51997AC0769

Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem "Grünbuch zur EG-Wettbewerbspolitik gegenüber vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen"

Amtsblatt Nr. C 296 vom 29/09/1997 S. 0019


Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem "Grünbuch zur EG-Wettbewerbspolitik gegenüber vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen" (97/C 296/05)

Die Kommission beschloß am 28. Januar 1997, den Wirtschafts- und Sozialausschuß gemäß Artikel 198 des EG-Vertrags um Stellungnahme zu dem vorgenannten Grünbuch zu ersuchen.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Industrie, Handel, Handwerk und Dienstleistungen nahm ihre Stellungnahme am 4. Juni 1997 an. Berichterstatter war Herr Regaldo.

Der Ausschuß verabschiedete auf seiner 347. Plenartagung (Sitzung vom 9. Juli 1997) mit 120 gegen 1 Stimme bei 2 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme.

1. Einleitung

1.1. Das Grünbuch zur EG-Wettbewerbspolitik gegenüber vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen sollte positiv aufgenommen werden, da die Kommission darin auf der Grundlage einer sorgfältigen Untersuchung des wirtschaftlichen und rechtlichen Umfelds, in dem diese Beschränkungen angewendet werden, und als Antwort auf die Kritik an ihrer Anwendung eine Reihe von Lösungsansätzen (Optionen) beschreibt. Dazu sollen sich die Betroffenen äußern, um die Kommission in die Lage zu versetzen, Entscheidungen über die Richtung und Form ihrer zukünftigen Politik in umfassender Sachkenntnis zu treffen.

1.2. Diese Politik erhält noch durch den Umstand zusätzliches Gewicht, daß die Vereinbarungen zwischen Herstellern und Vertriebshändlern (also die vertikalen Beschränkungen), welche die Leistungsfähigkeit des Vertriebs zwischen den Unternehmen erhöhen und die Erschließung neuer Märkte erleichtern sollen, in erheblichem Maße zur Verwirklichung zweier wesentlicher Ziele der Wettbewerbspolitik beitragen: einer immer engeren Verflechtung der Volkswirtschaften in einem einheitlichen Binnenmarkt und eines wirksamen Wettbewerbs auf dem gesamten Gemeinschaftsgebiet, Ziele, die ihrerseits entscheidende Voraussetzungen für die europäische Wettbewerbsfähigkeit, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und eine höhere Lebensqualität des Verbrauchers darstellen.

1.3. Obwohl die vertikalen Beschränkungen eigentlich der Leistungsfähigkeit und der Marktintegration dienen, können sie auch für entgegengesetzte Ziele mißbraucht werden. Angesichts ihrer ebenso günstigen wie nachteiligen Auswirkungen waren diese daher in den letzten 30 Jahren für die Wettbewerbspolitik der Gemeinschaft von besonderer Bedeutung, und die Bilanz fällt im großen und ganzen positiv aus.

1.4. Auch wenn sich die Gemeinschaftspolitik in Sachen vertikale Beschränkungen fortentwickelt und an den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel angepaßt hat, hält die Kommission eine Überprüfung für erforderlich, weil

- die Binnenmarktvorschriften für den freien Warenverkehr weitgehend umgesetzt sind;

- die Verordnungen über vertikale Wettbewerbsbeschränkungen auslaufen;

- sich die Vertriebsstrukturen erheblich gewandelt haben, was Auswirkungen auf die Wettbewerbspolitik haben könnte;

- nach der herrschenden wirtschaftlichen Lehre zur Feststellung der Folgen von vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen der Schwerpunkt auf die Struktur des Marktes zu legen ist.

1.5. Das Grünbuch erstreckt sich auf sämtliche vertikalen Beziehungen in der Vertriebskette, wobei sich das Hauptaugenmerk jedoch auf die folgenden vier Arten von Vereinbarungen richtet. Für jedes dieser Systeme hat die Kommission im Laufe der Jahre eine spezifische Strategie erarbeitet, die entweder in Verordnungen, in Einzelentscheidungen oder im praktischen Handeln der Kommission zum Ausdruck kam:

Alleinvertrieb:

Gruppenfreistellungsverordnung 1983/83, die am 31. Dezember 1997 ausläuft.

