30.4.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 110/98


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses um Thema „Mitteilung der Kommission - Europa und die Grundlagenforschung“

KOM(2004) 9 endg.

(2004/C 110/16)

Die Kommission beschloss am 14. Januar 2004, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen: „Mitteilung der Kommission - Europa und die Grundlagenforschung“

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss, die Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion und Verbrauch mit der Vorbereitung der Arbeiten zu beauftragen.

Aufgrund der Dringlichkeit der Arbeiten bestellte der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss auf seiner 406. Plenartagung am 25./26. Februar 2004 (Sitzung vom 26. Februar) Herrn WOLF zum Hauptberichterstatter und verabschiedete einstimmig folgende Stellungnahme:

1.   Einleitung und Inhalt der Mitteilung der Kommission

1.1

Lange Zeit herrschte unter den Mitgliedstaaten und auch den Organen der EU die Auffassung vor, Grundlagenforschung falle vorwiegend in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten, während sich die Gemeinschaft vorwiegend auf unmittelbar anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung konzentrieren solle. Diese Auffassung folgte aus einer - rückblickend betrachtet - etwas einseitigen Auslegung des Artikels 163 des Vertrags (1) zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft.

1.2

Zu Beginn des Jahres 2000 setzte hier ein erster Wandel ein, der durch zwei wegweisende Aktionen und Beschlüsse ausgelöst wurde. Maßgeblich war einerseits die Mitteilung der Kommission (2)„Hin zu einem Europäischen Forschungsraum“, in welcher zwar Grundlagenforschung noch nicht explizit als Gemeinschaftsaufgabe angesprochen wurde, aber im Kontext der Darstellung doch schon erkennbar wurde. Maßgeblich waren andererseits die Beschlüsse des Europäischen Rates von Lissabon (3), die unter anderem das anspruchsvolle und wichtige Gemeinschaftsziel einer wissensbasierten Wirtschaft und Gesellschaft festlegten; allerdings wurde auch darin die fundamentale Bedeutung der Grundlagenforschung nicht explizit hervorgehoben.

1.3

Nahezu zeitgleich war es dann jedoch der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss welcher in seiner Stellungnahme (4) zur Mitteilung der Kommission „Hin zu einem Europäischen Forschungsraum“ auf die Bedeutung einer ausgewogenen Balance und notwendigen Wechselwirkung zwischen Grundlagenforschung und anwendungsorientierter Forschung und Entwicklung hingewiesen hat. Dabei gab er die explizite Empfehlung, dass erkenntnisorientierte Grundlagenforschung als die Quelle neuer Entdeckungen, Konzepte und Methoden ausreichend gefördert werden muss.

1.4

Inzwischen hat sich diese Auffassung allgemein verbreitet. Man ist sich der Erfordernisse einer wissensgestützten Wirtschaft und Gesellschaft deutlicher bewusst geworden und hat dabei auch erkannt, wie wichtig Fortschritte in allen wissenschaftlichen Disziplinen einschließlich der Grundlagenforschung sind, wenn man die in Lissabon gesetzten Ziele wirklich erreichen will.

1.5

Europa verfügt in der Grundlagenforschung über unbestreitbare Stärken, und zwar sowohl auf Hochschulebene, als auch im Rahmen spezieller Organisationen (5). Doch sollten auf gemeinschaftlicher Ebene mehr Initiativen ergriffen werden.

1.5.1

Historisch gesehen, waren es sogar Vorhaben in der Grundlagenforschung, denen die ersten Initiativen wissenschaftlicher Zusammenarbeit in (West-) Europa galten. Sie entstanden aus der Notwendigkeit, Zentren für Großgeräte zu errichten und eine kritische Masse zu schaffen, deren Kostenaufwand die finanzielle Fähigkeit oder Zahlungsbereitschaft der einzelnen Staaten überstieg.

