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Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der «Kommissionsvorlage «Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Jahr 2000 - Vorschlag»»

Amtsblatt Nr. C 368 vom 20/12/1999 S. 0031 - 0035


Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der "Kommissionsvorlage 'Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Jahr 2000 - Vorschlag'"

(1999/C 368/12)

Der Rat beschloß am 6. Oktober 1999, den Wirtschafts- und Sozialausschuß gemäß Artikel 128 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu der vorgenannten Kommissionsvorlage zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 30. September 1999 an. Berichterstatter war Herr Lustenhouwer.

Der Ausschuß verabschiedete auf seiner 367. Plenartagung (Sitzung vom 20. Oktober 1999) mit 78 Stimmen bei 1 Gegenstimme und 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme.

1. Einleitung

1.1. Der Wirtschafts- und Sozialausschuß hat die Vorschläge der Kommission betreffend die beschäftigungspolitischen Leitlinien für 2000 mit großem Interesse zur Kenntnis genommen. Der Ausschuß stellt zu seiner Zufriedenheit fest, daß er sich jetzt auf der Basis einer offiziellen Befassung durch den Rat - wie sie seit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags erforderlich ist - zu diesem Thema äußern kann. Er betrachtet dies als wesentliche Anerkennung seiner Rolle beim Prozeß zur Schaffung einer europäischen Beschäftigungspolitik.

Mit diesen Vorschlägen kommt die Kommission einem entsprechenden Aufruf des Europäischen Rates vom 3. und 4. Juni 1999 nach. Außerdem hält sie damit auch an der Strategie fest, wie sie im Rahmen des Luxemburg-Prozesses abgesteckt wurde.

1.2. Der Ausschuß ist sich dessen bewußt, daß die Kommission mit ihren jetzigen Leitlinienentwürfen erstmals Konzepte vorgelegt hat, die im Rahmen des vom Europäischen Rat in Köln beschlossenen Europäischen Beschäftigungspakt zu sehen sind. Durch diesen Pakt wird die Beschäftigungspolitik (Luxemburg-Prozeß) mit der Koordinierung der Wirtschaftspolitik (Köln-Prozeß) und der Politik zur Verbesserung des Innovationsvermögens und zur Effizienzsteigerung der Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalmärkte (Cardiff-Prozeß) in direkten Zusammenhang gebracht.

1.3. Mit diesem globalen Ansatz, der letztlich den nachhaltigen Abbau der Arbeitslosigkeit in der EU zum Ziel hat, entspricht der Rat in hohem Maße dem diesbezüglichen Anliegen des Ausschusses.

In seiner Stellungnahme über "Die Umsetzung der beschäftigungspolitischen Leitlinien für 1999(1)" stellte der Ausschuß nämlich die Notwendigkeit einer solchen umfassenden Gesamtstrategie heraus. Der Ausschuß ist nach wie vor der Ansicht, daß ein derartiges Gesamtkonzept ein Bindeglied zwischen der Gesamtwirtschaftspolitik und anderen beschäftigungsrelevanten politischen Betätigungsfeldern enthalten muß. Deswegen wäre es nach Ansicht des Ausschusses beispielsweise zweckmäßig, eine Verbindung zwischen der Beschäftigungspolitik und den politischen Maßnahmen im Bereich der Sicherheit und der Gesundheitsschutzes bei der Arbeit zu schaffen. Eine effiziente Politik im Bereich der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz trägt nämlich bei zu einer größeren Beschäftigungsfähigkeit und Verbesserung der Qualität der geleisteten Arbeit.

In dieser Hinsicht erfuellt es den Ausschuß mit Genugtuung, daß dieser integrierte Ansatz bereits in der Empfehlung des Rates vom 12. Juli 1999 über die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft (ex Artikel 99 Absatz 2 des Vertrags) seinen Niederschlag gefunden hat(2). Die Wirtschaftspolitik wird in dieser Empfehlung nämlich voll und ganz in den Dienst der zweigliedrigen Hauptpriorität - kräftiges nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung - gestellt.

1.4. Nachdem der Rat sich diese Sichtweise in Form des Europäischen Beschäftigungspakts zu eigen gemacht hat, wird auch der Ausschuß die hier in Rede stehenden Leitlinienentwürfe als Teil eines größeren Ganzen betrachten. Deswegen wird der Ausschuß sich auch mit den Entwicklungen im Rahmen des Köln- und des Cardiff-Prozesses beschäftigen und in einem Beitrag für den Europäischen Sondergipfel im Frühjahr 2000 in Portugal, auf dem die in bezug auf die drei Prozesse erzielten Fortschritte erörtert werden sollen, diese Vision umfassend darlegen.