Alleinbezug: (einschließlich besonderer Vorschriften für Bier und Benzin)

Gruppenfreistellungsverordnung 1984/83, die am 31. Dezember 1997 ausläuft.

Franchising:

Gruppenfreistellungsverordnung 4087/88, die am 31. Dezember 1999 ausläuft.

Selektivvertrieb:

Einzelentscheidungen.

In diesem Zusammenhang hält der Ausschuß es für absolut notwendig, die geltenden Verordnungen betreffend Alleinvertriebsvereinbarungen (1983/83) und Alleinbezug (1984/83), die Ende 1997 auslaufen, mindestens bis zum 31. Dezember 1999 zu verlängern, damit ihre Überarbeitung zeitgleich mit der Revision der Franchising-Verordnung erfolgen kann, die am 31. Dezember 1999 ausläuft.

1.6. Die Kommission fordert also den Wirtschafts- und Sozialausschuß auf, seine Stellungnahme zur Zukunft der Wettbewerbspolitik in Sachen vertikale Beschränkungen abzugeben, und zwar auf der Grundlage einer nicht erschöpfenden Liste, die vier Optionen vorsieht:

- Option I: die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Systems;

- Option II: weitergefaßte Gruppenfreistellungsverordnungen;

- Option III: gezieltere Gruppenfreistellungen;

- Option IV: Einengung des Anwendungsbereichs von Artikel 85 Absatz 1.

2. Allgemeine Bemerkungen

2.1. Das Grünbuch über die vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen ist in dem weiteren Zusammenhang der Wettbewerbspolitik zu sehen, zu der sich der Wirtschafts- und Sozialausschuß vor kurzem mit der Stellungnahme zu dem XXV. Bericht über die Wettbewerbspolitik () äußern konnte.

2.2. In dieser Stellungnahme nannte der Ausschuß eine Reihe von Gesichtspunkten, die hier wegen ihrer Stichhaltigkeit und ihrer Bedeutung für die vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen wiederholt zu werden verdienen: die Tatsache, daß die wirtschaftlichen Vorgänge immer komplexer werden; die Rechtssicherheit als positiver Faktor für eine richtige Wettbewerbspolitik; die Notwendigkeit, die Genossenschaften gemäß Artikel 85 Ziffer 3 mit der gebotenen Flexibilität zu behandeln; die Rolle der Kommunikationstechniken und ihre Auswirkungen auf die Vereinbarungen. Speziell in bezug auf die vertikale Zusammenarbeit forderte der Ausschuß die Kommission auf, diese Arten der Kooperation, die nicht notwendigerweise per se unter das Verbot von Artikel 85 des EWG-Vertrags fallen müssen, mit der gebotenen Flexibilität zu überdenken.

2.3. Der Ausschuß begrüßt das Grünbuch, weil es nicht nur diesen Forderungen gerecht wird, sondern auch den Prozeß der Überarbeitung einer in bezug auf die Wettbewerbspolitik, auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und die Integration des Binnenmarktes sehr sensiblen Materie einleitet.

2.4. Denn der Vertrieb ist ein äußerst wichtiger Sektor, der das produzierende Gewerbe insgesamt, die Unternehmen und die Verbraucher unmittelbar betrifft.

2.5. Die Untersuchung der Vertriebsstruktur, welche die Kommission in ihrem Grünbuch vornimmt, ist sicherlich ausgewogen und berücksichtigt die Veränderungen, die sich gegenwärtig vollziehen, in angemessener Weise. Andererseits stellen die Autoren fest, daß es angesichts eines uneinheitlichen Marktes und wegen der sprachlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Unterschiede innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten, die zu den verschiedenen Vertriebsstrukturen führen, schwierig ist, klare Voraussagen zu machen.

2.6. Im Hinblick auf den Wettbewerb ist es sehr wichtig, die strukturellen Veränderungen im Vertriebssektor zu verstehen, die ein immer schärferem Wettbewerb ausgesetzter, immer offenerer Markt, dessen Nachfrageseite sich ständig wandelt, notwendig macht; erst dieses Verständnis ermöglicht es, die gebotenen Korrekturen an der gegenwärtig geübten Politik in Sachen vertikale Beschränkungen vorzunehmen.

