32000E0055

2000/55/GASP: Gemeinsamer Standpunkt des Rates vom 24. Januar 2000 - vom Rat aufgrund von Artikel 15 des Vertrags über die Europäische Union angenommen - zu Afghanistan

Amtsblatt Nr. L 021 vom 26/01/2000 S. 0001 - 0003


GEMEINSAMER STANDPUNKT DES RATES

vom 24. Januar 2000

- vom Rat aufgrund von Artikel 15 des Vertrags über die Europäische Union angenommen - zu Afghanistan

(2000/55/GASP)

DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION -

gestützt auf den Vertrag über die Europäische Union, insbesondere auf Artikel 15,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1) Der Konflikt in Afghanistan hat unsägliches Leid über das afghanische Volk gebracht und bedroht die Stabilität der Region und ihre wirtschaftliche Entwicklung.

(2) Aufgrund des Krieges haben sich Terrorismus und unerlaubte Drogen über die Grenzen Afghanistans hinaus ausgebreitet; sie fügen den Mitgliedstaaten der Union und anderen Ländern erheblichen Schaden zu.

(3) Es ist nach wie vor ein beträchtlicher Zustrom von Flüchtlingen aus dem kriegsbetroffenen Afghanistan in die Union zu verzeichnen.

(4) Die Union ist entschlossen, bei den Bemühungen zur Beendigung der Kämpfe und zur Wiederherstellung von Frieden, Stabilität und Achtung des Völkerrechts einschließlich der Menschenrechte in Afghanistan eine effektive Rolle zu spielen.

(5) Die Union erinnert die kriegführenden Parteien daran, daß sie letztendlich die Verantwortung für eine politische Lösung des Konflikts tragen, die zu einem dauerhaften Frieden in Afghanistan führen kann und die Einsetzung einer über eine breite Basis verfügenden repräsentativen Regierung ermöglicht.

(6) Die Union hält es für dringend geboten, daß alle Länder, die Einfluß auf die Beteiligten haben, diesen Einfluß zur Unterstützung der Friedensbemühungen der Vereinten Nationen und in enger Abstimmung mit diesen Bemühungen der Vereinten Nationen ausüben und daß die sich bekriegenden Gruppierungen keine Lieferungen von Waffen, Munition und sonstigem Material für militärische Zwecke von außerhalb des Landes mehr erhalten und der Mitwirkung von ausländischen militärischen, paramilitärischen und Geheimdienstkräften ein Ende bereitet wird.

(7) Die Union mißt der Einhaltung des Völkerrechts und der Menschenrechte, einschließlich des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, größte Bedeutung bei und verurteilt die anhaltende Geschlechterdiskriminierung in Afghanistan.

(8) Die Union ist tief besorgt angesichts der Berichte über Massaker an unschuldigen Zivilisten und deren Zwangsvertreibung, über die Hinrichtungen von Kriegsgefangenen, ethnisch motivierte Verfolgungen und Hinrichtungen und über Einschüchterung und Ermordung afghanischer Emigranten.

(9) Die Union ist ebenso besorgt über Berichte aus der Schomali-Ebene über das Abbrennen von Häusern und Ernten sowie die absichtliche Zerstörung der landwirtschaftlichen Infrastruktur.

(10) Die Union hat am 15. November 1999 den Gemeinsamen Standpunkt 1999/727/GASP über restriktive Maßnahmen gegen die Taliban(1) zur Umsetzung der Resolution 1267/99 des VN-Sicherheitsrates vom 15. Oktober 1999 festgelegt.

(11) Dieser Gemeinsame Standpunkt soll den Gemeinsamen Standpunkt 99/73/GASP vom 25. Januar 1999 zu Afghanistan(2) ersetzen; letzterer ist somit aufzuheben -

HAT FOLGENDEN GEMEINSAMEN STANDPUNKT FESTGELEGT:

Artikel 1

Die Union verfolgt in Afghanistan folgende Ziele:

a) Herbeiführung eines dauerhaften Friedens in Afghanistan, Beendigung der ausländischen Intervention und Förderung des innerafghanischen Dialogs, insbesondere durch Unterstützung der zentralen Rolle der Vereinten Nationen;

b) Förderung von Stabilität und Entwicklung in der gesamten Region durch Herstellung des Friedens in Afghanistan;

c) Förderung der Achtung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Frauen und Kinder;

d) Bereitstellung wirksamer humanitärer Hilfe sowie von Maßnahmen, mit denen im Rahmen der internationalen Koordinierung der Hilfe sichergestellt wird, daß diese im Einklang mit den internationalen humanitären Grundsätzen und einer unparteiischen Bedarfsevaluierung geleistet wird;

e) verstärkter Kampf gegen unerlaubte Drogen und Terrorismus;

f) Unterstützung für friedensschaffende Maßnahmen und - sobald eine dauerhafte Friedensregelung erreicht ist - den Wiederaufbau des Landes nach Jahren des Bürgerkrieges.

