24.3.2023   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

L 86/44


EMPFEHLUNG (EU) 2023/681 DER KOMMISSION

vom 8. Dezember 2022

zu den Verfahrensrechten von Verdächtigen oder Beschuldigten in Untersuchungshaft und zu den materiellen Haftbedingungen

DIE EUROPÄISCHE KOMMISSION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 292,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)

Gemäß Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union sind die Werte, auf die sich die Union gründet, die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte von Personen, die Minderheiten angehören. Artikel 1, 4 und 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden die „Charta“) begründen die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die zu achten und zu schützen ist, das Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung und das Recht jedes Menschen auf Freiheit und Sicherheit. In den Artikeln 7 und 24 der Charta sind das Recht auf Familienleben und die Rechte des Kindes verankert. Nach Artikel 21 der Charta darf niemand diskriminiert werden. In den Artikeln 47 und 48 der Charta werden das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht sowie die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte anerkannt. Nach Artikel 52 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten sowie die Grundsätze der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit achten.

(2)

Die Mitgliedstaaten sind bereits durch die bestehenden Instrumente des Europarates zum Schutz der Menschenrechte und zum Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung rechtlich gebunden, insbesondere durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), die Protokolle zu dieser Konvention, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987. Alle Mitgliedstaaten sind ferner Vertragsparteien des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (UN-Antifolterkonvention).

(3)

Eine Reihe von nicht rechtsverbindlichen Instrumenten, die sich speziell mit den Rechten von Personen befassen, denen die Freiheit entzogen wurde, sind ebenfalls zu berücksichtigen, und zwar: Auf der Ebene der Vereinten Nationen, die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung der Häftlinge (Nelson-Mandela-Regeln), die Rahmenbestimmungen der Vereinten Nationen für nicht freiheitsentziehende Maßnahmen (Tokio-Regeln) sowie auf der Ebene des Europarates, die Empfehlung Rec(2006)2 über die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze, die Empfehlung Rec(2006)13 betreffend die Anwendung von Untersuchungshaft, die Bedingungen, unter denen sie vollzogen wird, und Schutzmaßnahmen gegen Missbrauch, die Empfehlung CM/Rec(2017)3 zu den Europäischen Grundsätzen für Sanktionen und Maßnahmen in der Gemeinschaft, die Empfehlung CM/Rec(2014)4 zur elektronischen Überwachung, die Empfehlung CM/Rec(2010)1 über die Europäischen Grundsätze der Bewährungshilfe und das Weißbuch zur Überbelegung von Gefängnissen.

(4)

Daneben bestehen Instrumente für spezifische Gruppen von Personen, denen die Freiheit entzogen wurde, und zwar: Auf der Ebene der Vereinten Nationen die Regeln der Vereinten Nationen für den Schutz von Jugendlichen, denen ihre Freiheit entzogen ist, und die Regeln der Vereinten Nationen für die Behandlung weiblicher Häftlinge und für nicht freiheitsentziehende Maßnahmen für weibliche Straffällige (Bangkok-Regeln); das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes (UNCRC); auf Ebene des Europarats die Empfehlung CM/Rec(2008)11 zu den europäischen Grundsätzen für die von Sanktionen und Maßnahmen betroffenen jugendlichen Straftäter und Straftäterinnen und die Empfehlung CM/Rec(2018)5 zu Kindern inhaftierter Eltern; die Empfehlung CM/Rec (2012)12 über ausländische Häftlinge sowie auf internationaler nichtstaatlicher Ebene die Prinzipien zur Anwendung internationaler Menschenrechtsnormen in Bezug auf die sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität (Yogyakarta-Prinzipien), die von der Internationalen Juristenkommission und dem International Service for Human Rights entwickelt wurden.

(5)

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seinem Urteil Aranyosi/Căldăraru und seiner Folgerechtsprechung zu diesem Urteil (1) die Bedeutung der Haftbedingungen im Kontext der gegenseitigen Anerkennung und der Durchführung des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates (2) über den Europäischen Haftbefehl anerkannt. Die Auswirkungen schlechter Haftbedingungen auf die Anwendung des Europäischen Haftbefehls wurden auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte behandelt (3).

(6)

In den Schlussfolgerungen des Rates vom Dezember 2018 über die Förderung der gegenseitigen Anerkennung durch Stärkung des gegenseitigen Vertrauens wurden die Mitgliedstaaten ermutigt, alternative Maßnahmen zur Haft zu nutzen, um die Population in ihren Hafteinrichtungen zu verringern, und auf diese Weise das Ziel der sozialen Wiedereingliederung zu fördern und auch die Tatsache zu thematisieren, dass gegenseitiges Vertrauen oft durch schlechte Haftbedingungen und das Problem überfüllter Gefängnisse erschwert wird (4).

(7)

In den Schlussfolgerungen des Rates vom Dezember 2019 zu Alternativen zum Freiheitsentzug haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, mehrere Maßnahmen im Bereich des Freiheitsentzugs auf nationaler Ebene zu ergreifen, wie beispielsweise alternative Maßnahmen zum Freiheitsentzug (5).

(8)

In den Schlussfolgerungen des Rates vom Juni 2019 zur Prävention und Bekämpfung der Radikalisierung in Haftanstalten und zum Umgang mit terroristischen und Gewaltbereiten extremistischen Straftätern nach der Haftentlassung wurden die Mitgliedstaaten dringend ersucht, wirksame Maßnahmen in diesem Bereich zu treffen (6).

(9)

Seit mehreren Jahren fordert das Europäische Parlament die Kommission auf, Maßnahmen zu ergreifen, um das Problem der materiellen Haftbedingungen anzugehen und sicherzustellen, dass die Untersuchungshaft eine unter Berücksichtigung der Unschuldsvermutung anzuwendende Ausnahme darstellt. Diese Forderung wurde im Bericht des Europäischen Parlaments über den Europäischen Haftbefehl wiederholt (7).

(10)

Auf Ersuchen der Kommission hat die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte eine von der Kommission finanzierte Datenbank zu Haftbedingungen entwickelt, die im Dezember 2019 in Betrieb genommen wurde und öffentlich zugänglich ist (8). Die Datenbank zu Haftbedingungen im Strafvollzug beinhaltet Informationen zu den Haftbedingungen in allen Mitgliedstaaten. Auf der Grundlage nationaler, internationaler und EU-Standards, der Rechtsprechung und von Beobachtungsberichten informiert sie über ausgewählte Kernaspekte der Haftbedingungen, darunter Größe der Zellen, Hygienebedingungen, Zugang zu medizinischer Versorgung und Schutz vor Gewalt.

(11)

Die verfügbaren Statistiken zum Europäischen Haftbefehl zeigen, dass die Mitgliedstaaten seit 2016 die Vollstreckung aus Gründen, die mit einer tatsächlich Gefahr der Verletzung der Grundrechte zusammenhängen, wozu auch unzulängliche Haftbedingungen zählen, in 300 Fällen abgelehnt oder verzögert haben (9).

(12)

Die nationalen Justizbehörden ersuchten um nähere Leitlinien für den Umgang mit solchen Fällen. Die von den Rechtspraktikern aufgezeigten Probleme betreffen die fehlende Harmonisierung, die große Bandbreite und die mangelnde Klarheit der Standards für Haftbedingungen in der gesamten Union als eine Herausforderung für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (10).