2.7. Übrigens unterscheidet sich ja auch das Wettbewerbsumfeld, in dem die Unternehmen an der Schwelle zum XXI. Jahrhundert agieren, wesentlich von den Verhältnissen der sechziger Jahre, als die grundlegenden Verordnungen zur Umsetzung von Artikel 85 der Römischen Verträge erlassen wurden. Daher müssen die wirtschaftlichen und rechtlichen Theorien, die der früheren Auslegung von Artikel 85, zumal in bezug auf die Gruppenfreistellungsverordnungen, zugrunde lagen, teilweise ad acta gelegt werden.

2.8. In ihrem Grünbuch nennt die Kommission neue Erfordernisse sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite, die dank der wachsenden Nutzung der Informationstechnik zu neuen, erheblich stabileren und engeren Beziehungen zwischen Lieferanten, Herstellern und Vertriebshändlern führen als in der Vergangenheit. So können letztere die Marktdaten erheben, die sie brauchen, um den Lieferanten die Wünsche der Verbraucher zu übermitteln.

2.9. Andere bedeutende Strukturveränderungen betreffen die Konzentration und die Entwicklung des selbständigen Handels, der im wesentlichen von KMU - in Form von Handelskooperationen (Einkaufsgenossenschaften - freiwillige Zusammenschlüsse) - getragen wird; wegen der Folgen, die sich aus den neuen Arten der Zusammenarbeit zwischen Lieferanten, Herstellern und Vertriebshändlern ergeben können, schenkt das Grünbuch außerdem den häufigen Veränderungen im Kräfteverhältnis zwischen diesen besondere Beachtung.

2.10. Der Ausschuß teilt die aus dem Grünbuch ersichtliche Auffassung der Kommission, daß integrierte und wettbewerbsfähige Märkte gefördert und erhalten, eine wirksame Wettbewerbspolitik zur Wahrung der Verbraucherinteressen betrieben und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, zumal der KMU, verbessert werden muß.

2.11. Deshalb sollte die Kommission bei der Überprüfung der vertikalen Wettbewerbspolitik allerdings auch darauf achten, daß die Handelskooperation (Einkaufsgenossenschaften - freiwillige Zusammenschlüsse) zwischen selbständigen KMU keine von denen des klassischen Franchising abweichenden Wettbewerbseffekte und -verzerrungen in horizontaler oder in vertikaler Hinsicht hervorbringt.

2.12. Der Ausschuß vertritt alles in allem die Ansicht, daß ähnliche wirtschaftliche Organisationsformen, die das Marktgeschehen in vergleichbarer horizontaler oder vertikaler Form beeinflussen, gleich behandelt werden müssen, auch wenn sich manche Aspekte ihrer Rechtsform unterscheiden sollten.

2.13. Ganz allgemein wünscht sich der Ausschuß daher Lösungen für die KMU, die es ihnen ermöglichen, ohne großen Aufwand wieder die Bedingungen der Gruppenfreistellungsverordnungen zu erfuellen, damit sie Mut bekommen, angemessen auf die Internationalisierung der Märkte zu reagieren.

2.14. Der Ausschuß teilt die Auffassung der Kommission, daß die bisher betriebene Politik gegenüber vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen grundsätzlich richtig war.

2.15. Die bisherigen Erfahrungen deuten auch darauf hin, daß der Wettbewerb im Binnenmarkt sowohl in bezug auf die Preisstruktur als auch auf die Entwicklung von Parallelhandel und Arbitrage und den Marktzugang neuer Hersteller und Vertriebshändler funktioniert hat.

2.16. In ihrem Grünbuch gibt die Kommission klar zu erkennen, daß sie in den nächsten Jahren einen tiefgreifenden Wandel der Wettbewerbspolitik in Sachen vertikale Beschränkungen für angebracht und geboten hält.

2.17. Der Ausschuß gibt jedoch zu bedenken, daß diese nach Maßgabe der vorgeschlagenen Optionen festzulegenden Änderungen mit einer Aktualisierung und Modernisierung der geltenden Regeln und Verordnungen und nicht mit deren Aufgabe einhergehen muß.

