auf rund 25% im Jahr 2003). Die Außenbilanz verbesserte sich ebenfalls dramatisch: Bei der Leistungsbilanz wurden Überschüsse von bis zu 15% des BIP verzeichnet, der Kapitalabfluss ging zurück und kehrte sich 2003 zeitweise sogar ins Gegenteil um und die internationalen Reserven erhöhten sich seit Ende 1999 um das Sechsfache. Russland nutzte diese günstigen Rahmenbedingungen, um seine Beziehungen zu den ausländischen Gläubigern zu normalisieren und reduzierte die Auslandsverschuldung drastisch, so dass sie nun mit nur 28% des BIP nicht länger Anlass zur Besorgnis bietet. Russland: Makroökonomische Eckdaten, 1998 - 2003 >PLATZ FÜR EINE TABELLE> Auch in struktureller Hinsicht konnten Fortschritte verbucht werden, da sich die Regierung seit 2000 um eine kohärentere Reformstrategie bemüht hat. Wichtige Reformen, die weite Bereiche der Wirtschaft umfassen (wie Deregulierung der Wirtschaft, Steuern, Renten und Bodeneigentum) wurden oder werden seither umgesetzt. Im Bereich der Sozialpolitik wurde eine gründliche Überholung des Rentensystems eingeleitet, mit dem die Renten auf eine solide finanzielle Grundlage gestellt werden. In anderen wichtigen Bereichen wie Energie, Finanzen und Wohnraum müssen jedoch noch grundlegende Maßnahmen getroffen werden. Auch auf dem Gebiet der Staatsreformen (d.h. öffentliche Verwaltung, öffentlicher Dienst und Justizwesen) bleibt noch viel zu tun. Mit einem BIP von fast 450 Mrd. USD, einem Pro-Kopf-Einkommen von rund 3000 USD, dem Erreichen von fast 3 von 5 auf dem EBWE-Indikator für die Reformfortschritte und einem 63. Platz unter den 175 Ländern des UNDP-Entwicklungsindexes hat Russland eine Wirtschaft von derselben Größe wie die Niederlande - was einem ein Drittel der chinesischen Wirtschaft entspricht -, ein Wohlstandsniveau von etwa 20% mehr als Rumänien [4], einen ähnlichen Transformationsstatus wie Rumänien und einen ähnlichen Entwicklungsstand wie Brasilien. [4] In Kaufkraftparitäten betrug das Pro-Kopf-BIP in Russland 2002 8490 USD, verglichen mit 6976 USD in Rumänien. Die oben genannten Entwicklungen bei den makroökonomischen Eckdaten und den Wirtschaftsreformen sind zwar beeindruckend, sollten aber weder zu einer Überschätzung der Stärke der russischen Wirtschaft, noch zu einer Unterschätzung der vor ihr liegenden Herausforderungen führen. Bei der Festlegung einer sinnvollen mittel- und langfristigen Strategie muss noch eine Reihe weiterer Faktoren berücksichtigt werden. Ungewisse langfristige Aussichten Aufbauend auf den Errungenschaften der letzten Jahre hat die politische Führung Russlands sich das ehrgeizige langfristige Ziel gesetzt, den Lebensstandard drastisch zu erhöhen und die russische Wirtschaft in eine moderne, diversifizierte und wettbewerbsfähige Wirtschaft zu verwandeln, die vollständig in das globale Wirtschaftssystem eingebunden wird. In diesem Zusammenhang wird das Wachstum der letzten Jahre lediglich als Beginn eines langen Prozesses angesehen, in dessen Verlauf noch größeres, nachhaltiges Wachstum erwartet wird. Hauptelement dieser Strategie ist das von Präsident Putin Anfang 2003 gesteckte Ziel, das reale BIP innerhalb von zehn Jahren zu verdoppeln, wofür eine Beschleunigung des Wachstums auf 8% jährlich erforderlich ist. Um zu prüfen, wie realistisch diese Ziele sind und unter welchen Bedingungen sie erreicht werden können, müssen die wichtigsten Hindernisse und Herausforderungen für die wirtschaftliche Entwicklung in Russland betrachtet werden. Trotz der Fortschritte war die Wirtschaftsleistung im letzten Jahrzehnt weniger beeindruckend als die vergleichbarer Transformationswirtschaften und wird, wie eine eingehendere Analyse ergibt, nach wie vor durch umfangreiche strukturelle