(13)

Die Hälfte der Mitgliedstaaten, die der Kommission Statistiken über die Zahl der inhaftierten Personen vorgelegt haben, gaben an, dass sie ein Problem mit der Überlastung ihrer Hafteinrichtungen mit einer Belegungsrate von mehr als 100 Prozent haben. Die übermäßige oder unnötige Anwendung und Dauer der Untersuchungshaft trägt überdies zur Überlastung der Hafteinrichtungen bei, ein Phänomen, das eine Verbesserung der Haftbedingungen ernsthaft untergräbt.

(14)

Zwischen den Mitgliedstaaten bestehen erhebliche Unterschiede bei wichtigen Aspekten der Untersuchungshaft, beispielsweise der Anwendung der Untersuchungshaft als letztes Mittel und der Überprüfung von Entscheidungen, die im Ermittlungsverfahren ergehen (11). Auch die Höchstdauer der Untersuchungshaft ist von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden und reicht von weniger als einem Jahr bis zu mehr als fünf Jahren (12). Im Jahr 2020 lag die durchschnittliche Dauer der Untersuchungshaft in den verschiedenen Mitgliedstaaten zwischen zwei und dreizehn Monaten (13). Auch der Anteil der Untersuchungshäftlinge an der Gesamtpopulation der Gefängnisse ist von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat sehr verschieden und reicht von weniger als 10 % bis zu mehr als 40 % (14). Derart große Unterschiede sind in einem gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nicht zu rechtfertigen.

(15)

In den jüngsten Berichten des Ausschusses des Europarats zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe wird darauf hingewiesen, dass in einigen Mitgliedstaaten nach wie vor bestimmte schwerwiegende Probleme bestehen, wie Misshandlung, ungeeignete Hafteinrichtungen sowie das Fehlen sinnvoller Aktivitäten und einer angemessenen Gesundheitsversorgung.

(16)

Darüber hinaus stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte weiterhin Verstöße einzelner Mitgliedstaaten gegen Artikel 3 oder 5 EMRK im Zusammenhang mit der Inhaftierung fest.

(17)

Angesichts der großen Zahl von Empfehlungen, die von internationalen Organisationen im Bereich der Inhaftierung entwickelt wurden, sind diese für einzelne Richter und Staatsanwälte in den Mitgliedstaaten, die die Haftbedingungen beurteilen müssen, bevor sie ihre Entscheidungen im Rahmen eines Europäischen Haftbefehls oder auf nationaler Ebene treffen, möglicherweise nicht immer leicht zugänglich.

(18)

In der Union und insbesondere im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sind unionsspezifische Mindeststandards für die Inhaftierung erforderlich, die in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen gelten, um das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu stärken und die gegenseitige Anerkennung von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen zu erleichtern.

(19)

Um das Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Strafjustiz der jeweils anderen Mitgliedstaaten zu stärken und damit die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen zu verbessern wurden bereits sechs Maßnahmen zu Verfahrensrechten in Strafverfahren, und zwar die Richtlinien 2010/64/EU (15), 2012/13/EU (16), 2013/48/EU (17), (EU) 2016/343 (18), (EU) 2016/800 (19) und (EU) 2016/1919 (20) des Europäischen Parlaments und des Rates, sowie die Empfehlung der Kommission vom 27. November 2013 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für verdächtige oder beschuldigte schutzbedürftige Personen (21) angenommen. Mit diesen Maßnahmen soll sichergestellt werden, dass die Verfahrensrechte verdächtiger oder beschuldigter Personen in Strafverfahren gewahrt werden, einschließlich in Fällen, in denen eine Untersuchungshaft angeordnet wird. Zu diesem Zweck enthalten diese Richtlinien besondere Verfahrensgarantien für Verdächtige und Beschuldigte, denen die Freiheit entzogen wird. Die Richtlinie (EU) 2016/800 enthält besondere Bestimmungen zu den Untersuchungshaftbedingungen für Kinder. Diese zielen darauf ab, das Wohlbefinden von Kindern zu schützen, die derartigen Zwangsmaßnahmen unterworfen werden. Es ist notwendig, die in diesen Richtlinien und der Empfehlung von 2013 festgelegten Standards für die Verfahrensrechte sowie — hinsichtlich der Richtlinie (EU) 2016/800 — die einschlägigen Standards für die materiellen Haftbedingungen für Kinder, die in Untersuchungshaft genommen werden, zu ergänzen.

(20)

Die Kommission ist bestrebt, die im Rahmen des Europarats festgelegten Mindeststandards sowie die Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu konsolidieren und darauf aufzubauen. Zu diesem Zweck ist es erforderlich, einen Überblick über ausgewählte Mindeststandards für die Verfahrensrechte von Verdächtigen und Beschuldigten, die sich in Untersuchungshaft befinden, und für die materiellen Haftbedingungen in den wichtigsten Schwerpunktbereichen der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten zu geben.

(21)

In Bezug auf die Verfahrensrechte von verdächtigen und beschuldigten Personen, die sich in Untersuchungshaft befinden, sollte diese Empfehlung Orientierungshilfen zu den wichtigsten Standards für die Anwendung der Untersuchungshaft als letztes Mittel und für Alternativen zum Freiheitsentzug, die Gründe für die Untersuchungshaft, die Anforderungen an die Entscheidungsfindung der Justizbehörden, die regelmäßige Überprüfung der Untersuchungshaft, die Anhörung von Verdächtigen oder Beschuldigten bei Entscheidungen über die Untersuchungshaft, den wirksamen Rechtsschutz und das Recht auf einen Rechtsbehelf, die Dauer der Untersuchungshaft und die Anerkennung der in der Untersuchungshaft verbrachten Zeit in Form der Anrechnung auf die rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe liefern.

(22)

In Bezug auf die materiellen Haftbedingungen sollten Orientierungshilfen zu den wichtigsten Standards in den Bereichen Unterbringung, Zuweisung der Häftlinge, Hygiene und sanitäre Einrichtungen, Ernährung, Haftbedingungen in Bezug auf Bewegung und Aktivitäten außerhalb der Zellen, Arbeit und Bildung, medizinische Versorgung, Verhütung von Gewalt und Misshandlung, Kontakt zur Außenwelt, Zugang zu einem Rechtsbeistand, Antrags- und Beschwerdeverfahren sowie Inspektionen und Überwachung gegeben werden. Darüber hinaus sollten Orientierungshilfen für den Schutz der Rechte von Personen bereitgestellt werden, für die der Freiheitsentzug eine besonders schutzbedürftige Situation darstellt, wie beispielsweise Frauen, Kinder, Menschen mit Behinderungen oder schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen, LGBTIQ und ausländische Staatsangehörige, sowie für die Prävention von Radikalisierung in Gefängnissen.

(23)

Untersuchungshaft sollte lediglich als letztes Mittel unter Würdigung der Umstände des Einzelfalles eingesetzt werden. Es sollte ein möglichst breites Spektrum an weniger einschneidenden Maßnahmen als Alternative zum Freiheitsentzug (alternative Maßnahmen) verfügbar sein und angewendet werden, wo immer dies möglich ist. Die Mitgliedstaaten sollten ferner sicherstellen, dass Entscheidungen über die Untersuchungshaft nicht diskriminierend sind und nicht automatisch aufgrund bestimmter Merkmale der Verdächtigen und Beschuldigten, wie etwa der ausländischen Staatsangehörigkeit, getroffen werden.

