30.4.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 117/22


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Bewertung der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung — Sondierungsstellungnahme“

(2004/C 117/08)

Die Kommission ersuchte den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss am 12. November 2003 in einem Schreiben von Frau LOYOLA DE PALACIO gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um eine Sondierungsstellungnahme zum Thema: „Bewertung der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung und Umwelt nahm ihre Stellungnahme am 5. April 2004 an. Berichterstatter war Herr RIBBE, Mitberichterstatter Herr EHNMARK.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 408. Plenartagung am 28. und 29. April 2004 (Sitzung vom 28. April) mit 77 gegen 23 Stimmen bei 14 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

0.   Zusammenfassung

0.1

Seit vielen Jahren gibt es Bestrebungen, die nachhaltige Entwicklung innerhalb der EU zu fördern und nicht-nachhaltige Trends einzudämmen. Auf dem EU-Gipfel von Göteborg wurde eine Strategie der Europäischen Union für die nachhaltige Entwicklung beschlossen, um diese Bemühungen zu bündeln und zu intensivieren. Die jüngsten Untersuchungen der Europäischen Kommission zeigen jedoch, dass diese Bestrebungen bislang noch nicht ausreichen und dass Europa in diesem Punkt weiterhin vor großen Herausforderungen steht.

0.2

In der vorliegenden Sondierungsstellungnahme, um deren Erstellung der EWSA von der Kommission gebeten wurde, werden die verschiedenen Probleme der EU auf dem Weg zur nachhaltigen Entwicklung analysiert und es wird untersucht, wie die EU ihre Strategie der nachhaltigen Entwicklung verstärken müsste. Die Gründe dafür sind vielfältig: unter anderem bestehen innerhalb von Politik und Gesellschaft höchst unterschiedliche Auffassungen darüber, was nachhaltige Entwicklung überhaupt ist und inwieweit unsere derzeitigen Produktions- und Konsumgewohnheiten mit Nachhaltigkeitsgedanken bereits kompatibel bzw. inwieweit sie zu verändern sind, d.h. was also konkret von wem zu tun ist (vgl. Ziffer 2.2).

0.3

Der EWSA sieht eine besondere Aufgabe der überarbeiteten Nachhaltigkeitsstrategie darin, deutlich zu machen, dass die nachhaltige Entwicklung überwiegend positive Änderungen mit sich bringt, wenn die richtigen Maßnahmen und Mittel gewählt werden, die Gesellschaft also insgesamt davon profitiert. Darüber besteht nämlich noch längst kein Konsens: vielmehr werden Zweifel geäußert, ob die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit Europas mit einer nachhaltigen Entwicklung in Einklang gebracht werden kann.

0.4

Der EWSA hat niemals Zweifel daran gelassen, dass eine gesunde Wirtschaft mit prosperierenden Unternehmen die entscheidende Voraussetzung für Arbeit und Umwelt und für gesellschaftliche Fortentwicklung ist, umgekehrt aber auch eine gesunde Wirtschaft mit prosperierenden Unternehmen im Ergebnis immer unmittelbarer von der Qualität und dem Niveau von Arbeit, Umwelt und sozialer Entwicklung abhängt. Es ist bislang nicht gelungen zu vermitteln, dass die nachhaltige Entwicklung in diesem Sinne enorme neue Möglichkeiten schafft. Das liegt u.a. daran, dass viele Fragen, die sich aus diversen Forderungen oder Veröffentlichungen ergeben, noch nicht ausreichend beantwortet sind (vgl. Ziffer 2.2.) Man ist sich über die Konsequenzen unklar, und deshalb macht sich Skepsis breit. Der Kommission wird daher vom EWSA dringend empfohlen, in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs mit der organisierten Zivilgesellschaft alle diese grundlegenden Verständnisfragen (vgl. Ziffer 2.3) ausführlich zu diskutieren und zu klären — und zwar unter Einschluss derjenigen Fragen, die bislang mit Tabu belegt sind.

0.5

Nachhaltige Entwicklung bedeutet die Weiterentwicklung der Marktwirtschaft, bedeutet eine noch engere Verknüpfung von Umwelt, Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit mit Fragen der Verteilungs- und Generationengerechtigkeit (vgl. Ziffer 2.1.10). Die Nachhaltigkeitsstrategie muss also weit längere Zeiträume in Betracht ziehen und noch weit mehr Aspekte berücksichtigen, als es die Lissabon-Strategie tut. Bei dieser geht es primär darum, Europa bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum zu entwickeln. Der EWSA beschreibt daher in Ziffer 2.4, wie diese beiden Strategien miteinander in Verbindung stehen und wie sie sich optimal ergänzen können. Er weist aber durchaus auch auf offene Frage hin.

0.6

Die so genannten „freien Marktkräfte“ sind schon heute u.a. durch Umwelt- und Sozialauflagen reguliert und diese Regulierung wird durch die Umsetzung einer konsequenten Nachhaltigkeitspolitik fortgesetzt. Dadurch werden in einigen Bereichen neue Wachstumsschübe ausgelöst, während es bei nicht nachhaltigen Nutzungen zu wirtschaftlichen Einbrüchen kommen wird. D.h. im Rahmen der nachhaltigen Entwicklung wird es auch darum gehen, nicht nachhaltige Tendenzen entgegenzuwirken. Dabei ist eine Diskussion über Besteuerung, Subventionen, Lizenzen und Regelwerke erforderlich, um die Verwirklichung dieses Nachhaltigkeitsmodells zu gewährleisten.

0.7

Für den EWSA ist es eindeutig, dass die jetzige EU-Nachhaltigkeitsstrategie, die auf dem Gipfel in Göteborg beschlossen wurde, einer Überprüfung unterzogen werden muss, die auf ein größeres Gleichgewicht zwischen den drei Dimensionen „Umwelt“, „Wirtschaft“ und „Soziales“ abzielt (vgl. Ziffer 3.2 ff). Deutlich werden muss in dieser Strategie auch, wie die einzelnen Politiken der EU kohärenter gestaltet werden können (vgl. Ziffer 3.8 ff) und wie entsprechende Nachhaltigkeitsstrategien, die auf nationaler, regionaler und gar lokaler Ebene initiiert werden müssen, miteinander vernetzt werden können (vgl. Ziffer 5).

0.8

Die nachhaltige Entwicklung erfordert nicht nur Änderungen der Produktions- und Verbrauchsweisen innerhalb der EU. Die nachhaltige Entwicklung muss natürlich eine Konsequenz für den internationalen Handel und somit für die WTO haben. Denn eine Politik, die aus Nachhaltigkeitsgründen beispielsweise die Internalisierung aller externen Kosten betreibt und daneben auch noch andere Faktoren berücksichtigt, kann zu Wettbewerbsnachteilen gegenüber anderen Volkswirtschaften führen, die sich den Nachhaltigkeitsprinzipien nicht oder nur teilweise anschließen. In diesem Fall muss es möglich sein, die sektoralen Nachteile im Handel zu kompensieren. Deshalb fordert der Ausschuss in Ziffer 6 die Kommission auf, die externen Aspekte zu berücksichtigen, was u.a. heißt, entsprechend auf eine Änderung der WTO-Regeln zu drängen.

0.9

Der Erfolg der zukünftigen Nachhaltigkeitsstrategie wird umso wahrscheinlicher sein, je mehr sie möglichst quantifizierbare Ziele und Maßnahmen benennt und wenn sie nachvollziehbare Indikatoren für die Überprüfung der Fortschritte und für die Evaluierung der Wirksamkeit der Politiken festlegt (vgl. Ziffer 7). Das ist bei der Nachhaltigkeitsdebatte schwierig, denn einen Punkt, an dem man sagen kann, dass das Ziel erreicht sei, gibt es nicht. So gesehen ist nachhaltige Entwicklung weniger ein Ziel, als ein Prozess, was die Politik keinesfalls leichter macht. Trotzdem sollte die Politik versuchen, möglichst klare Zielvorgaben zu formulieren und durchaus auch einen Zeitrahmen zu formulieren. Häufig wird dabei deutlich werden, dass es vieler Zwischenschritte bedarf. Der EWSA macht dies am Beispiel der Ziele von Kyoto deutlich.

0.10

Die Politik der nachhaltigen Entwicklung bedarf natürlich auch einer Überprüfung. Vor allem aber braucht sie Transparenz. Denn die nachhaltige Entwicklung ist auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens und breite Unterstützung angewiesen. Dies setzt vielfältiges Wissen voraus. Wissen darüber, was nachhaltige Entwicklung ist und welche Konsequenzen sie haben wird, bzw. welche Konsequenzen zu erwarten wären, wenn wir keine Nachhaltigkeitspolitik betrieben. Schon die Erstellung der neuen Nachhaltigkeitsstrategie, später aber auch die Umsetzung, sollte deshalb in einem breiten politischen Diskurs erfolgen (vgl. Ziffer 8). Der entsprechende partizipative Prozess muss aber gänzlich anders gestaltet werden als dies im Vorfeld von Göteborg der Fall war. Damals waren die Fristen viel zu kurz und ein wirklicher gesellschaftlicher Diskussionsprozess, wie er nun partiell bei der Erstellung dieser EWSA-Sondierungsstellungnahme stattgefunden hat, war damals nicht gegeben.

1.   Vorwort

1.1

Mit Schreiben vom 12.11.2003 bat die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Frau de Palacio, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss um die Erarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zu der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung als Beitrag zu den wichtigsten politischen Orientierungen für eine Überprüfung der Strategie. Der Ausschuss sollte nach Vorstellung der Kommission:

die Fortschritte auf dem Weg zur Erreichung der wichtigsten Ziele der Strategie für nachhaltige Entwicklung bewerten;

den Bedarf an einer Ausweitung der Strategie einschätzen;

die Folgen der Erweiterung untersuchen;

die Möglichkeit erörtern, eine stärkere Verbindung zu den nationalen Strategien herzustellen;

die Notwendigkeit erörtern, die externen Aspekte und die Folgemaßnahmen zum Johannesburg-Gipfel in die allgemeine Strategie zu integrieren;

die Notwendigkeit der Festsetzung von klareren strategischen Zielen und Indikatoren erörtern;

Überlegungen dazu anstellen, wie das Umsetzungsverfahren verbessert werden kann;

Ideen liefern, wie eine Kommunikationsstrategie für nachhaltige Entwicklung angelegt sein sollte.

1.2

Darüber hinaus soll diese Sondierungsstellungnahme aber auch die laufende interne Debatte innerhalb des EWSA weiter voran bringen, da die organisierte Zivilgesellschaft — auf allen politischen und administrativen Ebenen — entscheidende Impulse liefern und Beiträge leisten muss, um eine dauerhafte Entwicklung zum Wohle der derzeit lebenden und der zukünftigen Generationen Wirklichkeit werden zu lassen.

2.   Bewertung der Fortschritte auf dem Weg zur Erreichung der wichtigsten Ziele

2.1   Der aktuelle Stand auf dem Weg zur nachhaltigen Entwicklung

2.1.1

Für den EWSA besteht kein Zweifel daran, dass das Thema „nachhaltige Entwicklung“ in den letzten Jahren in der politischen Diskussion einen immer wichtigeren Stellenwert gefunden hat. Die grundlegende Bedeutung des Themas ist zweifellos von den Dienststellen der Kommission anerkannt, und auch formal ist die nachhaltige Entwicklung in den Europäischen Verträgen (1) verankert. Der EWSA erwartet eine Stärkung der nachhaltigen Entwicklung als übergeordnetes Ziel durch die zu verabschiedende Verfassung.

2.1.2

Die Kommission kann bei ihren Arbeiten zur Erreichung einer nachhaltigen Entwicklung mittlerweile auf eine breite Palette von Initiativen verweisen. Der Versuch der notwendigen Vernetzung von wirtschaftlichen, sozialen und umweltpolitischen Fragestellungen hat in den letzten Jahren eindeutig an Bedeutung und Aufmerksamkeit gewonnen. Ein Beispiel hierfür ist der Auftrag des Europäischen Rates von Cardiff im Juni 1998 an alle betroffenen Fachräte, umfassende Strategien zur Integrierung der Belange der Umwelt und der nachhaltigen Entwicklung in ihren Politikbereich zu entwickeln (2). Dieser Prozess, um den es aber sehr ruhig geworden ist, kann leider keinesfalls als endgültig erfolgreich abgeschlossen angesehen werden. Die inzwischen initiierte Lissabon-Strategie erwies sich bislang hinsichtlich der nachhaltigen Entwicklung als unzureichend, weshalb — durch den Beschluss des Europäischen Rates von Göteborg — ein Umweltkapitel hinzugefügt werden musste.

2.1.3

Der Europäische Rat hat in Göteborg auf der Grundlage einer Mitteilung der Kommission vier von sechs vorgeschlagenen Themen als vorrangig für die Nachhaltigkeitsdebatte ausgewählt. Diese sind:

Klimaveränderungen

Verkehr

Öffentliche Gesundheit

Natürliche Ressourcen.