und soziale Ungleichgewichte eingeschränkt wird. * Die russische Wirtschaft ist nicht ausreichend diversifiziert. Die Abhängigkeit von natürlichen Ressourcen, insbesondere Öl und Gas, hat sich nicht verringert, sondern im Gegenteil sogar noch erhöht. Über 80% aller Ausfuhren basieren auf natürlichen Ressourcen, davon fast 60% auf Öl und Gas. Dadurch ist die Wirtschaft anfällig für einen etwaigen plötzlichen Verfall der Ölpreise [5]. [5] Laut IWF führt ein Sinken der Ölpreise um 1 USD zu einem Rückgang des BIP-Wachstums um 0,5 Prozentpunkte, einem Sinken der Staatseinnahmen um 1 Mrd. USD (0,3% des Rückgang BIP) und einer Verringerung der Exporterlöse um 2 Mrd. USD. * In vielen großen traditionellen Industrieunternehmen wurde nur begrenzt umstrukturiert und das Wachstum neuer Unternehmen, insbesondere KMU, ist langsam, was auf eine unzureichende Durchsetzung der Wettbewerbsregeln und erhebliche bürokratische Hindernisse zurückzuführen ist. Demzufolge ist der Anteil der KMU am BIP, der allgemein mit nur 20% beziffert wird, lediglich halb so hoch wie in den fortgeschrittenen Transformationswirtschaften. * Das Ergebnis der übergroßen Abhängigkeit von den natürlichen Ressourcen und des mangelnden Wettbewerbs ist eine Konzentration der Marktmacht und des Vermögens in einer kleinen Anzahl von großen Finanz- und Industriekonzernen mit Verbindungen zur politischen Führung. Ihre Kerntätigkeiten bestehen vor allem in einer exportorientierten Produktion auf der Grundlage der natürlichen Ressourcen und spiegeln damit den oben erwähnten Diversifizierungsmangel wider. Das jüngste spektakuläre Vorgehen gegen die Leiter einiger dieser Konzerne kommt bei der russischen Öffentlichkeit sehr gut an, bedeutet jedoch nicht unbedingt, dass der Kreml entschlossen ist, das derzeitige Modell des ,oligarchischen" Kapitalismus aufzugeben, sondern zielt möglicherweise einfach darauf ab, die großen russischen Unternehmen aus der aktiven Politik herauszuhalten. * Der chronische Investitionsmangel stellt ein großes Problem dar. Trotz des jüngsten Anstiegs der Investitionen (seit 1999 im Durchschnitt über 9% pro Jahr) liegen die Investitionsausgaben bezogen auf das BIP noch niedrig; darüber hinaus konzentrierten sich die meisten Investitionen im Öl- und Gassektor und im Bauwesen, wobei die Infrastrukturen und die verarbeitende Industrie das Nachsehen hatten. Folglich befinden sich die Infrastrukturen nach wie vor in einem fortgeschrittenen Verfallsstadium, während große Teile der Industrie weder umstrukturiert wurden, noch moderne Technologien aus dem Ausland übernommen haben. Die DI-Zufluesse sind nach wie vor sehr niedrig, da die Investoren Russland immer noch als riskanten Markt ansehen [6]. [6] Im Zeitraum 1992-2002 flossen Direktinvestitionen von lediglich 23 Mrd. USD nach Russland, d. h. ein Zwanzigstel des in China investierten Betrags, während gleichzeitig Kapital von schätzungsweise 245 USD aus dem Land abfloss. * Trotz der seit 1999 eingetretenen Verbesserung sind die sozialen Indikatoren nach wie vor schwach. Insbesondere die Einkommensungleichheiten in Russland zählen zu den größten unter den Transformationswirtschaften und haben sich offenbar in den letzten Jahren trotz eines spürbaren Anziehens der Reallöhne weiter erhöht. Noch frappierender sind die Einkommensungleichheiten zwischen den einzelnen Regionen des Landes: Hier ergeben sich enorme Unterschiede bei den Einkommen und bei der Wirtschaftsleistung, die im letzten Jahrzehnt immer größer geworden sind. * Die demografische Lage in Russland hat sich trotz einer Netto-Immigration in den letzten zehn Jahren verschlechtert, da die Bevölkerungszahl um rund 3 Millionen sank. Ursachen waren ein Rückgang