1.5.2

So wurden in den 50er Jahren CERN (Hochenergiephysik) und in den 60er Jahren ESO (Astronomie) sowie EMBO und EMBL (Molekularbiologie) (6) oder das deutsch-französische ILL (7) und später zudem ESRF (8) gegründet. Aber auch in einzelnen Mitgliedstaaten gibt es inzwischen große Versuchsanlagen (9), die bilateral oder multilateral genutzt werden.

1.5.3

Selbst vordergründig besonders anwendungsorientierte und stark technologie-geprägte europäische Programme wie die Raumfahrt oder die Fusionsforschung stehen in engster Wechselwirkung mit und benötigen einen beachtlichen Anteil von Grundlagenforschung.

1.6

Damit ist es gelungen, Institutionen von inzwischen weltweiter Bedeutung zu schaffen, welche das Ansehen Europas als Wissenschaftsstandort maßgeblich mitgeprägt (10) haben. Zudem üben diese Institutionen eine große Ausstrahlungs- und zentrale Anziehungskraft auf vielfältige Forschungsaktivitäten an Hochschulen und anderen Forschungsinstituten aus. Daraus haben sich fruchtbare Kooperations-Netzwerke gebildet, die maßgebliche Voraussetzung für den gemeinsamen Erfolg sind.

1.7

Auch bei den Forschungsarbeiten der Europäischen Wissenschaftsstiftung (EWS), einer in den 70er Jahren gegründeten, nicht spezialisierten Organisation, geht es häufig um relativ grundlegende Forschungsthemen. Das Gleiche gilt für jene Arbeiten innerhalb des F&E – Rahmenprogramms der Europäischen Union, die als Element der größeren thematischen Aktionen ihrerseits ein gewisses, wenn auch relativ geringes Maß an Grundlagenforschung erfordern und umfassen.

1.8

Davon ausgehend betrifft die vorliegende Mitteilung der Kommission Rolle, Bedeutung und gegenwärtige Situation der Grundlagenforschung im Europäischen Forschungsraum, sowie Überlegungen zu möglichen Maßnahmen, seitens der Kommission die Grundlagenforschung in der EU nunmehr nicht nur deutlich intensiver als bisher, sondern auch systematisch zu fördern.

1.9

Dementsprechend umfasst die Mitteilung der Kommission folgende Aspekte der Grundlagenforschung:

Grundlagenforschung und ihre Wirkung

Lage in der Welt und in Europa

Grundlagenforschung auf europäischer Ebene

Aussichten

Nächste Schritte

1.10

Zur Situation Grundlagenforschung auf europäischer Ebene stellt die Kommission des Weiteren folgendes fest:

1.10.1

In Europa ist der Privatsektor nicht sehr aktiv in der Grundlagenforschung. Nur wenige Unternehmen verfügen über entsprechende Forschungskapazitäten, und ihre Tätigkeit konzentriert sich im Allgemeinen auf angewandte Forschung und Entwicklung. Die Forschungsfinanzierung durch Stiftungen hält sich in Grenzen.

1.10.2

Im Gegensatz zu den USA, wo der Privatsektor der Ansicht ist, dass die Grundlagenforschung öffentlich finanziert werden muss (11), hatte sich die Industrie in Europa lange Zeit dafür eingesetzt, dass die öffentlichen Gelder vorzugsweise in die angewandte Forschung in den Unternehmen selbst fließen. Inzwischen wird die Bedeutung der Grundlagenforschung für die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit in Europa jedoch auch im Unternehmenssektor (siehe zum Beispiel Europäischer Industriekreis) in immer weiteren Kreisen anerkannt.

