23.1.2018   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

L 17/50


EMPFEHLUNG (EU) 2018/103 DER KOMMISSION

vom 20. Dezember 2017

zur Rechtsstaatlichkeit in Polen in Ergänzung der Empfehlungen (EU) 2016/1374, (EU) 2017/146 und (EU) 2017/1520

DIE EUROPÄISCHE KOMMISSION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 292,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)

Am 27. Juli 2016 nahm die Kommission eine Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit in Polen (1) an, in der sie ihre Bedenken hinsichtlich der Lage des Verfassungsgerichtshofs darlegte und Empfehlungen zur Ausräumung dieser Bedenken aussprach. Am 21. Dezember 2016 und am 26. Juli 2017 nahm die Kommission ergänzende Empfehlungen zur Rechtsstaatlichkeit in Polen (2) an.

(2)

Die Empfehlungen der Kommission wurden auf der Grundlage des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips (3) angenommen. Im Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips wird zum einen dargelegt, wie die Kommission bei klaren Hinweisen auf eine Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat der Union reagieren wird, und werden zum anderen die sich aus der Rechtsstaatlichkeit ableitenden Grundsätze erläutert. Der Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips enthält Leitlinien für einen Dialog zwischen der Kommission und dem betreffenden Mitgliedstaat, die die Entstehung einer systemischen Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit verhindern sollen, die sich zu einer „eindeutige[n] Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ ausweiten könnte, was möglicherweise das Verfahren nach Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) auslösen würde. Gibt es klare Hinweise auf eine systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat, kann die Kommission auf der Grundlage des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips in einen Dialog mit diesem Mitgliedstaat eintreten.

(3)

Die Europäische Union gründet sich auf eine Reihe gemeinsamer Werte, die in Artikel 2 EUV verankert sind und zu denen die Achtung der Rechtsstaatlichkeit zählt. Neben ihrer Aufgabe als Hüterin des Unionsrechts obliegt der Kommission gemeinsam mit dem Europäischen Parlament, den Mitgliedstaaten und dem Rat auch die Sicherstellung der gemeinsamen Werte der Union.

(4)

Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Texte des Europarats, der sich auf diesem Gebiet vor allem auf die Sachkenntnis der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht („Venedig-Kommission“) stützt, liefern eine nicht erschöpfende Aufstellung dieser Grundsätze und definieren die Kernbedeutung des Rechtsstaatsprinzips als eines gemeinsamen Wertes der Union im Sinne des Artikels 2 EUV. Zu diesen Grundsätzen zählen das Rechtmäßigkeitsprinzip, das einen transparenten, demokratischen und auf der Rechenschaftspflicht beruhenden pluralistischen Gesetzgebungsprozess impliziert, die Rechtssicherheit, das Willkürverbot für die Exekutive, unabhängige und unparteiische Gerichte, eine wirksame richterliche Kontrolle, auch im Hinblick auf die Grundrechte, und die Gleichheit vor dem Gesetz (4). Neben der Wahrung dieser Grundsätze und Werte sind die Staatsorgane auch zur loyalen Zusammenarbeit verpflichtet.

(5)

In ihrer Empfehlung vom 27. Juli 2016 erläuterte die Kommission die Umstände, unter denen sie am 13. Januar 2016 beschlossen hatte, die Lage auf der Grundlage des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips zu prüfen, und unter denen sie am 1. Juni 2016 eine Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit in Polen abgegeben hatte. Ferner wurde in der Empfehlung erläutert, dass die Bedenken der Kommission durch den Austausch zwischen der Kommission und der polnischen Regierung nicht ausgeräumt werden konnten.

(6)

Die Kommission gelangte in ihrer Empfehlung zu der Auffassung, dass eine systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Polen vorliegt, und empfahl den polnischen Behörden, dringend geeignete Maßnahmen zu treffen, um dieser Gefährdung entgegenzuwirken.

(7)

In ihrer Empfehlung vom 21. Dezember 2016 trug die Kommission den jüngsten Entwicklungen in Polen seit der Empfehlung der Kommission vom 27. Juli 2016 Rechnung. Die Kommission stellte fest, dass zwar einige der Fragen, die Gegenstand ihrer letzten Empfehlung gewesen waren, geklärt worden sind, dass andere wichtige Probleme aber noch einer Lösung harren und zudem in der Zwischenzeit neue Bedenken hinzugekommen sind. Ferner stellte die Kommission fest, dass das Verfahren, das zur Ernennung einer neuen Präsidentin des Gerichtshofs geführt hatte, Anlass zu ernsten Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit gibt. Die Kommission gelangte zu dem Ergebnis, dass die systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Polen weiter besteht. Die Kommission forderte die polnische Regierung auf, die festgestellten Probleme dringend — innerhalb von zwei Monaten — zu beheben und der Kommission die hierzu unternommenen Schritte mitzuteilen. Die Kommission wies darauf hin, dass sie weiterhin gewillt sei, den konstruktiven Dialog mit der polnischen Regierung auf der Grundlage der Empfehlung fortzusetzen.

(8)

Am 26. Juli 2017 nahm die Kommission in Ergänzung zu ihren Empfehlungen vom 27. Juli und 21. Dezember 2016 eine dritte Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit in Polen an. In ihrer Empfehlung trug die Kommission den Entwicklungen in Polen seit der Empfehlung der Kommission vom 21. Dezember 2016 Rechnung. Die Bedenken der Kommission betreffen das Fehlen einer unabhängigen und legitimen verfassungsgerichtlichen Kontrolle sowie die Verabschiedung neuer Gesetze in Bezug auf die polnische Justiz durch das polnische Parlament, die Anlass zu großer Besorgnis hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz geben und die systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Polen erheblich verschärfen. In ihrer Empfehlung kommt die Kommission zu dem Schluss, dass sich die in ihren Empfehlungen vom 27. Juli 2016 und 21. Dezember 2016 dargestellte Lage einer systemischen Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Polen erheblich verschlechtert hat.

(9)

In der Empfehlung wird insbesondere hervorgehoben, dass das Gesetz über den Landesrat für Gerichtswesen vom 15. Juli 2017 und das Gesetz über das Oberste Gericht vom 22. Juli 2017, falls sie in Kraft treten sollten, die Unabhängigkeit der Justiz in Polen strukturell beeinträchtigen und sich unmittelbar und konkret auf das unabhängige Funktionieren der Justiz insgesamt auswirken würden. Da die Unabhängigkeit der Justiz ein zentraler Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit ist, wird die in den früheren Empfehlungen festgestellte systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit durch diese neuen Gesetze beträchtlich verschärft. Der Empfehlung zufolge würden die Absetzung von Richtern des Obersten Gerichts, ihre mögliche Wiederernennung und die übrigen im Gesetz über das Oberste Gericht vorgesehenen Maßnahmen die systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit ganz erheblich verstärken. Die Kommission empfiehlt den polnischen Behörden unter anderem, dafür zu sorgen, dass die beiden Gesetze über das Oberste Gericht und über den Landesrat für Gerichtswesen nicht in Kraft treten und dass bei Justizreformen die Rechtsstaatlichkeit gewahrt bleibt, dass sie mit dem EU-Recht und den europäischen Standards für die richterliche Unabhängigkeit im Einklang stehen und dass sie in enger Zusammenarbeit mit der Justiz und allen Beteiligten ausgearbeitet werden. Die Kommission hat die polnischen Behörden zudem ersucht, keine Maßnahmen zu treffen, um Richter am Obersten Gericht abzusetzen oder in den erzwungenen Ruhestand zu versetzen, da dies die systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit ganz erheblich verstärken würde. Die Kommission erklärte, dass sie sich für den Fall, dass die polnischen Behörden Maßnahmen dieser Art treffen sollten, bereithielte, umgehend Artikel 7 Absatz 1 EUV zu aktivieren.

(10)

Die Kommission forderte die polnische Regierung auf, die in dieser Empfehlung beschriebenen Probleme innerhalb eines Monats nach Erhalt der Empfehlung zu beheben.

(11)

Dem Sejm wurde am 31. Juli 2017 förmlich die Entscheidung des Präsidenten der Republik mitgeteilt, sein Veto gegen das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen und des Gesetzes über das Oberste Gericht einzulegen.

(12)

Mit Schreiben vom 4. August und 16. August 2017 ersuchte die polnische Regierung die Kommission um Klarstellungen zu ihrer Empfehlung vom 26. Juli 2017, worauf die Kommission mit Schreiben vom 8. August und 21. August 2017 antwortete.

(13)

Am 28. August 2017 übermittelte die polnische Regierung eine Antwort auf die Empfehlung vom 26. Juli 2017. In der Antwort wurden alle in der Empfehlung angesprochenen Fragen zurückgewiesen und keine neuen Maßnahmen angekündigt, um die von der Kommission geäußerten Bedenken auszuräumen.

(14)

In seiner Stellungnahme vom 30. August 2017 kam das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR) der OSZE zu dem Schluss, dass das ausgesetzte Gesetz über das Oberste Gericht nicht den internationalen Standards für die richterliche Unabhängigkeit entspricht (5).

(15)

Die polnische Regierung startete am 11. September 2017 eine Kampagne mit dem sinngemäßen Titel „Faire Gerichte“, um die Unterstützung der Gesellschaft für die laufende Justizreform zu erhalten. Der Landesrat für Gerichtswesen und die ordentlichen Gerichte veröffentlichten eine Reihe von Stellungnahmen zu Anschuldigungen gegen Gerichte, Richter und den Landesrat während der Kampagne.

(16)

Am 11. September 2017 erklärte eine mit fünf Richtern besetzte Kammer des Verfassungsgerichtshofs gewisse Bestimmungen der Zivilprozessordnung für verfassungswidrig, die es ordentlichen Gerichten und dem Obersten Gericht ermöglichen, die Rechtmäßigkeit der Ernennung des Präsidenten und des Vizepräsidenten des Gerichtshofs zu prüfen (6).

(17)

Am 13. September 2017 begann der Justizminister, die ihm nach dem neuen Gesetz über die ordentlichen Gerichte zustehenden Befugnisse zur Entlassung von Gerichtspräsidenten und stellvertretenden Gerichtspräsidenten auszuüben.

(18)

Am 15. September und am 18. Oktober 2017 übte der Landesrat für Gerichtswesen Kritik an den Entscheidungen des Justizministers, Gerichtspräsidenten zu entlassen. Nach Auffassung des Landesrats verstößt eine solche Willkür des Justizministers gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Unabhängigkeit der Gerichte und könnte die Unparteilichkeit von Richtern beeinträchtigen.

(19)

Am 15. September 2017 ernannte der Sejm eine Person für eine bereits besetzte Stelle des Verfassungsgerichtshofs, und der Präsident der Republik nahm den Amtseid am 18. September 2017 ab.