der Fruchtbarkeitsrate und ein drastischer Anstieg der Sterblichkeit bei Erwachsenen, insbesondere bei der männlichen Bevölkerung (die Lebenserwartung russischer Männer beträgt 58,4 Jahre). Beide Entwicklungen sind auf prekäre soziale Verhältnisse und die Erschütterungen der Transformationsjahre zurückzuführen. * Die geografischen Bedingungen in Russland mit den großen Entfernungen, dem rauen Klima in weiten Teilen des Landes und der verstreut lebenden Bevölkerung führen zu hohen Transportkosten und stellen ein strukturelles Hindernis für das Wachstum und die Verringerung des regionalen Gefälles dar (die Transportkosten in Russland sind bezogen auf die CIF/FOB-Spannen rund dreimal so hoch wie die internationalen Standards). Was die langfristigen Wachstumsaussichten betrifft, so ist es sehr schwierig, verlässliche Schätzungen abzugeben. Abgesehen von dem Wachstumsziel der Regierung von durchschnittlich fast 8% pro Jahr für die nächsten zehn Jahre gehen einige derzeitige Schätzungen von einem jährlichen Wachstum von etwa 5% jährlich aus. Andere weniger optimistische Schätzungen sehen ein reales jährliches Wachstum von durchschnittlich 2,5-3% als Grundszenario vor. Diese geringen Prozentsätze würden immer noch eine allmähliche Verringerung der Armutsquote ermöglichen, aber nicht ausreichen, um eine nachhaltige Entwicklung auf breiter Grundlage anzukurbeln, die sich nicht mehr allein auf die natürlichen Ressourcen stützt. Wenn bei diesem Szenario die beiden Schlüsselfaktoren, auf denen das Wachstum beruht (bessere Wettbewerbsfähigkeit dank Wechselkursabwertung und hoher Ölpreise) allmählich an Bedeutung verlieren, besteht auch die Gefahr, dass die derzeitige Wachstumsrate sich weiter verlangsamt und Russland in eine Stagnationsphase eintritt. Wirtschaftliche Stagnation oder Aufschwung ist eine Frage der politischen Entscheidungen Auf Dauer höhere Wachstumsraten, stärkere wirtschaftliche Diversifizierung, mehr Arbeitsplätze und eine stärkere Eindämmung der Armut erfordern eine beschleunigte Durchführung der Reformen im Struktur- und Sozialbereich und in den Institutionen, mit dem Ziel, das Investitionsklima deutlich zu verbessern und die Produktivität zu steigern, namentlich in dem ums Überleben kämpfenden Verarbeitungssektor. Verharrt Russland jedoch - bestärkt durch die zurzeit hohen Ölpreise - in einem Zustand der selbstzufriedenen Tatenlosigkeit und gewinnen konservatives Denken und Protektionismus die Oberhand, dann wird es eine von Öl bestimmte Wirtschaft bleiben, in der Wirtschaft und wohl auch in der Politik beherrscht von einer geringen Anzahl von Oligopolen, und es wird nicht die Kraft finden, im Schumpeterschen Sinne den Aufschwung in seiner Industrie herbeizuführen. Das würde nicht zwangsläufig in eine Krise wie die von 1998 führen, müsste aber mit einer langen Periode bescheidenen Wirtschaftswachstums und in Zeiten niedriger Öl- und Erdgaspreise mit einem Absacken in die Stagnation rechnen, während gleichzeitig seine natürlichen Ressourcen Schritt für Schritt zur Neige gehen. Neben der Wahrung solider makroökonomischer Rahmenbedingungen steht Russland vor folgenden strategischen Prioritäten: a) Verbesserung des Investitionsklimas, b) weiterreichende Integration in die Weltwirtschaft, c) Reform der staatlichen Verwaltung und des öffentlichen Dienstes, d) Entwicklung des Humankapitals und e) Absicherung der sozial Schwachen. Verbesserung des Investitionsklimas Zur Verbesserung des Investitions- und Geschäftsklimas bedarf es einer Reihe von Maßnahmen in verschiedenen in diesem Zusammenhang relevanten Bereichen. Nachstehend die Bereiche, in denen der dringendste Handlungsbedarf besteht: * Reform der Versorgungsdienste Strom, Gas, Bahn