Nicht aufgegriffen wurden die Themen „Armutsbekämpfung“ und „Überalterung“, was dazu führt, dass die Nachhaltigkeitsstrategie scheinbar einen Schwerpunkt auf die Umweltdimension legt und sozialen Aspekten weniger Beachtung schenkt. Der EWSA hält dies für ein inadäquates Signal. Seiner Ansicht nach sind diese strukturellen Aspekte von grundlegender Bedeutung für eine langfristige Perspektive, für die Berücksichtigung der globalen Dimension der Strategie und schlussendlich für das Engagement der Bürger hinsichtlich ihrer Verbesserung.

2.1.4

Die Kommission hat damit begonnen, ihre eigene Politik bzw. zumindest Teilpolitiken zu überprüfen, um zu klären, ob man sich bereits auf dem richtigen Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung befindet. Die wohl aktuellste (Teil-)Überprüfung erfolgte mit der Vorlage der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament „Überprüfung der Umweltpolitik 2003“ (3). Darin wird die Umweltdimension der Nachhaltigkeit beleuchtet, die Kommission kommt zu sehr ernüchternden Ergebnissen (4).

2.1.4.1

In Bezug auf die Klimaschutzpolitik wurde auf dem Gipfel in Göteborg noch angekündigt, bereits „bis 2005 nachweisliche Fortschritte bei der Erreichung“ der Kyoto-Ziele zu erzielen (5). Die Überprüfung der Umweltpolitik kommt aber zum Ergebnis, dass die EU bei Beibehaltung der jetzigen Politik kaum in der Lage sein wird, die Kyoto-Ziele zu erreichen.

2.1.4.2

Auch beim Verkehr gibt es keine Hinweise darauf, dass sich die EU auf dem richtigen Weg zu einer nachhaltigeren Politik befindet. So wird beispielsweise festgestellt, dass die klimaschädigenden Emissionen im Verkehrssektor weiter steigen, und dass besonders in den Beitrittsländern die Trends „nicht ermutigend (seien): Im Schienen- und Busverkehr kam es zu einem starken Rückgang, und im Luft- und PKW-Verkehr waren höhere Wachstumsraten als in der EU zu verzeichnen“ (6).

2.1.4.3

Im Gesundheitsbereich weist die Kommission darauf hin, dass jährlich rund 60.000 Todesfälle in großen Städten der EU wegen überhöhter Luftverschmutzung zu beklagen sind. Jedes 7. Kind leidet an Asthma, die Zahl hat sich in den letzten Jahren drastisch erhöht (7).

2.1.4.4

Bei den natürlichen Ressourcen sind die Aussichten ebenfalls eher noch schlecht. Besonders bei der biologischen Vielfalt sieht die Kommission noch große Probleme innerhalb der EU (8).

2.1.5

Die Kommission kommt im Dezember 2003 letztlich zu dem Ergebnis, dass in den letzten Jahren zwar schon viele Umweltschutzmaßnahmen ergriffen, dennoch aber „die Eindämmung der derzeitigen nicht-nachhaltigen Umwelttrends“ noch nicht ausreichend erfolgte (9). Dies ist sicherlich kein schönes, aber auch kein absolut überraschendes Ergebnis. Denn auch schon 1999 wurde in der Mitteilung der Kommission „Die Umwelt Europas — für eine dauerhafte und umweltgerechte Entwicklung“ (10) darauf hingewiesen, dass „im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung (...) nur begrenzt Fortschritte erzielt (wurden)“ und dass die „in dieser Mitteilung aufgezeigten Tendenzen dokumentieren (...), dass Europa nicht im Begriff ist, eine nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten“.

2.1.6

Der EWSA interpretiert dies alles dahingehend, dass wir uns erst am Anfang eines sicherlich nicht einfachen Weges hin zur nachhaltigen Entwicklung befinden. Davon zeugt auch die Tatsache, dass zu einigen der vorrangigen umweltpolitischen Themenbereiche die Kommission erst damit angefangen hat, Papiere zu erarbeiten, die in entsprechenden Fachstrategien münden sollen. Entsprechende Papiere zum Stand der Nachhaltigkeitsdebatte aus wirtschaftlicher und sozialer Sicht sind dem EWSA bislang nicht bekannt geworden.

2.1.7

Für den EWSA ergibt sich somit derzeit das Bild, dass

die sich in Europa in Bezug auf die nachhaltige Entwicklung ergebenden Probleme von der Kommission durchaus erkannt werden,

durchaus auch schon in der Theorie wie in der Praxis Instrumente und Maßnahmen entwickelt, diskutiert und z.T. sogar implementiert wurden (u.a. Streichung abträglicher Subventionen, verstärkte Förderung nachhaltiger Verfahren, Internalisierung externer Kosten...),

diese aber nicht konsequent genug angewendet werden.

2.1.8

Der EWSA kann sich deshalb nur der Kommissionsfeststellung anschließen, dass „viele der derzeitigen nicht-nachhaltigen Trends (...) ein Ergebnis der Nicht-Beachtung der Verflechtungen zwischen den einzelnen Sektoren (sind), was dazu führt, dass Politiken in verschiedenen Bereichen gegeneinander arbeiten, statt sich gegenseitig zu unterstützen. Dieser Mangel an Politikkohärenz macht Politiken kostenaufwendiger, weniger effizient und hemmt somit den Fortschritt auf dem Weg zu nachhaltiger Entwicklung“ (11).

2.1.9

Die Erkenntnis der Kommission, dass einige ihrer eigenen Politiken eine nachhaltige Entwicklung eher behindern als fördern, wiegt umso schwerer, als die Kommission selbst sich im Klaren darüber ist, wie unabdingbar in diesem Feld politische Führungsqualitäten sind: „Um die für die nachhaltige Entwicklung erforderlichen Veränderungen zu verwirklichen, bedarf es eines hohen politischen Engagements. Zweifelsohne wird die nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft als Ganzes zu Gute kommen, dennoch muss zwischen unterschiedlichen Interessen abgewogen werden. Wir müssen diesem Prozess offen und ehrlich begegnen. Veränderungen in der Politik müssen fair und ausgewogen erfolgen, und engstirnige Interessen einzelner Bereiche dürfen nicht dem Wohlergehen der Gesellschaft als Ganzes vorangestellt werden“ (12).

2.1.10

Dem EWSA fällt auf, dass in den bisherigen Überlegungen der EU zur Nachhaltigkeit zentrale Fragestellungen wie Generationengerechtigkeit (leben wir auf Kosten zukünftiger Generationen?), Verteilungsgerechtigkeit (leben wir auf Kosten anderer Gesellschaften, z.B. der dritten Welt?) oder globale Armutsbekämpfung nicht erkennbar behandelt, zumindest nicht auseichend kommuniziert werden. Diesem Umstand könnte man sicherlich besser begegnen, wenn nicht nur die Umweltdimension, sondern auch die wirtschaftliche und die soziale Dimension seitens der Kommission einer ständigen Überprüfung in Bezug auf die nachhaltige Entwicklung unterzogen würden. Bereits der Europäische Rat von Stockholm hatte 2001 gefordert, dass „in den nächsten Grundzügen der Wirtschaftspolitik (...) auch die Förderung der nachhaltigen Entwicklung behandelt werden (sollte)“ (13). Eine derartige Behandlung ist allerdings bislang ausgeblieben. Dabei müssten die angesprochenen Fragen genauso intensiv erörtert werden wie die Frage, welche ökologische Konsequenzen es langfristig hätte, wenn unser derzeit praktiziertes Produktions- und Konsumsystem von allen Menschen auf diesem Planeten unverändert übernommen würde (14).

2.1.11

Die Finanzielle Vorausschau 2007-2013 für die EU (15) wäre eine günstige Gelegenheit gewesen, einer nachhaltigen Entwicklung entscheidende Impulse zu geben. Der Ausschuss stellt jedoch fest, dass es nicht ausreicht, bisherige Politiken, die sich durchaus als problematisch für die nachhaltige Entwicklung erwiesen haben, unverändert fortzusetzen und sie zukünftig unter dem Haushaltstitel „Nachhaltiges Wachstum“ zu führen. Er weist darauf hin, dass „Nachhaltige Entwicklung“ und „Nachhaltiges Wachstum“ zunächst zwei unterschiedliche Dinge sind, die sich ergänzen sollten, die aber durchaus auch in Konflikt stehen können (vgl. Ziffer 2.3), weshalb eine eindeutige Differenzierung auch in der finanziellen Vorschau von Nöten ist.

2.2   Wieso sind wir noch nicht entscheidend weiter? Wo liegen die Probleme auf dem Weg zur nachhaltigen Entwicklung?

2.2.1

Nach Auffassung des EWSA kommt die nachhaltige Entwicklung aus folgenden Gründen nur unzureichend voran:

es gibt noch keinen Konsens über die Bewertung der derzeitigen Situation, geschweige denn über die zu treffenden Maßnahmen, und zwar weder weltweit, noch in der EU, auch nicht auf nationaler oder auf regionaler bzw. lokaler Ebene;

es herrscht ein hohes Maß an Unklarheit darüber, was nachhaltige Entwicklung überhaupt konkret ist und wie sich die zukünftige Entwicklung von der heutigen Lebenssituation unterscheiden wird, woraus sich Ängste und Widerstand potenziell betroffener Sektoren ergeben;

unklar ist bislang geblieben, wie die Politik zur nachhaltigen Entwicklung im politischen Alltagsgeschäft eingeordnet und organisiert wird und wie die Einbeziehung einer Nachhaltigkeitsperspektive in alle relevanten Politikbereiche konkret aussehen soll;

und ferner, wie der potentielle Konflikt zwischen einer konsequenten Politik zur Förderung der Nachhaltigkeit mit den Bestimmungen beispielsweise des Welthandels (WTO) gelöst werden kann (16).

2.2.2

Der EWSA versteht die Nachhaltigkeitsstrategie als die übergeordnete politische Zielsetzung für die kommenden Jahrzehnte. Alle aktuellen Politiken und Programme müssen sich daran orientieren, sie müssen den langfristigen Nachhaltigkeitszielen entsprechen und diese unterstützen. Dies gilt für die Lissabon-Strategie (s. Ziffer 2.4) ebenso wie für alle anderen, derzeit in Arbeit befindlichen Politikstrategien und Aktionen.

2.2.3

Politisch kann die Kommission dabei auf eine breite Unterstützung der Bevölkerung bauen. Umfragen haben ergeben, dass der Grundsatz der Generationengerechtigkeit und das Ziel, nicht mehr Ressourcen zu verbrauchen, als nachwachsen, von einer sehr breiten Mehrheit in der Bevölkerung geteilt werden, während nur eine Minderheit den Begriff „nachhaltige Entwicklung“ überhaupt schon einmal vernommen hat. D.h. mit der generellen Zielsetzung der Politik, die hinter der nachhaltigen Entwicklung steht, können sich die Menschen identifizieren, mit dem Begriff selbst kann jedoch nur eine kleine Minderheit etwas anfangen. Dies deutet auf ein erhebliches Vermittlungsproblem hin, das gelöst werden muss.

2.2.4

Auf relativ unkonkrete verbale Formeln wie: „Wir müssen zu einer Entwicklung gelangen, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“ (17) hat man sich schnell geeinigt. Niemand mag sich einer solchen Aussage verweigern.

2.2.5

Auch Formulierungen wie „Man solle die Fehler nicht wiederholen, die wir gemacht haben“ — im Rahmen der Erweiterung der EU häufig verwendet — sind schnell ausgesprochen. Sie bleiben aber folgenlos, wenn man entweder die Fehler nicht beim Namen benennt oder wenn man zwar auf Gegenstrategien verweist, selbige aber nicht anwendet. Die Verkehrspolitik ist ein gutes Beispiel hierfür.

2.2.6

Ein Ziel der Nachhaltigkeitsstrategie muss es deshalb sein, auf der einen Seite die negativen Trends deutlicher als bisher zu benennen und Gegenmaßnahmen dazu zu entwickeln. Daneben sollten die positiven Beispiele und Entwicklungstrends stärker befördert werden.

2.2.7

Eine Strategie ist definiert als genauer Plan des eigenen Vorgehens, um ein Ziel zu erreichen, wobei diejenigen Faktoren, die in die eigene Aktion hineinspielen könnten, von vornherein einkalkuliert werden. Die zukünftige Nachhaltigkeitsstrategie der EU müsste folglich

klare Ziele vorgeben,

die einzelnen Instrumente zur Erreichung des oder der Ziele beschreiben, wozu auch gehört, die jeweiligen Verantwortlichkeiten, Kompetenzen und Einflussmöglichkeiten genau zu beschreiben,

langfristige Ziele ggf. in Zwischenziele unterteilen, deren Einhaltung bzw. Erreichung anhand verständlicher Indikatoren regelmäßig zu überprüfen ist,

sich den Faktoren widmen, die auf diesem Weg Probleme bereiten könnten und

sicherstellen, dass alle Politikbereiche stets anhand von Nachhaltigkeitskriterien analysiert und bewertet werden.