(20)

Am 15. September 2017 verabschiedete der Sejm das Gesetz über das nationale Freiheitsinstitut — Zentrum für zivilgesellschaftliche Entwicklung, mit dem die Verteilung der Mittel unter anderem für Organisationen der Zivilgesellschaft zentralisiert wird.

(21)

Am 22. September 2017 erörterte der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen die im Rahmen der dritten regelmäßigen Überprüfung vorgelegten Berichte über Polen, die Empfehlungen zur richterlichen Unabhängigkeit und zur Rechtsstaatlichkeit enthalten.

(22)

Am 25. September 2017 informierte die Kommission den Rat über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in Polen. Es bestand breites Einvernehmen darüber, dass die Rechtsstaatlichkeit ein gemeinsames Interesse und eine gemeinsame Verantwortung ist und dass Polen und die Kommission in einen Dialog eintreten müssen, um eine Lösung zu finden.

(23)

Am 26. September 2017 übermittelte der Präsident der Republik dem Sejm jeweils einen neuen Entwurf des Gesetzes über das Oberste Gericht und des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen.

(24)

Am 3. Oktober 2017 übermittelte der Sejm die beiden Entwürfe der Präsidialgesetze über das Oberste Gericht und über den Landesrat für Gerichtswesen zur Konsultation einschlägigen Interessenträgern, darunter der Bürgerbeauftragte, das Oberste Gericht und der Landesrat für Gerichtswesen.

(25)

Am 6. und 25. Oktober 2017 übermittelte das Oberste Gericht seine Stellungnahmen zu den beiden neuen Entwürfen des Gesetzes über das Oberste Gericht und des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen. Darin kommt er zu dem Schluss, dass der Entwurf des Gesetzes über das Oberste Gericht seine Unabhängigkeit erheblich einschränken würde und der Entwurf des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen nicht mit dem Konzept eines demokratischen Rechtsstaats vereinbar ist.

(26)

Am 11. Oktober 2017 nahm die Parlamentarische Versammlung des Europarats eine Entschließung zu neuen Bedrohungen der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten des Europarats an. Darin äußerte sie sich auch besorgt über die Entwicklungen in Polen, die eine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit, insbesondere für die richterliche Unabhängigkeit und den Grundsatz der Gewaltenteilung, darstellen (7).

(27)

Am 13. Oktober 2017 gab das Europäische Netz der Räte für das Justizwesen (ENCJ) eine Stellungnahme (8) zum neuen Entwurf des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen ab, in der er dessen Unvereinbarkeit mit den europäischen Standards für die Räte für das Justizwesen hervorhob.

(28)

Am 23. Oktober 2017 forderte der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte nach dem dritten Zyklus der allgemeinen regelmäßigen Überprüfung Polens die polnischen Behörden auf, die Empfehlungen der Vereinten Nationen zur Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz zu akzeptieren.

(29)

Am 24. Oktober 2017 erklärte eine Kammer des Verfassungsgerichtshofs, der auch zwei rechtswidrig ernannte Richter angehörten, diejenigen Bestimmungen des Gesetzes über das Oberste Gericht für verfassungswidrig, auf deren Grundlage unter anderem der derzeitige Erste Präsident des Obersten Gerichts ernannt worden war.

(30)

Am 24. Oktober 2017 erklärte eine Kammer des Verfassungsgerichtshofs, der auch zwei rechtswidrig ernannte Richter angehörten, die Bestimmungen der drei Gesetze über den Verfassungsgerichtshof vom Dezember 2016 für verfassungsmäßig, einschließlich der Bestimmungen, auf deren Grundlage die beiden rechtswidrig ernannten Richter an Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs mitwirken durften. Der Antrag des polnischen Bürgerbeauftragten, die beiden rechtswidrig ernannten Richter wegen Befangenheit von dieser Rechtssache abzuziehen, war vom Verfassungsgerichtshof abgelehnt worden.

(31)

Am 27. Oktober 2017 legte der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten, Diego García-Sayán, seine vorläufigen Bemerkungen (9) vor, wonach die beiden Entwürfe des Gesetzes über das Oberste Gericht und des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen eine Reihe von Bedenken hinsichtlich der richterlichen Unabhängigkeit aufwerfen.

(32)

Am 31. Oktober 2017 nahm der Landesrat für Gerichtswesen eine Stellungnahme zum neuen Entwurf des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen an, der vom Präsidenten der Republik vorgelegt worden war. Der Landesrat stellt fest, dass der Gesetzentwurf grundlegend gegen die polnische Verfassung verstoße, indem er dem Sejm die Befugnis einräumt, richterliche Mitglieder des Landesrates zu ernennen, und die verfassungsrechtlich geschützte Amtszeit der derzeitigen richterlichen Mitglieder des Landesrates vorzeitig beendet.

(33)

Am 10. November 2017 nahm der Beirat Europäischer Richter (CCJE) eine Erklärung an, in der er sich besorgt zur richterlichen Unabhängigkeit in Polen äußert (10).

(34)

Am 11. November 2017 übermittelte der Bürgerbeauftragte ein Schreiben an den Präsidenten der Republik, in dem auf der Grundlage einer Bewertung der beiden neuen Entwürfe des Gesetzes über das Oberste Gericht und des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen empfohlen wurde, dass die Entwürfe nicht angenommen werden sollten, da sie nicht gewährleisten würden, dass die Judikative unabhängig von der Exekutive bleibt und die Bürger ihr verfassungsrechtliches Recht auf Zugang zu einem unabhängigen Gericht wahrnehmen können.

(35)

Am 13. November 2017 kam das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR) der OSZE in einer Stellungnahme zu dem neuen Entwurf des Gesetzes über das Oberste Gericht zu dem Schluss, dass die überarbeiteten Bestimmungen nicht mit den internationalen Standards für die richterliche Unabhängigkeit vereinbar seien (11).

(36)

Am 15. November 2017 nahm das Europäische Parlament eine Entschließung zur Lage der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie in Polen an, in der es seine Unterstützung für die Empfehlungen der Kommission zur Rechtsstaatlichkeit sowie für die Vertragsverletzungsverfahren zum Ausdruck brachte und darauf hinwies, dass die derzeitige Lage in Polen eine eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 EUV genannten Werte darstelle (12).

(37)

Am 24. November 2017 forderte der Rat der Anwaltschaften der Europäischen Union (CCBE) die polnischen Behörden auf, die beiden Entwürfe des Gesetzes über das Oberste Gericht und des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen nicht anzunehmen, da sie die durch die polnische Verfassung garantierte Gewaltenteilung untergraben könnten (13). Am 29. November 2017 gaben die Richterorganisation „Iustitia“, die Helsinki-Stiftung für Menschenrechte und Amnesty International eine gemeinsame Erklärung ab, in der das Gesetzgebungsverfahren zu den beiden Präsidialgesetzentwürfen kritisiert wurde.

(38)

Am 5. Dezember 2017 gab das Europäische Netz der Räte für das Justizwesen (ENCJ) eine Stellungnahme ab, in der der neue Entwurf des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen wegen Missachtung der ENCJ-Standards kritisiert wurde (14).

(39)

Am 8. Dezember 2017 nahm die Venedig-Kommission auf Antrag der Parlamentarischen Versammlung des Europarats eine Stellungnahme zum Entwurf des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen, den Entwurf des Gesetzes über das Oberste Gericht und das Gesetz über die ordentlichen Gerichte sowie eine Stellungnahme zum Gesetz über die Staatsanwaltschaft an (15). Die Venedig-Kommission ist zu dem Schluss gelangt, dass das Gesetz und die Gesetzesentwürfe, insbesondere in ihrer Gesamtheit und im Kontext des Gesetzes über die Staatsanwaltschaft von 2016, der Legislative und der Exekutive eine Handhabe geben, schwerwiegende und umfassende Eingriffe in die Justizverwaltung vorzunehmen, und dadurch eine ernsthafte Bedrohung für die richterliche Unabhängigkeit als wesentliches Element der Rechtsstaatlichkeit darstellen. Sie fordert den Präsidenten der Republik auf, seine Vorschläge zurückzuziehen und einen Dialog einzuleiten, bevor das Gesetzgebungsverfahren fortgesetzt wird. Zudem fordert sie das polnische Parlament auf, die jüngsten Änderungen des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte zu überdenken.

(40)

Am 8. Dezember 2017 gab der Menschenrechtskommissar des Europarates eine Erklärung ab, in der er die Annahme der Gesetze über das Oberste Gericht und über den Landesrat für Gerichtswesen durch den Sejm bedauerte, da dies die richterliche Unabhängigkeit weiter untergrabe.

(41)

Am 8. Dezember 2017 nahm der Sejm die beiden Gesetzentwürfe an. Am 15. Dezember 2017 bestätigte der Senat die beiden Gesetzentwürfe —

HAT FOLGENDE EMPFEHLUNG ABGEGEBEN:

1.

Die Republik Polen sollte der nachstehenden Analyse der Kommission gebührend Rechnung tragen und die in Abschnitt 4 dieser Empfehlung aufgeführten Maßnahmen treffen, damit die dargelegten Bedenken innerhalb der gesetzten Frist ausgeräumt werden.

1.   GELTUNGSBEREICH UND ZIEL DER EMPFEHLUNG

2.

Die vorliegende Empfehlung ergänzt die Empfehlungen vom 27. Juli 2016, 21. Dezember 2016 und 26. Juli 2017. Ergänzend zu den in den genannten Empfehlungen geäußerten Bedenken enthält sie neue Bedenken der Kommission im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit in Polen, die seitdem hinzugekommen sind. Die Bedenken betreffen die folgenden Punkte:

a)

das am 8. Dezember 2017 vom Sejm verabschiedete Gesetz über das Oberste Gericht;

b)

das am 8. Dezember 2017 vom Sejm verabschiedete Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen und bestimmter weiterer Gesetze („Gesetz über den Landesrat für Gerichtswesen“).

3.

Die in der Empfehlung vom 26. Juli 2017 zu dem Verfassungsgerichtshof, dem Gesetz über die ordentlichen Gerichte und dem Gesetz über die Staatliche Richterhochschule (16) geäußerten Bedenken und empfohlenen Maßnahmen behalten ihre Gültigkeit.

2.   GEFÄHRDUNG DER UNABHÄNGIGKEIT DER JUSTIZ

4.

Das Gesetz über das Oberste Gericht und das Gesetz über den Landesrat für Gerichtswesen enthalten zahlreiche Bestimmungen, die Anlass zu großer Besorgnis hinsichtlich der Grundsätze der Unabhängigkeit der Justiz und der Gewaltenteilung geben.

2.1.   Oberstes Gericht

2.1.1.   Absetzung und Zwangspensionierung der derzeitigen Richter am Obersten Gericht

5.