1.11

Die im Kommissionsvorschlag angesprochenen weiteren Maßnahmen werden sich auch auf die Äußerungen zahlreicher Persönlichkeiten, Organisationen und Einrichtungen zu dieser Frage stützen, wie beispielsweise einer Gruppe von 45 Nobelpreisträgern, der Europäischen Wissenschaftsstiftung (EWS), des Verbands der Leiter und Präsidenten der nationalen Forschungsräte (EuroHORCS) (12), der Vereinigung Eurosciences, der Academia Europeae, des Europäischen Forschungsbeirats EURAB und einer Ad-hoc-Gruppe von Persönlichkeiten (ERCEG), die im Anschluss an jene Konferenz eingesetzt wurde, welche unter der dänischen Präsidentschaft der Union am 7./8. Oktober 2002 in Kopenhagen zum Thema „Europäischer Forschungsrat“ stattfand (13).

1.12

Dementsprechend plant die Kommission zum weiteren Vorgehen für das erste Quartal 2004 eine

ausführliche Diskussion in der Wissenschaftsgemeinschaft und den interessierten Kreisen über diese Mitteilung in Verbindung mit den Überlegungen über den „Europäischen Forschungsrat“,

politische Diskussion im Europäischen Parlament und im Rat auf der Grundlage dieser Mitteilung.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Auch unter Hinweis auf seine zwischenzeitlichen Stellungnahmen zum Thema Forschung und Entwicklung, in welchen der Ausschuss mehrfach (14) auf die Notwendigkeit hingewiesen hat, dass seitens der EU und angesichts der Ziele von Lissabon Grundlagenforschung ausreichend - d.h. in wesentlich höherem Maße als bisher - gefördert werden muss, begrüßt der Ausschuss ausdrücklich die von der Kommission vorgelegte Mitteilung sowie die darin enthaltenen Feststellungen und Absichten.

2.2

Speziell unter Hinweis auf seine Stellungnahme (15) zum Vorschlag der Kommission für das Sechste F&E - Rahmenprogramm und auf seine dort abgegebene Empfehlung, den F&E - Gesamthaushalt der Gemeinschaft (dies bezog sich auf den Haushalt der 15 Mitgliedstaaten!) mittelfristig um 50 % zu erhöhen, unterstützt der Ausschuss insbesondere den Appell der Kommission, im Forschungshaushalt der EU in erheblichen Umfang neue Mittel bereitzustellen. Ebenso unterstützt er die Absicht der Kommission, den Empfehlungen der Mayour-Gruppe zu folgen und die verstärkte Unterstützung der Grundlagenforschung zu einem der Schwerpunkte der künftigen Forschungsmaßnahmen der Union zu machen. Er weist in diesem Zusammenhang auf die von der Kommission vorgebrachten alarmierenden Indikatoren hin, welche die sogar noch wachsende Wissens- und Forschungskluft zwischen der EU und z.B. den USA aufzeigen.

2.3

Der Ausschuss unterstützt zudem die ersten Überlegungen zur Einrichtung eines „Europäischen Wissenschaftsrats“, der auf Ebene der EU jene Aufgaben übernehmen könnte, wie sie auf Ebene der Mitgliedstaaten von Institutionen wie die „Research Councils“ im Vereinigten Königreich, die Deutsche Forschungsgemeinschaft in Deutschland, der Vetenkapsradet in Schweden, die NWO in den Niederlanden, der FNRS in Belgien usw. wahrgenommen werden. Diese gewähren - auf Antrag - die Finanzierung von Projekten oder Zuschüsse zu den Projekten einzelner Forscherteams, wie dies analog auch in den USA geschieht.

2.4

Der Ausschuss stimmt mit der Kommission darüber überein, dass es kaum möglich ist, strenge Kriterien zur Abgrenzung zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung zu definieren. Er hält dies aber auch nicht für problematisch (und empfiehlt demgemäß auf praktischer Ebene einen gewissen Ermessensspielraum zuzulassen), da es sich zwischen diesen beiden Kategorien um eine fruchtbare Wechselwirkung, ja sogar um ein Zusammenwirken handelt und handeln sollte.