(24)

Angemessene materielle Haftbedingungen sind von grundlegender Bedeutung für die Wahrung der Rechte und der Würde von Personen, denen die Freiheit entzogen ist, und zur Verhinderung von Verstößen gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Misshandlung).

(25)

Um angemessene Haftstandards zu gewährleisten, sollten die Mitgliedstaaten jedem Inhaftierten im Einklang mit den Empfehlungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter (CPT) und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein Mindestmaß an persönlichem Wohnraum zur Verfügung stellen.

(26)

Personen, denen die Freiheit entzogen ist, sind besonders der Gewalt und Misshandlung sowie der sozialen Isolation ausgesetzt. Um ihre Sicherheit zu gewährleisten und ihre soziale Wiedereingliederung zu unterstützen, sollten bei der Zuweisung und Trennung von Häftlingen die unterschiedlichen Haftbedingungen sowie die Notwendigkeit berücksichtigt werden, Häftlinge in besonders gefährdeten Situationen vor Missbrauch zu schützen.

(27)

Die Bewegungsfreiheit der Häftlinge innerhalb der Hafteinrichtung und ihr Zugang zu Bewegung, Außenbereichen, sinnvollen Aktivitäten und sozialen Kontakten sollten nicht unangemessen eingeschränkt werden, um ihre körperliche und psychische Gesundheit zu schützen und ihre soziale Wiedereingliederung zu fördern.

(28)

Opfer von Straftaten, die in der Haft begangen werden, haben oft nur begrenzten Zugang zur Justiz, obwohl die Staaten verpflichtet sind, wirksame Rechtsbehelfe für Fälle vorzusehen, in denen ihre Rechte verletzt wurden. Im Hinblick auf die Ziele der EU-Strategie für die Rechte von Opfern (2020-2025) wird den Mitgliedstaaten empfohlen, wirksame Rechtsbehelfe für Verletzungen der Rechte von Häftlingen sowie Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen zu gewährleisten. Rechtliche Unterstützung und Mechanismen zur Einreichung von Anträgen und Beschwerden sollten leicht zugänglich, vertraulich und effizient sein.

(29)

Die Mitgliedstaaten sollten die besonderen Bedürfnisse bestimmter Kategorien von Inhaftierten, einschließlich Frauen, Kindern, älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen oder schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen, LGBTIQ, Angehörigen einer ethnischen Minderheit und ausländischen Staatsangehörigen, bei allen Entscheidungen im Zusammenhang mit ihrer Inhaftierung berücksichtigen. Insbesondere bei der Inhaftierung von Kindern muss das Wohl des Kindes immer im Vordergrund stehen.

(30)

In Anbetracht des Risikos, das von terroristischen und gewalttätigen extremistischen Straftätern oder von solchen, die sich während ihrer Haft radikalisiert haben, ausgeht, und der Tatsache, dass eine Reihe dieser Straftäter innerhalb kurzer Zeit entlassen werden, sollten die Mitgliedstaaten wirksame Maßnahmen für terroristische und gewalttätige extremistische Straftäter ergreifen, um eine Radikalisierung in Gefängnissen zu verhindern und Rehabilitations- und Wiedereingliederungsstrategien umzusetzen.

(31)

Die vorliegende Empfehlung gibt nur einen Überblick über ausgewählte Standards und sollte unter dem Blickwinkel und unbeschadet der detaillierteren Leitlinien betrachtet werden, die in den Standards des Europarats und der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte enthalten sind. Sie lässt das bestehende Unionsrecht unberührt und stellt keinen Vorgriff auf seine künftige Entwicklung dar. Ferner ergeht sie vorbehaltlich der verbindlichen Auslegung des Unionsrechts, die dem Gerichtshof der Europäischen Union obliegt.

(32)

Diese Empfehlung sollte auch die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI sowie die Anerkennung von Urteilen und die Vollstreckung von Sanktionen gemäß dem Rahmenbeschluss 2008/909/JI des Rates (22) über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, erleichtern.

(33)

Diese Empfehlung achtet und fördert die Grundrechte, die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Diese Empfehlung zielt insbesondere darauf ab, die Achtung der Menschenwürde, das Recht auf Freiheit, das Recht auf Familienleben, die Rechte des Kindes, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht sowie die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte zu fördern.

(34)

Die in dieser Empfehlung enthaltenen Bezugnahmen auf geeignete Maßnahmen zur Gewährleistung eines wirksamen Zugangs zur Justiz für Menschen mit Behinderungen sind im Lichte der Rechte und Pflichten aus dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu verstehen, das die Europäische Union und alle ihre Mitgliedstaaten unterzeichnet haben. Darüber hinaus sollte sichergestellt werden, dass Menschen mit Behinderungen, denen im Rahmen eines Strafverfahrens die Freiheit entzogen wird, gleichberechtigt mit anderen Anspruch auf Garantien im Einklang mit den völkerrechtlich verankerten Menschenrechtsnormen haben und im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen behandelt werden, unter anderem durch angemessene Vorkehrungen für besondere Bedürfnisse und Gewährleistung der Barrierefreiheit —

HAT FOLGENDE EMPFEHLUNG ABGEGEBEN:

ZWECK DER EMPFEHLUNG

(1)

Mit dieser Empfehlung werden den Mitgliedstaaten Orientierungshilfen für wirksame, geeignete und verhältnismäßige Maßnahmen zur Stärkung der Rechte aller Verdächtigen und Beschuldigten, denen im Rahmen eines Strafverfahrens die Freiheit entzogen ist, gegeben, und zwar sowohl in Bezug auf die Verfahrensrechte von Personen, die in Untersuchungshaft genommen werden, als auch in Bezug auf die materiellen Haftbedingungen, um sicherzustellen, dass Personen, denen die Freiheit entzogen wird, mit Würde behandelt werden, dass ihre Grundrechte gewahrt werden und dass ihnen die Freiheit nur als letztes Mittel entzogen wird.

(2)

Diese Empfehlung konsolidiert die im Rahmen bestehender politischer Maßnahmen auf nationaler, unionsweiter und internationaler Ebene festgelegten Standards für die Rechte von Personen, denen aufgrund eines Strafverfahrens die Freiheit entzogen wurde, die im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten von entscheidender Bedeutung sind.

(3)

Die Mitgliedstaaten können die in dieser Empfehlung enthaltenen Leitlinien ausweiten, um ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten. Ein höheres Schutzniveau sollte der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen, die mit diesen Orientierungshilfen erleichtert werden soll, nicht entgegenstehen. Das Schutzniveau sollte nie unter den Standards der Charta und der EMRK in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte liegen.

BEGRIFFSBESTIMMUNGEN

(4)

Im Sinne dieser Empfehlung bezeichnet der Ausdruck „Untersuchungshaft“ jeden Zeitraum, den ein Verdächtiger oder Beschuldigter in einem Strafverfahren auf Anordnung einer Justizbehörde vor der Verurteilung in Haft verbringt. Nicht eingeschlossen ist die vorläufige Freiheitsentziehung durch die Polizei oder Strafverfolgungsbehörden (oder jede andere befugte Person) zum Zweck von Vernehmungen oder der Verwahrung der verdächtigten oder beschuldigten Person bis zur Entscheidung über die Untersuchungshaft.