Mit dem Gesetz über das Oberste Gericht wird das allgemeine Pensionsalter für Richter am Obersten Gericht von 70 auf 65 Jahre gesenkt (17). Diese Maßnahme gilt für alle derzeit amtierenden Richter. Richter, die das 65. Lebensjahr vollendet haben oder dieses Alter innerhalb von 3 Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes erreichen, werden in den Ruhestand versetzt (18).

6.

Durch die Senkung des Pensionsalters und seine Anwendung auf die derzeitigen Richter am Obersten Gericht wird eine erhebliche Zahl derzeitiger Richter am Obersten Gericht ihres Amtes enthoben und möglicherweise in den Ruhestand versetzt. Nach Angaben des Obersten Gerichts betrifft dies 31 der 83 Richter (37 %). Die Anwendung des herabgesetzten Pensionsalters auf die derzeitigen Richter am Obersten Gericht wirkt sich besonders negativ auf dieses besondere Gericht aus, das sich aus Richtern zusammensetzt, die positionsbedingt am Ende ihrer Laufbahn stehen. Diese Zwangspensionierung eines erheblichen Teils der derzeitigen Richter am Obersten Gericht ermöglicht eine weitreichende sofortige Neubesetzung des Obersten Gerichts. Diese Möglichkeit ist mit Blick auf die Gewaltenteilung besonders bedenklich, vor allem in Verbindung mit der gleichzeitigen Reform des Landesrats für Gerichtswesen. Denn wegen der Senkung des Pensionsalters werden alle neuen Richter vom Präsidenten der Republik auf Empfehlung des neu zusammengesetzten Landesrats für Gerichtswesen ernannt, der weitgehend von den politischen Mitgliedern beherrscht wird. Die Zwangspensionierung von derzeitigen Richtern am Obersten Gericht wirft zudem Bedenken hinsichtlich des Grundsatzes der Unabsetzbarkeit von Richtern auf, der als Schlüsselelement der richterlichen Unabhängigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (19) sowie in europäischen Normen (20) verankert ist. In ihrer Stellungnahme zum Entwurf des Gesetzes über das Oberste Gericht unterstreicht die Venedig-Kommission, dass die vorzeitige Pensionierung der derzeit amtierenden Richter sowohl ihre Amtssicherheit als auch die Unabhängigkeit des Gerichts im Allgemeinen beeinträchtigt (21).

7.

Richter sollten durch wirksame Garantien, die ungebührliche Eingriffe oder Pressionen anderer Staatsgewalten verhindern, gegen ihre Abberufung geschützt werden. (22) Die richterliche Unabhängigkeit erfordert ausreichende Garantien, um diejenigen zu schützen, denen die Entscheidung in einem Rechtsstreit obliegt (23). Dass Richter während ihrer Amtszeit nicht abgesetzt werden können, ist eine Folge ihrer Unabhängigkeit und fällt somit unter die Garantien des Artikels 6 Absatz 1 EMRK (24). Richter dürfen daher nur einzeln abgesetzt werden, falls dies aufgrund eines Disziplinarverfahrens gerechtfertigt ist, das ihr individuelles Handeln betrifft und alle Garantien für die Verteidigung in einer demokratischen Gesellschaft bietet. Richter können nicht als Gruppe abgesetzt werden, und Richter können nicht aus allgemeinen Gründen abgesetzt werden, die keinen Bezug zu ihrem individuellen Verhalten aufweisen. Die genannten Garantien fehlen im vorliegenden Fall, sodass die betreffenden Bestimmungen einen eklatanten Verstoß gegen die Unabhängigkeit der Richter am Obersten Gericht und die Gewaltenteilung (25) und damit gegen die Rechtsstaatlichkeit darstellen.

8.

Ferner wird die in der Verfassung festgelegte sechsjährige Amtszeit des derzeitigen Ersten Präsidenten vorzeitig beendet (verfassungsmäßig sollte sie 2020 enden). Nach Beendigung der Amtszeit des Ersten Präsidenten wird die Ernennung eines „kommissarischen Ersten Präsidenten“ durch den Präsidenten der Republik außerhalb des üblichen Verfahrens erfolgen (26): Laut Verfassung sollte der Erste Präsident vom Präsidenten der Republik aus dem Kreis der Kandidaten ernannt werden, die von der Generalversammlung des Obersten Gerichts vorgeschlagen werden (27). Diese vorzeitige Beendigung einer verfassungsmäßig verankerten Amtszeit stellt eine schwere Verletzung des Grundsatzes der Unabsetzbarkeit und der Amtssicherheit dar. Die Ernennung eines kommissarischen Ersten Präsidenten nach einem Ad-hoc-Verfahren ohne Beteiligung der Justiz wirft ernste Bedenken im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung auf.

9.

Nach der Begründung des Gesetzes ist die Neubesetzung des Obersten Gerichts unerlässlich, zum einen wegen der Art und Weise, wie das Oberste Gericht nach 1989 die „Dekommunisierung“ gehandhabt hat, und zum anderen, weil am Gericht noch Richter tätig sind, die entweder für das frühere Regime gearbeitet oder unter diesem Regime Recht gesprochen haben (28). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat deutlich hervorgehoben, dass ein Lustrationsprozess individualisiert werden muss (z. B. ist nach dem Grad der Beteiligung am früheren Regime zu differenzieren), und die Auffassung vertreten, dass Lustrationsmaßnahmen, die lange nach dem Ende des kommunistischen Regimes stattfinden, angesichts der geringer werdenden Risiken für die neu entstandenen Demokratien weniger gerechtfertigt sein könnten (29). Der Staat kann auch andere verhältnismäßige Maßnahmen treffen, um gegen einzelne Richter mit kommunistischem Hintergrund vorzugehen (etwa in Einzelfällen durchgeführte transparente Verfahren vor unparteiischen Organen, die auf der Grundlage von per Gesetz vorher festgelegten Kriterien handeln) (30).

10.

In ihrer Stellungnahme zum Entwurf des Gesetzes über das Oberste Gericht stellt die Venedig-Kommission fest, dass es schwer nachvollziehbar ist, warum jemand, der als geeignet angesehen wurde, sein Amt noch mehrere Jahre lang auszuüben, plötzlich als untauglich gelten soll. Die Begründung des Gesetzes könnte dahin gehend verstanden werden, dass infolge der Reform die dienstältesten Richter, von denen viele bereits unter dem früheren Regime gedient haben, zum größten Teil in den Ruhestand treten. Falls diese Interpretation zutrifft, kann ein solches Vorgehen nicht hingenommen werden. Wenn die Behörden Zweifel an der Loyalität einzelner Richter haben, sollten sie die bestehenden Disziplinar- oder Lustrationsverfahren anwenden und nicht das Pensionsalter ändern.

11.

Die Venedig-Kommission gelangt zu dem Ergebnis, dass die vorzeitige Entfernung einer großen Zahl von Richtern (einschließlich des Ersten Präsidenten) des Obersten Gerichts aus dem Dienst, die dadurch bewirkt wird, dass auf sie mit sofortiger Wirkung ein niedrigeres Pensionsalter angewendet wird, ihre individuellen Rechte verletzt und die Unabhängigkeit der Justiz insgesamt gefährdet. Sie sollten ihr Amt bis zum Erreichen des bisher geltenden Pensionsalters ausüben dürfen (31). Die Venedig-Kommission unterstreicht insbesondere, dass die vorzeitige Pensionierung der derzeit amtierenden Richter sowohl deren Amtssicherheit als auch die Unabhängigkeit des Gerichts insgesamt beeinträchtigt (32).

12.

Außerdem werfen diese Bestimmungen verfassungsrechtliche Bedenken auf. Nach den Feststellungen des Obersten Gerichts und des Bürgerbeauftragten verstoßen die Absetzung und die Zwangspensionierung der derzeitigen Richter am Obersten Gericht gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und beeinträchtigen unmittelbar das Recht auf ein unabhängiges Gericht. Der Bürgerbeauftragte stellt fest, dass die Einsetzung eines kommissarischen Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts einen Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit darstellt, da sie das Verbot der Anmaßung von Befugnissen der Staatsgewalten, den Grundsatz der Gewaltenteilung und des Kräftegleichgewichts sowie den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit verletzt.

2.1.2.   Befugnis zur Verlängerung der Amtszeit von Richtern am Obersten Gericht

13.

Nach dem Gesetz können Richter am Obersten Gericht, die von dem herabgesetzten Pensionsalter betroffen sind, ihren aktiven Dienst aber verlängern möchten, ein Ersuchen an den Präsidenten der Republik richten (33).

14.

Für die Entscheidung des Präsidenten der Republik über die Verlängerung des aktiven Dienstes von Richtern am Obersten Gericht sind im Gesetz weder Kriterien noch eine Frist noch eine gerichtliche Überprüfung vorgesehen. Ein Richter, der um eine Verlängerung ersucht hat, ist ganz dem Gutdünken des Präsidenten der Republik ausgeliefert. Zudem kann der Präsident der Republik zweimal über eine Verlängerung (um jeweils 3 Jahre) entscheiden. Diese Umstände beeinträchtigen die Amtssicherheit und ermöglichen es dem Präsidenten der Republik, Einfluss auf aktive Richter am Obersten Gericht zu nehmen. Die Regelung steht im Widerspruch zur Empfehlung des Europarats von 2010, dass Entscheidungen über Auswahl und Karriere von Richtern auf objektiven Kriterien beruhen sollten, die per Gesetz vorher festgelegt wurden, und dass eine unabhängige zuständige Behörde, die zu einem wesentlichen Teil aus Vertretern des Justizwesens besteht, zur Abgabe von Empfehlungen oder Stellungnahmen berechtigt sein sollte, die für die betreffende Ernennungsbehörde in der Praxis ausschlaggebend sein sollten (34). Ferner sollten die betroffenen Richter das Recht haben, eine Entscheidung über ihre Karriere anzufechten (35).

15.

Die neue Pensionsregelung beeinträchtigt die Unabhängigkeit der Richter (36). Die neuen Vorschriften geben dem Präsidenten der Republik ein zusätzliches Instrument an die Hand, mit dem er Einfluss auf einzelne Richter ausüben kann. Insbesondere wird ihm durch das Fehlen von Kriterien für die Verlängerung der Amtszeit ein übermäßig weites Ermessen eingeräumt und damit der Grundsatz der Unabsetzbarkeit von Richtern untergraben. Das Pensionsalter wird zwar herabgesetzt, die Richter können ihre Amtszeit jedoch vom Präsidenten der Republik um bis zu 6 Jahre verlängern lassen. Zudem ist für die Entscheidung des Präsidenten der Republik über die Amtszeitverlängerung keine Frist vorgesehen, was es dem Präsidenten erlaubt, während der verbleibenden Amtszeit Einfluss auf die betroffenen Richter zu behalten. Schon vor Erreichen des Pensionsalters könnte die bloße Aussicht, den Präsidenten um eine solche Verlängerung ersuchen zu müssen, die betroffenen Richter unter Druck setzen.