Dies hindert jedoch nicht daran, in der Zwischenzeit auf der Basis der von den Mitgliedstaaten mitgeteilten Zahlen eine erste Beurteilung des Zweckmäßigkeits- und Qualitätsaspekts der getroffenen Maßnahmen vorzunehmen. Der Ausschuß ist sich darüber im klaren, daß es mit Blick auf die bevorstehende Erweiterung der Europäischen Union äußerst schwierig und deswegen um so wichtiger sein wird, die Bewerberstaaten in (die Diskussion über) diese Beschäftigungsstrategie einzubeziehen und einen Erfahrungsaustausch in den Bereichen anzubahnen, in denen bewährte Praktiken sich für eine einheitliche Anwendung eignen würden.

2. Allgemeine Bewertungen

2.1. Der Ausschuß stellt fest, daß die Vorschläge der Kommission die Hauptzüge der bisherigen beschäftigungspolitischen Leitlinien beibehalten. Der Ausschuß begrüßt diesen Ausdruck der politischen Kontinuität. Die Beschäftigungsstrategie bringt für die Mitgliedstaaten einen Anpassungsbedarf mit sich. Auch diese Anpassungen brauchen ihre Zeit und eignen sich wohl kaum für eingreifende jährliche Korrekturen. Der Ausschuß ist allerdings der Ansicht, daß danach gestrebt werden sollte, die beschäftigungspolitischen Leitlinien enger an zeitlich und/oder quantitativ überprüfbare Ziele zu knüpfen. Überdies ist sich der Ausschuß darüber im klaren, daß die bisherigen Erfahrungen lediglich einen beschränkten Einblick geben in die meßbaren Auswirkungen der heutigen Konzeption. Eine Korrektur kommt denn auch nur in Betracht, wenn mehr quantifizierbare Effekte der ins Visier genommenen Ziele vorliegen. Vielleicht könnte der europäische Sondergipfel in Portugal eine erste Zwischenbilanz geben. Wie auch aus der Empfehlung der Kommission für Empfehlungen des Rates zur Durchführung der Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten hervorgeht, ist die Verbesserung der statistischen Information gerade auch auf nationaler Ebene ein Schritt, der kurzfristig vollzogen werden muß.

2.2. Der Ausschuß ist des weiteren der Ansicht, daß die Anwendung und kohärente und ausgewogene Beibehaltung der bestehenden vier Schwerpunktbereiche der Leitlinien sehr wichtig ist, vor allem in bezug auf diejenigen Mitgliedstaaten, die laut dem gleichzeitig mit dem Leitlinien-Vorschlag der Kommission veröffentlichten Entwurf des gemeinsamen Beschäftigungsberichts auf verschiedenen Gebieten bei der tatsächlichen Umsetzung dieser Leitlinien noch im Rückstand sind. In diesem Sinne fungieren die jetzt vorliegenden Vorschläge denn auch als Erinnerung nach dem Motto - Steter Tropfen höhlt den Stein.