(5)

Im Sinne dieser Empfehlung bezeichnet der Ausdruck „alternative Maßnahmen“ weniger einschneidende Maßnahmen als Alternative zur Haft.

(6)

Im Sinne dieser Empfehlung bezeichnet der Ausdruck „Häftling“ Personen, die in Untersuchungshaft genommen wurden sowie verurteilte Personen, die eine Freiheitsstrafe verbüßen. Als „Hafteinrichtung“ werden Gefängnisse oder andere Einrichtungen zur Unterbringung von Häftlingen im Sinne dieser Empfehlung bezeichnet.

(7)

Im Sinne dieser Empfehlung bezeichnet der Ausdruck „Kind“ eine Person im Alter von unter 18 Jahren.

(8)

Im Sinne dieser Empfehlung bezeichnet der Ausdruck „junger Erwachsener“ eine Person im Alter von 18 bis 21 Jahren.

(9)

Im Sinne dieser Empfehlung sollte der Ausdruck „Menschen mit Behinderungen“ im Einklang mit Artikel 1 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen so verstanden werden, dass er Personen umfasst, die langfristige körperliche, psychische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.

GRUNDPRINZIPIEN

(10)

Die Mitgliedstaaten sollten Untersuchungshaft nur als letztes Mittel einsetzen. Alternative Maßnahmen zur Untersuchungshaft sollten vorgezogen werden, insbesondere wenn die Straftat nur mit einer kurzen Freiheitsstrafe geahndet wird oder wenn es sich bei dem Straftäter um ein Kind handelt.

(11)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Häftlinge mit Respekt und Würde und im Einklang mit den jeweiligen Verpflichtungen in Bezug auf die Menschenrechte behandelt werden, einschließlich des Verbots von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe gemäß Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

(12)

Den Mitgliedstaaten wird nahegelegt, den Freiheitsentzug so zu gestalten, dass die soziale Wiedereingliederung der Häftlinge erleichtert wird, um Rückfälle zu vermeiden.

(13)

Die Mitgliedstaaten sollten diese Empfehlung ohne Unterscheidung jeglicher Art, wie Rasse oder ethnische Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Alter, Behinderung, sexuelle Ausrichtung, Sprache, Religion, politische oder sonstige Anschauung, nationale oder soziale Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Status anwenden.

MINDESTSTANDARDS FÜR DIE VERFAHRENSRECHTE VON VERDÄCHTIGEN UND BESCHULDIGTEN, DIE SICH IN UNTERSUCHUNGSHAFT BEFINDEN

Untersuchungshaft als letztes Mittel und Alternativen zum Freiheitsentzug

(14)

Die Mitgliedstaaten sollten Untersuchungshaft nur dann anordnen, wenn dies unter Berücksichtigung der besonderen Umstände in jedem Einzelfall zwingend erforderlich ist und als letztes Mittel in Frage kommt. Daher sollten die Mitgliedstaaten nach Möglichkeit alternative Maßnahmen anwenden.

(15)

Die Mitgliedstaaten sollten eine Vermutung zugunsten der Freilassung festlegen. Die Mitgliedstaaten sollten vorschreiben, dass die zuständigen nationalen Behörden die Beweislast für die Notwendigkeit der Verhängung der Untersuchungshaft tragen.

(16)

Um eine unangemessene Anordnung der Untersuchungshaft zu vermeiden, sollten die Mitgliedstaaten ein möglichst großes Spektrum an alternativen Maßnahmen zur Verfügung stellen, wie etwa die im Rahmenbeschluss 2009/829/JI des Rates (23) über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft genannten alternativen Maßnahmen.

(17)

Solche Maßnahmen können beispielsweise umfassen: a) Verpflichtungen, nach Bedarf vor einer Justizbehörde zu erscheinen, den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf nicht zu behindern und bestimmte Tätigkeiten zu unterlassen, auch wenn diese mit einem Beruf oder einem bestimmten Arbeitsverhältnis verbunden sind; b) Auflagen, sich täglich oder regelmäßig bei einer Justizbehörde, der Polizei oder einer anderen Behörde zu melden; c) Auflagen, die Überwachung durch eine von einer Justizbehörde bestimmten Stelle zu akzeptieren; d) Auflagen, sich einer elektronischen Überwachung zu unterziehen; e) Auflagen, sich an einer bestimmten Adresse aufzuhalten, sei es mit oder ohne Bestimmung der Zeiten, die ohne Erlaubnis zu verlassen oder aufzusuchen; g) Auflagen, bestimmte Personen nicht ohne Erlaubnis zu treffen; h) Auflagen, Pässe oder Ausweispapiere zu hinterlegen und i) Auflagen, finanzielle oder andere Sicherheiten durch Hinterlegung oder Bürgschaft zu leisten, um den Verlauf des Verfahrens zu garantieren.

(18)

Die Mitgliedstaaten sollten darüber hinaus vorschreiben, dass die Höhe der Sicherheitsleistung, die als Bedingung für die Freilassung festgelegt wird, in einem angemessenen Verhältnis zu den Mitteln des Verdächtigen oder Beschuldigten steht.

Begründeter Verdacht und Gründe für die Anordnung der Untersuchungshaft

(19)

Die Mitgliedstaaten sollten die Untersuchungshaft nur auf der Grundlage eines begründeten, durch eine sorgfältige Einzelfallprüfung ermittelten Verdachts verhängen, dass der Verdächtige die betreffende Straftat begangen hat, und die rechtlichen Gründe für die Untersuchungshaft auf Folgendes beschränken: a) Fluchtgefahr; b) Wiederholungsgefahr; c) Gefahr, dass die verdächtige oder beschuldigte Person die Tätigkeit der Justiz hindert oder d) Gefahr der Bedrohung der öffentlichen Ordnung.

(20)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Feststellung einer Gefahr auf den jeweiligen Umständen des Einzelfalls beruht, insbesondere jedoch Folgendes berücksichtigt: a) die Art und Schwere der zur Last gelegten Straftat; b) die im Fall der Verurteilung drohende Strafe; c) das Alter, die Gesundheit, die Persönlichkeit, die Vorstrafen und die persönlichen und sozialen Verhältnisse der verdächtigen Person, insbesondere ihre sozialen Bindungen und d) das Verhalten der verdächtigen Person, insbesondere die Art und Weise, in der sie die im Zusammenhang mit früheren Strafverfahren verhängten Auflagen erfüllt hat. Die Tatsache, dass die verdächtige Person nicht dem Staat angehört, in dem die Straftat mutmaßlich begangen wurde, oder keine weiteren Bindungen zu diesem Staat hat, darf als solche nicht ausreichen, um auf Fluchtgefahr zu schließen.

(21)

Den Mitgliedstaaten wird nahegelegt, die Untersuchungshaft nur bei Straftaten zu verhängen, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht sind.