16.

In ihrer Stellungnahme zum Entwurf des Gesetzes über das Oberste Gericht hebt die Venedig-Kommission hervor, dass der Präsident der Republik mit dieser Befugnis übermäßigen Einfluss auf die Richter am Obersten Gericht erhält, die sich dem Pensionsalter nähern. Die Venedig-Kommission kommt daher zu dem Schluss, dass der Präsident der Republik als gewählter Politiker nicht die Befugnis haben sollte, die Amtszeit eines Richters am Obersten Gericht nach eigenem Ermessen über das Pensionsalter hinaus zu verlängern (37).

17.

Die neuen Vorschriften werfen auch verfassungsrechtliche Bedenken auf. Nach den Stellungnahmen des Obersten Gerichts und des Bürgerbeauftragten ist das neue Verfahren für die Verlängerung der Amtszeit von Richtern nicht mit dem Rechtmäßigkeitsprinzip und der Gewaltenteilung vereinbar.

2.1.3.   Außerordentlicher Rechtsbehelf

18.

Mit dem Gesetz wird eine neue Form der gerichtlichen Überprüfung rechtskräftiger, verbindlicher Urteile und Beschlüsse eingeführt: der außerordentliche Rechtsbehelf (38). Innerhalb von drei Jahren (39) nach Inkrafttreten des Gesetzes kann das Oberste Gericht rechtskräftige Urteile polnischer Gerichte — mit Einschränkungen auch des Obersten Gerichts (40) —, die in den vergangenen 20 Jahren ergangen sind, vollständig oder teilweise (41) aufheben (42). Die Befugnis zur Einlegung des Rechtsbehelfs wird unter anderem dem Generalstaatsanwalt und dem Bürgerbeauftragten übertragen (43). Die Rechtsbehelfsgründe sind weit gefasst. Der außerordentliche Rechtsbehelf kann eingelegt werden, wenn dies für die Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit und der sozialen Gerechtigkeit erforderlich ist und die Entscheidung, die nicht durch andere außerordentliche Abhilfemaßnahmen aufgehoben oder geändert werden kann, entweder 1) die in der Verfassung verankerten Grundsätze oder Rechte und Freiheiten von Personen und Bürgern verletzt oder 2) wegen fehlerhafter Auslegung oder Anwendung einen eklatanten Verstoß gegen das Gesetz darstellt oder 3) einen offensichtlichen Widerspruch zwischen den Feststellungen des Gerichts und den erhobenen Beweisen enthält (44).

19.

Dieses neue außerordentliche Rechtsbehelfsverfahren gibt Anlass zu Bedenken hinsichtlich des Grundsatzes der Rechtssicherheit, der ein zentraler Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit ist (45). Wie der Gerichtshof der Europäischen Union festgestellt hat, ist die Bedeutung zu beachten, die dem Grundsatz der Rechtskraft sowohl in der Unionsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen zukommt: „Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können.“ (46) Und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat angemerkt, dass eine außerordentliche Überprüfung kein verschleiertes Rechtsmittel und die bloße Möglichkeit, dass es zu einer Frage zwei Ansichten gibt, kein Grund für eine erneute Prüfung sein sollte (47).

20.

In ihrer Stellungnahme zum Entwurf des Gesetzes über das Oberste Gericht hebt die Venedig-Kommission hervor, dass das außerordentliche Rechtsbehelfsverfahren eine Gefahr für die Stabilität der polnischen Rechtsordnung darstellt. In der Stellungnahme wird festgestellt, dass es möglich sein wird, jede Rechtssache, die in den vergangenen 20 Jahren in dem Land entschieden wurde, aus praktisch jedem Grund wieder aufzunehmen, und dass dies dazu führen könnte, dass kein Urteil mehr endgültig ist (48).

21.

Der außerordentliche Rechtsbehelf wirft auch verfassungsrechtliche Bedenken auf. Nach Auffassung des Obersten Gerichts und des Bürgerbeauftragten beeinträchtigt das Gesetz die Grundsätze der Stabilität der Rechtsprechung und der Rechtskraft der Urteile (49), den Grundsatz des Schutzes des Vertrauens in Staat und Recht sowie das Recht darauf, dass eine Sache innerhalb einer angemessenen Frist verhandelt wird (50).

2.1.4.   Weitere Bestimmungen

22.

Wie in den Stellungnahmen der Venedig-Kommission und anderer Einrichtungen (51) hervorgehoben wird, gibt eine Reihe weiterer Bestimmungen des Gesetzes über das Oberste Gericht Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Grundsätze der Unabhängigkeit der Justiz und der Gewaltenteilung.

23.

Mit dem neuen Gesetz wird eine neue Disziplinarregelung für Richter am Obersten Gericht eingeführt. Es sind zwei Arten von Disziplinarbeauftragten vorgesehen: der Disziplinarbeauftragte des Obersten Gerichts, der vom Kollegium des Obersten Gerichts für eine Amtszeit von vier Jahren ernannt wird (52), und der außerordentliche Disziplinarbeauftragte, der vom Präsidenten der Republik im Einzelfall aus dem Kreis der Richter am Obersten Gericht, der Richter an ordentlichen Gerichten, der Richter an Militärgerichten und der Staatsanwälte (53) ernannt wird. Nach polnischem Recht können nur Disziplinarbeauftragte über die Einleitung von Disziplinarverfahren gegen Richter entscheiden. Die Ernennung eines außerordentlichen Beauftragten durch den Präsidenten der Republik erfolgt ohne Beteiligung der Justiz und kommt einem Ersuchen um Einleitung von Vorermittlungen gleich. Mit der Ernennung eines außerordentlichen Disziplinarbeauftragten in einem laufenden Disziplinarverfahren wird der Disziplinarbeauftragte des Obersten Gerichts von diesem Verfahren ausgeschlossen (54). Die Tatsache, dass der Präsident der Republik (und in einigen Fällen auch der Justizminister (55)) Einfluss auf Disziplinarverfahren gegen Richter am Obersten Gericht nehmen kann, indem er einen eigenen Disziplinarbeauftragten für die Ermittlungen ernennt und dadurch den Disziplinarbeauftragten des Obersten Gerichts von einem laufenden Verfahren ausschließt, gibt Anlass zu Bedenken hinsichtlich des Grundsatzes der Gewaltenteilung und könnte die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigen. Diese Bedenken wurden auch in den Stellungnahmen des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE und des Obersten Gerichts geäußert (56).

24.

Mit dem Gesetz wird auch eine Reihe von Verfahrensgarantien in Disziplinarverfahren gegen Richter an ordentlichen Gerichten (57) und Richter am Obersten Gericht (58) abgeschafft. Rechtswidrig erlangte Beweismittel können gegen Richter verwendet werden (59). Von dem betroffenen Richter vorgelegte Beweismittel können unter bestimmten Voraussetzungen unberücksichtigt bleiben (60). Die Verjährung der Disziplinarsache ist für die Dauer des Disziplinarverfahrens ausgesetzt, sodass ein Richter zeitlich unbegrenzt Gegenstand eines Verfahrens sein kann (61). Außerdem kann das Disziplinarverfahren auch in Abwesenheit des betroffenen Richters fortgesetzt werden (selbst wenn die Abwesenheit gerechtfertigt ist) (62). Die neue Disziplinarregelung gibt ferner Anlass zu Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit den Anforderungen des Artikels 6 Absatz 1 EMRK an ein faires Verfahren, die auch für Disziplinarverfahren gegen Richter gelten (63).

25.

Mit dem Gesetz wird das Oberste Gericht um zwei neue Kammern erweitert und damit in seiner internen Struktur verändert. Eine neue Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten verhandelt Rechtssachen nach dem neuen außerordentlichen Rechtsbehelfsverfahren (64). Diese neue Kammer setzt sich mehrheitlich aus neuen Richtern zusammen (65) und prüft die Gültigkeit landesweiter und lokaler Wahlen sowie Wahlstreitigkeiten, auch bei der Wahl zum Europäischen Parlament (66). Daneben wird eine neue, autonome (67) Disziplinarkammer eingerichtet, die ausschließlich aus neuen Richtern besteht (68) und in erster und zweiter Instanz für Disziplinarsachen gegen Richter am Obersten Gericht zuständig ist (69). Diese beiden neuen, weitgehend autonomen Kammern, die sich aus neuen Richtern zusammensetzen, geben Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Gewaltenteilung. Wie die Venedig-Kommission festgestellt hat' sind die beiden Kammern zwar Teil des Obersten Gerichts, stehen in der Praxis aber über allen anderen Kammern, sodass die Gefahr besteht, dass die gesamte Justiz von diesen Kammern beherrscht wird, denen neue Richter angehören, bei deren Wahl die Regierungsmehrheit einen bestimmenden Einfluss ausgeübt hat (70). Ferner hebt die Venedig-Kommission hervor, dass das Gesetz die gerichtliche Prüfung von Wahlstreitigkeiten besonders anfällig für politische Einflussnahme macht, was eine ernste Gefahr für das Funktionieren der polnischen Demokratie darstellt (71).

26.

Das Gesetz sieht vor, dass an Verfahren vor dem Obersten Gericht, in denen es um außerordentliche Rechtsbehelfe und Disziplinarsachen geht, ehrenamtliche Richter teilnehmen, die vom Senat der Republik zu ernennen sind (72). Wie die Venedig-Kommission angemerkt hat, gefährdet die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter in den beiden neuen Kammern des Obersten Gerichts Effizienz und Qualität der Rechtsprechung (73).

2.2.   Der Landesrat für Gerichtswesen

27.

Nach der polnischen Verfassung wird die Unabhängigkeit der Richter vom Landesrat für Gerichtswesen geschützt (74). Die Rolle des Landesrats für Gerichtswesen hat unmittelbare Auswirkungen auf die Unabhängigkeit der Richter, insbesondere im Hinblick auf ihre Beförderung, Versetzung, Disziplinierung, Entlassung und vorzeitige Pensionierung. Zum Beispiel ist im Falle der Beförderung eines Richters (etwa vom Kreisgericht zum Bezirksgericht) eine erneute Ernennung durch den Präsidenten der Republik erforderlich, sodass das Verfahren für die Prüfung und Ernennung von Richtern unter Mitwirkung des Landesrats für Gerichtswesen noch einmal durchlaufen werden muss. Auch Hilfsrichter, die bereits richterliche Aufgaben wahrnehmen, müssen vom Landesrat für Gerichtswesen geprüft werden, bevor sie vom Präsidenten der Republik zum Richter ernannt werden können.

28.