2.18. Die geltenden Gruppenfreistellungsverordnungen, die sicherlich zu starr sind und häufig zu Auslegungsschwierigkeiten Anlaß geben, müssen überprüft und flexibler gestaltet werden. Nur dann werden sie den Erfordernissen eines neuen Klimas der Kooperation zwischen den Unternehmen genügen, ausreichend Spielraum für die Entwicklung neuer Formen des Vertriebs gewähren und die nötige Rechtssicherheit für die künftigen Vereinbarungen schaffen.

2.19. Was die ökonomische Analyse der vertikalen Beschränkungen angeht, so bestätigen die Schlußfolgerungen des Grünbuchs die vom Ausschuß früher vorgebrachten Gesichtspunkte. Die Kommission bekräftigt insbesondere die Bedeutung der Marktstruktur für die Abschätzung der Folgen von vertikalen Beschränkungen und weist auf die Notwendigkeit hin, den Auswirkungen auf den Markt mehr Aufmerksamkeit zu widmen als dem formalen Inhalt der Vereinbarungen. Von besonderem Interesse ist das Vorhaben, vertikale Wettbewerbsbeschränkungen, die mit erheblichen materiellen oder immateriellen Investitionen verbunden sind, wohlwollender zu behandeln.

2.20. Die Liste von Kriterien in den Schlußfolgerungen der ökonomischen Analyse liefert nach Ansicht des Ausschusses unter Wahrung der für die Unternehmen notwendigen Rechtssicherheit nützliche Anhaltspunkte für die Bewertung der Leistungsfähigkeit des Vertriebs und für die Festlegung der politischen Leitlinien und der allgemeinen Grundsätze der einschlägigen Wettbewerbspolitik (Ziffer 85 des Grünbuchs).

2.21. Der Ausschuß betont, daß das Verhältnis zwischen der Mitteilung der Kommission über Vereinbarungen von geringerer Bedeutung ("de minimis"-Vereinbarungen) (KOM(96) 722 endg.) und den im Grünbuch aufgeführten Optionen, insbesondere der Option IV, die die Einführung einer rücknehmbaren Annahme der Vereinbarkeit mit Artikel 85 Absatz 1 bei einem Marktanteil von bis zu 20 % vorsieht, der Klärung bedarf und die beiden Texte aufeinander abgestimmt werden müssen. Nach Ansicht des Ausschusses ist dieses Verhältnis wie folgt zu interpretieren:

a) Die Mitteilung über "de minimis"-Vereinbarungen sollte unmittelbar nach ihrer Annahme wirksam werden, während die in Option IV vorgesehene Annahme der Vereinbarkeit für die Gruppenfreistellungsverordnungen bzw. Bekanntmachungen, die im Anschluß an die Beratungen über das Grünbuch zu gegebener Zeit veröffentlicht werden, gelten soll.

b) Die in Option IV vorgesehene rücknehmbare Annahme der Vereinbarkeit mit Artikel 85 Absatz 1 soll bedeuten, daß für alle vertikalen Beschränkungen, also nicht nur jene, die unter Freistellungsverordnungen fallen, eine Art Negativattest nach dem Vorbild der "de minimis"-Mitteilung (Nichtanwendbarkeit von Artikel 85 Absatz 1 bis zu einem voraussichtlichen Marktanteil von 10 %) eingeführt wird, mit dem Unterschied, daß eine Vereinbarung bei einem Marktanteil zwischen 10 und 20 % noch in den Anwendungsbereich von Artikel 85 Absatz 1 fallen könnte, wenn sich bei einer qualitativen Analyse eine wettbewerbsbeschränkende Wirkung herausstellt.

3. Besondere Bemerkungen zu den Optionen

3.1. Option I - Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Systems

Die Kommission hat auf die Vorteile des gegenwärtigen Systems hingewiesen (siehe Ziffer V des Grünbuchs). Das System weist jedoch auch Nachteile auf. Nachstehend einige Beispiele:

3.1.1. Die Gruppenfreistellungen sind schablonenhaft und nicht flexibel genug. Sie bieten keinen Raum für die Einbeziehung von Vertriebsformen, die dynamische Anpassungen an sich verändernde Marktbedingungen darstellen.

3.1.2. Treffen Unternehmen in Produktmärkten, auf denen ein scharfer Wettbewerb herrscht, vertikale Vertriebsvereinbarungen, so sollte keine Anmeldung zum Zwecke der Erlangung einer Einzelfreistellung erforderlich sein, wenn die wettbewerbsrechtlichen Bedenken gering sind.