2.4.1

Der Ausschuss erinnert an seine frühere Empfehlung (16), das Wirkungsgeflecht Grundlagenforschung/angewandte Forschung in einem pluralistischen, multipolaren Wissenschaftssystem zu stärken.

2.4.2

Dennoch hält es der Ausschuss für erforderlich, im Rahmen des weiteren Vorgehens den Begriff Grundlagenforschung seitens der Kommission so zu beschreiben (oder vorzuschlagen), dass sich daraus eine hinreichend praktikable Entscheidungsgrundlage gegenüber Förderungsanträgen ergibt. Dabei weist er auf seine dazu bereits früher gegebene Empfehlung (17) hin.

2.5

Die Kommission spricht in ihrer Mitteilung auch die sehr komplexe Frage des geistigen Urheberrechts in Verbindung mit Grundlagenforschung an. Bekanntlich sind Entdeckungen nicht, Erfindungen aber sehr wohl patentierbar. Wegen der weiter unten behandelten und auch für die Wissensverbreitung erwünschten Notwendigkeit für Forscher, ihre Ergebnisse schnell zu publizieren, geraten sie dabei in einen Konflikt.

2.5.1

Dieser Konflikt betrifft die gleichzeitig auftauchende Frage, ob sich aus ihrer Entdeckung nicht auch eine Anwendung entwickeln könnte, die patentiert werden sollte; dann müsste allerdings vor Veröffentlichung des dazu nötigen Wissens ein Patent angemeldet werden. Als Folge dieses Konflikts leidet entweder die Wissensverbreitung und damit das wissenschaftliche Ansehen, oder der potentielle Patentschutz neuer, möglicherweise bahnbrechender Ideen zu Gunsten der EU und der Erfinder ist verwirkt.

2.5.2

Dieser Konflikt ließe sich mit einer sogenannten „Neuheitsschonfrist (18) (engl. grace period)“ erheblich entschärfen. Der Ausschuss wiederholt daher seine mehrfach abgegeben Empfehlung (19), die in den USA übliche „Neuheitsschonfrist“ auch in der EU einzuführen. Zugleich wiederholt er die Notwendigkeit, das Europäische Gemeinschaftspatent einzuführen. Damit würde ein schweres Handikap für die europäischen Wissenschaftler und Unternehmen beseitigt.

2.6

Im Übrigen gibt der Ausschuss zu bedenken, ob und wie man in zukünftigen europäischen Vertragswerken oder Beschlüssen die Förderung der Grundlagenforschung (für die Ziele von Lissabon) explizit verankern könnte.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1

Der Ausschuss stimmt auch weitgehend mit der seitens der Kommission vorgelegten Zustandsbeschreibung und Analyse der gegenwärtigen Situation der Grundlagenforschung überein.

3.1.1

Dies trifft allerdings nicht auf alle Feststellungen zu. So schreibt die Kommission unter anderem „Neben seinen Stärken weist Europa…auch eine Reihe von Schwächen in der Grundlagenforschung auf, die zum größten Teil durch die Abschottung der einzelstaatlichen Forschung, vor allem das Fehlen eines ausreichenden Wettbewerbs zwischen den Wissenschaftlern, Forscherteams und Einzelprojekten auf europäischer Ebene, bedingt sind.“, und sie zieht daraus den Schluss, dass eine bessere Koordination der Tätigkeiten, Maßnahmen und einzelstaatlichen Programme in der Grundlagenforschung notwendig sei.

3.1.2

Letztere, auf Abschottung und mangelnden Wettbewerb bezogene, Aussage der Kommission - die generell wahrscheinlich nicht einmal für jene Institutionen gelten mag, welche auf politischer Ebene Forschung betreuen oder lenken - hält der Ausschuss in ihrer Allgemeinheit und in ihrem Bezug auf die forschende Wissenschaft allerdings für irreführend. Darin wird vor Allem ein entscheidender Wesenszug wissenschaftlicher Forschung verkannt oder nicht genügend berücksichtigt.