und Öltransport. Die Sektoren werden nach wie vor von Monopolen beherrscht, die von nicht wirtschaftsgerechten Preisen und fetten Subventionen profitieren (die jährlichen Subventionen für den Gas- und Stromsektor können bis zu 30 % des BIP ausmachen). Diese Subventionen erhalten unrentable Betriebe künstlich am Leben, werden oft genug in diskriminierender Weise zugeteilt, nageln die knappen personellen, finanziellen und materiellen Ressourcen auf wenig produktive Sektoren fest und schaden der Umwelt, indem sie zur Vergeudung natürlicher Ressourcen verleiten. Die Regierung erkennt zwar, dass ein allmählicher Abbau der Überkreuz-Subventionen den Energiesektor und eine damit verbundene Erhöhung der Preise notwendig sind, doch die politisch heiklen Reformen in diesem Bereich (ausgenommen vielleicht der Stromsektor) sind noch nicht wirklich in Gang gekommen, vor allem weil viele russische Städte nahezu in totaler Abhängigkeit jeweils eines einzigen Industrieunternehmens leben, die unter Umständen Bankrott anmelden müssten, wenn man ihnen die Subventionen kappt. Die geringe Bereitschaft, das Problem der niedrigen Energieeffizienz des verarbeitenden Sektors anzupacken, schlägt sich auch im wachsenden Widerstreben Russlands nieder, angesichts der Lage der Dinge das Protokoll von Kyoto zu ratifizieren. * Trotz der vor kurzem mit der Deregulierung erzielten Fortschritte schafft ein Wust an staatlichen Lizenz-, Inspektions- und Genehmigungsvorschriften einen beträchtlichen Freiraum für Einmischungen der Regierung in die Wirtschaft und für Korruption, vor allem auf unterer Ebene, und das behindert in erheblichem Maße Investitionen im Produktivsektor und die Entstehung eines dynamischen Privatsektors. Im Allgemeinen werden die Gesetze in der Praxis in stark diskriminierender Weise, wenn nicht gar völlig willkürlich angewandt. * Die Reform des Banken- und Finanzsektors kommt nur langsam voran, wodurch dem Land die dringend benötigten Finanzintermediäre vorenthalten werden. Nach dem Kollaps einiger der größten Privatbanken im Jahr 1998 dominiert in dem Sektor die Staatliche Sparkasse, die nahezu 70 % aller Einlagen auf sich zieht. Angesichts der institutionellen Probleme haben private Wettbewerber wenig Chancen, eine echte Konkurrenz aufzubauen. * Trotz unbestreitbarer Fortschritte muss das Steuersystem noch weiter vereinfacht werden und bedarf größerer Kohärenz. * Rigorosere Durchsetzung der Unternehmensführungsregeln und Reform der Justiz, mit Schwergewicht auf einer verstärkten Unabhängigkeit von der Exekutive sind die entscheidenden Grundlagen für echte Rechtsstaatlichkeit. Einbindung der russischen Wirtschaft in die Weltwirtschaft Eine stärkere Einbindung in die Weltwirtschaft durch Verbesserung des Marktzugangs für russische Waren könnte eine rasante Verbesserung der Wirtschaftsleistung zur Folge haben, unter der Voraussetzung allerdings, dass die stärkere Öffnung mit strukturellen und institutionellen Reformen zur Unterstützung der Anpassung einhergeht. Ist diese Voraussetzung erfuellt, kann der WTO-Beitritt Russlands die Wirtschaft erheblich anheizen. Reform der staatlichen Verwaltung und des öffentlichen Dienstes Die Reform der staatlichen Verwaltung und des öffentlichen Dienstes auf föderaler und regionaler Ebene ist die Grundvoraussetzung für erfolgreiche strukturelle und institutionelle Reformen in anderen Bereichen. Massenentlassungen, Beseitigung von Doppelarbeit im Bereich der staatlichen Verwaltung und eine Neuordnung der Regierungsfinanzen dürfte zwar durch eine deutliche Anhebung der Gehälter kompensiert werden, doch dessen ungeachtet sind die meisten Reformen in diesem Bereich politisch schwer durchsetzbar. Entwicklung des