Begründung von Entscheidungen über die Untersuchungshaft

(22)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass jede Entscheidung einer Justizbehörde über die Verhängung von Untersuchungshaft, die Verlängerung der Untersuchungshaft oder die Anordnung alternativer Maßnahmen hinreichend begründet und gerechtfertigt ist und auf die besonderen Umstände der verdächtigen oder beschuldigten Person Bezug nimmt, die ihre Inhaftierung rechtfertigen. Die betroffene Person sollte eine Kopie der Entscheidung erhalten, in der auch die Gründe genannt werden sollten, aus denen Alternativen zur Untersuchungshaft nicht als angemessen angesehen werden.

Überprüfung der Untersuchungshaft in regelmäßigen Abständen

(23)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Gründe für die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft eines Verdächtigen oder Beschuldigten in regelmäßigen Abständen von einer Justizbehörde überprüft werden. Sobald die Gründe für die Untersuchungshaft nicht mehr vorliegen, muss gewährleistet sein, dass die verdächtige oder beschuldigte Person unverzüglich freigelassen wird.

(24)

Die Mitgliedstaaten sollten vorsehen, dass die regelmäßige Überprüfung von Entscheidungen über die Untersuchungshaft auf Antrag des Beschuldigten oder von Amts wegen durch eine Justizbehörde eingeleitet wird.

(25)

Die Mitgliedstaaten sollten den Abstand zwischen den Überprüfungen grundsätzlich auf höchstens einen Monat begrenzen, es sei denn, die verdächtige oder beschuldigte Person hat das Recht, jederzeit einen Antrag auf Freilassung zu stellen und eine Entscheidung über diesen Antrag ohne unangemessene Verzögerung zu erhalten.

Anhörung des Verdächtigen oder Beschuldigten

(26)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass ein Verdächtiger oder Beschuldigter persönlich oder durch einen Prozessvertreter im Rahmen einer kontradiktorischen mündlichen Verhandlung gehört wird, bevor die zuständige Justizbehörde eine Entscheidung über die Untersuchungshaft trifft. Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Entscheidungen über die Untersuchungshaft unverzüglich getroffen werden.

(27)

Die Mitgliedstaaten sollten das Recht des Verdächtigen oder Beschuldigten auf ein Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist wahren. Die Mitgliedstaaten sollten insbesondere dafür sorgen, dass Fälle, in denen Untersuchungshaft verhängt wurde, so schnell wie möglich und mit der gebotenen Sorgfalt bearbeitet werden.

Wirksamer Rechtsschutz und Recht auf einen Rechtsbehelf

(28)

Die Mitgliedstaaten sollten gewährleisten, dass Verdächtige oder Beschuldigte, denen die Freiheit entzogen ist, ein Gericht anrufen können, das für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung und gegebenenfalls für die Anordnung ihrer Freilassung zuständig ist.

(29)

Die Mitgliedstaaten sollten Verdächtigen oder Beschuldigten, gegen die eine Entscheidung über die Untersuchungshaft ergangen ist, das Recht einräumen, einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung einzulegen, und sie bei Erlass der Entscheidung über dieses Recht unterrichten.

Dauer der Untersuchungshaft

(30)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Dauer der Untersuchungshaft die für die betreffende Straftat zu verhängende Strafe nicht überschreitet und zu dieser in einem angemessenen Verhältnis steht.

(31)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Untersuchungshaft das Recht der betroffenen Person auf gerichtliche Beurteilung innerhalb angemessener Frist nicht verletzt.

(32)

Die Mitgliedstaaten sollten Fälle, in denen eine Person in Untersuchungshaft genommen worden ist, vorrangig bearbeiten.

Anrechnung der Untersuchungshaft auf die rechtskräftig verhängte Strafe

(33)

Die Mitgliedstaaten sollten die Zeit des Freiheitsentzugs vor der Verurteilung, auch wenn er in Form alternativer Maßnahmen vollzogen wurde, auf die Dauer der anschließend verhängten Freiheitsstrafe anrechnen.

MINDESTSTANDARDS FÜR DIE MATERIELLEN HAFTBEDINGUNGEN

Unterbringung

(34)

Die Mitgliedstaaten sollten jedem Häftling eine Mindestfläche von mindestens 6 m2 in Einzelzellen und 4 m2 in Mehrbettzellen zur Verfügung stellen. Die Mitgliedstaaten sollten jedenfalls gewährleisten, dass der jedem Häftling zur Verfügung stehende persönliche Bereich, auch in einer Mehrbettzelle, mindestens 3 m2 Fläche pro Person beträgt. Wenn die Fläche, die einem Häftling persönlich zur Verfügung steht, weniger als 3 m2 beträgt, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ein Verstoß gegen Artikel 3 EMRK vorliegt. Bei der Berechnung der verfügbaren Fläche sollte die von Möbeln, nicht aber die von sanitären Anlagen belegte Fläche berücksichtigt werden.

(35)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass jede ausnahmsweise Unterschreitung der absoluten Mindestfläche von 3 m2 pro Häftling nur kurz anhält, gelegentlich und geringfügig ist und mit ausreichender Bewegungsfreiheit und angemessenen Aktivitäten außerhalb der Zelle einhergeht. Darüber hinaus sollten die Mitgliedstaaten in solchen Fällen sicherstellen, dass die allgemeinen Haftbedingungen in der Einrichtung angemessen sind und dass es keine anderen erschwerenden Faktoren für die Haftbedingungen der betreffenden Person gibt, beispielsweise andere Defizite bei den räumlichen Mindestanforderungen für Zellen oder sanitäre Einrichtungen.

(36)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Häftlinge in ihren Zellen Zugang zu natürlichem Licht und frischer Luft haben.

Zuweisung

(37)

Die Mitgliedstaaten sollten dafür Sorge tragen und im Fall von Kindern gewährleisten, dass die Häftlinge so weit wie möglich in Hafteinrichtungen in der Nähe ihres Wohnorts oder anderer für ihre soziale Wiedereingliederung geeigneter Orte eingewiesen werden.

(38)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Untersuchungshäftlinge getrennt von verurteilten Häftlingen untergebracht werden. Frauen sollten getrennt von Männern untergebracht werden. Kinder sollten von Erwachsenen getrennt untergebracht werden, es sei denn, dies dient dem Kindeswohl.

(39)

Die Mitgliedstaaten sollten die Möglichkeit vorsehen, dass inhaftierte Kinder, wenn sie das 18. Lebensjahr erreichen, und gegebenenfalls junge Erwachsene unter 21 Jahren, weiterhin getrennt von anderen inhaftierten Erwachsenen untergebracht werden, sofern dies unter Berücksichtigung der Umstände der betroffenen Person gerechtfertigt ist und mit dem Wohl der Kinder vereinbar ist, die mit dieser Person inhaftiert sind.

Hygienische und sanitäre Bedingungen

(40)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die sanitären Einrichtungen jederzeit zugänglich sind und die Intimsphäre der Häftlinge ausreichend schützen, u. a. durch räumliche Trennung von den Wohnbereichen in Mehrbettzellen.

(41)

Die Mitgliedstaaten sollten wirksame Maßnahmen zur Aufrechterhaltung guter Hygienestandards durch Desinfektion und Begasung festlegen. Die Mitgliedstaaten sollten darüber hinaus sicherstellen, dass den Häftlingen grundlegende Hygieneartikel, einschließlich hygienischer Handtücher, zur Verfügung gestellt werden und dass in den Zellen warmes und fließendes Wasser vorhanden ist.