3. Die vier Leitlinien

3.1. Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit

3.1.1. Es liegt wohl auf der Hand, daß der Ausschuß für eine Fortführung der Aktivitäten innerhalb dieses Betätigungsschwerpunkts plädiert. Alle Mitgliedstaaten müssen sich auch weiterhin um ein präventives und proaktives Vorgehen bemühen, um zu verhindern, daß Menschen arbeitslos werden. Wenngleich die wirtschaftlichen Prognosen günstiger anmuten als noch vor einem Jahr, ist für Selbstzufriedenheit in bezug auf die Beschäftigungssituation vor allen Dingen bei Jugendlichen und Langzeitarbeitslosen kein Anlaß. Dies gilt um so mehr, als den Berichten der verschiedenen Mitgliedstaaten zufolge die quantifizierbaren Ziele bislang nur in beschränktem Maße verwirklicht wurden. Gerade bei diesem Teil der beschäftigungspolitischen Leitlinien sind Anpassungen ein sehr mühseliges und zeitaufwendigeres Unterfangen. Dies setzt die Entwicklung der Arbeitsvermittlung sowie allgemein der Arbeitskraft- und Aus- und Fortbildungsdienste sowie die Bereitstellung ausreichende Mittel zur Durchführung der Ziele voraus. Eine aktive Arbeitsmarktpolitik ist nämlich in vielen Fällen nur im Rahmen eines geeigneten Systems von Besteuerung und sozialer Sicherheit möglich. Das Fehlen einer ausreichenden Konvergenz zwischen Mitgliedstaaten in diesen wichtigen Bereichen erschwert leider nach wie vor die optimale Effizienz einer europäischen Arbeitsmarktpolitik. Derartige Anpassungen brauchen ihre Zeit und können ihre Schlagwirkungen erst bei mehrjähriger Anwendung unter Beweis stellen. Wenn auch in Teilgebieten, beispielsweise hinsichtlich des lebenslangen Lernens, auf EU-Ebene und in einzelnen Mitgliedstaaten beachtliche Fortschritte erzielt wurden, wobei jeder Mitgliedstaat seiner eigenen spezifischen Situation Rechnung tragen kann, werden in zahlreichen anderen Betätigungsfeldern die Aktionen intensiviert werden müssen. An dieser Stelle möchte der Ausschuß noch einmal betonen, wie wichtig es ist, der beruflichen Bildung neue Impulse zu geben, etwa im Bereich der Lehrlingsausbildung (duales Ausbildungskonzept). Für bestimmte Gruppen von Jugendlichen kann die "Kombination von lernen und arbeiten" der Anreiz sein, eine Berufsausbildung zu absolvieren und ihre Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern. Um die Ergebnisse dieser Aktionen messen zu können, werden die Mitgliedstaaten, wie die Kommission denn jetzt auch vorschlägt, größere Anstrengungen unternehmen müssen, um sich ein Bild davon machen zu können, inwieweit bei den Maßnahmen tatsächlich eine Integration der arbeitslosen Jugendlichen in den Arbeitsmarkt stattgefunden hat. Anhand eindeutiger Indikatoren muß sich ermitteln lassen, ob die Ausbildung, Hilfeleistung bei der Arbeitsplatzsuche und sonstigen Formen der aktiven Politik auch tatsächlich dazu führen, daß die Betreffenden einen Arbeitsplatz finden. Letztlich ist nicht die Anstrengung des Mitgliedstaats, sondern das Ergebnis für die Konzipierung künftiger Aktivitäten von Bedeutung. Hierbei darf übrigens nicht außer acht gelassen werden, daß neben einem entsprechenden Bildungsangebot auch eine gewisse Eigenverantwortlichkeit der Betroffenen für ihre aktive Mitwirkung bei der Erhaltung und Steigerung ihrer Beschäftigungsfähigkeit gegeben sein muß, dergestalt daß sie eine entsprechende Bereitschaft zeigen, die angebotenen Umschulungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten auch wahrzunehmen.

3.1.2. Nach Meinung des Ausschusses wäre es völlig verfehlt, sich mit einer leicht rückläufigen Tendenz der Arbeitslosigkeit zufrieden zu geben. Bei diesem Ansatz ist die Arbeitslosigkeit nicht das einzige Problem, auf lange Sicht wird die Erwerbstätigenquote ein weitaus größeres Element der Besorgnis sein, wenn aufgrund der demographischen Entwicklung die Finanzierung der Altersversorgung durch eine zu kleine Erwerbstätigenzahl ernsthaft gefährdet wird. So stellt der Rat in seiner besagten Empfehlung (vgl. Fußnote 2, S. 31) über die Leitlinien für die Wirtschaftspolitik fest: "Mit etwa 61 % im Jahr 1998 ist die Erwerbstätigenquote in der EU jedoch sowohl im historischen als auch im internationalen Vergleich niedrig. Das Erreichen einer auf mittlerer Sicht signifikant höheren Erwerbstätigenquote und niedrigen Arbeitslosenquote würde den Lebensstandard erheblich verbessern, es erleichtern, die öffentlichen Finanzen auf eine dauerhaft tragfähige Grundlage zu stellen, und es würde den gesellschaftlichen Zusammenhalt sichern."

3.1.3. Die aus gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Sicht nicht akzeptable Arbeitslosigkeit von heute kann bei einem Ausbleiben von Erfolgen bei den Bemühungen um eine Steigerung der Erwerbstätigenquote morgen die Grundfesten der Gesellschaft erschüttern. Allerdings erhebt sich die Frage, ob der Nachdruck, den die Kommission in diesen Leitlinien (vor allen Dingen beim Aktionsschwerpunkt 4) jetzt auf die Notwendigkeit legt, ältere Menschen möglichst lange im Arbeitsprozeß zu halten, auf kurze Sicht nicht dem Bestreben zuwiderläuft, mehr langzeitarbeitslose Jugendliche auf dem Arbeitsmarkt unterzubringen. Es wird ein politisches Gleichgewicht gefunden werden müssen, das keine künstlichen Gegensätze zwischen jungen und älteren Arbeitnehmern schafft. Deswegen wird auch eine umsichtige Diskussion über sämtliche Aspekte der Arbeit und Arbeitszeiten im Verlauf einer beruflichen Karriere (einschließlich Gesichtspunkten wie beruflicher Teilausstieg, freiwillige Teilpensionierung, Mentor- und Patenschaft) im Kontext der Modernisierung der Arbeitsorganisation stattfinden müssen.

