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Entschliessung des Ausschusses der Regionen zu der "Nukleare Sicherheit und lokale/regionale Demokratie" CdR 423/97 fin -

Amtsblatt Nr. C 251 vom 10/08/1998 S. 0034


Entschließung des Ausschusses der Regionen zum Thema "Nukleare Sicherheit und lokale/regionale Demokratie" (98/C 251/06)

DER AUSSCHUSS DER REGIONEN,

gestützt auf die Schlußerklärung der Europäischen Konferenz über "Nukleare Sicherheit und lokale/regionale Demokratie", die vom 24. bis 26. Juni 1997 in Göteborg stattfand,

aufgrund seiner Beschlüsse vom 10. Dezember 1997 und vom 18. Februar 1998, die Fachkommission 4 "Raumordnung, Städtefragen, Energie, Umwelt" mit der Ausarbeitung einer Entschließung zu den Schlußfolgerungen der Europäischen Konferenz über "Nukleare Sicherheit und lokale/regionale Demokratie", die vom 24. bis 26. Juni 1997 in Göteborg stattfand, zu beauftragen,

gestützt auf den von der Fachkommission 4 am 12. Dezember 1997 angenommenen Entwurf einer Entschließung (CdR 423/97 rev. 2) (Berichterstatter: Herr Soulsby),

nahm auf seiner 23. Plenartagung am 13. und 14. Mai 1998 (Sitzung vom 14. Mai) mehrheitlich folgende Entschließung an.

1. Der Ausschuß der Regionen ist, ohne Stellung für oder gegen die Kernenergie beziehen zu wollen, nach Anhörung der Sachverständigen davon überzeugt, daß die Sorgen um die Volksgesundheit aufgrund der Strahlenbelastung der Umwelt, die durch radioaktive Niederschläge nach Reaktorunfällen verursacht wird, die durch die kerntechnische Energieerzeugung, die bei der Lagerung nuklearer Abfälle austretenden Stoffe und die Kernstoffaufbereitung und -wiederaufbereitung verursacht werden kann, berechtigt sind und ernst genommen werden müssen.

2. Der Ausschuß der Regionen tritt für das Vorsorgeprinzip als Leitmotiv für die Beschlußfassung ein, weil es Rücksichtnahme auf die nachfolgenden Generationen bedeutet.

3. Der Ausschuß der Regionen befürwortet die in der Erklärung von Rio verankerten Forderungen nach Mitbestimmung in und Informationen über Umweltfragen inkl. gefährliche Stoffe:

"Am besten lassen sich Umweltfragen dann behandeln, wenn alle betroffenen Bürger auf der jeweils zuständigen Ebene einbezogen werden. Auf einzelstaatlicher Ebene muß jedem einzelnen Bürger angemessener Zugang zu umweltbezogenen Informationen gewährt werden, die sich im Besitz öffentlicher Behörden befinden. Dies gilt auch für solche Informationen, die gefährliche Stoffe und Tätigkeiten auf dem Gebiet des jeweiligen Gemeinwesens betreffen. Gleichzeitig muß dem Bürger die Möglichkeit zur Teilnahme an den Beschlußfassungsprozessen eingeräumt werden."

4. Der Ausschuß der Regionen ist überzeugt, daß dringender Bedarf an der Stärkung demokratischer, auf Partizipation ausgerichteter Verfahren für die Planung und den Betrieb kerntechnischer Anlagen besteht, damit alle betroffenen gesellschaftlichen Gruppen der lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Ebene einbezogen werden können. Voraussetzung hierfür wäre, daß die von den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften vertretenen Ansichten in vollem Umfang berücksichtigt werden. Um dies zu erreichen, muß den folgenden Erfordernissen Rechnung getragen werden:

A) Transparenz

Alle verfügbaren Informationen, die die Standortwahl, den Bau, den Betrieb und die Stillegung kerntechnischer Einrichtungen betreffen, sollten präzise sein, der Wahrheit entsprechen, der Nachprüfung standhalten und den betroffenen lokalen und regionalen Gebietskörperschaften - einschließlich der Behörden in Nachbarstaaten und derjenigen Staaten, die mit Transporten radioaktiven Materials in Berührung kommen - seitens der Betreiber und der Aufsichtsbehörden ohne Einschränkungen vorgelegt werden.