2.2.8

Nun ist die nachhaltige Entwicklung mehr ein qualitativer Prozess, der nur z.T. klar quantifizierbare, an konkreten Zahlen ablesbare Zielpunkte aufweist. Es wird bei der nachhaltigen Entwicklung — anders als bei vielen anderen Politikbereichen, wo definierbare Zielsetzungen existieren (x % Wachstum, y % Arbeitslosigkeit oder Erreichung des Grenzwerts z) — nie den Punkt geben, zu dem man sagen können wird, nun müsse noch diese oder jene Aktion umgesetzt oder jenes Gesetz beschlossen werden, dann ist das Ziel erreicht. Wenn aber ein politisches Ziel für viele Menschen eher diffus bleibt, ist es umso wichtiger, an ganz konkreten Beispielen aus der erfahrbaren Lebensumwelt zu beschreiben, was man sich unter einer nachhaltigen Entwicklung vorzustellen hat und welche konkreten Konsequenzen die Umsetzung einer Strategie haben wird.

2.2.9

Der EWSA hat in seiner Initiativstellungnahme vom 31.5.2001 (18) den damaligen Entwurf der Nachhaltigkeitsstrategie der EU begrüßt und ausgeführt, dass er sich „dessen bewusst (ist), dass Maßnahmen für eine nachhaltige Entwicklung teilweise — und dies ist durch die Art der Maßnahmen selbst bedingt — ein radikales Herangehen an die künftige Entwicklung der Gesellschaft erforderlich machen. Auf diesem Weg werden einige schmerzhafte Entscheidungen zu treffen sein“. Die Nachhaltigkeitsstrategie der EU ist in diesem Punkt aber extrem unkonkret und viel zu abstrakt, sie macht nicht wirklich deutlich, welche Veränderungen auf welcher Ebene konkret anstehen und welche Konsequenzen diese Langfristpolitik auf das heutige Wirtschaften und Handeln haben muss.

2.2.10

Kommissionspräsident Prodi schreibt zwar im Vorwort zur Nachhaltigkeitsbroschüre der EU, „dass nachhaltige Entwicklung kein akademischer Begriff ohne praktische Bedeutung ist“, sondern dass „es (...) um konkrete Dinge und Entscheidungen (geht), die tiefgreifenden Einfluss auf unser tägliches Leben haben“ (19). Doch die Strategie zeigt mit ihrem hohen Abstraktionswert die tiefgreifenden Einflüsse nicht konkret genug auf. Dies ist einer der entscheidenden Mängel, der zukünftig abgestellt werden muss.

2.2.11

Der EWSA steht zu seinem Bekenntnis zur Unterstützung einer nachhaltigen Entwicklung. Er ist sich einig darüber, dass die nachhaltige Entwicklung weder ein Luxus ist, den sich „reiche“ Gesellschaften leisten können, noch dass es eine von mehreren wählbaren Optionen darstellt. Eine Abkehr von Produktions- und Konsummustern, die sich als nicht nachhaltig erwiesen haben, ist nötig. Schließlich geht es um die Erhaltung der menschlichen Lebensgrundlagen, die gleichzeitig Grundlage für die Wirtschaft sind. Insofern ist die nachhaltige Entwicklung eine zwingende Notwendigkeit, um den Herausforderungen der Zukunft zu begegnen.

2.2.12

Es sollte kontinuierlich betont werden, dass nachhaltige Entwicklung grundlegende gesellschaftliche Veränderungen voraussetzt. Die Bürger müssen in die Lage versetzt werden, auf der Grundlage ihres Wissens und ihrer Bildung, nachhaltige Entwicklung in die Tat umzusetzen und die damit verbundenen Herausforderungen für die Zukunft anzunehmen.

2.2.13

Der EWSA steht zu dieser Aussage auch in dem Wissen, dass es sicherlich zu erheblichen Veränderungen kommen wird. Er zweifelt daran, dass es dabei nur sog. win-win-Situationen gegen wird. Will man aber wirklich voran kommen, ist es zwingend notwendig, den abstrakten Themen bzw. Zielsetzungen einen eindeutigen Bezug zur konkreten Lebenswelt zu geben. Scheinbar Fernliegendes muss im eigenen Nahbereich sichtbar gemacht werden. Dass heißt, die Strategie muss Antworten auf eine Vielzahl offener Fragen geben, u.a.:

Wie könnte das von der Kommission in der Mitteilung „Für eine dauerhafte und umweltgerechte Entwicklung“ erwähnte „Faktor-10-Konzept“ (20), das besagt, dass längerfristig die absolute Ressourcennutzung in den Industriestaaten auf ein Zehntel reduziert und eine gerechtere weltweite Verteilung der Ressourcen erreicht werden soll, konkret aussehen? Soll dieses Konzept im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie überhaupt verbindlich werden? Wie kann eine (wachsende) Wirtschaft, wie kann der Verkehr funktionieren, wenn nur 1/10 der Rohstoffe verfügbar sind? Wo liegen die realistischen Grenzen der Ressourceneffizienz? Mit welchen Instrumenten könnte bzw. sollte dieser Ansatz umgesetzt werden?

Wie kann eine wettbewerbsfähige Wirtschaft aussehen (die zudem qualitativ hochwertige Arbeitsplätze schafft), wenn die klimaschädigenden Emissionen global um 70 % herunter gefahren werden müssen (21)? Wie würde sich die Wettbewerbsfähigkeit verändern, wenn das Faktor-10-Konzept auch auf den Energiebereich übertragen wird, der Anteil regenerativer Energien also weit stärker wachsen muss als bislang geplant?

Welche Wirtschaftssektoren werden Probleme bekommen, wenn ihnen die erheblichen externen Kosten einer nicht-nachhaltigen Produktionsweise angelastet werden, welche werden neu wachsen, wie soll dieser Strukturwandel konkret aussehen und wie soll er politisch gestaltet und begleitet werden?

Wie sehen also beispielsweise die politischen Maßnahmen zur Entkopplung von Verkehrs- und Wirtschaftswachstum konkret aus, was bedeuten sie für die Arbeitsteiligkeit der Wirtschaft?

Wie will man die Abschaffung von Subventionen, die der nachhaltigen Entwicklung widersprechen, konkret angehen? Welche sind dies genau?

Wie will man (und bis wann) die Internalisierung der externen Kosten gewährleisten? Welche Auswirkungen wird dies z.B. auf den Verkehrsbereich haben, wo die Kommission selbst feststellt, dass „weniger als die Hälfte der externen Umweltkosten... in die Marktpreise einfließen“, was bedeutet, dass ein „nicht nachhaltiges Nachfrageverhalten gefördert wird“ (22)? Was würde es für den Energiebereich bedeuten, wenn die bei der Elektrizitätsproduktion entstehenden externen Kosten von durchschnittlich rund 4-5 Cent pro Kilowattstunde bei Kohle oder von 3-6 Cent pro Kilowattstunden bei Öl (23) dem Endverbraucher in Rechnung gestellt würden?

2.2.14

Werden auf solche Fragen im Rahmen der Strategie keine nachvollziehbaren Antworten gegeben, besteht die Gefahr, dass sich in bestimmten Kreisen Ängste und Befürchtungen aufbauen, die letztlich in Widerstände gegen eine entsprechende Politik münden. Diese Gefahr ist dann besonders groß, wenn der Eindruck entsteht, dass die nachhaltige Entwicklung eher eine Erschwernis und Bedrohung für die Wirtschaft bedeutet, sie also nicht als Zukunftschance begriffen wird. Der EWSA befürchtet, dass wir in Europa genau an diesem Punkt angekommen sind. Deshalb hakt die nachhaltige Entwicklung und deshalb können noch keine positiveren Meldungen verbucht werden.

2.2.15

An dieser Situation ändert zunächst auch eine wichtige und unterstützenswerte Aussage des Europäischen Rates von Göteborg nichts. Dort wurde deutlich gemacht, dass „klare und stabile Ziele für die nachhaltige Entwicklung beträchtliche wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnen. Hierin liegt das Potenzial für das Auslösen einer neuen Welle technologischer Innovation und Investition, durch die Wachstum und Beschäftigung entstehen“ (24). Diese wichtige Botschaft, die der EWSA teilt, ist in weiten Teilen der Gesellschaft und der Wirtschaft bislang nicht glaubwürdig vermittelt worden, bzw. dort nicht angekommen. Nachhaltige Entwicklung wird noch nicht als ein tatsächlicher Wachstums- und Wirtschaftsmotor anerkannt.

2.2.16

Für den Ausschuss liegt es klar auf der Hand, dass die Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung umfangreiche Investitionen z.B. in den Bereichen Gebäudesanierung, umweltfreundliche Verkehrssysteme, nachhaltige Energieerzeugung und Förderung von Umwelttechnologien erfordert. Diese Investitionen, die viele Arbeitsplätze schaffen und neue Wachstumsschübe auslösen werden, sind eine unabdingbare Voraussetzung zur Verwirklichung einer nachhaltigen Entwicklung.

2.2.17

Gebührende Aufmerksamkeit muss der Frage der Verteilung der Finanzmittel gewidmet werden, wenn die Strategie für nachhaltige Entwicklung realisiert werden soll. Ausgehend von einer Konsultation und Einbindung der organisierten Zivilgesellschaft muss die Politik die Rahmenbedingungen für ein positives Klima für entsprechende Investitionen schaffen. In diesem Sinne müssen dann die öffentlichen Haushalte entsprechende Investitionsschwerpunkte setzen. Aber auch im privaten Sektor werden hohe Investitionen benötigt, damit wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch positive Effekte erreicht werden können.

2.2.18

Wenn es aber nicht gelingt, deutlich zu machen, dass mit der nachhaltigen Entwicklung sich für die Wirtschaft enorme neue Möglichkeiten ergeben, wird es keine konstruktive politische Auseinandersetzung über die nachhaltige Entwicklung und über die Wege hin zur Nachhaltigkeit geben.

2.2.19

Neben der Tatsache, dass sowohl die Ziele als auch die politischen Instrumente zu vage und abstrakt sind, ist es sicherlich ein weiterer Mangel der bisherigen Nachhaltigkeitsstrategie, dass selbst interessierte Beobachter den Überblick verlieren, wo nun konkret alle Formulierungen zu finden sind. Der EWSA beobachtet, dass es mittlerweile eine Unmenge an Papier gibt, die sich dem Thema mit extrem unterschiedlicher Intensität und Tiefe widmen (25). Dem interessierten Leser ist unklar, welche Aussagen und Forderungen nun verbindlichen Charakter haben, und auch die Internetpassagen der EU helfen hier nicht weiter.

2.2.20

Der EWSA erkennt an, dass es für die Kommission sehr schwierig ist, die Menschen für jene Teilbereiche der Nachhaltigkeitsdebatte zu gewinnen, bei denen diese keine eigene unmittelbare Betroffenheit verspüren. Dies beginnt bereits bei noch relativ nah im Lebensumfeld liegenden Problemen (siehe Naturschutz: manche Menschen fragen sich, was daran schlimm sei, wenn die Artenvielfalt abnimmt, wenn es keine Störche mehr gibt; noch schwieriger ist zu vermitteln, dass auch große Beutegreifer wie Luchs und Wolf zum schützenswerten europäischen Kultur- und Naturerbe gehören). Weitaus schwieriger wird es bei den bereits genannten Themen Verteilungs- und Generationengerechtigkeit. Zwar wird allgemein anerkannt, dass es zukünftigen Generationen auch gut gehen soll, doch allgemein ist eine Tendenz zu beobachten, dass innerhalb der Gesellschaft viele ökonomisch nicht messbare Dinge des Lebens zunehmend in den Hintergrund geraten, was die Nachhaltigkeitsdebatte nicht eben erleichtert.

2.3   Notwendige Klärung von grundlegenden Verständnisfragen

2.3.1

Für den EWSA bedeutet nachhaltige Entwicklung eine aktive Weiterentwicklung der Marktwirtschaft, die um ökologische Fragen und Aspekte wie Generationen- und Verteilungsgerechtigkeit ergänzt wird.

2.3.2

Der EWSA sieht bei dieser sicherlich nicht einfachen Fortentwicklung eine zwingende Notwendigkeit: die neue Nachhaltigkeitsstrategie muss deutlich machen, dass bei ihrer Umsetzung die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Rahmenbedingen so gesetzt werden, dass die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Wirtschaftsraumes unter der nachhaltigen Entwicklung möglichst wenig leidet, sondern dass vielmehr neue Wachstumsimpulse ausgelöst werden.