(42)

Die Mitgliedstaaten sollten den Häftlingen angemessene saubere Kleidung und Bettzeug bereitstellen sowie die Mittel, um diese sauber zu halten.

Ernährung

(43)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass den Häftlingen Essen zur Verfügung steht, welches ihre Ernährungsbedürfnisse in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht deckt, und dass das Essen unter hygienischen Bedingungen zubereitet und ausgegeben wird. Ferner sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass den Häftlingen jederzeit sauberes Trinkwasser zur Verfügung steht.

(44)

Die Mitgliedstaaten sollten Häftlingen eine nährstoffreiche Nahrung zur Verfügung stellen, die ihrem Alter, ihrer Gesundheit, ihrem körperlichen Zustand, ihrer Religion und Kultur sowie der Art ihrer Arbeit Rechnung trägt.

Aufenthalt außerhalb der Zelle und im Freien

(45)

Die Mitgliedstaaten sollten Häftlingen die Möglichkeit geben, sich täglich mindestens eine Stunde im Freien zu bewegen, und zu diesem Zweck geräumige und geeignete Einrichtungen und entsprechende Geräte bereitstellen.

(46)

Die Mitgliedstaaten sollten es den Häftlingen gestatten, einen angemessenen Teil ihrer Zeit mit Arbeit, Ausbildung oder Freizeitbeschäftigung außerhalb ihrer Zelle zu verbringen, um ein ausreichendes Maß an menschlichen und sozialen Kontakten zu ermöglichen. Um einen Verstoß gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe zu verhindern, sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass alle Ausnahmen von dieser Regel im Zusammenhang mit besonderen Sicherheitsregelungen und -maßnahmen, einschließlich Einzelhaft, notwendig und verhältnismäßig sind.

Arbeit und Ausbildung von Häftlingen zur Förderung ihrer sozialen Wiedereingliederung

(47)

Die Mitgliedstaaten sollten in die soziale Wiedereingliederung von Häftlingen investieren und dabei deren individuelle Bedürfnisse berücksichtigen. Zu diesem Zweck sollten die Mitgliedstaaten bestrebt sein, vergütete und nützliche Arbeit anzubieten. Um die erfolgreiche Wiedereingliederung der Häftlinge in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt zu fördern, sollten die Mitgliedstaaten einer Arbeit den Vorzug geben, die mit einer beruflichen Ausbildung einhergeht.

(48)

Um die Häftlinge bei der Vorbereitung auf ihre Entlassung zu unterstützen und ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern, sollten die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass alle Häftlinge Zugang zu sicheren, integrativen und zugänglichen Bildungsprogrammen (einschließlich Fernunterricht) haben, die ihren individuellen Bedürfnissen entsprechen und gleichzeitig ihren Ambitionen Rechnung tragen.

Gesundheitsversorgung

(49)

Die Mitgliedstaaten sollten gewährleisten, dass Häftlinge rechtzeitig Zugang zu der medizinischen Unterstützung und psychologischen Betreuung haben, die sie zur Erhaltung ihrer körperlichen und psychischen Gesundheit benötigen. Zu diesem Zweck sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Gesundheitsversorgung in Hafteinrichtungen, einschließlich in Bezug auf die psychiatrische Behandlung, den gleichen Standards entspricht, die für das nationale öffentliche Gesundheitssystem gelten.

(50)

Die Mitgliedstaaten sollten für eine regelmäßige ärztliche Kontrolle sorgen und Impf- und Vorsorgeprogramme sowohl für übertragbare (HIV, Virushepatitis B und C, Tuberkulose und sexuell übertragbare Krankheiten) als auch für nicht übertragbare Krankheiten (insbesondere Krebsvorsorgeuntersuchungen) fördern, die bei Bedarf eine Diagnose und die Einleitung einer Behandlung nach sich ziehen. Programme zur Gesundheitserziehung können zur Verbesserung der Früherkennungsraten und der Gesundheitskompetenz beitragen. Insbesondere sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass der Behandlung von drogenabhängigen Häftlingen, der Vorbeugung und Behandlung von Infektionskrankheiten, der psychischen Gesundheit und der Suizidprävention besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.

(51)

Die Mitgliedstaaten sollten vorschreiben, dass zu Beginn eines Freiheitsentzugs und nach einer Überstellung unverzüglich eine ärztliche Untersuchung durchgeführt wird.

Verhütung von Gewalt und Misshandlung

(52)

Die Mitgliedstaaten sollten alle angemessenen Maßnahmen ergreifen, um die Sicherheit der Häftlinge zu gewährleisten und jede Form von Folter oder Misshandlung zu verhindern. Insbesondere sollten die Mitgliedstaaten alle angemessenen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Häftlinge nicht Opfer von Gewalt oder Misshandlung durch das Personal der Hafteinrichtung werden und dass sie unter Achtung ihrer Würde behandelt werden. Die Mitgliedstaaten sollten auch das Personal in der Hafteinrichtung und alle zuständigen Behörden dazu verpflichten, Häftlinge vor Gewalt oder Misshandlung durch andere Häftlinge zu schützen.

(53)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Erfüllung dieser Sorgfaltspflicht und jegliche Anwendung von Gewalt durch das Personal in der Hafteinrichtung kontrolliert werden.

Kontakt zur Außenwelt

(54)

Die Mitgliedstaaten sollten es Häftlingen gestatten, Besuche von ihren Familien und anderen Personen wie Rechtsbeiständen, Sozialarbeitern und Ärzten zu empfangen. Die Mitgliedstaaten sollten es den Häftlingen auch ermöglichen, mit diesen Personen uneingeschränkt brieflich und so oft wie möglich telefonisch oder in anderen Formen zu kommunizieren, einschließlich mit alternativen Kommunikationsmitteln für Menschen mit Behinderungen.

(55)

Die Mitgliedstaaten sollten geeignete Räumlichkeiten zur Verfügung stellen, um Familienbesuche unter kinderfreundlichen Bedingungen zu ermöglichen, die den Sicherheitsanforderungen genügen aber für Kinder weniger traumatisierend sind. Diese Besuche sollten so gestaltet sein, dass ein regulärer und effektiver Kontakt zwischen Familienmitgliedern gepflegt werden kann.

(56)

Die Mitgliedstaaten sollten in Erwägung ziehen, die Kommunikation auf digitalem Wege, beispielsweise Videoanrufe, zu ermöglichen, sodass die Häftlinge die Möglichkeit haben, den Kontakt zu ihren Familien aufrechtzuerhalten, sich um einen Arbeitsplatz zu bewerben, eine Ausbildung zu absolvieren oder eine Wohnung zur Vorbereitung auf die Entlassung zu suchen.

(57)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass in Fällen, in denen Häftlingen der Außenkontakt untersagt wird, eine derartig einschneidende Maßnahme unbedingt erforderlich und verhältnismäßig ist und nicht über einen längeren Zeitraum hinweg angewendet wird.

Rechtsbeistand

(58)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Häftlinge wirksamen Zugang zu einem Rechtsanwalt haben.

(59)

Die Mitgliedstaaten sollten die Vertraulichkeit von Treffen und anderen Formen des Kontakts der Häftlinge zu ihren Rechtsbeiständen wahren; dazu gehört auch der Schriftverkehr mit dem Anwalt.