Der Ausschuß stellt zu seiner Zufriedenheit fest, daß die Kommission unter diesem Schwerpunktbereich den Aspekt der immer weiter fortschreitenden Informationsgesellschaft anerkennt. Im Bereich des Übergangs von der Schule ins Arbeitsleben müßten Aktionen konzipiert werden, um das Qualifikationsniveau der Schulabgänger hinsichtlich des Umgangs mit Instrumenten dieser Informationsgesellschaft den Bedürfnissen und Praktiken der Wirtschaft anzupassen. Ein hohes Bildungsniveau kann hierzu einen Beitrag leisten, sofern die Schulen und sonstigen Unterrichtsstätten über die gleichen Fazilitäten (Computer, Internet-Anschlüsse, Datenbanken) verfügen, wie sie im Berufsleben verwendet werden. Die Bildungswesen der Mitgliedstaaten müssen sich hier entsprechend anpassen, und es müssen die erforderlichen Investitionen getätigt werden, um zu vermeiden, daß die Schulabgänger sich bereits mit einem Rückstand beim Umgang mit diesen Formen der Informations- und Kommunikationstechnik auf dem Arbeitsmarkt vorstellen.

3.1.4. Der Ausschuß betont hier noch einmal, welche Bedeutung er der Bekämpfung und Verhütung sozialer Ausgrenzung beimißt, so wie dies auch in der Leitlinie 9 zum Ausdruck kommt. Der Ausschuß hat sehr stark den Eindruck, daß dieser Teil der Leitlinien in den Mitgliedstaaten bislang nur in bescheidenem Umfang in konkrete Maßnahmen umgesetzt wurde. Es ist äußerst wichtig, benachteiligten Gruppen (Behinderten, ethnischen Minderheiten usw.) in der Gesellschaft Chancengleichheit zu verschaffen und diese Förderung der Chancengleichheit zum integralen Bestandteil der Politik in sämtlichen Betätigungsfeldern zu machen, so wie dies auf der Basis des Mainstreaming bei den politischen Bemühungen um die Chancengleichheit für Frauen bereits geschieht (siehe auch Ziffer 3.4).