3.1.3

Eines der wichtigsten Motive der Forscher - neben der Suche nach Erkenntnis, nach dem Finden oder Entwickeln des Neuen - liegt nämlich im Wettbewerb zwischen konkurrierenden Gruppen oder Labors und dem Wunsch nach Gedankenaustausch mit den andernorts tätigen sachkundigen Kollegen. Ein Übermaß an Wettbewerb oder Ehrgeiz schadet allerdings dem Wesen wissenschaftlicher Forschung. Denn es kann zur Oberflächlichkeit führen und die notwendige Sorgfalt und Tiefe wissenschaftlicher Arbeit, sowie das Bestreben, Neues zu finden, beeinträchtigen.

3.1.4

Dieser Gedankenaustausch und Wettbewerb wird unter anderem auf internationalen wissenschaftlichen Konferenzen/Kongressen sowie in den angesehenen internationalen Fachzeitschriften ausgetragen. Das nationale und internationale Ansehen der einzelnen Forscher (also auch deren Karrierechancen) und ihrer Institutionen erwächst auch daraus, wer zuerst welche wichtige neue Erkenntnis gewonnen und veröffentlicht hat.

3.1.5

Solche Konferenzen/Kongresse werden in der Regel von den jeweiligen Wissenschaftlichen Gesellschaften oder Fachverbänden veranstaltet und bilden - im Spannungsfeld zwischen Kooperation und Wettbewerb - das internationale Forum zum Austausch der neuesten Ergebnisse und Pläne, zum Anbahnen neuer Kooperationen, aber auch zur Darstellung der Fähigkeiten und Leistungen, also zum Austragen des Wettbewerbs.

3.1.6

Dem Wissensaustausch und der Koordinierung dienen zudem die starke personelle internationale Verflechtung (20) vieler Forschungsprojekte, sowie deren Einbindung in internationale Programme (21).

3.1.7

Dies Alles führt selbstverständlich zu Rückschlüssen innerhalb der jeweiligen Institutionen und deren Forscher und somit auch zu einem stetigen, mit dem Zeittakt wissenschaftlicher Forschung verträglichen, Prozess der Anpassung und Re-Orientierung ihres Forschungsprogramms.

3.1.8

Wie der Ausschuss schon in einer früheren Stellungnahme betont hat, sollte die Kommission diesen auch durch Wettbewerb stimulierten und inzwischen auf internationaler Ebene stattfindenden Selbstordnungs- und Anpassungsprozess der Wissenschaft und Forschung besser wahrnehmen, anerkennen und nutzen. Sie sollte demgemäß noch mehr als bisher anerkannte Spitzenwissenschaftler sowie die Repräsentanten der Wissenschaftlichen Gesellschaften und Fachverbände (welche von ihren Mitgliedern getragene und finanzierte Organisationen sind, also NGOs) in ihre internen Beratungs- und insbesondere auch Verteilungsprozesse einbinden.

3.1.9

Die obigen Anmerkungen des Ausschusses sprechen jedoch nicht gegen eine - soweit nötig und hilfreich - weitere „offene Koordinierung“ und damit „Europäisierung“ der einzelstaatlichen Programme in der Grundlagenforschung. Diese sollte jedoch vorzugsweise durch ausreichende Anreize für sich jeweils selbst entwickelnde „bottom-up“ Prozesse erreicht werden sowie durch die Unterstützung solcher Projekte (22) oder Großgeräte, welche - im Sinne der Subsidiarität - die Leistungskraft oder den Leistungswillen einzelstaatlicher Förderung übersteigen, und aus deren Ausstrahlungskraft heraus sich entsprechende europäische Netzwerke ausbilden.