Aus diesem Grund ist in Mitgliedstaaten, in denen ein Rat für das Justizwesen besteht, dessen Unabhängigkeit besonders wichtig, um unzulässige Eingriffe der Regierung oder des Parlaments in die Unabhängigkeit der Richter zu verhindern (75).

29.

Das Gesetz über den Landesrat für Gerichtswesen verstärkt die Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz insgesamt, da es die vorzeitige Beendigung der Amtszeit aller richterlichen Mitglieder des Landesrats für Gerichtswesen vorsieht und eine völlig neue Regelung für die Ernennung seiner richterlichen Mitglieder enthält, die ein hohes Maß an politischer Einflussnahme ermöglicht.

30.

Nach Artikel 6 des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen wird die Amtszeit aller derzeitigen richterlichen Mitglieder des Landesrats für Gerichtswesen vorzeitig beendet. Diese von der Legislative beschlossene Beendigung gibt Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit des Rates und der Gewaltenteilung. Das Parlament erhält auf Kosten der Richter einen bestimmenden Einfluss auf die Zusammensetzung des Rates. Diese Neubesetzung des Landesrats für Gerichtswesen könnte bereits innerhalb von eineinhalb Monaten nach Veröffentlichung des Gesetzes erfolgen (76). Wie in den Stellungnahmen des Landesrats für Gerichtswesen, des Obersten Gerichts und des Bürgerbeauftragten hervorgehoben wird, wirft die vorzeitige Beendigung der Amtszeit auch verfassungsrechtliche Bedenken auf.

31.

Auch die neue Regelung für die Ernennung der richterlichen Mitglieder des Landesrats für Gerichtswesen gibt Anlass zu ernsten Bedenken. Nach fest etablierten europäischen Standards, insbesondere nach der Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats von 2010, sollten nicht weniger als die Hälfte der Mitglieder der Räte für das Justizwesen von ihresgleichen aus allen Justizebenen und unter Berücksichtigung der Pluralität innerhalb des Justizwesens ausgewählte Richter sein (77). Es ist Sache der Mitgliedstaaten, ihr Justizwesen zu organisieren und zu entscheiden, ob sie einen Rat für das Justizwesen einrichten oder nicht. Wenn jedoch — wie in Polen — ein solcher Rat eingerichtet worden ist, muss seine Unabhängigkeit im Einklang mit den europäischen Standards garantiert werden.

32.

Bis zur Verabschiedung des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen stand das polnische System voll und ganz mit diesen Standards im Einklang, da sich der Landesrat für Gerichtswesen mehrheitlich aus von Richtern ausgewählten Richtern zusammensetzte. Diese Regelung wird durch Artikel 1 Absatz 1 und Artikel 7 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen radikal geändert, nach dem die 15 richterlichen Mitglieder des Landesrats für Gerichtswesen vom Sejm ernannt werden und wiederernannt werden können (78). Zudem gibt es keine Garantie dafür, dass der Sejm nach dem neuen Gesetz richterliche Mitglieder des Rates ernennen wird, die Rückhalt in der Richterschaft haben, da die Kandidaten für diese Posten nicht nur von Gruppen von 25 Richtern, sondern auch von Gruppen von mindestens 2 000 Bürgern benannt werden können (79). Darüber hinaus wird die endgültige Kandidatenliste, die der Sejm en bloc genehmigen muss, vorher von einem Ausschuss des Sejm festgelegt (80). Durch die neuen Vorschriften für die Ernennung der richterlichen Mitglieder des Landesrats für Gerichtswesen wird der Einfluss des Parlaments auf den Rat erheblich gestärkt und dessen Unabhängigkeit im Widerspruch zu den europäischen Standards beeinträchtigt. Dass die richterlichen Mitglieder vom Sejm mit Dreifünftelmehrheit ernannt werden, mindert diese Bedenken nicht, da sie nicht von ihresgleichen ausgewählt werden. Und wenn eine Dreifünftelmehrheit nicht erreicht wird, werden die richterlichen Mitglieder des Rates vom Sejm mit absoluter Stimmenmehrheit ernannt.

33.

Unter dem Gesichtspunkt der Unabhängigkeit der Justiz gibt dies Anlass zu Bedenken. So könnte ein Kreisrichter, der eine Beförderung zum Bezirksrichter anstrebt und ein Urteil in einem politisch heiklen Verfahren zu erlassen hat, dazu neigen, den von der politischen Mehrheit bevorzugten Standpunkt einzunehmen, um seine Beförderung nicht zu gefährden. Selbst wenn diese Gefahr nicht bestehen sollte, sieht die neue Regelung keine ausreichenden Garantien vor, um den Eindruck der Unabhängigkeit zu sichern, der entscheidend für die Aufrechterhaltung des Vertrauens ist, das Gerichte in einer demokratischen Gesellschaft in der Öffentlichkeit schaffen müssen (81). Auch Hilfsrichter müssen von einem politisch beeinflussten Landesrat für Gerichtswesen geprüft werden, bevor sie zum Richter ernannt werden können.

34.

Die Venedig-Kommission gelangt zu dem Ergebnis, dass die Wahl der 15 richterlichen Mitglieder des Landesrats für Gerichtswesen durch das Parlament in Verbindung mit der sofortigen Ersetzung der derzeit amtierenden Mitglieder zu einer weitreichenden Politisierung dieser Einrichtung führt. Die Venedig-Kommission empfiehlt, die richterlichen Mitglieder des Landesrats für Gerichtswesen stattdessen von ihresgleichen wählen zu lassen, wie dies im derzeitigen Gesetz vorgesehen ist (82). Zudem stellt sie fest, dass das Gesetz die Unabhängigkeit des Rates gegenüber der Parlamentsmehrheit beeinträchtigt und zu einer Beeinträchtigung der Unabhängigkeit der Justiz insgesamt beiträgt (83).

35.

Das Oberste Gericht, der Landesrat für Gerichtswesen und der Bürgerbeauftragte haben in ihren Stellungnahmen zum Gesetzentwurf eine Reihe von Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der neuen Regelung geäußert. Insbesondere stellt der Landesrat für Gerichtswesen fest, dass er nach der polnischen Verfassung ein Gegengewicht zum Parlament bildet, das verfassungsrechtlich befugt ist, über den Inhalt des Rechts zu entscheiden. Die politische Ernennung der richterlichen Mitglieder und die vorzeitige Beendigung der Amtszeit der derzeitigen richterlichen Mitglieder des Rates verstoßen daher gegen die Grundsätze der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Justiz. Eine wirksame verfassungsgerichtliche Kontrolle dieser Bestimmungen ist aus den in den früheren Empfehlungen dargelegten Gründen derzeit nicht möglich.

3.   SYSTEMISCHE GEFÄHRDUNG DER RECHTSSTAATLICHKEIT

36.

Aus den oben dargelegten Gründen ist die Kommission der Auffassung, dass die in der Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit vom 26. Juli 2017 in Bezug auf die Gesetze über das Oberste Gericht und den Landesrat für Gerichtswesen dargelegten Bedenken durch die beiden neuen Gesetze über das Oberste Gericht und den Landesrat für Gerichtswesen nicht ausgeräumt wurden.

37.

Zudem stellt die Kommission fest, dass keine der anderen in der Empfehlung vom 26. Juli 2017 zu dem Verfassungsgerichtshof, dem Gesetz über die ordentlichen Gerichte und dem Gesetz über die Staatliche Richterhochschule geäußerten Bedenken ausgeräumt wurden.

38.

Daher kommt die Kommission zu dem Schluss, dass sich die in ihren Empfehlungen vom 27. Juli 2016, 21. Dezember 2016 und 26. Juli 2017 dargestellte Lage einer systemischen Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Polen weiter erheblich verschlechtert hat. Das Gesetz über den Landesrat für Gerichtswesen und das Gesetz über das Oberste Gericht — auch in Verbindung mit dem Gesetz über die Staatliche Richterhochschule — sowie das Gesetz über die ordentlichen Gerichte steigern erheblich die in den früheren Empfehlungen festgestellte systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit. Insbesondere

(1)

untergraben die Zwangspensionierung eines erheblichen Teils der derzeitigen Richter am Obersten Gericht in Verbindung mit der möglichen Verlängerung ihrer aktiven Amtszeit sowie die neue Disziplinarregelung für Richter am Obersten Gericht die Unabhängigkeit der Richter des Obersten Gerichts strukturell, obschon die Unabhängigkeit der Justiz ein wesentlicher Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit ist;

(2)

ermöglicht die Zwangspensionierung eines erheblichen Teils der derzeitigen Richter am Obersten Gericht eine weitreichende sofortige Neubesetzung des Obersten Gerichts. Diese Möglichkeit ist mit Blick auf die Gewaltenteilung bedenklich, vor allem in Verbindung mit der gleichzeitigen Reform des Landesrats für Gerichtswesen. Faktisch werden alle neuen Richter am Obersten Gericht vom Präsidenten der Republik auf Empfehlung des neu zusammengesetzten Landesrats für Gerichtswesen ernannt, der weitgehend von den politischen Mitgliedern beherrscht wird. Infolgedessen wird die derzeitige parlamentarische Mehrheit zumindest mittelbar in der Lage sein, die künftige Zusammensetzung des Obersten Gerichts wesentlich stärker zu bestimmen, als dies in einem System mit normalen Vorschriften über die Dauer der Amtszeit von Richtern möglich wäre — unabhängig von der Dauer und davon, welches staatliche Organ befugt ist, über die Ernennung von Richtern zu entscheiden.

(3)

Das neue außerordentliche Rechtsbehelfsverfahren wirft Bedenken in Bezug auf die Rechtssicherheit und — in Verbindung mit der Möglichkeit einer weitreichenden sofortigen Neubesetzung des Obersten Gerichts — in Bezug auf die Gewaltenteilung auf.

(4)

Die Beendigung der Amtszeit aller richterlichen Mitglieder des Landesrates für Gerichtswesen sowie die Wiederernennung der richterlichen Mitglieder des Rates nach einem Verfahren, das ein hohes Maß an politischer Einflussnahme ermöglicht, geben ebenfalls Anlass zu ernsten Bedenken.

(5)

Dass die neuen Gesetze Anlass zu ernsten Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit der polnischen Verfassung geben, haben in einer Reihe von Stellungnahmen insbesondere das Oberste Gericht, der Landesrat für Gerichtswesen und der Bürgerbeauftragte hervorgehoben. Wie in der Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit vom 26. Juli 2017 dargelegt ist eine wirksame verfassungsgerichtliche Kontrolle dieser Gesetze jedoch nicht mehr möglich.

39.