3.2. Entwicklung von Unternehmergeist

In quasi allen Mitgliedstaaten sowie auch auf der Ebene der EU und ihrer Institutionen(3) wird das selbständige Unternehmertum von den Behörden als wichtiger Motor für die Wirtschaft angesehen. Und zwar ein Motor, der nicht nur einen Beitrag zum Bruttosozialprodukt liefert, sondern auch als regelrechter Arbeitsplatzgenerator fungiert. Kleine Betriebe sind nämlich vielfach von einem arbeitsintensiven Charakter geprägt und schaffen relativ gesehen mehr Arbeitsplätze als große, eher kapitalintensive Unternehmen. Auch hier zeigt sich die Bedeutung der Empfehlung, die Kostenbelastung des Faktors Arbeit zu senken, was bislang nur in wenigen Mitgliedstaaten tatsächlich geschehen ist. Wie aus den nationalen Aktionsplänen der meisten Mitgliedstaaten hervorgeht, bestehen die Aktivitäten vor allen Dingen aus Aufklärung und Informationsarbeit, der Förderung des "Unternehmergeistes" bei Jugendlichen und an den Schulen und lediglich in beschränktem Maße in einer konkreten Anpassung des bestehenden Gesetzes und Regelwerkes. Aber gerade im Bereich der Rahmenbedingungen für den Auf- und Ausbau von Unternehmen könnte bezüglich der Beseitigung überfluessiger Verwaltungsauflagen- und -formalitäten noch viel getan werden, was insbesondere den Kleinstbetrieben zugute käme. Wie das Europäische Gewerkschaftsinstitut (EGI) in einer jüngsten Untersuchung zu Recht feststellt(4) ist der Anstieg der Anzahl an KMU in der EU für sich genommen noch kein tauglicher Indikator für den Erfolg der geführten Politik. Es geht vielmehr darum, dafür zu sorgen, daß die Anzahl innovativer kleiner Unternehmen zunimmt, und zu vermeiden, daß Menschen sich notgedrungen für die selbständige Unternehmertätigkeit entscheiden, weil der reguläre Arbeitsmarkt ihnen keine Chance oder Perspektive für eine abhängige Tätigkeit bietet. Die Förderung des Unternehmergeistes muß unter diesem Blickwinkel stattfinden und darf sich nicht auf den traditionellen Markt (sprich gewinnorientierte) Wirtschaftstätigkeiten beschränken. Die Entwicklung des Unternehmertums kommt in der sog. Sozialwirtschaft bislang noch viel zu wenig zu ihrem Recht. Bestimmte Fürsorgebereiche (Dienstleistungen für Kinder, alte Menschen und Behinderte), die durch die Ausgabenkürzungspolitik der Behörden unter Druck geraten, könnten in neuen Wirtschaftstätigkeitsformen eine Blüte erfahren. Von daher unterstreicht die Kommission nach Ansicht des Ausschusses zu Recht die Bedeutung dieser Art von Unternehmen für die lokale Entwicklung. Die professionelle unternehmerische Tätigkeit (im Sinne einer betriebswirtschaftlichen Geschäftsführung) ist bei Unternehmen dieser Art vielfach nur in beschränktem Maße vorhanden und bedarf daher der ganz spezifischen Förderung. Allerdings hält es der Ausschuß für äußerst wichtig, daß dabei Bedingungsgleichheit gegenüber diesbezüglich "normaleren" Betrieben gilt, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden(5). In diesem Zusammenhang könnte auch das Instrument der Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für diese Art von Dienstleistungen gute Möglichkeiten eröffnen, um diese Aktivitäten für die anvisierte Zielgruppe finanzierbar zu machen. Der Ausschuß ruft die Mitgliedstaaten dazu auf, diesem Aspekt bei der Aufstellung der Liste von Dienstleistungen, die nach ihren Vorstellungen in den Genuß des ermäßigten Steuersatzes kommen sollen, Rechnung zu tragen.(6)

3.3. Unterstützung der Anpassungsfähigkeit von Unternehmen und Arbeitnehmern

3.3.1. Im Verbund mit der in Ziffer 4.1 angesprochenen Innovationskomponente geht es bei diesem Aktionsschwerpunkt um eine conditio sine qua non für die europäische Wirtschaft. Bei diesem Fragenkomplex geht es darum, Aspekte unterschiedlicher Natur (Mentalität, kulturelle Akzeptanz, Gesetzes- und Reglementierungsrahmen und die Belange des Arbeitnehmers und des Unternehmens) so weit unter einen Hut zu bringen, daß die einzelnen Aspekte untereinander harmonieren. Ein äußerst schwierig zu haltendes Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Dynamik ist für die Komplexität der in diesen Bereich fallenden Fragen kennzeichnend. Deshalb wird denn auch zu Recht den Sozialpartnern bei den Aktivitäten dieses Schwerpunkts eine wichtige Rolle zugedacht(7). In den Unternehmen und Organisationen selbst müßten die erforderlichen Anpassungen in eine konkrete Form gebracht werden.

3.3.2. Wie der Ausschuß in seiner Stellungnahme zum Grünbuch der EU-Kommission "Eine neue Arbeitsorganisation im Geiste der Partnerschaft"(8) bereits zum Ausdruck gebracht hat, wird die Wettbewerbsfähigkeit Europas in einer globalen Wirtschaft davon abhängen, inwieweit es gelingt, die Fähigkeit zur Innovation zu stärken und "intelligentere" Lösungen zur Gestaltung von Arbeit und Technik zu finden. Es geht darum, das Verhältnis von Technik und Arbeitsorganisation und den Einsatz der Humanressourcen zu optimieren. Hierarchische Formen der Unternehmensorganisation und traditionelle tayloristische Formen der Arbeitsorganisation werden den Anforderungen einer flexiblen Produktions- und Dienstleistungsorganisation, die unmittelbar auf veränderte Markterfordernisse reagieren kann, nicht immer gerecht. Statt dessen müssen neue Formen der Produktions- und Arbeitsorganisation gefunden werden, in denen sich das menschliche Potential als Voraussetzung für Innovationsfähigkeit voll entfalten kann.