2.3.3

Der EWSA ist sich darüber im klaren, dass der Industrie bei der Entwicklung und Einführung besserer Technologien im Hinblick auf die Umkehrung nicht-nachhaltiger Entwicklungstendenzen und die Eindämmung von Ressourcenverschwendung eine zentrale Rolle zukommt. Dazu muss die Industrie wettbewerbsfähig sein, denn nur wettbewerbsfähige Unternehmen können Arbeitsplätze schaffen und zur Verwirklichung sozialer Ziele beitragen.

2.3.4

In der Nachhaltigkeitsdebatte wird gern mit Bildern gearbeitet. Eines dieser Bilder ist das der gleichberechtigten bzw. gleichwertigen drei Säulen, auf denen die nachhaltige Entwicklung fußt: einer ökonomischen, einer sozialen und einer ökologischen Säule.

2.3.5

Diese drei Säulen stünden in enger Beziehung, und bei der Politikgestaltung müsse sorgsam darauf geachtet werden, das derzeitige Stabilitätsverhältnis nicht zu gefährden. Besonders in wirtschaftlich problematischen Zeiten (in denen sich Europa derzeit befinde) dürfe keine Unruhe in die Wirtschaft gebracht werden, ein dauerhaftes Wachstum sei zwingend erforderlich, und notfalls müssten beim Umweltschutz oder der Sozialpolitik zumindest zeitweise Abstriche gemacht werden.

2.3.6

Diesem Säulenmodell wird das Bild einer „Fahrrinne mit Bojen in einem Gewässer“ entgegen gesetzt. Die Bojen kennzeichnen ökologische und soziale Grenzen, innerhalb der Fahrrinne kann sich das Schiff (sprich: die Wirtschaft) frei bewegen, es darf aber die Fahrrinne nicht verlassen.

2.3.7

Der EWSA empfiehlt der Kommission dringend, im Rahmen der Nachhaltigkeitsdiskussion über diese Bilder und die dahinter stehenden Philosophien durchaus kontrovers zu diskutieren. Für den Ausschuss gibt es keinen Zweifel daran, dass es ein ausgeglichenes Verhältnis von Ökonomie, Sozialem und Umwelt geben muss. Diese drei Dimensionen, Säulen oder Elemente sind untrennbar miteinander verbunden. Die natürliche Umwelt liefert die wesentlichen Grundlagen und Ressourcen für die Wirtschaftstätigkeit, die wiederum sozialen Wohlstand und eine gute Lebensqualität ermöglicht, und darum ist eine stabile und gesunde natürliche Umwelt eine Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung. Ebenso klar ist aber auch, dass nachhaltige Entwicklung weit mehr ist als „nur“ traditioneller Umweltschutz in einem neuen Gewand und mit neuen Methoden.

2.3.8

Die Staats- und Regierungschefs haben sich 1992 in Rio und 2002 in Johannesburg getroffen, weil das bisherige Wirtschaften erkennbar an diverse Grenzen stößt. Es wurde klar, dass aus bestimmten Wirtschaftsformen soziale und ökologische Probleme resultieren, bei deren Lösung der technische Umweltschutz an Grenzen stößt.

2.3.9

Der EWSA hält es deshalb für angebracht, im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie durchaus Fragen zu diskutieren, die bislang fast als Tabu angesehen wurden. Eine dieser Fragen ist die des permanenten Wirtschaftswachstums als übergeordnetes Ziel und Kernaspekt aller Politiken. Selbstverständlich hat der EWSA in den vergangenen Jahren immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig Wachstum für die wirtschaftliche Entwicklung ist. Und auch im Rahmen der Lissabon-Strategie hat sich der EWSA für eine Wachstumsinitiative ausgesprochen.

2.3.9.1

Der Ausschuss hält es aber für angebracht, bei der Frage des Wachstums verstärkt zu differenzieren. Es sollten besonders jene Bereiche stärker identifiziert werden, in denen Wachstum auch aus Sicht der Nachhaltigkeit besonders erwünscht ist. Ein solcher Bereich ist — in Übereinstimmung mit den Vorstellungen der Kommission — der Sektor der regenerativen Energien, die sich jedoch derzeit aufgrund der gegebenen Rahmenbedingungen häufig noch gegenüber weniger nachhaltigen Energieträgern als zu teuer und somit als problematisch für die Wirtschaft erweisen. Hier müssen die Rahmenbedingungen durch gezielte politische Maßnahmen verändert werden, und es ist Aufgabe der Nachhaltigkeitsstrategie, die Schritte zur entsprechenden Veränderung der Rahmenbedingungen genau zu beschreiben und verbindlich festzulegen.

2.3.9.2

Auf der anderen Seite sollten jene Bereiche klarer benannt werden, in denen weiteres Wachstum eher unerwünscht und kontraproduktiv ist. In Deutschland werden jährlich 40 Mrd. € an sogenannten Gesundheitskosten (26) ausgegeben, weil die Menschen sich falsch ernähren bzw. sich zu wenig bewegen. Damit „erbringt“ jeder Deutsche allein durch gesundheitliches Fehlverhalten einen höheren durchschnittlichen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt als jeder Bewohner Indiens durch sein Wirtschaften insgesamt (rund 470 € pro Jahr). Wachstum in diesem Sektor ist — wenngleich arbeitsplatzschaffend — aus Sicht der Nachhaltigkeit nicht wünschenswert. So gesehen kann Nachhaltigkeit durchaus ein das Wirtschaftswachstum partiell begrenzender Faktor sein. Dieses Beispiel zeigt auch, dass das BIP allein zwar ein nützlicher Indikator für wirtschaftliche Aktivitäten ist, davon abgesehen aber weder einen angemessenen Indikator für das Wohlergehen einer Gesellschaft, noch einen Gradmesser für die Gesundheit der Bevölkerung oder der Umwelt darstellt (und im Übrigen auch nicht den Anspruch erhebt, diese Funktion zu erfüllen).

2.3.9.3

Die Frage des Wachstums ist aber nicht nur eine qualitative Frage, die Europa betrifft. Es gibt auch eine globale quantitative Komponente. Die Kommission beschreibt in ihrer Mitteilung „Die Umwelt Europas“ (27), dass mit der weiteren Globalisierung, der Zunahme von Handelsströmen und der Übernahme westlicher Verhaltensmuster das Pro-Kopf-BIP zwischen 1990 und 2010 um 40 %, bis zum Jahr 2050 um 140 % steigen wird. Trotz zu erwartender Übernahme an technischem Wissen und auch an Umweltentlastungstechnologien „könnte sich (dies) zudem auf die weltweiten CO2-Emissionen auswirken, die sich nach den vorliegenden Prognosen bis zum Jahr 2050 um das Dreifache erhöhen werden“. Die Klimakatastrophe wäre perfekt.

2.3.10

Auch über Art und Weise zukünftiger Produktivitätsentwicklung sollte die Kommission im Rahmen der Nachhaltigkeitsdebatte eine intensivere Diskussion führen. Der EWSA bietet sich hierbei gern als Partner an. Es steht außer Zweifel, dass für die Fortentwicklung von Wirtschaftsunternehmen Produktivitätsverbesserungen ein zwingendes Muss sind. Die Produktivität galt immer als Motor für Beschäftigung und Wohlstand, denn eine hohe Produktivität ermöglicht es bislang, mehr Güter und Dienstleistungen zu niedrigeren Preisen anzubieten, wodurch neue Nachfrage stimuliert und neue Arbeitsplätze geschaffen werden konnten.

2.3.10.1

Hohe Produktivität im rein wirtschaftlichen Sinne ist kein Indikator für Nachhaltigkeit. Ein Beispiel: Die im betriebswirtschaftlichen Sinne produktivste Zuckerproduktion findet weltweit zweifellos in Brasilien statt. Davon profitieren wenige multinationale Konzerne, die heimische Bevölkerung und die Umwelt werden extrem ausgebeutet.

2.3.10.2

Produktivität muss jedoch auf nachhaltige Entwicklung ausgerichtet werden. Produktivität darf nicht mehr nur auf das Verhältnis von Produktwert zu Produktionskosten beschränkt werden, sondern muss in einen weiteren Zusammenhang gestellt und durch Aspekte wie Lebensqualität und sparsamen Umgang mit nicht erneuerbaren Ressourcen auf globaler Ebene ergänzt werden.

2.3.10.3

Zukünftige Produktivitätsentwicklungen sollten als Motor der nachhaltigen Entwicklung genutzt werden: Umwelt-, Rohstoff- oder Energieeffizienzsteigerungen sind Beispiele für Produktivitätsfortschritte, die die nachhaltige Entwicklung voran bringen. Die Mitgliedstaaten und die EU müssen durch entsprechende politische Weichenstellungen Anreize schaffen, die mit dieser Neuausrichtung im Einklang stehen.

2.3.11

In der Nachhaltigkeitsdebatte sollten also mehr als bislang bewusst kontrovers aufeinander prallenden Pole („Wir brauchen Wachstum um jeden Preis“ versus „Wachstum kann nicht nachhaltig sein“ sowie „Produktivitätsfortschritt ist die Triebfeder der Wirtschaft“ versus „Produktivität schafft zunehmend ökologische und soziale Probleme“) an einen Tisch gebracht werden. Denn weit mehr als in anderen Politikbereichen ist die nachhaltige Entwicklung von einem breiten gesellschaftlichen Konsens abhängig.

2.4   Das Verhältnis der Lissabon-Strategie zur Nachhaltigkeitsstrategie

2.4.1

Die Lissabon-Strategie unterscheidet sich in drei entscheidenden Punkten von der Nachhaltigkeitsstrategie. Sie hat

einen klaren Fokus auf Wirtschaftswachstum und Wirtschaftsreformen mit dem Ziel, mehr und bessere Arbeitsplätze und soziale Kohäsion zu erreichen,

eine klare zeitliche Befristung (Zeithorizont 2010),

und einen nahezu reinen europäischen Fokus (sie will Europa zum wettbewerbsfähigsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum machen).

2.4.2

Die Tatsache, das die Lissabon-Strategie durch den Gipfel von Göteborg um ein Umweltkapitel ergänzt wurde und eine Strategie für nachhaltige Entwicklung beschlossen wurde, ist vom EWSA begrüßt worden, obwohl der Inhalt der Nachhaltigkeitsstrategie relativ begrenzt war (28). Dass der Rat erst kürzlich abermals eine verstärkte Integration umweltpolitischer Gedanken in die Lissabon Strategie gefordert hat zeigt, dass es hier noch Defizite gibt. Eine verstärkte Integration des Umweltschutzes kann die Kohärenz der Lissabon-Strategie mit der Nachhaltigkeitsstrategie positiv befördern, einen entsprechenden Automatismus — das zeigt sich deutlich — gibt es aber nicht.

2.4.3

Es ist zudem zu konstatieren, dass wichtige Themen, die in Rio und Johannesburg als essentiell für die nachhaltige Entwicklung definiert wurden, nicht direkt Gegenstand der Lissabon-Strategie sind und sich aus deren Umsetzung auch nicht zwingend ergeben (z.B.: Verteilungs- und Generationengerechtigkeit).

2.4.4

Die beiden Strategien müssen auf kohärente Weise dem übergeordneten Ziel einer langfristig nachhaltigen Entwicklung unterstellt werden. Dazu ist eine Durchdringung aller Politikbereiche der Lissabon-Strategie mit Zielen der nachhaltigen Entwicklung erforderlich. Auf diese Weise kann und sollte die Lissabon-Strategie ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zur nachhaltigen Entwicklung sein, kann aber eine langfristige Nachhaltigkeitsstrategie nicht ersetzen.

2.4.5

Bei dem von der Lissabon-Strategie ausgelösten Wirtschaftswachstum muss es sich um ein qualitatives, ein vom Ressourcenverbrauch stärker entkoppeltes Wachstum handeln, damit dies im Sinne der nachhaltigen Entwicklung ist. Das heißt aber auch: die Lissabon-Strategie kann einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeitsstrategie leisten, wenn sie zur Umorientierung der Wirtschaft hin zu einem nachhaltigeren Wirtschaften beiträgt.

2.4.6

Die Investitionen im Rahmen der Wachstumsinitiative der EU müssen folglich —  ebenso wie die anderen EU-Ausgaben — den Nachhaltigkeitskriterien genügen. Der EWSA verweist hier darauf, dass innerhalb der organisierten Zivilgesellschaft bereits vielfältige Überlegungen dazu angestellt wurden (29). Der EWSA empfiehlt der Kommission, in einer gesonderten Mitteilung an Rat und Parlament sowie AdR und EWSA die Kohärenz zwischen den Investitionen der EU (inkl. der EIB u.a.) in die Verkehrs-, Energie und andere Infrastrukturprojekte und der Nachhaltigkeitspolitik darzustellen.