Die Kommission betont, dass unabhängig vom gewählten Modell des Justizwesens nach dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip die Unabhängigkeit der Justiz, die Gewaltenteilung und die Rechtssicherheit garantiert sein müssen. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, ihr Justizwesen zu organisieren und zu entscheiden, ob sie einen Rat für das Justizwesen einrichten, der die Aufgabe hat, die richterliche Unabhängigkeit zu garantieren. Wenn jedoch ein Mitgliedstaat einen solchen Rat eingerichtet hat — wie Polen, wo der Landesrat für Gerichtswesen laut Verfassung ausdrücklich mit der Aufgabe betraut ist, die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter zu schützen —, muss seine Unabhängigkeit im Einklang mit den europäischen Standards garantiert werden. Die Kommission weist mit großer Besorgnis darauf hin, dass das Rechtssystem in Polen infolge der oben genannten neuen Rechtsvorschriften diesen Anforderungen nicht mehr entspricht.

40.

Überdies haben die polnische Regierung und der Regierungsmehrheit angehörende Parlamentsmitglieder mit Maßnahmen und öffentlichen Äußerungen gegen Richter und Gerichte in Polen das Vertrauen in das Justizsystem als Ganzes beschädigt. Die Kommission verweist auf den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Staatsorganen, die — wie in den Stellungnahmen der Venedig-Kommission betont wird — eine verfassungsmäßige Voraussetzung in einem demokratischen Rechtsstaat darstellt.

41.

Die Achtung der Rechtsstaatlichkeit ist nicht nur Voraussetzung für den Schutz sämtlicher in Artikel 2 EUV aufgeführten Grundwerte. Sie ist auch Voraussetzung für die Wahrung aller sich aus den Verträgen ergebenden Rechte und Pflichten sowie für das Vertrauen der Bürger, Unternehmen und staatlichen Instanzen in die Rechtsordnung der jeweils anderen Mitgliedstaaten.

42.

Das ordnungsgemäße Funktionieren der Rechtsstaatlichkeit ist auch für den reibungslosen Betrieb des Binnenmarkts unerlässlich, da die Wirtschaftsbeteiligten wissen müssen, dass sie nach dem Gesetz gleichbehandelt werden. Ohne eine unabhängige Justiz in jedem Mitgliedstaat ist dies nicht zu gewährleisten.

43.

Die Kommission stellt fest, dass zahlreiche Akteure auf europäischer und internationaler Ebene ihre tiefe Besorgnis über die beiden neuen Gesetze über das Oberste Gericht und den Landesrat für Gerichtswesen geäußert haben, insbesondere die Venedig-Kommission, der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten, das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE und die Vertreter der Justiz in ganz Europa, darunter der Beirat Europäischer Richter, das Europäische Netz der Räte für das Justizwesen und der Rat der Anwaltschaften der Europäischen Union.

44.

In seiner Entschließung vom 15. November 2017 zur Lage der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie in Polen erklärte das Europäische Parlament, es sei zutiefst besorgt über die neugefassten Rechtsvorschriften über die polnische Justiz, und forderte den polnischen Präsident auf, keine neuen Gesetze zu unterzeichnen, sofern sie nicht vollumfänglich die Unabhängigkeit der Justiz gewährleisten.

4.   EMPFEHLUNGEN

45.

Die Kommission empfiehlt den polnischen Behörden, dringend geeignete Maßnahmen zu treffen, um der in Abschnitt 2 festgestellten systemischen Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit entgegenzuwirken.

46.

Um zu gewährleisten, dass die neu erlassenen Rechtsvorschriften den Erfordernissen der Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz, der Gewaltenteilung und der Rechtssicherheit sowie der polnischen Verfassung und den europäischen Standards für die richterliche Unabhängigkeit gerecht werden, empfiehlt die Kommission den polnischen Behörden insbesondere,

a)

zu gewährleisten, dass das Gesetz über das Oberste Gericht dahin gehend geändert wird, dass

kein herabgesetztes Pensionsalter auf die derzeitigen Richter am Obersten Gericht Anwendung findet;

die Befugnis des Präsidenten der Republik, nach eigenem Ermessen die aktive Amtszeit der Richter am Obersten Gericht zu verlängern, aufgehoben wird;

das außerordentliche Rechtsbehelfsverfahren aufgehoben wird;

b)

zu gewährleisten, dass das Gesetz über den Landesrat für Gerichtswesen so geändert wird, dass die Amtszeit der richterlichen Mitglieder des Landesrates für Gerichtswesen nicht beendet und die neue Ernennungsregelung aufgehoben wird, damit sichergestellt ist, dass die richterlichen Mitglieder von ihresgleichen gewählt werden;

c)

Maßnahmen und öffentliche Äußerungen zu unterlassen, die die Legitimität des Obersten Gerichts, der ordentlichen Gerichte, der Richter — als Einzelpersonen oder als Gruppe — oder der Justiz als Ganzes weiter schwächen könnten.

47.

Zudem macht die Kommission darauf aufmerksam, dass keine der folgenden, in ihrer Empfehlung vom 26. Juli 2017 zu dem Verfassungsgerichtshof, dem Gesetz über die ordentlichen Gerichte und dem Gesetz über die Staatliche Richterhochschule empfohlenen Maßnahmen ergriffen wurden, sodass sie wiederholt empfiehlt,

d)

Unabhängigkeit und Legitimität des Verfassungsgerichtshofs als Garant der polnischen Verfassung wiederherzustellen, indem gewährleistet wird, dass seine Richter, sein Präsident und sein Vizepräsident rechtmäßig gewählt und ernannt werden, und indem die Urteile des Verfassungsgerichtshofs vom 3. und 9. Dezember 2015 vollständig umgesetzt werden, denen zufolge die drei Richter, die im Oktober 2015 von der vorherigen Volksvertretung rechtmäßig benannt wurden, ihr Amt als Richter am Verfassungsgerichtshof antreten können und die drei Richter, die von der neuen Volksvertretung ohne gültige Rechtsgrundlage benannt wurden, ohne rechtsgültige Wahl keine Rechtssachen mehr entscheiden dürfen;

e)

die Urteile des Verfassungsgerichtshofs vom 9. März 2016, 11. August 2016 und 7. November 2016 zu veröffentlichen und vollständig umzusetzen;

f)

dafür Sorge zu tragen, dass das Gesetz über die ordentlichen Gerichte und die Staatliche Richterhochschule zurückgezogen oder geändert wird, um zu gewährleisten, dass die Verfassung und die europäischen Standards für die richterliche Unabhängigkeit eingehalten werden. Konkret empfiehlt die Kommission insbesondere,

die neue Pensionsregelung für Richter der ordentlichen Gerichte aufzuheben, einschließlich der Befugnis des Justizministers, ihre Amtszeit nach eigenem Ermessen zu verlängern;

die Befugnis des Justizministers aufzuheben, die Präsidenten der Gerichte nach eigenem Ermessen zu ernennen und zu entlassen, und bereits getroffene Entscheidungen rückgängig zu machen;

g)

dafür zu sorgen, dass bei Justizreformen die Rechtsstaatlichkeit gewahrt bleibt, dass sie mit dem Unionsrecht und den europäischen Standards für die richterliche Unabhängigkeit im Einklang stehen und dass sie in enger Zusammenarbeit mit der Justiz und allen Beteiligten ausgearbeitet werden.

48.

Die Kommission betont, dass die zwischen Staatsorganen in Fragen der Rechtsstaatlichkeit erforderliche loyale Zusammenarbeit unerlässlich ist, um in der gegenwärtigen Lage eine Lösung zu finden. Die Kommission hält die polnischen Behörden zudem an, die Stellungnahmen der Venedig-Kommission zum Gesetz über den Landesrat für Gerichtswesen, zum Gesetz über die ordentlichen Gerichte und zum Gesetz über das Oberste Gericht umzusetzen sowie zu jedem neuen Gesetzgebungsvorschlag zur Reform des Justizsystems in Polen die Stellungnahmen der Venedig-Kommission einzuholen.

49.

Die Kommission fordert die polnischen Behörden auf, die in dieser Empfehlung dargelegten Probleme innerhalb von drei Monaten nach Erhalt der Empfehlung zu beheben und der Kommission die hierzu unternommenen Schritte mitzuteilen.

50.

Diese Empfehlung wird gleichzeitig mit dem begründeten Vorschlag der Kommission nach Artikel 7 Absatz 1 EUV betreffend die Rechtsstaatlichkeit in Polen veröffentlicht. Die Kommission ist bereit, den begründeten Vorschlag in enger Abstimmung mit dem Europäischen Parlament und dem Rat zu überprüfen, falls die polnischen Behörden die in dieser Empfehlung empfohlenen Maßnahmen innerhalb der gesetzten Frist durchführen.

51.

Die Kommission ist gewillt, den konstruktiven Dialog mit der polnischen Regierung auf der Grundlage dieser Empfehlung fortzusetzen.

Brüssel, den 20. Dezember 2017

Für die Kommission

Frans TIMMERMANNS

Erster Vizepräsident


(1)  Empfehlung (EU) 2016/1374 der Kommission vom 27. Juli 2016 zur Rechtsstaatlichkeit in Polen (ABl. L 217 vom 12.8.2016, S. 53).

(2)  Empfehlung (EU) 2017/146 der Kommission vom 21. Dezember 2016 zur Rechtsstaatlichkeit in Polen in Ergänzung zur Empfehlung (EU) 2017/146 (ABl. L 22 vom 27.1.2017, S. 65) und Empfehlung (EU) 2017/1520 der Kommission vom 26. Juli 2017 zur Rechtsstaatlichkeit in Polen in Ergänzung der Empfehlungen (EU) 2016/1374 und (EU) 2017/146 (ABl. L 228 vom 2.9.2017, S. 19).

(3)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat vom 11. März 2014: „Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ (COM(2014) 158 final).

(4)  Siehe COM(2014) 158 final, Anhang I Abschnitt 2.

(5)  Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR) der OSZE, 30. August 2017, Stellungnahme zu bestimmten Vorschriften des Entwurfs des Gesetzes über das Oberste Gericht Polens.

(6)  K 10/17.

(7)  PACE, 11. Oktober 2017, Entschließung 2188 (2017) zu dem Thema „Neue Bedrohungen für die Rechtsstaatlichkeit in Mitgliedstaaten des Europarates: ausgewählte Beispiele“.

(8)  ENCJ, 13. Oktober 2017, Stellungnahme des Exekutivausschusses (Executive Board) des ENCJ auf Antrag des polnischen Krajowa Rada Sądownictwa (Landesrat für Gerichtswesen).

(9)  Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten, 27. Oktober 2017, vorläufige Bemerkungen zum offiziellen Besuch in Polen (23.-27. Oktober 2017).

(10)  CCJE(2017) 9, 10. November 2017, Erklärung zur Lage der Unabhängigkeit der Justiz in Polen.

(11)  OSCE-ODIHR, 13. November 2017, Stellungnahme zu gewissen Bestimmungen des Entwurfs des Gesetzes über das Oberste Gericht Polens (Stand: 26. September 2017).