3.1.10

Zudem ist es notwendig, ein kulturelles Umfeld und einen angemessenen administrativen und finanziellen Rahmen zu schaffen, die herausragende Leistungen fördern, Raum für offenere Themen und Arbeitsprogramme lassen, und den Wissenschaftlern stärkere Anreize bieten.

3.1.11

Der Ausschuss bekräftigt seine Besorgnis über unzureichende Synergieeffekte und den unzulänglichen Austausch von Wissenschaftlern zwischen dem Hochschulsektor und dem Unternehmenssektor, der zu einer Dichotomie zwischen der Grundlagenforschung und der angewandten Forschung führt, die Synergie zwischen Konzepten, Methoden und unterschiedlichen Technologien erschwert und die Interdisziplinarität reduziert, wobei außerdem Verhaltensweisen gefördert werden, die einerseits zu sehr auf wissenschaftliche Veröffentlichungen und andererseits auf kurzfristige Ergebnisse ausgerichtet sind.

3.2

Zum entsprechenden Förderauftrag seitens der EU sollten zudem vorzugsweise solche Programme oder Institutionen gehören, deren Aufgabe ein hohes Maß an interdisziplinärer Forschung erfordert. Letztere gewinnt auf vielen Gebieten und für viele wichtige Fragestellungen zunehmend an Bedeutung, und sie kann am wirkungsvollsten durch vernetzte Zusammenfassung der verschiedenen benötigten Disziplinen und der dazugehörigen Geräte an zentraler Stelle verwirklicht werden, um von dort aus wiederum einer „europäische“ Nutzung und Vernetzung zu dienen.

3.3

Unter Hinweis auf seine obigen Bemerkungen unterstützt der Ausschuss demgemäß die Überlegungen der Kommission im Hinblick auf folgende von ihr vorgeschlagene Maßnahmen:

stärkere europäische Unterstützung der Forschungsinfrastruktur und Förderung der Einrichtung von Leistungszentren durch Kombination der einzelstaatlichen und europäischen sowie der öffentlichen und privaten Finanzierung,

stärkere Unterstützung der Weiterentwicklung der Humanressourcen, der Fortbildung der Wissenschaftler und der wissenschaftlichen Laufbahnentwicklung (23),

Förderung von Zusammenarbeit und Vernetzung

3.4

Ein wichtiges Instrument der Förderung sollte nach Meinung des Ausschusses eine ausreichende finanzielle Unterstützung von Einzelprojekten sein. Dies könnte, wie von der Kommission vorgeschlagen, mittels einer Organisation wie dem Europäischen Forschungsrat geschehen, deren Arbeitsweise sich an den bereits sehr erfolgreich auf Ebene der Mitgliedstaaten operierenden Institutionen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) oder den (britischen) Research Councils orientieren sollte. Auch wegen der weiter unten angesprochenen Problematik sollten dabei jedoch Projekte hinreichend langer Laufzeit zugelassen werden; zudem sollten - in bestimmtem Umfang - auch gewisse Arten (24) der mehr institutionellen Förderung (z.B. über Zeiträume von 12 bis 15 Jahren) in Betracht gezogen werden.

3.4.1

Dabei sind unter anderem zwei wichtige Gesichtspunkte zu beachten, die auch schon in früheren Stellungnahmen (25) des Ausschusses angesprochen wurden.

3.4.2

Zum einen handelt es sich um das Problem einer angemessenen persönlichen Vertragsgestaltung für die an den Projekten beteiligten Forscher. Es muss nämlich sichergestellt werden, dass auf Grund der naturgemäß immanenten Befristung der jeweiligen Projekte den beteiligten Forschern bezüglich ihrer Vertragsgestaltung, persönlichen Bezüge und sozialen Absicherung nicht nur keine Nachteile erwachsen, sondern dass sogar ausreichende Anreize gegeben sind, um die besonders Qualifizierten für diese Aufgaben gewinnen und halten zu können.