3.3.3. Solche neuen Formen der Arbeitsorganisation sind durch kooperative, beteiligungsorientierte Arbeitsstrukturen und abwechslungsreiche Arbeitsinhalte mit hohen Qualifikationsanforderungen gekennzeichnet. Eine von der Dubliner Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen durchgeführte Unternehmensbefragung in 10 europäischen Ländern hat gezeigt, daß die direkte Arbeitnehmerbeteiligung bei 72 % der befragten Unternehmen zu Produktionssteigerungen und bei 96 % zu Qualitätsverbesserungen führte. Gleichzeitig konnte die Arbeitszufriedenheit der Beschäftigten gesteigert werden, denn in ca. einem Drittel der befragten Unternehmen gingen Krankmeldungen und Fehlzeiten zurück(9).

3.3.4. Die Ergebnisse zeigen, daß neue Formen der Arbeitsorganisation, die auf Kooperation und Arbeitnehmerbeteiligung beruhen, sowohl zur Erhöhung von Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit als auch zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen beitragen können. Der WSA hat daher in seiner Stellungnahme zum Grünbuch der Kommission ebenfalls die Ansicht vertreten, daß die Sozialpartner "zur Aufnahme eingehender Gespräche veranlaßt werden" könnten. Solche Gespräche sollten in den Unternehmen geführt werden mit dem Ziel, konkrete Projekte zur Modernisierung der Arbeitsorganisation auf den Weg zu bringen. Die Erfahrungen und Ergebnisse solcher Unternehmensprojekte können in die Diskussion über neue Formen der Arbeitsorganisation auf sektorieller Ebene eingebracht werden, um herauszufinden, ob entsprechend der Aufforderung an die Sozialpartner in den beschäftigungspolitischen Leitlinien die Möglichkeit gegeben ist, auch auf sektorieller Ebene diesbezügliche Vereinbarungen abzuschließen. Die von der EU-Kommission in dieser Leitlinie vorgenommenen Präzisierungen sind nach Ansicht des Ausschusses geeignet, die Themenpalette für Gespräche und mögliche Vereinbarungen der Sozialpartner zu umreißen. Ein besonderer Stellenwert kommt dabei der Aus- und Weiterbildung zu, die den neuen Anforderungen des informationstechnischen Wandels und den neuen Arbeitsformen Rechnung tragen muß.

3.3.5. Die EU-Kommission könnte unterstützend tätig werden, indem sie den Erfahrungsaustausch über gute Beispiele neuer Formen der Arbeitsorganisation z. B. durch Konferenzen fördert.

3.4. Stärkung der Politiken für Chancengleichheit

3.4.1. Der Ausschuß hat in zahlreichen Stellungnahmen auf das noch immer bestehende "Schattendasein" von Frauen im gesellschaftlichen Leben hingewiesen. Die Aufnahme dieses Schwerpunkts Chancengleichheit wurde deswegen auch vom Ausschuß in seiner Stellungnahme zu den ersten Leitlinienentwürfen der Kommission - sprich für das Jahr 1998 - begrüßt(10). Der Ausschuß stellt zu seiner Zufriedenheit fest, daß die Kommission auf EU-Ebene den im Vertrag von Amsterdam verankerten Auftrag nachgekommen ist, daß der unterschiedlichen Behandlungen von Männern und Frauen ein Ende bereitet werden muß und daß bei sämtlichen Aktivitäten der EU die Chancengleichheit gefördert werden muß.

3.4.2. Der übrigens sehr gut lesbare Jahresbericht 1998 der Kommission über Chancengleichheit(11) macht deutlich, daß die Politik des "mainstreaming" (= die Integration der Chancengleichheit bei der Politik auf sämtlichen Betätigungsfeldern der EU) ergänzt durch spezifische Aktionen inzwischen tatsächlich auf EU-Ebene in die Tat umgesetzt wird. Die Mitgliedstaaten müssen nach Ansicht des Ausschusses noch weitaus größere Aktivitäten entwickeln, um endlich spürbare Fortschritte bei der Chancengleichheit für Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu erzielen. Der Ausschuß weist erneut darauf hin, daß die Fortführung der einschlägigen Aktivitäten absolut erforderlich ist(12). Die Zusage der Kandidatin für das Amt des EU-Kommissars für diese Politik in dem vom Europäischen Parlament am 31. August 1999 durchgeführten Anhörung, daß sie ein fünftes Aktionsprogramm Chancengleichheit und ein dazugehörendes angemessenes Budget vorzubereiten gedenkt, ist denn auch zu begrüßen. Im übrigen gerät die Glaubwürdigkeit der Mitgliedstaaten beim Ausbleiben konkreter Ergebnisse ernsthaft in Zweifel, gewißlich dann, wenn einige unter ihnen nicht einmal der im Vertrag verankerten Verpflichtung nachkommen, die EU-Richtlinie über Elternurlaub in nationales Recht umzusetzen(13). Auch die Sozialpartner müssen nach Meinung des Ausschusses auf sämtlichen Ebenen ihren Beitrag leisten auf Gebieten wie etwa dem Eintritt oder die Rückkehr von Frauen auf den Arbeitsmarkt, dem Zugang zu (ständiger) Aus- und Weiterbildung und die Kombination von Familie und Beruf, wobei das Problem des Mangels an Kinderbetreuungsstätten leider trotz der deutlichen Anstrengungen einzelner Mitgliedstaaten nach wie vor vorhanden ist.