(12)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. November 2017 zur Lage der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie in Polen (2017/2931(RSP)).

(13)  CCBE, 24. November 2017, Entschließung der Plenartagung des Rates der Anwaltschaften der Europäischen Union (CCBE).

(14)  ENCJ, 5. Dezember 2017, Stellungnahme des Exekutivausschusses des ENCJ zur Annahme der Änderungen des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen.

(15)  Stellungnahme 904/2017 CDL(2017)035 der Venedig-Kommission zu den vom Präsidenten der Republik Polen vorgeschlagenen Entwürfen des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen und des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Oberste Gericht sowie zum Gesetz über die ordentlichen Gerichte („CDL(2017)035“) und Stellungnahme 892/2017 CDL(2017)037 der Venedig-Kommission zum geänderten Gesetz über die Staatsanwaltschaft „CDL(2017)037“).

(16)  Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Staatliche Hochschule für Richter und Staatsanwälte, des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte und bestimmter weiterer Gesetze („Gesetz über die Staatliche Richterhochschule“).

(17)  Artikel 37 Absatz 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht. Diese Bestimmung gilt auch für die Richter des Obersten Verwaltungsgerichts, da nach Artikel 49 des Gesetzes über die Verwaltungsgerichte vom 25. Juli 2002 auf Fragen im Zusammenhang mit dem Obersten Verwaltungsgericht, die in diesem Gesetz nicht geregelt sind (wie die Pensionsregelung), das Gesetz über das Oberste Gericht entsprechend Anwendung findet.

(18)  Artikel 111 Absatz 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht. Darüber hinaus werden nach Artikel 111 Absatz 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht alle Richter der Militärkammer (unabhängig von ihrem Alter) abgesetzt und pensioniert, ohne den Präsidenten der Republik um Verlängerung ihres aktiven Dienstes ersuchen zu können.

(19)  EGMR, Campbell und Fell/Vereinigtes Königreich, 28. Juni 1984, Randnr. 80, Henryk Urban und Ryszard Urban/Polen' 30. November 2011 (final), Randnr. 45, Fruni/Slowakei' 21. Juni 2011 (final), Randnr. 145, und Brudnicka u. a./Polen' 3. März 2005 (final), Randnr. 41.

(20)  Randnrn. 49 und 50 der an die Mitgliedstaaten gerichteten Empfehlung CM/Rec(2010)12 des Ministerkomitees zur Unabhängigkeit, Effizienz und Verantwortung von Richtern („Empfehlung des Europarats von 2010“).

(21)  CDL(2017)035, Randnr. 48.

(22)  Urteil vom 31. Mai 2005, Syfait und andere, C-53/03, ECLI:EU:C:2005:333, Randnr. 31; Urteil vom 4. Februar 1999, Köllensperger und Atzwanger, C-103/97, ECLI:EU:C:1999:52, Randnr. 20.

(23)  Urteil vom 9. Oktober 2014, TDC, C-222/13, ECLI:EU:C:2014:2265, Randnrn. 29-32; Urteil vom 19. September 2006, Wilson, C-506/04, ECLI:EU:C:2006:587, Randnr. 53; Urteil vom 4. Februar 1999, Köllensperger und Atzwanger, C-103/97, ECLI:EU:C:1999:52, Randnrn. 20-23; Urteil vom 17. September 1997, Dorsch Consult, C-54/96, ECLI:EU:C:1997:413, Randnr. 36; Urteil vom 29. November 2001, De Coster, C-17/00, ECLI:EU:C:2001:651, Randnrn. 18-21; Urteil vom 13. Dezember 2017, Hassani, C-403/16, ECLI:EU:C:2017:960, Randnr. 40; EGMR, Baka/Ungarn, 20261/12, 23. Juni 2016, Randnr. 121.

(24)  EGMR, Campbell und Fell/Vereinigtes Königreich, A80 (1984), 28. Juni 1984, Randnr. 80.

(25)  Die neuen Vorschriften stehen im Widerspruch zum Grundsatz der Unabsetzbarkeit von Richtern als zentrales Element der Unabhängigkeit der Richter, wie sie in der Empfehlung des Europarats von 2010 (Randnr. 49) verankert ist. Die Richter am Obersten Gericht sollten daher eine garantierte Amtszeit haben, die nicht vorzeitig beendet werden darf. Zudem sollten Entscheidungen über Auswahl und Karriere von Richtern auf objektiven Kriterien beruhen, die per Gesetz oder durch die zuständigen Behörden vorher festgelegt wurden, und wenn die Regierung oder die gesetzgebende Gewalt Entscheidungen über Auswahl und Karriere der Richter trifft, sollte eine unabhängige zuständige Behörde, die zu einem wesentlichen Teil aus Vertretern des Justizwesens besteht, zur Abgabe von Empfehlungen oder Stellungnahmen berechtigt sein, die für die betreffende Ernennungsbehörde in der Praxis ausschlaggebend sein sollten (Randnrn. 44-48).

(26)  Nach Artikel 111 Absatz 4 des Gesetzes über das Oberste Gericht wird der Präsident der Republik einen Richter des Obersten Gerichts seiner Wahl als obersten Richter einsetzen. Dieser „kommissarische Erste Präsident“ wird seine Aufgaben wahrnehmen, bis die Generalversammlung der Richter 5 Kandidaten für die Stelle des Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts vorschlägt (Artikel 12). Die Generalversammlung der Richter am Obersten Gericht wird diese Kandidaten erst vorschlagen können, sobald mindestens 110 Richter des Obersten Gerichts ernannt wurden.

(27)  Nach Artikel 183 Absatz 3 der polnischen Verfassung wird der Erste Präsident des Obersten Gerichts vom Präsidenten der Republik aus dem Kreise der Kandidaten, die von der Generalversammlung der Richter am Obersten Gericht vorgeschlagen wurden, für eine Amtszeit von 6 Jahren ernannt.

(28)  Seite 2 der Begründung.

(29)  EGMR, Sõro/Estland, 3. September 2015, Randnrn. 60-62.

(30)  Empfehlung des Europarats von 2010, Randnrn. 44-47 und 50.

(31)  Stellungnahme CDL(2017)035, Randnr. 130.

(32)  Stellungnahme CDL(2017)035, Randnr. 48.

(33)  Das Ersuchen ist über den Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts zu stellen, der eine Stellungnahme zu dem Ersuchen des Richters abgibt. Für die Verlängerung seiner eigenen Amtszeit muss der Erste Präsident dem Präsidenten der Republik eine Stellungnahme des Kollegiums des Obersten Gerichts vorlegen. Während des Entscheidungsprozesses kann der Präsident der Republik eine nicht bindende Stellungnahme des Landesrats für Gerichtswesen einholen; vgl. Artikel 37 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 111 Absatz 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht. Es wird darauf hingewiesen, dass laut Stellungnahme des Obersten Gerichts eine solche Entscheidung des Präsidenten der Republik nach Artikel 144 Absätze 1 und 2 der polnischen Verfassung der Gegenzeichnung des Ministerpräsidenten bedarf.

(34)  Randnrn. 46 und 47. Die Regelung ist auch bedenklich mit Blick auf den Aktionsplan des Europarats zur Stärkung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz (CM(2016)36 final, Buchstabe C Ziffer ii; im Folgenden „Aktionsplan des Europarats von 2016“) und die Zielvorgaben des CCJE (Stellungnahme Nr. 1 zur Unabhängigkeit der Justiz und zur Unabsetzbarkeit von Richtern (Randnr. 25)).

(35)  Empfehlung des Europarats von 2010, Randnr. 48.

(36)  Empfehlung des Europarats von 2010, Randnr. 49.

(37)  Vgl. Stellungnahme CDL(2017)035, Randnrn. 51 und 130.

(38)  Artikel 89 Absatz 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht.

(39)  Artikel 115 des Gesetzes über das Oberste Gericht. Nach Ablauf der drei Jahre muss der Rechtsbehelf innerhalb von fünf Jahren nach dem Zeitpunkt eingelegt werden, ab dem das betreffende Urteil als rechtskräftig und rechtmäßig gilt (bzw. innerhalb eines Jahres, wenn Kassationsbeschwerde erhoben wurde), es sei denn, der außerordentliche Rechtsbehelf wird zum Nachteil des Beklagten eingelegt. In diesem Fall kann der Rechtsbehelf nur innerhalb eines Jahres eingelegt werden, nachdem die Entscheidung Rechtskraft erlangt hat (bzw., wenn Kassationsbeschwerde erhoben wurde, innerhalb von 6 Monaten, nachdem die Kassationsbeschwerde geprüft wurde; vgl. Artikel 89 Absatz 4 des Gesetzes über das Oberste Gericht).

(40)  In Strafsachen kann ein außerordentlicher Rechtsbehelf zum Nachteil des Angeklagten nur innerhalb eines Jahres eingelegt werden, nachdem die Entscheidung Rechtskraft erlangt hat (bzw., wenn Kassationsbeschwerde erhoben wurde, innerhalb von 6 Monaten, nachdem die Kassationsbeschwerde geprüft wurde). Der Rechtsbehelf kann nicht gegen Beschlüsse über eine Adoption oder gegen Urteile zur Nichtigerklärung, Aufhebung oder Scheidung einer Ehe eingelegt werden (sofern mindestens eine der Parteien wieder geheiratet hat, nachdem die Entscheidung rechtskräftig geworden ist). Der außerordentliche Rechtsbehelf darf weder Bagatelldelikte noch geringfügige Steuerstraftaten betreffen; vgl. Artikel 89 Absatz 3 und Artikel 90 Absätze 3 und 4 des Gesetzes über das Oberste Gericht.

(41)  Artikel 91 Absatz 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht.

(42)  Wenn mehr als fünf Jahre vergangen sind, nachdem die angefochtene Entscheidung rechtskräftig geworden ist, und diese irreversible rechtliche Wirkungen entfaltet hat oder wenn die in der Verfassung verankerten Grundsätze oder Rechte und Freiheiten von Personen und Bürgern dies erfordern, kann sich das Oberste Gericht darauf beschränken festzustellen, dass die angefochtene Entscheidung gegen das Gesetz verstößt, und die Umstände darzulegen, die es zu dieser Feststellung veranlasst haben (vgl. Artikel 89 Absatz 4 und Artikel 115 Absatz 2 des Gesetzes über das Oberste Gericht).

(43)  Artikel 89 Absatz 2 des Gesetzes über das Oberste Gericht.

(44)  Artikel 89 Absatz 1 Nummern 1 bis 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht.

(45)  EGMR, Brumărescu/Rumänien, 28. Oktober 1999, Randnr. 61; Ryabykh/Russland, 3. März 2003, Randnrn. 54 und 57; Miragall Escolano und andere/Spanien, 25. Januar 2000, Randnr. 33; auch Phinikaridou/Zypern, 20. Dezember 2007, Randnr. 52.