3.   Der Bedarf für eine Ausweitung der Strategie

3.1

Der EWSA hält eine gewisse Fokussierung für durchaus angebracht, muss aber auf die Gefahr hinweisen, dass damit wichtige Teilbereiche der nachhaltigen Entwicklung eventuell ins Hintertreffen geraten können. Inhaltlich müssen die globalen Fragen, die in Rio und Johannesburg ausgiebig diskutiert wurden, die sich aber in der bisherigen Nachhaltigkeitsstrategie der EU kaum wiederfinden (wie: Beeinflussung der globalen Armut, Generationen- und Verteilungsgerechtigkeit durch unser Wirtschaften), vertiefend behandelt werden.

Die soziale Dimension intensiver diskutieren

3.2

Auf dem Erdgipfel von Rio im Jahr 1992 wurde im Durchführungsplan zusätzlich zu den letztlich in Göteborg aufgegriffenen vier Politikfeldern beispielsweise die Armutsbekämpfung genannt. Auch im Entwurf der Nachhaltigkeitsstrategie, der dem Europäischen Rat von Göteborg (30) vorgelegt wurde, wurde darauf hingewiesen, dass „jeder sechste Europäer in Armut (lebt)“. Allerdings wurde die beiden Kernelemente, die sich mit sozialen Fragen befassten (31), nicht vom Rat aufgegriffen. Eine nachhaltige Entwicklung innerhalb der EU hat sich aber nicht nur der Frage der Armut innerhalb der EU, sondern auch den Auswirkungen unseres Wirtschaftens auf die globale Armut oder den Chancen zukünftiger Generationen zu widmen. Der EWSA sieht nicht, dass zu den Themen „Verteilungs- und Generationengerechtigkeit“ bislang ausreichende Überlegungen angestellt worden wären. Die Tatsache, dass die Höhe der Entwicklungshilfemittel nicht einmal die Hälfte des versprochenen Volumens ausmachen, ist nur ein Indiz dafür, dass noch lange nicht von einer kohärenten Politik gesprochen werden kann. Dieser Mangel kann auch nicht durch Initiativen wie „Alles außer Waffen“ ausgeglichen werden.

3.3

Neben der Armutsbekämpfung hatte die Kommission im ersten Entwurf der Nachhaltigkeitsstrategie auch die Überalterung der Bevölkerung als vorrangiges Thema benannt. Während beide Themen zumindest verbal Eingang in die Lissabon-Strategie gefunden haben, finden sie sich in der langfristiger angelegten Nachhaltigkeitsstrategie nicht wieder, da sich diese schwerpunktmäßig mit Umweltthemen befasst. Dies muss abgestellt und die soziale Dimension intensiver diskutiert werden.

3.4

Die zukünftige Strategie muss sich neben den oben beschriebenen globalen Themen auch dem Thema „Arbeit und Umwelt“ widmen: wie kann es gelingen, neue, qualifizierte Arbeitsplätze durch Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung zu schaffen?

3.5

Angesichts der hohen Bedeutung der sozialen Dimension der nachhaltigen Entwicklung müssen die Zusammenhänge zwischen den sozialen und den wirtschaftlichen bzw. ökologischen Anliegen konkret diskutiert und ausformuliert werden.

3.6

Der EWSA betont daher, dass der sozialen Dimension bei der Überarbeitung der Strategie für nachhaltige Entwicklung ein sehr hoher Stellenwert eingeräumt werden muss, wenn nicht am Ende die ganze Strategie und ihr Rückhalt Schaden nehmen soll.

3.7

Der EWSA schlägt vor, dass auf vier Bereiche der sozialen Dimension im Zuge der anstehenden Bewertung der EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung auch nach 2010 ein besonderes Gewicht gelegt werden sollte:

3.7.1

Zentraler Aspekt eines nachhaltigen Arbeitslebens ist die Arbeitsqualität in einer von Vollbeschäftigung geprägten Gesellschaft. Die Arbeitsqualität beinhaltet gute Arbeitsbedingungen für den Einzelnen während seiner gesamten beruflichen Laufbahn. Im Gegenzug zu den wachsenden Mobilitäts- und Flexibilitätsanforderungen müssen umfassende Mittel für die Förderung des lebensbegleitenden Lernens und neuer, angepasster Formen des Sozialschutzes bereitgestellt werden. Arbeit und Familie müssen sich besser miteinander vereinbaren lassen. Zur Förderung der Zufriedenheit und des Selbstvertrauens der Arbeitnehmer muss der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, der Arbeitsorganisation und der Arbeitszeit Vorrang eingeräumt werden. Gleichstellungsmaßnahmen sind ausschlaggebend für die Verbesserung der Arbeitsqualität.

3.7.2

Die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Alterung der Bevölkerung müssen eingehend analysiert werden, damit gesellschaftliche Veränderungen rechtzeitig erkannt und die entsprechenden Politiken angepasst werden können. In allen Mitgliedstaaten sind Reformen im Hinblick auf langfristig nachhaltige Rentensysteme eingeleitet oder angedacht worden. Insbesondere die in vielen Ländern verzeichnete Tendenz zum vorzeitigen Ausscheiden aus dem Arbeitsleben —  vor Erreichen des Alters von 60 Jahren — belastet die Rentensysteme. Die Solidarität zwischen den Generationen muss gefördert werden. Die Politiken müssen darauf ausgerichtet werden, Wohlstand für Kinder und ihre Familien zu schaffen, um dadurch die Grundlage für den Wohlstand der nachfolgenden Generationen zu sichern. Zu viele Kinder leben in Armut, gehen vorzeitig von der Schule ab und haben keine Zukunftsaussichten. Der EWSA wird eine Stellungnahme zu den Beziehungen zwischen den Generationen ausarbeiten, in der er u.a. die Rolle der organisierten Zivilgesellschaft bei der Überbrückung der Kluft zwischen den Generationen erörtern wird.

3.7.3

Eine Gesellschaft muss alle Bürger einschließen, ihnen Rechte einräumen und ihnen die Möglichkeit geben, diese Rechte wahrzunehmen. Die Bekämpfung der Armut ist ein zentrales Ziel. Obdachlose, Drogenabhängige und Straftäter müssen wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden. Ethnische Minderheiten, Einwanderer und andere, von Ausgrenzung bedrohte Gruppen bedürfen vorrangig aktiver Maßnahmen für soziale Eingliederung. Von wesentlicher Bedeutung sind dauerhafte sozialraumorientierte Maßnahmen zur Förderung von schulischer und beruflicher Bildung. Maßnahmen zur Sicherstellung der Einschließung aller Bürger sind ausschlaggebend für die Verbesserung der Aussichten auf eine gute Lebensqualität.

3.7.4

Das Thema Gesundheitsschutz und neue Gesundheitsbedrohungen hat in den letzten Jahren an Dringlichkeit gewonnen. Die EU-Mitgliedstaaten haben in Reaktion auf alarmierende Erkenntnisse in den Bereichen Lebensmittel, Wasser, Chemikalien, Tabak usw. verschiedene Initiativen ergriffen. Die EU hat ihrerseits ein Rahmenprogramm für öffentliche Gesundheit lanciert und insbesondere Programme für die Bekämpfung von durch Umweltfaktoren und falsche Verhaltensweisen ausgelöste Krankheiten aufgelegt. Jedoch lässt die Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Programmen für Gesundheitsförderung und die Bekämpfung von Gesundheitsbedrohungen zu wünschen übrig. Der EWSA hat in zahlreichen Stellungnahmen darauf hingewiesen. Er vertritt den Standpunkt, dass Gesundheitssicherheit eine gesellschaftliche Verpflichtung und ein Grundrecht der Bürger ist. Der Ausschuss wird zu diesem Thema eine Stellungnahme erarbeiten, in der er Schlussfolgerungen aus Notfällen ziehen und innovative zukunftsorientierte Analysen anstellen will, die als Grundlage für künftige Debatten dienen sollen. In diesem Zusammenhang wird der Ausschuss auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis von Investitionen in den Gesundheitsschutz eingehen.

3.7.5

Als Instrument, von dem eine starke stimulierende Wirkung ausgeht, könnte eine Charta über nachhaltige soziale Entwicklung dienen, die die o.g. Bereiche abdeckt und die entsprechenden Grundrechte der Bürger beinhaltet. Damit einhergehen müsste ein EU-Aktionsprogramm zur Koordinierung der verschiedenen Maßnahmen und zur Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Festlegung prioritärer Bereiche. Der Ausschuss betont, dass dieser Ansatz im Hinblick auf die derzeitige und künftige Erweiterung der Europäischen Union einen gezielten Mehrwert erbringen würde.

Die Kohärenz der EU-Politik

3.8

Die neue Strategie sollte auch Hinweise darauf geben, wie zukünftig im Rahmen der neuen EU-Finanzperiode (ab 2007) die Ausgaben aus den Strukturfonds in Übereinstimmung mit der Nachhaltigkeitsdebatte gebracht werden können. Die „nachhaltige Entwicklung als umfassendes und übergreifendes Kohäsionsziel zu etablieren“ (32) ist dabei ein Gedanke der Kommission, der weiter verfolgt werden sollte. Die Kommission muss bei den Strukturfonds den Empfängern eindeutige qualitative Vorgaben machen, um eine bessere Kohärenz zu garantieren. Der EWSA erwartet mit Spannung die Debatte über die nächste finanzielle Vorausschau und die Einbeziehung von Instrumenten und Kontrollmechanismen zur Förderung der Nachhaltigkeit. Es kann nicht weiterhin akzeptiert werden, dass beispielsweise die Kommission die Ausrichtung der Verkehrspolitik auf der einen Seite kritisiert (vgl. Ziffer 2.1.4.2), diese aber konkret z.B. über die Strukturfonds mitunter mitfinanziert. Diese Widersprüche müssen abgestellt werden. Die EU muss die Gewährung von Beihilfen an bestimmte Bedingungen in Bezug auf die Nachhaltigkeit knüpfen und darauf achten, dass diese Bedingungen eingehalten werden.

3.9

Aber auch die generelle Regionalentwicklung der Mitgliedstaaten, die über die Strukturfonds mitfinanziert wird, bedarf einer intensiven Bewertung. Die größte von der EU in den letzten Jahren im Rahmen der Strukturfonds finanziell unterstützte Maßnahme im Agrarbereich war ein Investitionszuschuss in Höhe von 40 Mio. € für den Ausbau einer Großmolkerei in Sachsen (Deutschland). Diese Großmolkerei ist aufgrund des EU-Förderbeitrags und durch Verarbeitung billiger tschechischer Milch eine der wirtschaftlichsten und produktivsten in Europa. Die Kommission sollte sich im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie mit der Frage befassen, ob die Förderung weiterer Zentralisierung von Verarbeitungsstrukturen stets mit den Zielen nachhaltiger Entwicklung vereinbar ist. Die europäischen Steuerzahler haben sicherlich ein Recht zu erfahren, ob die von der EU kofinanzierten Investitionsprojekte mit Nachhaltigkeitsgedanken in Übereinstimmung stehen. Es muss folglich eine Art „Nachhaltigkeitsverträglichkeitsprüfung“ erfolgen.

3.10

Zur Politikkohärenz gehört auch eine Überprüfung, ob die Forschungs- und Entwicklungspolitik mit der Nachhaltigkeitsdebatte in voller Übereinstimmung steht.

3.11

Gleiches gilt für die Finanz- und Steuerpolitik, wobei dem EWSA durchaus bewusst ist, dass hier die Mitgliedstaaten mehr als die EU gefordert sind. Wie steht der Stabilitätspakt in Verbindung mit der Nachhaltigkeit? Können neue steuerpolitische Initiativen die Nachhaltigkeit fördern (33)? Der EWSA fordert die Kommission auf, bei jeder Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts ökologische und soziale Kriterien unmittelbar mit einzubeziehen und diese ebenso verbindlich festzulegen wie die wirtschaftlichen und finanziellen Kriterien. Was die Entwicklung des Einsatzes wirtschaftlicher Instrumente anbelangt, so wurden in den letzten Jahren zunehmend Umweltsteuern und -abgaben erhoben, und langsam, aber sicher zeichnet sich eine Tendenz zu Umweltsteuerreformen ab — einige Länder verändern ihre Besteuerungsgrundlagen, indem sie den Faktor Arbeit entlasten und die Steuern und Abgaben auf Umweltverschmutzung, Ressourcen und Dienste erhöhen (34).

3.11.1

Die Konzeption und Durchführung im Sinne der nachhaltigen Entwicklung gestalteter öffentlicher Beschaffungsprogramme würde sich deutlich bemerkbar machen, da das öffentliche Beschaffungswesen 16 % des BIP der EU ausmacht, und hätte durchaus auch eine Signalfunktion, z.B. für die Wirtschaft oder die privaten Haushalte.