4. Neu hinzugekommene Dimensionen, die sich über mehrere Leitlinien erstrecken

4.1. Innovation

4.1.1. Eine Dimension, die bei dem jetzt vorliegenden Leitlinienentwurf ins Auge springt, ist die Forderung nach der Berücksichtigung des Innovationsaspekts. Der Ausschuß möchte hierzu betonen, daß Innovation nicht nur im rein technischen Sinne gesehen werden darf. Innovationen im Sinne von gesellschaftlichen Prozessen müssen auch dort stattfinden, wo Arbeitsmärkte nicht optimal funktionieren. Dies kann eine neue Rollenverteilung zwischen den zuständigen Behörden und den Sozialpartnern beinhalten, und zwar im Sinne einer stärkeren Beteiligung der Sozialpartner bei sämtlichen Maßnahmen etwa zur Verhütung von Arbeitslosigkeit. Vor allem auf lokaler Ebene können hier auf der Basis bewährter Praktiken innovative Anwendungen einer modernen proaktiven Arbeitsmarktpolitik Erfolg abwerfen.

4.1.2. Innovation im technischen Sinne (sowohl bei Produkten als auch bei Produktionsverfahren) werden der Ausgangspunkt sein müssen bei der Arbeitsmarktpolitik der EU und den Mitgliedstaaten in dem Anliegen, die Know-how Intensität des europäischen Produktions- und Dienstleistungsgewerbes zu steigern. Nur dann kann ein höherer Mehrwert erzielt werden, der die europäische Wirtschaft in den Stand setzt, von einem Umfeld der Wettbewerbsgleichheit aus im weltweiten Wettbewerb zu bestehen. Der Sondergipfel des Europäischen Rates in Portugal im März 2000 wird angesichts seiner Themenstellung "Auf dem Weg zu einem Europa der Innovation und des Wissens" diesem Prozeß einen besonderen Impuls geben müssen.

Dabei wird vor allem auch der Benachteiligung der Frauen sowohl bei dem Zugang zur Ausbildung als auch der zu niedrigen Frauenquote im Forschungsbereich besondere Aufmerksamkeit zu widmen sein.

4.1.3. Der Ausschuß begrüßt die Beschlüsse des Europäischen Rats von Köln, über die Europäische Investitionsbank mehr Geld für die sogenannte Europäische Technologiefazilität und für Finanzierungen auf Risikokapital-Basis für Spitzentechnologie in Klein- und Mittelbetrieben bereitzustellen. Der Ausschuß erwartet allerdings von der EIB eine höhere eigene Risikobereitschaft, um diese Mittel bereitzustellen für just diejenigen Unternehmen, die angesichts der hohen Risiken sich anderweitig die erforderlichen Finanzmittel für ihre Investitionen nicht beschaffen können. In einem der nächsten Jahresberichte der EIB sollte hierüber näher Aufschluß gegeben werden.

4.1.4. Neben den genannten Chancengleichheitsfaktor der vier Schwerpunktbereiche erwartet der Ausschuß auch von den Mitgliedstaaten, daß sie das Element der Innovation im weiteren Sinne in ihren nationalen Aktionsprogrammen auch tatsächlich zum Tragen kommen lassen in bezug auf die Aktionsschwerpunkte "Entwicklung von Unternehmergeist" und "Steigerung der Anpassungsfähigkeit".