Humankapitals Eine der größten Aufgaben für Russland liegt darin, eine Trendwende im Zusammenhang mit der Abwanderung von Humankapital herbeizuführen; Probleme wie die zunehmende Abwerbung der intellektuellen Eliten, der Niedergang des Bildungs- und Gesundheitswesens und die Diskriminierungen im Zugang zu den öffentlichen Versorgungsdiensten müssen angegangen werden. Absicherung der sozial Schwachen Das Sozialversicherungsnetz ist weitgehend unzulänglich, da den begrenzten Mitteln eine gewaltige Zahl Leistungsberechtigter gegenübersteht. Die soziale Absicherung muss gezielt den sozial Schwächsten zugute kommen, namentlich denen, die durch Preissteigerungen in den Versorgungsdiensten und industrielle Umstrukturierungen am härtesten betroffen sind. Das muss mit der Beendigung nicht zielgerichteter Leistungen und von Privilegien einhergehen, und erfordert eine Umwidmung der Mittel in Richtung Gesundheits- und Bildungswesen sowie den Aufbau einer modernen Familien- und Kinderwohlfahrt. Die EU hat die Möglichkeit, auf wichtige Aspekte des Reformprozesses einzuwirken, muss aber Prioritäten setzen Die analysierte Lage hat ganz eindeutig Auswirkungen auf die Beziehungen EU-Russische Föderation. Ziel der EU sollte die wirtschaftliche und politische Stabilisierung Russlands und die Schaffung der Rahmenbedingungen für ein solides Wirtschaftswachstum und die Integration Russlands in die Wirtschaft Europas und der Welt sein. In Anbetracht der wirtschaftlichen Autarkie und der geopolitischen Situation Russlands sollten jedoch die Einflussmöglichkeiten der EU nicht überschätzt werden; dessen ungeachtet kann die EU aber in Anbetracht ihrer Position erheblich und unmittelbar auf einige der strategischen Interessen Russlands einwirken und andere Interessen indirekt beeinflussen. Nach der Erweiterung wird die Russische Föderation geographisch und wirtschaftlich noch enger an die EU heranrücken. Die EU ist der bei weitem wichtigste Handelspartner Russlands, und nach der Erweiterung wird der EU-Anteil am Gesamthandel von zurzeit rund 37 % auf mehr als 50 % ansteigen. Auch für die EU ist Russland ein wichtiger Partner: Seit 1999 hat der Export nach Russland trotz niedrigen Weltwirtschaftswachstums zweistellige Zuwachsraten erzielt; 2002 wurde Russland zum fünftgrößten Handelspartner der EU und zum zweitgrößten der Beitrittsländer. 2002 erreichten der Dienstleistungsverkehr zwischen der Gruppe EU 15 und Russland einen Wert von 9,4 Mrd. EUR und der Warenverkehr 78,1 Mrd. EUR, von denen 5,8 Mrd. EUR auf Agrarerzeugnisse entfielen. Was die Agrarerzeugnisse anbelangt, so beabsichtigt die EU im Zusammenhang mit einem Abkommen im Bereich Tiergesundheit die Aushandlung von Vereinbarungen betreffend Zertifizierungsfragen abzuschließen, um zu verhindern, dass die EU-Exporte durch zusätzliche Zertifizierungsvorschriften behindert werden. In Anbetracht dieser Umstände hat die EU eindeutig ein Interesse daran, dass Russland zu einem stabilen Partner mit einer dynamischen offenen und diversifizierten Wirtschaft wird. Die Wirtschaft der EU und die Russlands ergänzen sich weitgehend, weshalb beide Seiten erheblich von einer vertieften wirtschaftlichen Integration profitieren würden. Die energiepolitische Interdependenz bestätigt dies noch zusätzlich. Oberste Priorität der EU sollte somit sein, die Aufnahme Russlands in die WTO weiter tatkräftig zu unterstützen und sich voll für die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraums einzusetzen. Im bisherigen Prozess der Vorbereitung auf die WTO-Mitgliedschaft war die EU für Russland ein äußerst wichtiger Partner. Der WTO-Beitritt wird für Russland folgende positive Konsequenzen haben: 1. größere Kalkulierbarkeit, Stabilität