3.12

Für den EWSA steht ferner außer Zweifel, dass der Industrie auf dem Weg zur nachhaltigen Entwicklung eine ausschlaggebende Rolle zukommt. Auf der Grundlage eines Dialogs und einer Partnerschaft zwischen der Europäischen Industrie und den öffentlichen Behörden gemäß den Schlussfolgerungen des Weltgipfels von Johannesburg sollte die EU eine nachhaltige Produktions- und Verbrauchspolitik entwerfen und sich darauf verpflichten. Dadurch könnten Maßnahmen zur Verbesserung der Effizienz von Erzeugnissen und Produktionsprozessen und nachhaltige Verbrauchsmuster im Hinblick auf die Optimierung der Ressourcennutzung und die Reduzierung von Abfällen auf ein Mindestmaß gefördert werden. Unternehmensorganisationen auf europäischer Ebene sollten ermutigt werden, nachhaltige Produktions- und Verbrauchsmuster zu fördern, die den Bedürfnissen der Gesellschaft unter Berücksichtigung ökologischer Erfordernisse entsprechen (35).

4.   Die Folgen der Erweiterung

4.1

Bei den Beitrittsverhandlungen ging es nicht um eine nachhaltige Entwicklung, sondern um die Übernahme des Acquis. Es steht außer Zweifel, dass die Probleme, die durch eine nachhaltige Entwicklung gelöst werden müssen, nicht durch Missachtung der bestehenden Gesetze, sondern im Rahmen derselben entstanden.

4.2

Fast alle neuen Mitgliedstaaten haben als Mitglieder der Vereinten Nationen mittlerweile eine nationale Strategie für nachhaltige Entwicklung erarbeitet. Wie für die jetzigen EU-Mitgliedstaaten auch, bestehen erhebliche Widersprüche zwischen den Nachhaltigkeitsstrategien und der tatsächlich geführten Politik (siehe Ziffer 5).

4.3

Der EWSA hat sich in vielen Stellungnahmen mit den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Problemen der zukünftigen Mitgliedstaaten und der Beitrittsländer befasst. Er teilt die Auffassung der Kommission, dass sich einerseits die Umweltsituation durch technische Verbesserungen, u.a. durch den Einbau von Filtern bzw. dem Bau von Kläranlagen, teilweise schon radikal verbessert hat bzw. sich in aber Zukunft verbessern wird. Andererseits sind eindeutig nicht nachhaltige Trends zu beobachten (36).

4.4

Am Beispiel der teilweise katastrophalen Energieeffizienz, z.B. im Gebäudebereich, kann dargestellt werden, dass Ressourcenschonung, Umweltschutz und die Schaffung von Arbeitsplätzen, besonders im Bereich von kleinen und mittleren Unternehmen, durchaus Hand in Hand gehen könnten. Entsprechende strategische Ausrichtungen der Politiken der Beitrittsländer sind aber nicht erkennbar.

4.5

Generell zeichnet sich vielmehr die Tendenz einer relativ schnellen Übernahme der in der EU geläufigen Produktions- und Konsummuster in den zukünftigen Mitgliedstaaten und den Beitrittsländern und damit eine Übernahme der Nachhaltigkeitsprobleme ab, mit denen man sich derzeit in den EU-Mitgliedstaaten befasst.

4.6

Es wird von besonderer Wichtigkeit sein, den Menschen in den neuen Mitgliedstaaten und den Beitrittsstaaten zu vermitteln, dass nachhaltige Entwicklung auch für sie etwas Positives und keinen Verzicht auf die gerade gewonnene neue „Lebensqualität“ bedeutet. Gelingt dies nicht, dürfte sich die Umsetzung der EU-Nachhaltigkeitsstrategie allein dadurch schwieriger gestalten, dass im Rat entsprechende Kommissionsinitiativen vermehrt auf Widerstand der Vertreter der neuen Mitgliedstaaten und der Beitrittsländer stoßen können.

4.7

Auf EU-Ebene müssen Bedingungen zur Auflage gemacht und außerdem dafür gesorgt werden, dass die Vergabe von Fördergeldern im Sinne der Nachhaltigkeit erfolgt. In den neuen Mitgliedstaaten ist auf politischer Ebene und in den öffentlichen Verwaltungen Aufklärungsarbeit zu leisten, um den zuständigen Stellen praktische Hilfe bei der Entscheidungsfindung zu geben (37).

5.   Die Verbindung der EU-Strategie mit nationalen und lokalen Strategien

5.1

Nachhaltige Entwicklung ist keine alleinige EU-Angelegenheit. Die EU spielt zweifelsfrei eine wichtige Rolle, jedoch tragen auch die Mitgliedstaaten, die Regionen, die Städte, die Unternehmen und die einzelnen Bürger einen Teil der Verantwortung. Es muss zukünftig eine engere Vernetzung aller Aktivitäten stattfinden, die jeweiligen spezifischen Verantwortlichkeiten, Einflussmöglichkeiten und Kompetenzen der einzelnen politischen und administrativen Stellen müssen im Rahmen untereinander abgestimmter Strategien deutlich beschrieben und miteinander vernetzt werden. Nachdem nun weitgehend alle Mitgliedstaaten — inkl. vier der neuen Mitgliedstaaten — ihre eigenen Nachhaltigkeitsstrategien entwickelt haben, wäre es eine lohnende Aufgabe, diese nationalen Strategien auszuwerten, eine Bewertung ihrer Effektivität vorzunehmen, zu prüfen, in wie weit die nationalen Strategien untereinander kohärent sind und wie sie in Bezug auf die Nachhaltigkeitsstrategie der EU stehen.

5.2

Ohne einer ausführlichen Analyse vorzugreifen, lässt sich feststellen, dass die nationalen Strategien das Thema Nachhaltigkeit sehr unterschiedlich angehen. Einige Strategien befassen sich hauptsächlich mit der Umweltdimension, während andere sich mit den drei Dimensionen der Nachhaltigkeit befassen und Gesamtstrategien für die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung vorlegen. Die meisten nationalen Strategien sind mit Sicherheit nicht als Instrumente der Umsetzung der EU-Strategie konzipiert worden, sondern sind im nationalen Rahmen gewachsene Strategien zur Erfüllung der Verpflichtung von Rio, nationale Strategien nachhaltiger Entwicklung auszuarbeiten. Dessen ungeachtet, finden sich die Schwerpunkte der EU-Strategie auch in den meisten nationalen Strategien wieder. Da die Strategien unterschiedliche Schwerpunkte setzen, sich in verschiedenen Stadien der Umsetzung befinden und sich auch in Bezug auf ihre Beteiligungs- und Revisionsmechanismen unterscheiden, erwartet der EWSA, dass eine tiefgehende Analyse reichhaltiges Vergleichsmaterial und eine gute Grundlage für gegenseitiges Lernen und die Übernahme bester Praktiken bringen wird. Der Ausschuss ist bereit, mit nationalen Nachhaltigkeitsräten und ihrer Dachorganisation EEAC (Netzwerk der Europäischen Umwelträte) zusammenzuarbeiten, um diese Art von Austausch anzuregen oder eine Schnittstelle für den Austausch von Informationen und bewährten Verfahrensweisen zu bieten.

5.3

Nicht nur an der Verkehrs- oder Energiepolitik, sondern auch an wichtigen Reformen der EU im Jahr 2003 lässt sich gut festmachen, wie notwendig eine harmonische Zusammenarbeit zwischen EU und Mitgliedstaaten ist. Im Rahmen der Agrarreform hatte Agrarkommissar Fischler eine Umwidmung von 20 % der Mittel aus der 1. Säule für Maßnahmen der ländlichen Entwicklung und für Agrarumweltmaßnahmen vorgeschlagen; eine Politik, die einer nachhaltigen Entwicklung sicherlich entgegen gekommen wäre. Die Mitgliedstaaten entschieden sich jedoch für eine wesentlich geringere Modulation. Im Rahmen der Agrarreform hat die EU den Mitgliedstaaten auch die Möglichkeit eingeräumt, 10 % der bisherigen Direktzahlungen in der Landwirtschaft für Maßnahmen umzuwidmen, die aus Nachhaltigkeitssicht von Bedeutung sind. Anscheinend wird im Rahmen der Umsetzung der Luxemburger Beschlüsse kein Mitgliedstaat von dieser Option Gebrauch machen. Und auch in der Fischereipolitik, wo die bisherige nicht nachhaltige Politik mittlerweile nicht nur die Fischbestände, sondern auch die Existenzen der Fischer bedroht, hat es sehr lange gedauert, bis man sich auf erste Schutzmaßnahmen einigen konnte. Dies zeigt die Notwendigkeit engster Kooperation bei Erarbeitung und Umsetzung einer Nachhaltigkeitspolitik.

5.4

Während mit der europäischen und den nationalen Strategien die Rahmenbedingungen für die nachhaltige Entwicklung gesetzt werden müssen, wird ein Großteil konkreter Umsetzungen auf regionaler und lokale Ebene erfolgen. Entsprechende Zielsetzungen und Aktionen sind im Rahmen der sog. „lokalen Agenden 21“ in enger Zusammenarbeit mit den verantwortlichen Politikern, aber auch der organisierten Zivilgesellschaft zu entwickeln. Nachhaltige Entwicklung ist ohne einen solchen „bottom-up“ Ansatz nicht zu erreichen.

5.5

Der EWSA versteht die nachhaltige Entwicklung somit auch als ein konkretes soziales und wirtschaftliches Betätigungsfeld auf allen Ebenen. Die nachhaltige Entwicklung schafft einen weit gefächerten Handlungsrahmen, der allerdings ganz spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten voraussetzt; es ist ein höchst wissens- und bewusstseinsorientierter Handlungsrahmen. Die europäischen Bildungssysteme und auch die informelle Bildung haben bisher nicht ausreichend zur Vermittlung beigetragen.

5.6

Deswegen muss die nachhaltige Entwicklung — als Handlungsrahmen, aber auch als Selbstzweck — vor allem zum Bildungs- und Erziehungsgegenstand und mithin zu einer Angelegenheit erhoben werden, die im Grunde im unmittelbaren (geographischen und sozialen) Umfeld eines jeden einzelnen Bürgers angestrebt und ausgestaltet werden muss.

5.7

In diesem Zusammenhang sind die Politiken der Union zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung innerhalb der EU besonders wichtig, weil sie diesbezüglichen Tendenzen und Aktionen, die auf lokaler Ebene entwickelt werden, sehr starke Impulse geben können.

5.8

Nach Meinung des EWSA wäre ein mit höchster Priorität zu behandelnder Aspekt die Neuausrichtung der besagten Politiken der EU, dass sie der Konzipierung und Förderung umfassender Programme zur nachhaltigen Entwicklung auf lokaler Ebene Anschub verleihen. Der EWSA schlägt deshalb vor, insbesondere solche Programme zu unterstützen, die auf der Zusammenarbeit der organisierten Zivilgesellschaft mit den lokalen Gebietskörperschaften basieren und unter Einsatz von authentischem Wissen, Bildung und lebenslangem Lernen im Einzelfall auf konkrete und messbare (quantitativen und qualitativen) Ziele hinauslaufen.

6.   Die externen Aspekte

6.1

Eine entscheidende Frage, die sich stellt, ist natürlich die der zukünftigen Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften. Eine stringente Verfolgung einer Politik hin zur nachhaltigen Entwicklung, die sich beispielsweise in höchst modernen Umwelttechnologien, der Internalisierung externer Kosten etc. auswirkt, kann bzw. muss dann zu Wettbewerbsnachteilen führen, wenn einerseits andere Volkswirtschaften sich den Nachhaltigkeitsprinzipien nicht oder nur partiell anschließen und wenn andererseits die Nachteile im Handel keinen Ausgleich finden.

6.2

Die EU steht genau vor der im vorangegangenen Absatz beschriebenen Situation: die Weigerung der USA und von Russland, dem Kyoto-Protokoll beizutreten, aber auch die Ankündigung der Bush-Administration, z.B. die Umweltgesetzgebung partiell auszusetzen, um der Wirtschaft neue Impulse zu geben, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass eine der weltweit wichtigsten Wirtschaftsmächte eine scheinbar andere, eine nicht nachhaltige Entwicklung bevorzugt.

6.3

Umso wichtiger wird es sein, in den globalen Verhandlungen den Druck auf jene Länder zu erhöhen, die den Nachhaltigkeitsprinzipien mehr oder weniger eine Absage erteilen. Sie sollten — soweit wie dies möglich ist — dazu bewogen werden, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und ebenfalls Maßnahmen zur nachhaltigen Entwicklung einzuleiten.

6.4

Das reicht aber nicht aus. Bereits in seiner Stellungnahme „Zukunft der GAP“ ist der EWSA auf diese grundlegende Problematik eingegangen (38). Die Kommission muss sich deshalb — mit einer wesentlich höheren Intensität als bisher — dafür einsetzen, dass beispielsweise in den WTO-Verhandlungen zwingend Nachhaltigkeitskriterien wie klare Umwelt-, Tierschutz- und Sozialstandards integriert werden. Nachhaltigkeit hat also nicht nur etwas mit Produktion und Verbrauch, sondern auch sehr viel mit internationalem Handel zu tun. Nachhaltigkeitsaspekte haben aber bislang viel zu wenig Eingang in die WTO gefunden.