(60)

Die Mitgliedstaaten sollten den Häftlingen Zugang zu Unterlagen über ihre Gerichtsverfahren gewähren oder ihnen gestatten, diese bei sich zu behalten.

Anträge und Beschwerden

(61)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass alle Häftlinge in klarer Weise über die in ihrer jeweiligen Hafteinrichtung geltenden Regeln unterrichtet werden.

(62)

Die Mitgliedstaaten sollten den effektiven Zugang zu einem Verfahren erleichtern, das es den Häftlingen ermöglicht, eine offizielle Beschwerde in Bezug auf Aspekte ihres Lebens in Haft einzulegen. Insbesondere sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Häftlinge vertrauliche Anträge und Beschwerden über ihre Behandlung sowohl über interne als auch externe Beschwerdemechanismen einlegen können.

(63)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Beschwerden von Häftlingen unverzüglich und sorgfältig von einer unabhängigen Behörde oder einem Gericht bearbeitet werden, die befugt sind, Abhilfemaßnahmen anzuordnen, insbesondere Maßnahmen zur Beendigung von Verstößen gegen das Verbot von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung.

Besondere Maßnahmen für Frauen und Mädchen

(64)

Die Mitgliedstaaten sollten bei Entscheidungen, die die Belange inhaftierter Frauen und Mädchen betreffen, ihre speziellen Bedürfnisse in körperlicher, beruflicher, sozialer und psychologischer Hinsicht sowie in Hinsicht auf Hygiene und Gesundheitsfürsorge berücksichtigen.

(65)

Die Mitgliedstaaten sollten es den Häftlingen gestatten, in einem Krankenhaus außerhalb der Hafteinrichtung zu entbinden. Wird ein Kind gleichwohl in einer Hafteinrichtung geboren, sollten die Mitgliedstaaten für die erforderliche Unterstützung und Ausstattung sorgen, um die Bindung zwischen Mutter und Kind zu schützen und ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden zu gewährleisten; dazu gehört eine angemessene Gesundheitsversorgung vor und nach der Geburt.

(66)

Die Mitgliedstaaten sollten es inhaftierten Eltern von Kleinkindern gestatten, diese in der Hafteinrichtung bei sich zu behalten, wenn dies dem Wohl des Kindes entspricht. Die Mitgliedstaaten sollten besondere Unterbringungsmöglichkeiten bereitstellen und alle angemessenen kinderfreundlichen Maßnahmen ergreifen, um die Gesundheit und das Wohlergehen der betroffenen Kinder während des gesamten Vollzugs sicherzustellen.

Besondere Maßnahmen für ausländische Staatsangehörige

(67)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass ausländische Staatsangehörige und andere Personen mit besonderen sprachlichen Bedürfnissen, denen die Freiheit entzogen ist, angemessenen Zugang zu professionellen Dolmetschdiensten und Übersetzungen von Unterlagen in einer Sprache haben, die sie verstehen.

(68)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass ausländische Staatsangehörige unverzüglich über ihr Recht informiert werden, den Kontakt mit der diplomatischen oder konsularischen Vertretung ihres Herkunftslandes zu verlangen, und dass ihnen hierzu angemessene Kommunikationsmöglichkeiten eingeräumt werden.

(69)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Informationen über rechtliche Unterstützung erteilt werden.

(70)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass ausländische Staatsangehörige über die Möglichkeit informiert werden, die Übertragung der Vollstreckung ihrer Strafe oder von Überwachungsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren auf das Land ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres ständigen Aufenthalts zu beantragen, beispielsweise nach den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI und des Rahmenbeschlusses 2009/829/JI.

Besondere Maßnahmen für Kinder und junge Erwachsene

(71)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass bei allen Fragen im Zusammenhang mit der Inhaftierung eines Kindes vorrangig auf das Wohl des Kindes abgestellt wird und dass seine besonderen Rechte und Bedürfnisse bei Entscheidungen, die Aspekte seiner Inhaftierung betreffen, berücksichtigt werden.

(72)

Die Mitgliedstaaten sollten ein angemessenes und multidisziplinäres Haftregime für Kinder vorsehen, das ihre Gesundheit und ihre körperliche, geistige und emotionale Entwicklung, ihr Recht auf Bildung und Ausbildung, die effektive und regelmäßige Ausübung ihres Rechts auf Familienleben und ihren Zugang zu Programmen, die ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft fördern, sicherstellt und achtet.

(73)

Disziplinarmaßnahmen jeder Art, einschließlich Einzelhaft, Zwangsmaßnahmen oder Anwendung von Gewalt, sollten unter strengen Gesichtspunkten der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit getroffen werden.

(74)

Den Mitgliedstaaten wird nahegelegt, den Jugendarrest gegebenenfalls auf junge Straftäter unter 21 Jahren anzuwenden.

Besondere Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen oder schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen

(75)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen oder andere Personen mit schweren gesundheitlichen Problemen eine angemessene Versorgung erhalten, die mit derjenigen des nationalen öffentlichen Gesundheitssystems vergleichbar ist und ihren besonderen Bedürfnissen entspricht. Insbesondere sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Personen, bei denen psychische Erkrankungen diagnostiziert werden, gegebenenfalls in spezialisierten Einrichtungen oder speziellen Abteilungen der Hafteinrichtung unter ärztlicher Aufsicht fachlich betreut werden, und dass bei Bedarf die Behandlung bei Häftlingen, die auf die Entlassung vorbereitet werden, fortgesetzt wird-

(76)

Die Mitgliedstaaten sollten besonders darauf achten, dass die materiellen Haftbedingungen und die Haftbedingungen für Häftlinge mit Behinderungen oder schweren gesundheitlichen Problemen den Bedürfnissen dieser Personen entsprechen und barrierefrei sind. Dies sollte auch die Bereitstellung geeigneter Aktivitäten für diese Häftlinge beinhalten.

Besondere Maßnahmen zum Schutz von sonstigen Häftlingen mit besonderen Bedürfnissen oder besonderer Schutzbedürftigkeit

(77)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Inhaftierung die Ausgrenzung von Personen aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung, ihrer ethnischen Herkunft, ihrer religiösen Überzeugungen oder aus anderen Gründen nicht weiter verschärft.

(78)

Die Mitgliedstaaten sollten alle angemessenen Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass Personen aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung, ihrer ethnischen Herkunft, ihrer religiösen Überzeugungen oder aus anderen Gründen vom Personal der Hafteinrichtung oder von anderen Häftlingen Gewalt angetan wird oder sie andere Formen des Missbrauchs erfahren, beispielsweise physischen, psychischen oder sexuellen Missbrauch. Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass besondere Schutzmaßnahmen ergriffen werden, wenn die Gefahr einer solchen Gewalttätigkeit oder Misshandlung besteht.

Kontrollen und Überwachung

(79)

Die Mitgliedstaaten sollten regelmäßige Inspektionen durch eine unabhängige Behörde erleichtern, um zu bewerten, ob die Hafteinrichtungen im Einklang mit den Anforderungen des nationalen und internationalen Rechts verwaltet werden. Insbesondere sollten die Mitgliedstaaten den ungehinderten Zugang zum Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe sowie zum Netz der nationalen Präventionsmechanismen gewährleisten.