und Transparenz des Investitionsklimas, 2. Zollsenkungen, mit einer größeren Effizienz der Ressourcenallokation und der Konkurrenzfähigkeit der Industrie als Konsequenz, ohne dass die Wirtschaft einer nicht zu verkraftenden Anpassung ausgesetzt würde, 3. stärkere Integration in die Weltwirtschaft, mit größerem ADI-Zufluss und gleichzeitigem Technologie- und Know-how-Zuwachs für das verarbeitende Gewerbe und den Dienstleistungssektor im Gefolge, 4. Zugang zu den Drittlandsmärkten unter dem Schutz der WTO-Regeln und -Grundsätze. Die EU setzt sich dafür ein, dass Russland unter wirtschaftlich tragbaren Bedingungen in die WTO eintritt, damit der russische Agrar-, Industrie- und Dienstleistungssektor weiterhin hinreichend geschützt bleibt, und damit die mittel- und langfristige Entwicklung nicht gefährdet wird - bei gleichzeitig durch schrittweise Liberalisierung der Wirtschaft erstarkender Konkurrenzfähigkeit und zunehmendem Technologietransfer. Nach erfolgtem WTO-Beitritt Russlands müsste die EU vorrangig die Entwicklung des Gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraums in Angriff nehmen, der zur Integration der russischen Wirtschaft in die der erweiterten Union beitragen wird. Der Gemeinsame Wirtschaftsraum müsste im Interesse Russlands auf eine allmähliche Harmonisierung von Teilen des russischen Wirtschaftsrechts mit den in der EU geltenden Vorschriften ausgerichtet sein und parallel dazu über die WTO-Bedingungen hinausgehende Präferenzhandelsbeziehungen zwischen der EU und Russland schaffen. Das unterschiedliche Entwicklungsniveau und die Besonderheiten der Wirtschaft und Gesellschaft beider Seiten werden ebenfalls zu berücksichtigen sein. Investitionen sind ein entscheidender Faktor für nachhaltiges Wirtschaftswachstum und Russlands Weg in die Diversifizierung seiner Wirtschaft, Modernisierung der industriellen Basis und erfolgreichen Einführung neuer Technologien. Expandierender Investitionszufluss aus der EU ist auch ein wesentlicher Faktor für die Entwicklung des Gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraums. Mit zunehmender Konvergenz der russischen Regeln und Vorschriften einerseits und den Normen und Vorschriften des EU-Binnenmarkts andererseits wird Russland für Investitionen aus dem In- und Ausland immer attraktiver, und der Kapitalflucht könnte so entgegengewirkt werden. Verbesserte Bestimmungen betreffend die Investitionen wie z.B. die Gewährung der Inländerbehandlung für eine Liste von Sektoren, effiziente Wettbewerbspolitik, die Ausarbeitung bilateraler Abkommen zum Investitionsschutz und gegebenenfalls zur Investitionsförderung, der Aufbau eines Systems der gegenseitigen Unterrichtung über Investitionschancen sowie einheitliche vereinfachte Verwaltungsverfahren sind zusätzliche wichtige Faktoren der Investitionsförderung. Demographische Trends in Russland Aktuelle Situation Die Einwohnerzahl Russlands nimmt stetig ab, wie die letzte Volkszählung vom Oktober 2002 und neuere Daten aus dem Jahr 2003 bestätigen. Seit der vorherigen Volkszählung im Jahr 1989 (noch zu Zeiten der UDSSR) ist die Einwohnerzahl Russlands von 147,5 Millionen um 1,7% auf 144,4 Millionen zurückgegangen (Stand: September 2003, jüngste Aktualisierung der Volkszählung von 2002). Einige Experten äußern den Verdacht, dass bei der Volkszählung 7% der Bevölkerung nicht befragt worden sind; überrascht hat vor allem, dass die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,1 Millionen beziffert wurde. Da die sich verschlechternden Lebens- und Gesundheitsbedingungen der Abwanderung Auftrieb verleihen und die Zuwanderung den rapiden Bevölkerungsrückgang nur partiell (zu 4,5%) ausgleicht, sind die Experten der Auffassung, dass die Zuwanderung gefördert werden sollte. Frauen und Männer, Sterblichkeits- und Geburtenraten, Lebenserwartung Die Zahl der Geburten pro 100 Frauen im gebärfähigen Alter beträgt weniger als 1,2, wohingegen eine Geburtenrate von 2,2, erforderlich ist, um einen Bevölkerungsrückgang zu verhindern (den offiziellen Daten zufolge ist die Geburtenrate 2003 leicht angestiegen). Zusammen mit der Abwanderung in nicht zu den NUS gehörende Länder ist dies die Hauptursache des Bevölkerungsrückgangs. 