6.5

So wie das Argument der Entwicklungsländer akzeptiert werden muss, nicht länger beispielsweise unter Agrarexportsubventionen leiden zu wollen, müssen gleichzeitig andere Staaten akzeptieren, dass die EU es sich nicht länger gefallen lassen kann, dass heimische Produktionen deshalb aufgegeben werden müssen, weil sie mit Konkurrenzprodukten, die mit wettbewerbsverzerrenden und — aus Sicht der Nachhaltigkeit — unakzeptablen Methoden hergestellt werden, nicht konkurrenzfähig sind; der EWSA verweist hier auf das bereits erwähnte Zuckerbeispiel (vgl. Ziffer 2.3.10.1).

6.6

Die überarbeitete Nachhaltigkeitsstrategie der EU sollte sich diesem politischen Thema intensiv widmen und eine entsprechende Strategie darlegen (39).

6.7

Zu einer solchen Strategie zählt auch, Koalitionen mit denjenigen Ländern zu bilden, die bereit sind, gemeinsam Schritte hin zu einer nachhaltigen Entwicklung zu tun. Dazu könnten insbesondere die AKP-Länder zählen, zu denen die EU privilegierte Beziehungen unterhält.

6.8

Die Nachhaltigkeitsdebatte auf EU-Ebene hat ihren Ursprung in den vorausgegangenen Bemühungen der Vereinten Nationen, die wiederum auch die nationalen Strategien inspiriert haben. Diese Stränge können auf Dauer nicht getrennt verlaufen, sondern müssen miteinander vernetzt werden. Es sollte Aufgabe der neuen Nachhaltigkeitsstrategie der EU sein darzustellen, wie die Vernetzung der jeweiligen Ebenen (international, EU, nationale, aber auch regionale und lokale Ebene) zu einer kohärenten Politik zusammengeführt werden können.

6.8.1

Die EU hat sich in Johannesburg dazu verpflichtet, die vorhandenen internationalen Entwicklungsziele, insbesondere die Entwicklungsziele der Millenniums-Erklärung, sowie verschiedene neue und quantifizierbare Einzelziele und den Durchführungsplan des Johannesburger Weltgipfels umzusetzen. Dies muss in der EU-Nachhaltigkeitsstrategie seinen Niederschlag finden

7.   Die Notwendigkeit der Festsetzung von klareren strategischen Zielen und Indikatoren erörtern

7.1

Der EWSA schließt sich der Auffassung der Kommission an, dass „der Erfolg von Strategien (...) umso wahrscheinlicher (ist), je mehr sie

so weit wie möglich quantifizierbare Ziele und Maßnahmen

europäische, nationale, regionale und lokale Komponenten

Indikatoren für die Überprüfung der Fortschritte und für die Evaluierung der Wirksamkeit der Politiken“ (40) beinhalten.

7.2

Eine vertiefende Nachhaltigkeitsstrategie sollte unbedingt deutlich machen, dass es strukturelle Veränderungen geben wird (und wie diese vermutlich aussehen können), dass aber langfristig mit den Veränderungen der Rahmenbedingungen ein Mehr an Arbeitsplätzen, sozialer Gerechtigkeit und Umweltschutz entstehen wird. Es sollte aus den unterschiedlichen Bereichen (Wirtschaft, Umwelt, Soziales) jeweils eine ausreichende Anzahl, leicht nachvollziehbare und eindeutige Indikatoren festgelegt werden, an denen gemessen werden kann, ob die Entwicklungstrends in die richtige Richtung gehen. Die derzeitigen Arbeiten von EUROSTAT scheinen dem Ausschuss in die richtige Richtung zu gehen. Den Überlegungen, die im Rahmen der Lissabon-Strategie angestellt werden, beispielsweise die Zahl der Überprüfungsindikatoren zu reduzieren (im Bereich Umweltschutz sogar auf nur einen einzigen, nämlich den CO2-Ausstoß zu beschränken), steht der Ausschuss ablehnend gegenüber. Der umweltspezifische Kernindikatorensatz der Europäischen Umweltagentur kann zur Ergänzung der Strukturindikatoren herangezogen werden.

7.3

Über die Bestimmung der Entwicklungstrends mit Hilfe von Indikatoren hinaus sollten Szenarien entwickelt werden, auf deren Grundlage Zwischenziele („milestones“) festgelegt werden können. Da nachhaltige Entwicklung kein Endziel hat, muss allen Beteiligten deutlich vor Augen geführt werden, wo die Reise hingeht und welche Auswirkungen unterschiedliche Entwicklungstrends letztlich auf die Situation z.B. eines Wirtschaftssektors oder das tägliche Leben der Bürger haben.

7.4

Der EWSA empfiehlt, ein intensives Benchmarking vorzunehmen und eine Liste guter und schlechter Beispiele der nachhaltigen Entwicklung zu erstellen.

8.   Wie kann das Umsetzungsverfahren verbessert werden?

8.1

Der EWSA unterstreicht in dieser Stellungnahme, dass die Ursachen unzureichenden Fortschritts u.a. im mangelnden Verständnis darüber, was nachhaltige Entwicklung überhaupt ist, daraus resultierenden Ängsten und Widerständen möglicherweise betroffener Sektoren, im Fehlen eindeutiger kurz-, mittel- und langfristiger Ziele und in der daraus resultierenden unzureichenden Einbeziehung einer Nachhaltigkeitsperspektive in alle relevanten Politikbereiche liegen. Die Beschäftigung mit diesen Mängeln dürfte auch die Umsetzung erleichtern.

8.2

Wie der Europäische Rat von Brüssel 2003 feststellte, kommt es zur „vollständigen Umsetzung der in Göteborg vorgeschlagenen Reformen (...) entscheidend darauf an, dass die EU-Organe und die Mitgliedstaaten (...) die Effizienz und Kohärenz der bestehenden Prozesse, Strategien und Instrumente (...) verbessern“ (41). Der Europäische Rat nannte in diesem Zusammenhang insbesondere den Cardiff-Prozess, Abkoppelungsziele, Strukturindikatoren, Überwachung des Fortschritts und Ermittlung bewährter Verfahren (42).

8.3

Bereits die Göteborger Beschlüsse enthielten den Auftrag an die Kommission, die Kohärenz ihrer Vorschläge durch eine Bewertung der Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit zu fördern. Die Kommission führte im vergangenen Jahr das Instrument der ausführlichen Folgenabschätzung ein, dass in ähnlicher Form als Nachhaltigkeitsprüfung bereits in der Handelspolitik genutzt wurde. Die ausführliche Folgenabschätzung wird von den Kommissionsdienststellen erarbeitet und dient als Grundlage und Begründung der Kommissionsvorschläge. Die bislang vorgelegten Beispiele stellen noch nicht in ausreichendem Maße eine integrierte Sichtweise der behandelten Probleme dar, sondern rücken die Kosten-Nutzen-Analyse zu sehr in den Vordergrund. Die Nachhaltigkeitsprüfung ihrerseits wird gemeinsam mit den Beteiligten in einem partizipativen Prozess erarbeitet.

8.4

Der EWSA stellt fest, dass der „Fahrplan für die Umsetzung der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates (Göteborg)“ nicht aktualisiert wurde und obwohl dieser auf der Frühjahrstagung des Europäischen Rates 2004 zur Überprüfung ansteht (43), ist dem EWSA nichts zu Vorarbeiten hierzu bekannt. Es verwundert jedoch keineswegs, dass ohne klare Ziele die Ausarbeitung eines Fahrplans unmöglich ist.

8.5

Für die Frühjahrstagung des Europäischen Rates 2004 ist außerdem eine Bestandsaufnahme des Cardiff-Prozesses vorgesehen (44). Der EWSA geht davon aus, dass in dieser bedauerlicherweise nicht rechtzeitig vorliegenden Bestandsaufnahme festgestellt wird, dass die sektoralen Strategien der verschiedenen Ratsformationen bislang vorwiegend auf dem Papier existieren.

8.6

Ein größeres politisches Engagement im Hinblick auf das langfristige Ziel der nachhaltigen Entwicklung tut eindeutig Not. Auf EU-Ebene bedarf es innerhalb der Europäischen Kommission eines verständlicheren und besser koordinierten Ansatzes für Politikgestaltung auf dem Gebiet der nachhaltigen Entwicklung. Die Kommission sollte Jahresberichte zur nachhaltigen Entwicklung vorlegen. Auch sollte die wirksame Umsetzung des Cardiff-Prozesses engagierter vorangetrieben werden, und die Fachräte des Europäischen Rates (Energie, Wettbewerb, Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft usw.) sollten im Rahmen von Jahresberichten die Fortschritte in ihren jeweiligen Politikbereichen hin zu einer nachhaltigeren Entwicklung darlegen. Das Europäische Parlament sollte sich über ein entsprechendes Verfahren einen koordinierten Ansatz für Nachhaltigkeitsfragen geben. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss sollte angehalten werden, die Erörterung von Nachhaltigkeitsfragen anzuregen und mit nationalen Nachhaltigkeitsräten zusammenzuarbeiten, um die öffentliche Debatte über und das Engagement für nachhaltige Entwicklung anzukurbeln.

9.   Empfehlungen zur Konsultations- und Kommunikationsstrategie für die nachhaltige Entwicklung

9.1

Die Kommission erkennt in allen Dokumenten an, wie wichtig Kommunikation ist. In der Schlussfolgerung von Göteborg betont der Europäische Rat die Notwendigkeit, „alle Betroffenen umfassend zu konsultieren“ (Ziffer 23).

9.2

Die Kommission schreibt in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie (45) u.a.: „Es besteht die Befürchtung, dass die politischen Entscheidungen eher von engstirnigen Interessen bestimmter Bereiche beeinflusst wurden, als von den Interessen der Gesellschaft insgesamt. Dieser Eindruck ist Teil eines tieferen Unbehagens. Weite Teile der Bevölkerung sind der Ansicht, dass die Politik zu technokratisch und distanziert geworden ist und zu stark von persönlichen Interessen beeinflusst wird. Um dieser wachsenden Politikverdrossenheit zu begegnen, muss sich die Politik stärker öffnen. Ein offener politischer Prozess ermöglicht es darüber hinaus, die erforderlichen Kompromisse zwischen konkurrierenden Interessen klar zu definieren und auf transparente Art Entscheidungen zu treffen. Ein systematischer Dialog zu einem früheren Zeitpunkt — insbesondere mit Vertretern der Verbraucher, deren Interessen zu häufig übergangen werden — kann zwar die Vorbereitungszeit eines politischen Vorschlags verlängern, sollte jedoch die Qualität der Vorschriften verbessern und ihre Umsetzung beschleunigen“.

9.3

Kommunikation und Konsultation sind zwei unterschiedliche Dinge. Der EWSA hält es zunächst für absolut unerlässlich, die zukünftige neue Nachhaltigkeitsstrategie in engster Zusammenarbeit mit den betroffenen Kreisen, d.h. sowohl mit den Mitgliedstaaten (zur besseren Vernetzung der Strategien) als auch mit der Zivilgesellschaft, zu erarbeiten. Es reicht nicht aus, eine intern erarbeitete Strategie nach außen zu verkaufen; die Strategie muss Ergebnis eines offenen Konsultations- und Abstimmungsprozesses sein, soll sie —  mit ihrem neuen, hohen Konkretisierungsgrad — auf die notwendige breite Akzeptanz und Unterstützung stoßen.

9.4

Der EWSA hält es für dringend geboten, die Nachhaltigkeitsstrategie künftig in einem wesentlich partizipativeren Prozess fortzuentwickeln. Er erinnert daran, dass zwischen der Veröffentlichung des Konsultationspapiers und der Veröffentlichung des Entwurfs der Nachhaltigkeitsstrategie, der Grundlage der Erörterungen in Göteborg war, gerade einmal zwei Monate Zeit lagen. Die Diskussionen, die zwingend geführt werden müssen, um einen breiten gesellschaftlichen Konsens zu erreichen (s. Ziffern 2.2 und 2.3) brauchen weit mehr Zeit als bislang eingeräumt.

9.4.1

Diese Sondierungsstellungnahme kann durchaus als ein erster Schritt für einen solchen partizipativen Prozess verstanden werden. Der EWSA geht davon aus, dass die Zusage eingehalten wird, einen solchen Entwurf im Mai/Juni 2004 zu veröffentlichen. Anschließend sollte der Zivilgesellschaft ausreichend Zeit gegeben werden, um den Entwurf zu erörtern, wobei der EWSA mindestens drei Monate für angemessen hält.