B) Beteiligung

An der Entscheidungsfindung hinsichtlich des Standorts einer kerntechnischen Anlage und der Entsorgung nuklearer Abfälle auf den Deponien sollten die lokale Bevölkerung und alle übrigen betroffenen Bürger beteiligt werden. Die jeweilige lokale oder regionale Gebietskörperschaft sollte das letzte Wort bei der Entscheidung für oder gegen das betreffende Projekt haben. Die Entscheidung sollte in bestmöglicher Kenntnis aller relevanten Informationen erfolgen. Für Kernkraftwerke und Abfallbewirtschaftungsanlagen sollte eine Umweltfolgenabschätzung durchgeführt werden, die bei korrekter Verfahrensweise die Information und verstärkte Beteiligung der Öffentlichkeit sowie die Prüfung von Alternativen ermöglicht.

C) Finanzielle Unterstützung

Die tatsächlich und potentiell betroffenen lokalen und regionalen Gebietskörperschaften sollten Anspruch auf eine finanzielle Unterstützung durch die Zentralregierung und den oder die Betreiber der kerntechnischen Anlage haben. Dies soll sie in die Lage versetzen, sachkundig an den Entscheidungsverfahren betreffend kerntechnische Anlagen mitzuwirken (Unter "kerntechnischen Anlagen" sind in dieser Entschließung auch Wiederaufbereitungsanlagen sowie Zwischen- und Endlager zu verstehen.)

D) Beurteilung der wirtschaftlichen Auswirkungen

Vor Standortentscheidungen für neue Anlagen bzw. deren Bau sollten regionale Wirtschaftsfolgenabschätzungen durchgeführt und vorläufige Entwicklungspläne aufgestellt werden, zu denen auch die Öffentlichkeit Stellung nehmen kann. Für bestehende und künftige Anlagen sollten Wirtschafts- und Beschäftigungspläne erstellt werden, um zu verhindern, daß die betreffende Region in eine zu große industrielle und soziale Abhängigkeit von der kerntechnischen Anlage gerät und eine endgültige Außerbetriebnahme der Anlage problematisch wird. Die lokalen und regionalen wirtschaftlichen Nachteile einer endgültigen Außerbetriebnahme nahezu ausgedienter Kernkraftanlagen sind dadurch zu vermeiden, daß in derselben Region Anlagen zur Wärme- oder Stromerzeugung angesiedelt werden, die erneuerbare Energiequellen nutzen; auf diese Weise können die Kenntnisse und Erfahrungen des Personals der Kernkraftanlagen genutzt werden.

5. Der Ausschuß der Regionen hält die Einrichtung lokaler Verbindungsausschüsse für sinnvoll, denen ein breites Spektrum an Vertretern lokaler und regionaler Gebietskörperschaften, sozialer Netzwerke, der Betreiber und Aufsichtsbehörden kerntechnischer Anlagen sowie weiterer besonders betroffener Gruppen wie Bürgerinteressenvereinigungen, im Umweltschutzbereich tätige nichtstaatliche Organisationen und Medizinwissenschaftler angehören würden, die ein geeignetes Forum für die Beteiligung der Öffentlichkeit bieten sollten, vorausgesetzt, ihnen würde ein unabhängiger rechtlicher Status eingeräumt. Sie sollten vorrangig die Aufgabe haben, die Sicherheitsvorkehrungen in kerntechnischen Anlagen zu überwachen, relevante Informationen zusammenzutragen, die Öffentlichkeit über Sicherheitsfragen zu informieren und an der Ausarbeitung von Katastrophenschutzplänen mitzuwirken.

6. Solche Ausschüsse sollten gegenüber den lokalen und regionalen Gebietskörperschaften rechenschaftspflichtig sein. Mit der Durchführung von Volksentscheiden auf kommunaler, regionaler bzw. nationaler Ebene könnte den Bürgern ebenfalls die Möglichkeit gegeben werden, ihren Willen in bezug auf bestehende oder geplante kerntechnische Anlagen zum Ausdruck zu bringen.