3.1.3. Es muß stärker berücksichtigt werden, daß horizontale Kooperationsformen zwischen KMU im Vertriebssektor nicht unbedingt Wettbewerbsbeschränkungen im Sinne von Artikel 85 Absatz 1 darstellen (siehe Gottrup Klim). In diesem Fall sollte entweder ein Negativattest ("rücknehmbare Annahme") erteilt oder, wenn die Zusammenarbeit unter Artikel 85 Absatz 1 fällt, eine Gruppenfreistellungsregelung getroffen werden.

3.1.4. Insgesamt ist der Ausschuß daher gegen die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Systems.

3.2. Option II - Weiter gefaßte Gruppenfreistellungsverordnungen

Der Ausschuß ist nicht grundsätzlich gegen weiter gefaßte Gruppenfreistellungsverordnungen.

3.2.1. Der Ausschuß befürwortet die folgenden allgemeinen Maßnahmen zur Erhöhung der Flexibilität:

- Die Gruppenfreistellungen würden sich nicht nur auf die ausdrücklich genannten, sondern auch auf gleichartige oder weniger beschränkende Klauseln erstrecken.

- Das Vorhandensein verbotener Klauseln würde nicht den Entzug der Freistellung für die gesamte Vereinbarung bedingen. Die derzeitige Rechtspraxis, die durch die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Delimitis untermauert wurde, stellt eine unverhältnismäßig schwere Bestrafung für redaktionelle Mängel der Vereinbarungen bzw. fehlerhafte Einschätzungen der Folgen der von den Vereinbarungen bewirkten Wettbewerbsbeschränkungen dar.

- Die Gruppenfreistellung könnte sich auf Vereinbarungen erstrecken, an denen mehr als zwei Vertragspartner beteiligt sind.

- Hinsichtlich der Vorteile einer Gruppenfreistellungsverordnung für den Selektivvertrieb ist der Ausschuß skeptischer. Die Rechtsprechung des Gerichtshofes und die Entscheidungen der Kommission setzen hier schon jetzt recht klare Maßstäbe. Die Rechtslage ließe sich durch eine Bekanntmachung nochmals zusammenfassen; für eine Freistellungsverordnung scheint jedoch unter den augenblicklichen Umständen kein Bedarf zu bestehen.

Der Ausschuß würde es auch begrüßen, wenn ein Nichtwiderspruchsverfahren neben der Franchising-Verordnung auch in andere Vertriebsverordnungen Eingang fände. Solche Verfahren könnten sich in schwierigen und außergewöhnlichen Fällen für die Unternehmen als nützlich erweisen und sollten eingeführt werden, sofern sie nicht als unzulässige Belastung des Kommissionshaushaltes betrachtet werden.

3.2.2. Der Ausschuß unterstützt auch die folgenden, unter Ziffer 284 des Grünbuchs erwähnten gezielten Maßnahmen zur Erhöhung der Flexibilität:

- Die Gruppenfreistellungsverordnungen über den Alleinvertrieb und den Alleinbezug könnten erweitert werden, um Dienstleistungen zu erfassen oder dem Händler zu erlauben, Vertragswaren weiterzuverarbeiten. Durch die Hinzufügung einer erheblichen Wertschöpfung könnte der Vorteil der Gruppenfreistellung erhalten bleiben, selbst wenn die wirtschaftliche Identität der Waren verändert würde; so könnten Vereinbarungen wie industrielles Franchising oder Warenzeichenlizenzen, die wichtige Formen des Vertriebs sind, in den Genuß von Gruppenfreistellungen kommen.

- Die Gruppenfreistellung für Alleinbezugsvereinbarungen könnte erweitert werden, um sich sowohl auf den teilweisen als auch den Alleinbezug zu erstrecken.

- Die Gruppenfreistellung für Franchising-Vereinbarungen könnte erweitert werden, um die Preisbindung innerhalb einer Hoechstgrenze als Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatz zuzulassen, daß Preisbindung im Einzelhandel nicht freistellbar ist; dann könnten auch Franchising-Organisationen die Vorteile, die dem Verbraucher von großen Handelsunternehmen mit vertikal integriertem Vertriebssystem geboten werden, gewähren.