(80)

Die Mitgliedstaaten sollten den nationalen Parlamentsmitgliedern Zugang zu den Hafteinrichtungen gewähren und werden aufgefordert, den Mitgliedern des Europäischen Parlaments ebenfalls Zugang zu gewähren.

(81)

Die Mitgliedstaaten sollten auch in Erwägung ziehen, für Richter, Staatsanwälte und Strafverteidiger im Rahmen ihrer juristischen Ausbildung regelmäßige Besuche in Hafteinrichtungen und anderen Gewahrsamszentren zu organisieren.

Besondere Maßnahmen zur Bekämpfung von Radikalisierung in Gefängnissen

(82)

Den Mitgliedstaaten wird nahegelegt, eine erste Risikobewertung vorzunehmen, um die geeigneten Haftregelungen für Personen festzulegen, die terroristischer und gewalttätiger extremistischer Straftaten verdächtigt oder für schuldig befunden werden.

(83)

Auf der Grundlage dieser Risikobewertung können diese Häftlinge zusammen in einem separaten Terroristentrakt untergebracht oder auf die allgemeine Gefängnispopulation verteilt werden. Im letzteren Fall sollten die Mitgliedstaaten verhindern, dass diese Personen direkten Kontakt zu Häftlingen haben, die sich in einer besonders schutzbedürftigen Situation befinden.

(84)

Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass die Gefängnisverwaltung regelmäßig weitere Risikobewertungen vornimmt (zu Beginn der Haft, während der Haft und vor der Entlassung von Häftlingen, die terroristischer und gewalttätiger extremistischer Straftaten verdächtigt oder für schuldig befunden werden).

(85)

Den Mitgliedstaaten wird nahegelegt, allen Mitarbeitern Schulungsprogramme zur allgemeinen Sensibilisierung und dem Fachpersonal eine Schulung anzubieten, um Anzeichen von Radikalisierung frühzeitig zu erkennen. Die Mitgliedstaaten sollten auch in Erwägung ziehen, eine angemessene Anzahl gut ausgebildeter Gefängnisseelsorger bereitzustellen, die verschiedene Religionskreise vertreten.

(86)

Die Mitgliedstaaten sollten Maßnahmen ergreifen, die Wiedereingliederungs-, Deradikalisierungs- und Ausstiegsprogramme in der Hafteinrichtung zur Vorbereitung der Entlassung sowie Programme nach der Entlassung vorsehen, um die Wiedereingliederung von Häftlingen zu fördern, die wegen terroristischer und gewalttätiger extremistischer Straftaten verurteilt wurden.

ÜBERWACHUNG

(87)

Die Mitgliedstaaten sollten die Kommission innerhalb von 18 Monaten nach Verabschiedung dieser Empfehlung über ihre Folgemaßnahmen informieren. Auf der Grundlage dieser Informationen sollte die Kommission die von den Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen überwachen und bewerten und dem Europäischen Parlament und dem Rat innerhalb von 24 Monaten nach ihrer Annahme einen Bericht vorlegen.

Brüssel, den 8. Dezember 2022

Für die Kommission

Didier REYNDERS

Mitglied der Kommission


(1)  Urteil des Gerichtshofs vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C-404/15 und C-659/15 PPU, ECLI:EU:C:2016:198. Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft, C-220/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:589; und Urteil des Gerichtshofs vom 15. Oktober 2019, Dimitru-Tudor Dorobantu, C-128/18, ECLI:EU:C:2019:857.

(2)  Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190 vom 18.7.2002, S. 1).

(3)  Bivolaru und Moldovan/Frankreich, Urteil vom 25. März 2021, 40324/16 und 12623/17.

(4)  https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-14540-2018-INIT/de/pdf

(5)  https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-14075-2019-INIT/en/pdf

(6)  https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-9727-2019-INIT/de/pdf

(7)  (2019/2207(INI)) angenommen am 20. Januar 2021.

(8)  Abrufbar unter https://fra.europa.eu/en/databases/criminal-detention.

(9)  Zeitraum 2016-2019. Siehe dazu https://ec.europa.eu/info/publications/replies-questionnaire-quantitative-information-practical-operation-european-arrest-warrant_de.

(10)  Neunte Runde der gegenseitigen Begutachtungen und Schlussfolgerungen der hochrangigen Konferenz zum Europäischen Haftbefehl, die von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im September 2020 veranstaltet wurde.

(11)  Siehe Generaldirektion Justiz und Verbraucher, Rights of suspects and accused persons who are in pre-trial detention — exploratory study: (in englischer Sprache, Abschlussbericht), Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, 2022, https://data.europa.eu/doi/10.2838/293366; Generaldirektion Justiz und Verbraucher, Rights of suspects and accused persons who are in pre-trial detention — exploratory study: Anhang 2, Länderprofile, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, 2022, https://data.europa.eu/doi/10.2838/184080.

(12)  Weniger als ein Jahr in Österreich, Deutschland, Dänemark, Estland, Lettland, Schweden und der Slowakei; zwischen einem Jahr und zwei Jahren in Bulgarien, Griechenland, Litauen, Malta, Polen und Portugal; zwischen zwei und fünf Jahren in Tschechien, Frankreich, Spanien, Kroatien und Ungarn; mehr als fünf Jahre in Italien und Rumänien; keine zeitliche Begrenzung in Belgien, Zypern, Finnland, Irland, Luxemburg und den Niederlanden.

(13)  Im Jahr 2020 von knapp zweieinhalb Monaten in Malta bis zu fast 13 Monaten in Slowenien. Durchschnitt je Mitgliedstaat: Österreich — 2,9 Monate, Bulgarien — 6,5 Monate, Tschechien — 5,1 Monate; Estland — 4,7 Monate, Finnland — 3,7 Monate, Griechenland — 11,5 Monate, Ungarn — 12,3 Monate, Irland — 2,5 Monate, Italien — 6,5 Monate, Litauen — 2,8 Monate, Luxemburg — 5,2 Monate, Malta — 2,4 Monate, Niederlande — 3,7 Monate, Portugal — 11 Monate, Rumänien — 5,3 Monate, Slowakei — 3,9 Monate, Slowenien — 12,9 Monate, Spanien — 5,9 Monate. Für das Jahr 2020 lagen für Belgien, Dänemark, Frankreich, Lettland, Polen, Deutschland, Kroatien, Zypern und Schweden keine Daten vor.

(14)  Im Jahr 2019 unter 10 % in Bulgarien, Tschechien und Rumänien und mehr als 45 % in Luxemburg.

(15)  Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. L 280 vom 26.10.2010, S. 1).

(16)  Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. L 142 vom 1.6.2012, S. 1).

(17)  Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. L 294 vom 6.11.2013, S. 1).

(18)  Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. L 65 vom 11.3.2016, S. 1).

(19)  Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind (ABl. L 132 vom 21.5.2016, S. 1).

(20)  Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (ABl. L 297 vom 4.11.2016, S. 1).

(21)   ABl. C 378 vom 24.12.2013, S. 8.

(22)  Rahmenbeschluss 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. L 327 vom 5.12.2008, S. 27).

(23)  Rahmenbeschluss 2009/829/JI des Rates vom 23. Oktober 2009 über die Anwendung — zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union — des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft (ABl. L 294 vom 11.11.2009, S. 20).