7. Der Ausschuß der Regionen erkennt an, daß das Recht auf Information und Beteiligung auf internationaler Ebene im Rahmen des vorgeschlagenen ECE-Übereinkommens () einschl. eines Beschwerderechts zu vertretbaren Kosten und des Zugangs zur Nachprüfung durch eine höhere gerichtliche Instanz durchgesetzt werden sollte.

8. Der Ausschuß der Regionen hält es für erforderlich, daß die Aktivitäten der verschiedenen europäischen Organisationen, die sich mit der nuklearen Sicherheit befassen, besser koordiniert werden. Die gewählten Verfahren sollten auf neutrale Weise und unter Wahrung vollständiger Unabhängigkeit von den Energieerzeugern die wirksame Überwachung der Sicherheit aller kerntechnischen Anlagen in den Staaten, die Mitglied des Europarats sind, gewährleisten.

9. Der Ausschuß der Regionen bekräftigt, daß die im Nuklearbereich geführte Politik innerhalb der Europäischen Union mit den allgemeinen Grundsätzen der Umwelt- und Gesundheitspolitik vereinbar sein und durch eine Änderung der einschlägigen Richtlinie sicherstellen sollte, daß der freie Zugang zu Umweltinformationen gewährleistet ist und kerntechnische Anlagen davon nicht ausgenommen werden, daß über Fragen der Gesundheit und Sicherheit informiert wird und daß Ausnahmeregelungen auf ein Mindestmaß beschränkt werden ().

10. Der Ausschuß der Regionen erachtet die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen nationalen und regionalen Behörden sowie zwischen lokalen Verbindungsausschüssen als wesentlich für den Schutz der Bevölkerung vor kerntechnischen Gefahren und Schäden durch radioaktive Emissionen sowie für die Gewährleistung des Zugangs der in den Grenzregionen lebenden Bevölkerung zu den erforderlichen Informationen; ist sich über die Probleme im klaren, denen die mittel- und osteuropäischen Staaten bei der Nachrüstung veralteter Reaktoren gegenüberstehen; und ist der Auffassung, daß derzeit das Augenmerk zwar vorrangig auf technologische Verbesserungen und die Aufstellung von Rechtsvorschriften für nukleare Tätigkeiten gerichtet ist, daß darüber hinaus jedoch dringender Bedarf herrscht, partizipativ demokratische Beschlußfassungsverfahren im Hinblick auf künftige Alternativen bei der Energieerzeugung zu entwerfen.

11. Der Ausschuß der Regionen hält viele der Fragen im Zusammenhang mit den Vorschlägen zur Behandlung von radioaktiven Abfällen für komplex und für die breite Öffentlichkeit nicht verständlich. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, den Zugang der Öffentlichkeit zu allen wesentlichen Informationen zu gewährleisten, die lokalen und regionalen Behörden und die Öffentlichkeit am Entscheidungsprozeß zu beteiligen und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Sicherheitsprinzipien der Deponien und in die Abfallbewirtschaftungsprogramme zu stärken.

12. Der Ausschuß der Regionen ist sich darüber im klaren, daß sich die künftigen Sicherheitsprobleme auf die Stillegung kerntechnischer Anlagen beziehen werden. Für die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften bedeutet dies potentielle Gefährdungen der Sicherheit, den Verlust von Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen und möglicherweise einen wirtschaftlichen Einbruch vor Ort. In derartigen Fällen sind Transparenz, Zugang zu Informationen und die Beteiligung der Öffentlichkeit an den Entscheidungsverfahren von besonders großer Bedeutung.

Brüssel, den 14. Mai 1998.

Der Präsident des Ausschusses der Regionen

Manfred DAMMEYER

() Übereinkommen der Wirtschaftskommission für Europa betreffend den Zugang zu Umweltinformationen und die Beteiligung der Öffentlichkeit an Umweltbeschlüssen, das Gegenstand laufender Verhandlungen ist, an denen u.a. Vertreter der Europäischen Union beteiligt sind, und das auf der vierten Ministerkonferenz über "Umwelt für Europa" im Juni 1998 in Aarhus, Dänemark, unterzeichnet werden soll.

() Dies bezieht sich auf die Gemeinschaftsrichtlinie 90/313/EWG über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt, die derzeit von der Europäischen Kommission überarbeitet wird.