3.4.3

Zum anderen handelt es sich um das Problem des mit Antragsverfahren, Begutachtung etc. verbundenen Aufwands (26), und zwar sowohl für die Antragsteller als auch für die Gutachter. Hier ist - dem Beispiel z.B. der DFG folgend – unter anderem sicherzustellen, dass dieser Aufwand gering ist gegenüber dem potentiellen Erfolg bei Erteilung der beantragten Mittel. Ein möglicher Lösungsweg könnte sein, dass die Antrags- und Prüfverfahren aller beteiligten Zuwender vereinheitlicht, nicht ständig verändert, und zusammengelegt werden.

3.5

Eine in diesem Sinne besonders schwierige Situation könnte dann entstehen, wenn das für Grundlagenforschung verfügbare Budget so stark begrenzt sein würde, dass eine große, die verfügbaren Mittel weit übersteigende Zahl von Anträgen eingereicht, bearbeitet und - überwiegend abschlägig - beschieden werden muss.

3.5.1

Es gilt nämlich einerseits zu vermeiden, dass bei den erfolglosen Antragstellern, die ja dann die große Mehrheit bilden - auch angesichts ihres investierten Aufwands - eine Missstimmung gegenüber Kommission und EU hervorgerufen wird.

3.5.2

Andererseits gilt es jedoch zu vermeiden, dass ein übermäßiger bürokratischer Aufwand (siehe oben) betrieben wird, um den Nachweis der Korrektheit und Gerechtigkeit des Verfahrens dokumentieren zu können. Besonders deshalb empfiehlt der Ausschuss, die Kommission möge sich sowohl von den auf diesem Gebiet erfahrenen Organisationen der Mitgliedstaaten beraten lassen, als auch vor allem von bisher erfolgreichen und erfolglosen (!) Antrag-stellern.

3.6

Die Kommission weist zurecht auf die entscheidende Rolle der Grundlagenforschung für den Ausbildungsauftrag der Universitäten hin, und der Ausschuss stimmt dementsprechend der in der Mitteilung gemachten Aussage zu: „Aus diesem Grund wird die Grundlagenforschung auch weiterhin im Mittelpunkt der Tätigkeit und der Aufgaben der Universitäten stehen, die in ihr und in der Lehre ihre Daseinsberechtigung finden“. Nach Meinung des Ausschusses gilt dies aber gleichermaßen für jene Forschungsorganisationen außerhalb der Universitäten, die (auch) Grundlagenforschung betreiben und die personell, programmatisch oder organisatorisch auf vielfache Weise mit der universitären Forschung und Ausbildung verbunden sind.

4.   Schlussfolgerung

Der Ausschuss unterstützt die Kommission mit Nachdruck in ihrem Ziel, Grundlagenforschung auch auf Ebene der EU angemessen und systematisch zu fördern und dafür ein ausreichendes Budget sowie die geeigneten, schlanken administrativen Instrumente zur Verfügung zu stellen. Er empfiehlt der Kommission, die von ihr beabsichtigten nächsten Schritte einzuleiten und dabei seine obigen Bemerkungen und detaillierten Empfehlungen zu beachten.

Brüssel, den 26. Februar 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  im Verfassungsentwurf vom 18. Juli 2003 weitgehend übernommen als Artikel III – 146.

(2)  (KOM)2000/6 endg.

(3)  Europäischer Rat Lissabon; 23./24. März 2000.

(4)  ABl C 204 vom 18/7/2000.

(5)  ABl C 204 vom 18/7/2000.

(6)  CERN - Europäische Organisation für Kernforschung, ESO - Europäische Südsternwarte, EMBO - Europäische Molekularbiologie-Organisation, EMBL - Europäisches Laboratorium für Molekularbiologie.

(7)  Institute Laue-Langevin in Grenoble.

(8)  ESRF = Europäische Synchrotron-Strahlungsanlage, ebenfalls Grenoble.

(9)  z.B. DESY (Deutsches Elektronen Synchrotron) Hamburg.