- Kooperationen von unabhängigen Einzelhändlern könnten in den Genuß von Gruppenfreistellungsverordnungen kommen, sofern die unabhängigen Einzelhändler kleine und mittlere Unternehmen sind und der Marktanteil der Kooperationen unter einem bestimmten Schwellenwert liegt.

- Weniger überzeugt ist der Ausschuß von der Zweckmäßigkeit eines Schiedsverfahrens für Händler, denen aufgrund der wettbewerbsrechtlichen Bestimmungen der Zugang zu einem Selektivvertriebsnetz verweigert wurde. Dieser Sachverhalt scheint eher zivil- als wettbewerbsrechtlicher Natur zu sein. Wie aus der Entscheidung des Gerichtshofes in der Rechtssache Galec/Centres Leclerc () deutlich wird, obliegt außerdem die Beurteilung der Frage, ob die von der Kommission gebilligten Auswahlkriterien bei einer konkreten Zugangsverweigerung in diskriminierender oder unangemessener Weise angewendet wurden, den Gerichten der Mitgliedstaaten; diese haben, wenn sie die Frage bejahen, auch die Aufgabe, im Rahmen der nationalen Rechtsordnung für Abhilfe zu sorgen ().

Der Ausschuß möchte die Kommission schließlich auch auffordern, die Gruppenfreistellungen auf die vorgelagerten Etappen der Vertriebskette, die Vereinbarungen zwischen den Herstellern und den Zulieferern notwendiger Ausgangsprodukte, auszudehnen. Je mehr Fälle die Gruppenfreistellungen erfassen, desto weniger müssen vertikale Vereinbarungen, die keine Risiken für den Wettbewerb bergen, einzeln angemeldet werden.

3.3. Option III - Gezieltere Gruppenfreistellungen

3.3.1. Bei der Erörterung von Option III sollte auf die Stellungnahme des Ausschusses zu den Gruppenfreistellungen bei Technologietransfer-Vereinbarungen () verwiesen werden, in der er sich gegen die Berechnung von Marktanteilen als Vorbedingung für Gruppenfreistellungen für vertikale Vereinbarungen (wie z. B. Technologietransfers) aussprach. Wenn zusätzlich zu der Aufgabe, die Vereinbarung so zu gestalten, daß sie mit den detaillierten Anforderungen bei Gruppenfreistellungen im Einklang steht, auch noch Marktanteilsberechnungen vorgenommen werden müßten, würde dies das Verfahren kostenintensiver gestalten und dessen regulierende Wirkung schwächen. Der Ausschuß stellt darüber hinaus fest, daß das Problem der Marktbeherrschung auf der Grundlage von Artikel 86 geregelt werden kann. Außerdem kann sich die Kommission das Recht vorbehalten, die Gewährung von Gruppenfreistellungen dann zu verweigern, wenn Parteien mit einem Marktanteil von über 40 % wettbewerbsbeschränkende Absprachen treffen. Dies ist die Vorgehensweise, auf die man sich letztendlich bei den Gruppenfreistellungen für Technologietransfer-Vereinbarungen einigte.

3.3.2. Zwar sind Anteile von nahezu hundert Prozent, wie sie auf manchen Innovationsmärkten vorkommen, im Vertrieb nicht festzustellen. Gleichwohl würde Option III das Normenkorsett für den Vertrieb noch enger zurren. Für den Ausschuß steht keineswegs fest, daß die unter Ziffer 284 aufgezählten Maßnahmen zur Erhöhung der Flexibilität, d.h. die unter Option II gemachten Vorschläge, hier für angemessene Entlastung sorgen würden. Der Flexibilisierung von Gruppenfreistellungen scheinen durch die Sache gegebene Grenzen gesetzt zu sein.

3.4. Option IV - Gruppenfreistellungen mit der Angabe der wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Anwendbarkeit von Artikel 85 Absatz 1

3.4.1. Der Ausschuß begrüßt die mit Option IV eröffneten strategischen Möglichkeiten. Bei Vereinbarungen zwischen Parteien, die über keine signifikante Marktmacht verfügen, sollte flexibler verfahren werden. Das derzeit geltende Wettbewerbsrecht bürdet diesen Parteien unnötige Kosten auf. Der Ausschuß begrüßt die Kommissionsvorschläge bezüglich einer neuen Bekanntmachung für Vereinbarungen von geringerer Bedeutung.