4.2. Herausstellung der Bedeutung des Dienstleistungssektors

Erst kürzlich hat eine im Auftrag der Kommission durchgeführte Untersuchung ergeben, daß Europa ein erhebliches Potential zur Schaffung von Arbeitsplätzen ungenutzt läßt, und zwar im Dienstleistungssektor. Die Entwicklung in den Vereinigten Staaten und Japan zeigt, daß ein wesentlicher Teil der im klassischen Produktionssektor verlorengegangenen Arbeitsplätze durch eine starke Zunahme der Beschäftigung im Dienstleistungsgewerbe wettgemacht wird. Nach Meinung des Ausschusses dürfen die Mitgliedstaaten in sämtlichen Schwerpunktbereichen der Beschäftigungspolitik keine Möglichkeit ungenutzt lassen, den Dienstleistungssektor in aussichtsreichen Märkten mit einem hohen Know-how Niveau weiterzuentwickeln. Außerdem ist für den Dienstleistungssektor eine äußerst breite Palette an vielfach sehr arbeitsintensiven Unternehmen kennzeichnend. Vor allem im Verbraucherdienstleistungsbereich gibt es solche häufig kleinen Unternehmen (unter anderem im Einzelhandel und im handwerklichen Verbraucherdienstleistungssektor). Die Erhaltung dieser Unternehmen und die Förderung ihrer Überlebensfähigkeitsperspektiven ist denn auch unter dem Beschäftigungsaspekt wichtig Nicht allein unter dem wirtschaftlichen Gesichtspunkt ist dies erforderlich, sondern auch für die Verbesserung der Arbeitsmarktposition von Frauen, die traditionell im Dienstleistungssektor stark repräsentiert sind, könnte dieses Vorgehen Früchte abwerfen.

5. Schlußbemerkungen

5.1. Die Einbeziehung der lokalen Akteure (vor allem der Sozialpartner auf lokaler Ebene) wurde nach Meinung des Ausschusses eigentlich viel zu lange außer acht gelassen. Die Systematik der Leitlinien enthält eine gewisse Top-down-Komponente.

5.2. Als Repräsentant der organisierten Bürgergesellschaft bringt der Ausschuß die Stimmen zahlreicher Akteure unserer Gesellschaft zu Gehör. Die Durchführung von politischen Vorhaben, wie etwa das hier in Rede stehende Anliegen, findet jedoch auf der lokalen Ebene statt. Und dort muß sich dies auch abspielen, dicht beim Bürger und in Zusammenarbeit mit diesem Bürger. Nur dann kann der Prozeß der europäischen Integration und Zusammenarbeit sichtbare Formen annehmen, und nur dann lernen die Menschen von ihren gegenseitigen Erfahrungen. Nur dann kann das Top-down-Konzept um eine Bottom-up-Komponente ergänzt werden, bei der Bedürfnisse, Wünsche und Erfolge die Anpassungen für die Zukunft in der Politik bereichern und effizienter machen.

5.3. Deswegen ruft der Ausschuß auch die Kommission, die Mitgliedsstaaten, die lokalen Behörden und die Sozialpartner im weiteren Sinne dazu auf, vor Ort dem gesamten Bündel an Leitlinien für den Beschäftigungsbereich Inhalt zu verleihen. Der Ausschuß liefert die Plattform, auf der diese lokalen Erfahrungen ausgetauscht werden können.

5.4. Der Mehrwert des Beitrags des Ausschusses zu dieser Diskussion darf und kann nicht verleugnet werden. Nur durch das Gesamt all dieser Interaktionen zwischen den beteiligten Akteuren (Organisationen und Institutionen) lassen sich die gewünschten Resultate erzielen.

Brüssel, den 20. Oktober 1999.

Die Präsidentin

des Wirtschafts- und Sozialausschusses

Beatrice RANGONI MACHIAVELLI

(1) ABl. C 209 vom 22.7.1999.

(2) ABl. L 217 vom 17.8.1999.

(3) ABl. C 219 vom 30.7.1999.

(4) "Entrepreneurship in the European employment strategy", Europäisches Gewerkschaftsinstitut (EGI), Brüssel 1999.

(5) ABl. C 209 vom 22.7.1999.

(6) Siehe auch die Schlußfolgerungen des Rates Wirtschaft und Finanzen vom 12.7.1999.

(7) ABl. C 219 vom 30.7.1999.

(8) ABl. C 73 vom 9.3.1999.

(9) Vgl. EPOC: Neue Formen der Arbeitsorganisation - Kann Europa sein Potential verwirklichen?, Dublin 1998.

(10) ABl. C 19 vom 19.1.1998.

(11) Europäische Kommission: "Chancengleichheit für Frauen und Männer, Jahresbericht 1998", Brüssel, März 1999.

(12) Beispielsweise beträgt der Partizipationsgrad von Frauen auf dem Arbeitsmarkt für die Fünfzehnergemeinschaft gerade mal 50 %, wobei dieser Anteil in sechs Mitgliedstaaten sogar noch unter diesem EU-Mittelwert liegt.

(13) Jahresbericht 1998 über Chancengleichheit, S. 24.