(10)  Der Ausschuss erinnert zudem daran, dass das revolutionäre Kommunikationssystem „world-wide-web“ als Basis des INTERNET eine von CERN ausgegangene Entwicklung ist, die ursprünglich nur für die Übertragung wissenschaftlicher Daten zwischen den an der Forschung beteiligten Laboratorien beabsichtigt war.

(11)  Siehe den Bericht „America's Basic Research: Prosperity Through Discovery“ des „Committee for Economic Development“, das sich aus Vertretern der großen Industriekonzerne zusammensetzt. In den USA gibt es jedoch Unternehmen wie z.B. IBM oder Bell Labs, die, nach wie vor in groβem Umfang Grundlagenforschung betreiben, wenn auch mit abnehmender Tendenz sehr grundlagenbezogene Forschung betreiben.

(12)  EuroHORCS: European Heads of Research Councils, EURAB: Europäischer Forschungsbeirat, ERCEG: The European Research Council Expert Group, Vorsitzender: Professor Federico Mayor.

(13)  Am 15. Dezember 2003 schickte der dänische Forschungsminister seinen europäischen Kollegen den Abschlussbericht dieser Gruppe. Darin befürwortet diese die Einrichtung eines Europäischen Fonds für die Grundlagenforschung, der hauptsächlich mit neuen Mitteln aus dem Forschungsrahmenprogramm der Union finanziert und von einem Europäischen Forschungsrat verwaltet werden soll.

(14)  ABl C 221 vom 7.8.2001, Ziffer 4.4.1, 4.4.2, 4.4.3, 4.4.4 und 4.4.5.

(15)  ABl. C 260/3 von 17.9.2001.

(16)  ABl. C 221 von 7.8.2001, Ziffer 6.7.2.

(17)  CESE 1588/2003, Punkt 4.5.3.

(18)  Im deutschen Patentrecht früher als „neuheitsunschädliche Vorveröffentlichungsfrist“ sogar verankert!

(19)  Siehe insbesondere ABl. C 95/48 von 23.4.2003, Ziffer 5.2.

(20)  Zum Beispiel kommen mehr als 50 % der Nachwuchsforscher und sogar ein Viertel der Institutsdirektoren der Max-Planck-Gesellschaft aus dem Ausland.

(21)  Dies gilt z.B. besonders für die auch von der Kommission angesprochenen Programme in den Bereichen Klimatologie, Ozeanographie, Atmosphärenphysik etc.

(22)  ABl C 95 vom 23.4.2003.

(23)  Siehe Mitteilung der Kommission „Forscher im europäischen Forschungsraum - ein Beruf, vielfältige Karrieremöglichkeiten“ (KOM(2003) 436 vom 18.7.2003) und Stellungnahme des Ausschusses dazu CESE 305/2004.

(24)  wie z.B. in Deutschland „Sonderforschungsbereiche“ der DFG.

(25)  CESE 305/2004, Ziffer 5.1.8.

(26)  CESE 305/2004, Ziffer 5.1.8.4.


ANHANG

zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Die folgenden Änderungsanträge wurden zur Abstimmung vorgelegt und in der Debatte abgelehnt (Artikel 54 Absatz 3 GO):

Ziffer 2.6 - Abschnitt streichen

Begründung

Die Grundlagenforschung wird bereits im Rahmen des Sechsten F&E-Rahmenprogramms finanziert, und die Mischung zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung wird vom politischen Entscheidungsträger (Rat und Europäisches Parlament) entsprechend den zum jeweiligen Zeitpunkt verfolgten strategischen Zielen bestimmt. Darüber hinaus entstünden praktische Probleme, wenn es keine allgemein anerkannte Definition des Begriffs „Grundlagenforschung“ gäbe.

Ergebnis der Abstimmung:

Ja-Stimmen: 18, Nein-Stimmen: 43, Stimmenthaltungen: 12.