77,7 Millionen aller Einwohner sind Frauen und 67,8 Millionen Männer. Dieser Frauenüberhang von 10 Millionen - der weltweit größte Frauenüberhang - ist seit dem Zweiten Weltkrieg konstant und für ehemalige Kriegsländer typisch. Die rohe Sterberate beträgt 16,2 pro 1.000 Einwohner und steigt stetig an. Viele Kinder sterben, bevor sie das erste Lebensjahr erreichen. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei Männern beträgt 58,4 Jahre - zahlreiche Männer sterben somit im erwerbsfähigen Alter. Die durchschnittliche Lebenserwartung bei Frauen beträgt 71,9 Jahre, womit die allgemeine durchschnittliche Lebenserwartung auf 64,8 Jahre zu beziffern ist. Herzerkrankungen, schlechter Allgemeinzustand, Arbeitsunfälle, Selbstmord, Alkoholismus und die generelle Verschlechterung der Lebensbedingungen sind die Haupttodesursachen. Bevölkerungsverteilung Der Zentrale Bezirk hat den höchsten Anteil an der Gesamtbevölkerung (26,2%). Es folgen der Bezirk Wolga mit 21,5%, der Südliche Bezirk mit 15,8%, der Bezirk Sibirien mit 13,8%, der Bezirk Nordwesten mit 9,6% und der Bezirk Ural mit 8,5%. Der Bezirk Fernost, wo 4,6% der Gesamtbevölkerung leben, weist den größten Bevölkerungsschwund auf. Der stärkste Bevölkerungszuwachs ist seit 1989 im Südlichen Bezirk (Rostow) und im Zentralen Bezirk (Moskau) zu verzeichnen. Der Norden Russlands und die Region Ferner Osten weisen die größten Bevölkerungsverluste auf. Seit 1989 ist die Bevölkerung des Bezirks Nordwesten um durchschnittlich 10% zurückgegangen. Hingegen ist Dagestan die Republik mit dem höchsten Bevölkerungszuwachs (43%), gefolgt von Tschetschenien (23%). 73% der Bevölkerung leben in Städten, 27% auf dem Land; dieser Verteilungstrend ist seit 1972 stabil. 12 Städte haben mehr als 1 Million Einwohner. Mehr als 13.000 Dörfer sind entvölkert; 35.000 Dörfer haben nicht mehr als 10 Einwohner. Migrationstrends und Mobilität, ethnische Zusammensetzung Seit 1989 hat Russland nahezu 11 Millionen Zuwanderer aufgenommen, während 5 Millionen Menschen das Land verlassen haben, was einen Nettozuwachs von 5,5 Millionen Zuwanderern ergibt, die überwiegend aus den NUS und den Balkanländern stammen. Damit wurde der Bevölkerungsrückgang jedoch lediglich zu 4,5% ausgeglichen. Trotz vieler Mobilitätshindernisse nimmt die Binnenmigration zu. Es überwiegt die Migration vom Osten in den Westen bzw. vom Süden in den Norden Russlands, und vor allem junge Menschen mit höherer Schulbildung sind von diesem Trend erfasst. Neben den ethnischen Russen (rund 120 Millionen aller Einwohner) gibt es zahlreiche Minderheiten. Die drei größten Gruppen sind die Tataren (5 Millionen), die Ukrainer (4 Millionen) und die Tschetschenen (1,1 Millionen). Prognosen Einigen Prognosen zufolge wird die Einwohnerzahl durch den anhaltenden Bevölkerungsschwund bis 2050 um 30% auf rund 101 Millionen zurückgehen, den düstersten Vorhersagen zufolge sogar um bis zu 47% auf rund 76 Millionen. Die Überalterung der Bevölkerung schreitet stetig voran. In einigen Prognosen wird davor gewarnt, dass die Rentner in 50 Jahren 35,2% der Bevölkerung ausmachen werden, gegenüber derzeit 20,6%. Dies würde bestätigen, dass Russland eine stärkere Zuwanderung braucht.