9.4.2

Der weitere Prozess der Erarbeitung der neuen Strategie sollte durch ein Stakeholder Forum — ähnlich wie es bei der Entwicklung der „Strategie zur nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen“ eingesetzt wurde begleitet werden.

9.4.3

Schließlich sollte mit den Beteiligten das Ergebnis des Konsultationsprozesses diskutiert werden. Erst danach sollte die neue Kommission die neue Nachhaltigkeitsstrategie beschließen. Ihr politisches Programm sollte sie dann auf Basis der neuen Nachhaltigkeitsstrategie entwickeln.

9.4.4

Der EWSA steht in diesem Prozess gern begleitend und unterstützend zur Verfügung und nimmt das Angebot der für Umweltschutz zuständigen Kommissarin, Margot Wallström (46), an, den Konsultationsprozess gemeinsam mit der Kommission zu organisieren.

9.5

Unter Ziffer 2 ist beschrieben worden, dass in den kommenden Monaten der Versuch gemacht werden sollte, die Nachhaltigkeitsstrategie zu konkretisieren und zu vertiefen. Diese Konkretisierung ist notwendig, denn Menschen können sich kaum an Visionen, wohl aber an klaren Vorgaben orientieren.

9.6

Die Strategie sollte zukünftig auch wesentlich besser kommuniziert werden, wozu gehört, dass letztlich alle Maßnahmen in einem einzigen Dokument zusammengefasst werden.

9.7

Der Ausschuss wünscht sich in Zukunft auch eine bessere Verknüpfung zwischen der Nachhaltigkeitsdebatte und der Bildungs- wie auch der Forschungspolitik. Eine vernünftige Verknüpfung von Bildung und Nachhaltigkeitsdebatte bedeutet indirekt auch, allen die Möglichkeit zur Teilnahme am Prozess zu ermöglichen.

9.7.1

Es wird in der Bildungspolitik, die durchaus als Teil der Kommunikationsstrategie verstanden werden kann, besonders darum gehen, langfristiges und vernetztes Denken im sozialen Kontext zu entwickeln.

9.7.2

Die Analyse von nicht-nachhaltigen Entwicklungstendenzen in unserer Gesellschaft erstreckt sich häufig auf einen zeitlichen Rahmen von fünf bis zehn Jahren und geht selten darüber hinaus. In Anbetracht der damit verbundenen Schwierigkeiten ist dies verständlich. Jedoch muss bei Maßnahmen zur Förderung von mehr Nachhaltigkeit häufig ein Zeithorizont von 15 bis 20 Jahren oder mehr (generationsbezogen) angesetzt werden. Dies veranschaulicht eines der ursächlichen Probleme bei der Bekämpfung nicht-nachhaltiger Tendenzen und der Entwicklung der notwendigen Gegenmaßnahmen: Es mangelt an zuverlässigen wissenschaftlichen Verfahren für die Entwicklung alternativer Szenarien. Dabei sollte die Errichtung einer EU-Denkfabrik für die langfristige Politikgestaltung im Bereich der nachhaltigen Entwicklung und zur Förderung einer nachhaltigen Lebensweise in Erwägung gezogen werden. Die nachhaltige Entwicklung ist auf alternative Szenarien, die sich auf verschiedene Themen und Tendenzen erstrecken, und auf kritisches Denken zwingend angewiesen. Der EWSA schlägt vor, in der überarbeiteten Strategie für nachhaltige Entwicklung eine besondere Forschungsanstrengung im Hinblick auf die Entwicklung von umfassenden Simulationsmodellen betreffend die nachhaltige Entwicklung vorzusehen. Dabei ist nicht nur zu beschreiben, welche sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen eine konsequente Nachhaltigkeitspolitik haben wird, sondern auch, welche sozialen und ökologischen Konsequenzen zu erwarten sind, wenn man darauf verzichtet, nicht nachhaltige Trends abzustellen.

9.7.3

Die Modernisierung der Arbeitsplätze und die Einführung umweltfreundlicher Technologien wird sich auf die schulischen und beruflichen Qualifikationsanforderungen der Arbeitnehmer auswirken. Mit der Weiterentwicklung der Produktionsverfahren und der Auflösung der hierarchischen Strukturen steigt der Bedarf an innerbetrieblicher Fortbildung und lebensbegleitendem Lernen für alle Arbeitnehmer. Eine Gesellschaft, die von Nachhaltigkeit geprägtes Denken und Handeln anstrebt, muss ein hohes schulisches und berufliches Bildungsniveau vorweisen können.

9.7.4

Eine wissensintensive Gesellschaft ist einerseits langfristig zweifellos notwendig für die nachhaltige Entwicklung, andererseits aber auch ihre Folge. Durch die Bildungssysteme muss daher u.a. mehr Wissen über nicht nachhaltige Entwicklungstendenzen vermittelt werden. Ein Verständnis der Herausforderungen fördert das Verständnis für die notwendigen Maßnahmen.

Brüssel, den 28. April 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  Siehe Art. 2 des EG-Vertrags.

(2)  Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Cardiff), 15. und 16. Juni 1998, Ziffer 34.

(3)  KOM(2003) 745 endg. vom 3.12.2003, siehe auch Anlage zu diesem Dokument.

(4)  Die übrigens in völliger Übereinstimmung mit den Untersuchungen der Europäischen Umweltagentur stehen. Siehe http://reports.eea.eu.int/environmental_assessment_report_2003_10/en

(5)  Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Göteborg), 15. und 16. Juni 2001, Ziffer 28.

(6)  KOM(2003) 745 endg.

(7)  KOM(2003) 745 endg.

(8)  KOM(2003) 745 endg.

(9)  KOM(2003) 745 endg., S. 23.

(10)  KOM(1999) 543 endg., S. 24.

(11)  KOM(2003) 745 endg., S. 27.

(12)  KOM(2001) 264 endg.

(13)  Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Stockholm), 23. und 24. März 2001, Ziffer 48.

(14)  Der EWSA erinnert daran, dass derzeit 20 % der Menschen rund 80 % aller Ressourcen verbraucht. 5 % der lebenden Bevölkerung (USA) produzieren aufgrund des exorbitanten Energieverbrauchs 25 % aller CO2-Emissionen.

(15)  Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament „Unsere gemeinsame Zukunft aufbauen — Politische Herausforderungen und Haushaltsmittel der erweiterten Union — 2007-2013“ (KOM(2004) 101 endg.).

(16)  Siehe auch Ziffer 6.

(17)  „Unsere gemeinsame Zukunft“, Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, 1987.

(18)  Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Erarbeitung einer Strategie der Europäischen Union für nachhaltige Entwicklung“, ABl. C 221 vom 7.8.2001, S. 169-177.

(19)  http://europa.eu.int/comm/sustainable/docs/strategy_en.pdf.

(20)  Vgl. KOM(1999) 543 vom 24.11.1999, S. 16 Ziffer 4.4: Effiziente Nutzung und Bewirtschaftung von Ressourcen, sowie Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Mitteilung der Kommission „Die Umwelt Europas: Orientierungen für die Zukunft — Gesamtbewertung des Programms der Europäischen Gemeinschaft für Umweltpolitik und Maßnahmen im Hinblick auf eine dauerhafte und umweltgerechte Entwicklung — Für eine dauerhafte und umweltgerechte Entwicklung“, ABl. C 204 vom 18.7.2000, S. 59-67.

(21)  Was Europa aufgrund der zu erwartenden globalen Steigerungsraten eine noch höhere Reduktion abverlangen könnte.

(22)  SEK(1999) 1942 vom 24.11.99, S. 14.

(23)  Zahlen aus: „External Costs — Research results on socio-environmental damages due to electricity and transport“; EU Commission —  Community Research, 2003.

(24)  Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Göteborg), 15. und 16. Juni 2001, Ziffer 21.

(25)  Allein die Broschüre „Strategie der Europäischen Union für die nachhaltige Entwicklung“ enthält Passagen der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Göteborg, die Mitteilung der Kommission „Strategie der Europäischen Union für die nachhaltige Entwicklung“, das Konsultationspapier zur Ausarbeitung einer Strategie für die nachhaltige Entwicklung sowie ein Protokoll einer gemeinsam von Kommission und EWSA organisierten Anhörung zum Thema. Daneben gibt es das 6. Umweltaktionsprogramm, die Lissabon-Strategie, demnächst weitere Strategien u.a. für die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen, (... Anm.: die weiteren angeben).

(26)  In Wahrheit sind es Krankheitsfinanzierungskosten.

(27)  KOM(1999) 543 endg. vom 24.11.1999, S. 23.

(28)  Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Göteborg), 15. und 16. Juni 2001, Auszug aus den Ziffern 20 und 21: „Der Europäische Rat vereinbart eine Strategie für nachhaltige Entwicklung, mit der das politische Engagement der Union für wirtschaftliche und soziale Erneuerung ergänzt, der Lissabonner Strategie eine dritte, die Umweltdimension hinzugefügt und ein neues Konzept für die Politikgestaltung eingeführt wird“. (...) „Klare und stabile Ziele für die nachhaltige Entwicklung werden beträchtliche wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnen. Hierin liegt das Potenzial für das Auslösen einer neuen Welle technologischer Innovationen und Investitionen, durch die Wachstum und Beschäftigung entstehen“.

(29)  Siehe u.a.: Plattform „Investing for a sustainable future“, in der das Europäische Umweltbüro (EEB), der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) und die „Platform of European Social NGOs (Social Platform)“ entsprechende Vorschläge unterbreiten.

(30)  Mitteilung der Kommission „Nachhaltige Entwicklung in Europa für eine bessere Welt: Strategie der Europäischen Union für die nachhaltige Entwicklung“, KOM(2001) 264 endg. vom 15.5.2001.

(31)  Armutsbekämpfung und Überalterung.

(32)  KOM(2003) 745 endg., S. 34.

(33)  So ist auffällig, dass die menschliche Arbeitskraft — obwohl im Überfluss vorhanden — überall in Europa hoch besteuert wird, während das immer knapper werdende Gut „Umwelt“ fast ohne steuerliche Belastung auskommt.

(34)  S. bspw. die jüngste Veröffentlichung von Eurostat: „Umweltsteuern in der EU 1980-2001: Erste Effekte ökologischer Steuerreformen sichtbar“ — Eurostat 2003.

(35)  Z.B. nach dem Vorbild des World Business Council for Sustainable Development auf internationaler Ebene.

(36)  U.a. im Bereich Verkehr, aber auch im Bereich der Landwirtschaft: so investiert derzeit der größte Schweineproduzent der USA (Smithfield) in riesigen Mastanlagen in Polen, was nichts mit nachhaltiger (oder multifunktionaler) Landwirtschaft zu tun hat.

(37)  Der EWSA gibt in seiner in Erarbeitung befindlichen Stellungnahme zu angepassten Umwelttechnologien in den neuen Mitgliedstaaten konkrete Hinweise zu diesem Thema.

(38)  Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Zukunft der GAP“, ABl. C 125 vom 27.5.2002, S. 87-99. Dort schreibt er: „Prinzipiell erwartet der EWSA deshalb von der Welthandelspolitik, dass sich Gesellschaften/Wirtschaftsräume, ihre Produzenten und ihre Verbraucher vor Produkten schützen können müssen, die nicht nach den eigenen anerkannten und praktizierten Regeln nachhaltiger Produktion hergestellt wurden bzw. auferlegten Normen nicht gerecht werden“.

(39)  Vgl. Ziffer 2.2.5, wo darauf hingewiesen wurde, dass eine Strategie durchaus die absehbaren Schwierigkeiten von vornherein einzubeziehen hat.

(40)  KOM(1999) 543 endg., S. 25.

(41)  Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Brüssel), 21. und 22. März 2003, Ziffer 57.

(42)  Ebenda.

(43)  Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Brüssel), 21. und 22. März 2003, Ziffer 58.

(44)  Ebenda.

(45)  KOM(2001) 264 endg., S. 9 (unter: Verbesserte Kommunikation und Mobilisierung der Bürger und der Unternehmen).

(46)  Siehe Rede im EWSA am 17.3.2004.


ANHANG 1

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Die folgenden Änderungsanträge, die mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen als Ja-Stimmen erhalten haben, wurden im Verlauf der Beratungen abgelehnt (Artikel 39 Absatz 2 der Geschäftsordnung).

Ziffer 2.1.3:

Wie folgt ergänzen:

„... und wirtschaftlichen und sozialen Aspekten weniger Beachtung schenkt.“

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 37, Nein-Stimmen: 51, Stimmenthaltungen: 8.

Ziffer 2.3.10.1:

Streichen

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 33, Nein-Stimmen: 65, Stimmenthaltungen: 2.

Ziffer 2.3.10.2:

Streichen

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 33, Nein-Stimmen: 62, Stimmenthaltungen: 3.

Ziffer 3.6:

Streichen

Abstimmungsergebnis

Ja-Stimmen: 32, Nein-Stimmen: 53, Stimmenthaltungen: 6.