3.4.2. Nach Ansicht des Ausschusses sollte die rücknehmbare Annahme der Vereinbarkeit sowohl für bestimmte horizontale als auch für vertikale Kooperationsformen eingeführt werden. Eine rücknehmbare Annahme der Vereinbarkeit mit Artikel 85 Absatz 1 ("Negativattestannahme") für Parteien, deren Marktanteile innerhalb des Vertragsgebiets zusammengerechnet weniger als 20 % betragen, erscheint dem Ausschuß als die geeignetste Maßnahme zur Verwirklichung dieses Ziels.

3.5. Option IV - Variante I

3.5.1. Der Ausschuß nimmt zur Kenntnis, daß die neue Bekanntmachung der Kommission über Vereinbarungen von geringer Bedeutung in jedem Falle ein Negativattest für vertikale Vereinbarungen vorsehen wird, bei denen die Parteien Marktanteile von unter 10 % haben.

3.5.1.1. Der Ausschuß spricht sich mit Nachdruck für Option IV, Variante I, die zurücknehmbare Annahme der Vereinbarkeit mit Artikel 85 Absatz 1 für vertikale Vertriebsvereinbarungen bei einem Marktanteil der Parteien von höchstens 20 % aus.

3.5.2. Abgesehen von Mindestwiederverkaufspreisen, Behinderungen des Parallelhandels oder Passivverkäufen bzw. Beschränkungen in Vertriebsvereinbarungen zwischen Wettbewerbern werden vertikale Wettbewerbsbeschränkungen hiermit vor Interventionen der Kommissionen geschützt.

3.5.3. Der Ausschuß stellt fest, daß dieser Schutz aber nur gegenüber der Kommission wirksam ist. Es läßt sich nicht mit Gewißheit sagen, wie die Gerichte Artikel 85 Absatz 1 auf diese Vereinbarungen anwenden werden.

3.5.4. Der Ausschuß stellt außerdem fest, daß eine Marktanalyse erforderlich ist. Die Negativattestannahme könnte aufgrund bestimmter Marktfaktoren (siehe Ziffer 296) zurückgenommen werden.

3.5.5 Der Ausschuß hält diese Option trotzdem für einen lohnenden Schritt, da sich so das Normenkorsett, mit dem sich die Parteien, zumal KMU, bei vertikalen Vertriebsvereinbarungen konfrontiert sehen, lockern ließe. Er nimmt außerdem zur Kenntnis, daß die Kommission bald Leitlinien zur Definition von Märkten herausbringen will, um den Parteien bei der Berechnung der Marktanteile zu helfen.

3.6. Option IV - Variante II

Aus den oben unter Ziffer 3.3 angeführten Gründen macht der Ausschuß gegen Variante II Vorbehalte geltend. Wenn die Kommission jedoch Option IV, Variante I, in Verbindung mit äußerst weit gefaßten Gruppenfreistellungen wie bei Option II einführen würde, käme seiner Meinung nach ein Verfahrensmechanismus zur Überwachung vertikaler Vertriebsvereinbarungen bei hohen Marktanteilen in Frage. Eine Möglichkeit wäre die Bestimmung, daß Unternehmen mit einem Marktanteil von über 40 % das Nichtwiderspruchsverfahren anwenden müssen.

Brüssel, den 9. Juli 1997.

Der Präsident des Wirtschafts- und Sozialausschusses

Tom JENKINS

() ABl. C 75 vom 10. 3. 1997.

() Entscheidung des Gerichtshofes erster Instanz vom 12. 12. 1996, Aktenzeichen T 19/92.

() Erwähnt werden sollte, daß der WSA die Einführung eines Schiedsverfahrens im Automobilsektor (Verordnung 1475/95 - Stellungnahme des WSA in ABl. C 133 vom 31. 5. 1995) befürwortete. Die Schiedsverfahren haben jedoch nichts mit dem Zugang zum Vertriebsnetz zu tun.

() ABl. C 102 vom 24. 4. 1995.