(46)  Urteil vom 30. September 2003, Köbler, C-224/01, ECLI:EU:C:2003:513, Randnr. 38.

(47)  Moreira Ferreira/Portugal (Nr. 2), 11. Juli 2017 (rechtskräftig), Randnr. 62.

(48)  Stellungnahme CDL(2017)035, Randnrn. 58, 63 und 130.

(49)  Beide Grundsätze wurden vom Verfassungsgerichtshof als Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit angesehen; vgl. Urteile des Verfassungsgerichtshofs SK 7/06 vom 24. Oktober 2007 und SK 77/06 vom 1. April 2008.

(50)  Urteile SK 19/05 vom 28. November 2006 und SK 16/05 vom 14. November 2007.

(51)  Insbesondere Stellungnahmen des Obersten Gerichts vom 6. und 23. Oktober und vom 30. November 2017, Stellungnahme des Bürgerbeauftragten vom 11. November 2017 und Stellungnahme des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE vom 13. November 2017.

(52)  Artikel 74 des Gesetzes über das Oberste Gericht.

(53)  Artikel 76 Absatz 8 des Gesetzes über das Oberste Gericht. Der Präsident der Republik kann den außerordentlichen Disziplinarbeauftragten aus dem Kreis der vom Generalstaatsanwalt vorgeschlagenen Staatsanwälte ernennen, wenn die Disziplinarsache ein disziplinarrechtlich relevantes Fehlverhalten betrifft, das die Kriterien einer im Wege der öffentlichen Anklage verfolgten vorsätzlichen Straftat oder einer vorsätzlichen Steuerstraftat erfüllt.

(54)  Artikel 76 Absatz 8 des Gesetzes über das Oberste Gericht.

(55)  Nach Artikel 76 Absatz 9 des Gesetzes über das Oberste Gericht kann der Justizminister den Präsidenten der Republik über die Notwendigkeit in Kenntnis setzen, einen außerordentlichen Disziplinarbeauftragten zu ernennen, wenn ein disziplinarrechtlich relevantes Fehlverhalten vorliegt, das die Kriterien einer im Wege der öffentlichen Anklage verfolgten vorsätzlichen Straftat oder einer vorsätzlichen Steuerstraftat erfüllt. Ob diese Kriterien in einer Sache erfüllt sind, entscheiden jedoch allein der Justizminister und der Präsident der Republik, da ihre Beschlüsse zur Ernennung eines außerordentlichen Disziplinarbeauftragten nicht angefochten werden können.

(56)  Stellungnahme des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE vom 13. November 2017, Randnrn. 119-121; Stellungnahme des Obersten Gerichts vom 6. Oktober, S. 34.

(57)  Nach Artikel 108 Absätze 17 bis 19 des Gesetzes über das Oberste Gericht ist der Justizminister befugt, die Zahl der Disziplinarrichter für Richter an ordentlichen Gerichten festzusetzen und diese Disziplinarrichter zu ernennen, ohne die Justiz zu hören. Darüber hinaus kann der Justizminister Disziplinarverfahren gegen Richter an ordentlichen Gerichten über die Disziplinarbeauftragten und einen außerordentlichen Disziplinarbeauftragten des Justizministers, den er (unter bestimmten Umständen auch aus dem Kreis der Staatsanwälte) selbst ernennt, persönlich steuern. Die vom Justizminister ernannten Disziplinarbeauftragten können auf Ersuchen des Justizministers abgeschlossene Ermittlungen wieder aufnehmen.

(58)  Nach dem Gesetz findet das Gesetz über die ordentlichen Gerichte, einschließlich der Bestimmungen über die Verfahrensaspekte von Disziplinarverfahren, auf Richter am Obersten Gericht entsprechende Anwendung; vgl. Artikel 72 Absatz 1 und Artikel 108 in Verbindung mit Artikel 10 Absatz 1 des Gesetzes über das Oberste Gericht. Mit Artikel 108 des Gesetzes über das Oberste Gericht wird das Gesetz über die ordentlichen Gerichte geändert.

(59)  Artikel 108 Absatz 23 des Gesetzes über das Oberste Gericht in der Fassung des in das Gesetz über die ordentlichen Gerichte eingefügten Artikels 115c.

(60)  Wenn das Beweismittel nach Ablauf einer bestimmten Frist vorgelegt wurde; vgl. Artikel 108 Absatz 22 des Gesetzes über das Oberste Gericht.

(61)  Artikel 108 Absatz 13 Buchstabe b des Gesetzes über das Oberste Gericht.

(62)  Artikel 108 Absatz 23 des Gesetzes über das Oberste Gericht.

(63)  EGMR, Vilho Eskelinen und andere/Finnland, 19. April 2007, Randnr. 62; Olujić/Kroatien, 5. Februar 2009, Randnrn. 34-43; Harabin/Slowakei, 20. November 2012, Randnrn. 118-124; Baka/Ungarn, 23. Juni 2016, Randnrn. 100-119.

(64)  Artikel 26 und 94 des Gesetzes über das Oberste Gericht.

(65)  Artikel 134 des Gesetzes über das Oberste Gericht. Die frühere Kammer für Arbeit, soziale Sicherheit und öffentliche Angelegenheiten wird in zwei Kammern aufgespalten: die Kammer für Arbeit und soziale Sicherheit und die neue Kammer für außerordentliche Kontrolle und öffentliche Angelegenheiten. Diese neue Kammer wird aus neuen Richtern bestehen, da alle derzeitigen Richter in die Kammer für Arbeit und soziale Sicherheit versetzt werden. Die derzeitigen Richter am Obersten Gericht können ihre Versetzung in die neue Kammer beantragen.

(66)  Artikel 26 enthält eine vollständige Liste der Aufgaben dieser Kammer.

(67)  Der Präsident der Disziplinarkammer ist dem Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts gegenüber autonom, und die für diese Kammer bereitgestellten Mittel können im Vergleich zum Gesamthaushalt des Obersten Gerichts erheblich erhöht werden; vgl. Artikel 7 Absätze 2 und 4 sowie Artikel 20 des Gesetzes über das Oberste Gericht.

(68)  Bis alle Richter am Obersten Gericht in der Disziplinarkammer ernannt sind, können nach Artikel 131 des Gesetzes über das Oberste Gericht andere Richter am Obersten Gericht nicht auf einen Posten in dieser Kammer versetzt werden.

(69)  Artikel 27 des Gesetzes über das Oberste Gericht enthält eine vollständige Liste der Aufgaben der Disziplinarkammer.

(70)  Stellungnahme CDL(2017)035, Randnr. 92.

(71)  Stellungnahme CDL(2017)035, Randnr. 43.

(72)  Artikel 61 Absatz 2 des Gesetzes über das Oberste Gericht.

(73)  Stellungnahme CDL(2017)035, Randnr. 67.

(74)  Artikel 186 Absatz 1 der polnischen Verfassung: „Der Landesrat für Gerichtswesen schützt die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter.“

(75)  So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Zusammenhang mit von einem Justizrat geführten Disziplinarverfahren gegen Richter Bedenken wegen der Einflussmöglichkeiten der Legislative und der Exekutive geäußert, da diese die Mehrzahl der Mitglieder des Rates direkt ernannt hatten; EGMR, Ramos Nunes de Carvalho e Sá/Portugal, 55391/13, 57728/13 und 74041/13, 21. Juni 2016, Randnr. 77.

(76)  Die Amtszeit der derzeitigen richterlichen Mitglieder endet am Tag vor Beginn der gemeinsamen Amtszeit der neuen richterlichen Mitglieder des Rates, spätestens jedoch 90 Tage nach Inkrafttreten des Gesetzes. Vorgesehen ist folgender Zeitplan: Innerhalb von drei Tagen nach Veröffentlichung des Gesetzes kündigt der Sejmmarschall den Beginn des Benennungsverfahrens an. Innerhalb von 21 Tagen nach dieser Ankündigung legen die befugten Stellen (Gruppen von mindestens 25 Richtern oder 2 000 Bürgern) dem Sejmmarschall die Namen von Kandidaten für die Posten der richterlichen Mitglieder des Rates vor. Nach Ablauf dieser 21 Tage übermittelt der Sejmmarschall die Kandidatenliste den Parlamentsfraktionen, die innerhalb von sieben Tagen bis zu neun Kandidaten von dieser Liste vorschlagen können. Dem schließt sich das Ernennungsverfahren nach den regulären Bestimmungen an (siehe unten); vgl. Artikel 6 und 7 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen und Artikel 1 Absätze 1 und 3 in der Fassung der eingefügten Artikel 11a und 11d des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen.

(77)  Randnr. 27; siehe auch Buchstabe C Ziffer ii des Aktionsplans des Europarats von 2016, Randnr. 27 der Stellungnahme Nr. 10 des CCJE zum Rat für das Justizwesen im Dienste der Gesellschaft und Abschnitt 2.3 der ENCJ-Standards im Bericht „Councils for the Judiciary“ 2010/11.

(78)  In der Verfassung ist vorgesehen, dass der Landesrat für Gerichtswesen aus Mitgliedern von Amts wegen (dem Ersten Präsidenten des Obersten Gerichts, dem Justizminister, dem Präsidenten des Obersten Verwaltungsgerichts und einer vom Präsidenten der Republik berufenen Person) und gewählten Mitgliedern besteht. Die gewählten Mitglieder setzen sich aus vier vom Sejm gewählten Abgeordneten, zwei vom Senat gewählten Senatoren und 15 Richtern (die aus der Mitte der Richter des Obersten Gerichts, der ordentlichen Gerichte sowie der Verwaltungs- und Militärgerichte gewählt worden sind) zusammen.

(79)  Artikel 1 Absatz 3 des Gesetzes über den Landesrat für Gerichtswesen, mit dem Artikel 11a Absätze 2 und 3 eingefügt wird; es wird darauf hingewiesen, dass jede Gruppe (von Richtern oder Bürgern) mehr als einen Kandidaten benennen kann.

(80)  Wenn die Parlamentsfraktionen insgesamt weniger als 15 Kandidaten benennen, wählt das Präsidium des Sejm sie aus und stellt eine Liste mit 15 Kandidaten auf, die dann dem Ausschuss des Sejm übermittelt wird; vgl. Artikel 1 Absatz 3, mit dem Artikel 11c und Artikel 11d Absätze 1 bis 4 eingefügt werden.

(81)  EGMR, Morice/Frankreich, 29369/10, 23. April 2015, Randnr. 78; Zypern/Türkei, 25781/94, 10. Mai 2001, Randnr. 233.

(82)  Stellungnahme CDL(2017)035, Randnr. 130.

(83)  Stellungnahme CDL(2017)035, Randnr. 31.