Artikel 2

Im Hinblick auf die Unterstützung der Friedensbemühungen der Vereinten Nationen, wie sie mit der Resolution 203 A und B der VN-Generalversammlung vom 18. Dezember 1998 bestätigt wurden, verfährt die Union weiterhin wie folgt:

a) Sie unterstützt die Arbeit der VN-Sondermission in Afghanistan (UNSMA), einschließlich ihrer für Zivilangelegenheiten zuständigen Gruppe, und wird zum Ausbau dieser Tätigkeiten beitragen.

b) Sie unterstützt die umfassenden Bemühungen des VN-Generalsekretärs und seines Sonderbeauftragten für Afghanistan und insbesondere die Wiederaufnahme der Mission des Sonderbeauftragten, sobald die Umstände dies zulassen.

c) Sie appelliert an alle Länder, die Einfluß auf die Parteien in Afghanistan haben, diesen Einfluß zur Unterstützung der Friedensbemühungen der Vereinten Nationen und in enger Abstimmung mit diesen Bemühungen konstruktiv auszuüben.

d) Sie ruft die kriegführenden Parteien dazu auf, ihren Verpflichtungen nachzukommen, die in der von beiden Parteien am 20. Juli 1999 unterzeichneten Erklärung von Taschkent über die Grundprinzipien für eine friedliche Beilegung des Konflikts in Afghanistan niedergelegt sind.

e) Sie fordert die Taliban auf, sich an die von ihnen unterzeichneten Vereinbarungen mit den Vereinten Nationen über die Sicherheit des VN-Personals zu halten.

f) Sie trägt dem Bericht des VN-Vollmachtenprüfungsausschusses über die Vertretung Afghanistans bei den Vereinten Nationen Rechnung.

g) Sie wird an dem mit dem Gemeinsamen Standpunkt 96/746/GASP(3) verhängten Embargo gegen die Ausfuhr von Waffen, Munition und militärischer Ausrüstung nach Afghanistan festhalten und andere Länder ersuchen, eine ähnlich restriktive Politik zu verfolgen.

h) Sie fordert die betroffenen Länder auf, den Tätigkeiten von in ihren Diensten stehenden militärischen, paramilitärischen und Geheimdienstkräften in Afghanistan ein Ende zu bereiten und jede sonstige Unterstützung für die an dem Konflikt in Afghanistan beteiligten Parteien, einschließlich der Nutzung ihrer eigenen Gebiete für diese Zwecke, einzustellen.

Ferner wird die Union wie folgt verfahren:

i) Sie wird weiterhin Kontakte zu den afghanischen Parteien und führenden afghanischen Persönlichkeiten unterhalten, um die Sinnlosigkeit und die schwerwiegenden, nicht hinnehmbaren Auswirkungen der anhaltenden Kämpfe auf die Bevölkerung deutlich zu machen, und eine sofortige Einstellung der Kämpfe sowie die Aufnahme von Verhandlungen unter der Schirmherrschaft der VN über eine politische Lösung einschließlich der Einsetzung einer Regierung verlangen, die über eine breite Basis verfügt und alle Bevölkerungsgruppen repräsentiert.

j) Sie wird die Bemühungen einflußreicher afghanischer Persönlichkeiten und Organisationen - etwa im Rahmen des sogenannten "Frankfurt-Prozesses" und des in Rom geführten "Loya Jirga"-Prozesses des ehemaligen Königs Sahir Schah - zur Herstellung eines innerafghanischen Dialogs genau verfolgen und fördern.

k) Sie wird weiterhin gegenüber allen Ländern, die Einflußmöglichkeiten in Afghanistan besitzen, deutlich machen, welche Bedeutung die Union einer raschen Beilegung des Konflikts unter der Schirmherrschaft der VN beimißt, und diese Länder dringend ersuchen, den Vereinten Nationen jedwede Unterstützung zu gewähren.

Artikel 3

Um die Achtung der Menschenrechte, der Grundfreiheiten und des humanitären Völkerrechts zu fördern, wird die Union wie folgt verfahren:

a) Sie wird an alle Parteien appellieren, die Menschenrechte und die Grundfreiheiten insgesamt, einschließlich des Rechts auf Leben, Freiheit und persönliche Sicherheit, anzuerkennen, zu schützen und zu fördern und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu achten, die auch Afghanistan unterzeichnet hat.

b) Sie wird die politischen Gruppierungen Afghanistans nachdrücklich ersuchen, ihre diskriminierende Politik aufzugeben und die Gleichberechtigung und die Würde von Männern und Frauen, einschließlich ihres Rechts auf Zugang zu den Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, auf Beschäftigung, persönliche Sicherheit und Schutz vor Einschüchterung und Belästigung, anzuerkennen, zu schützen und zu fördern; ferner wird sie darauf hinweisen, welche negativen Auswirkungen diskriminierende Politiken auf eine effiziente Hilfeleistung haben.

c) Sie wird die Vorschläge des VN-Generalsekretärs für einen alsbaldigen Einsatz von zivilen Menschenrechtsbeobachtern in der für Zivilangelegenheiten zuständigen UNSMA-Gruppe unterstützen.

d) Sie wird bei der internationalen Koordinierung der humanitären Hilfe für Afghanistan den Menschenrechtsfragen besondere Bedeutung beimessen.

e) Sie wird Hilfsprogramme in Afghanistan unterstützen, die die Aspekte der Gleichstellung von Männern und Frauen berücksichtigen, aktiv eine ausgewogene Teilnahme von Männern und Frauen verfolgen und den Frieden und die Menschenrechte fördern.

f) Sie wird alle Gruppierungen dringend auffordern, das Kulturerbe Afghanistans zu achten und zu schützen.

Artikel 4

Zur Unterstützung der leidenden Zivilbevölkerung in Afghanistan wird die Union

a) Afghanistan weiterhin humanitäre Hilfe zur Verfügung stellen, soweit die Umstände dies erlauben;

b) die einander bekriegenden Gruppierungen auffordern, die Bewegungsfreiheit des nationalen und internationalen humanitären Hilfspersonals und den freien und sicheren Zugang dieser Kräfte zu allen Hilfsbedürftigen ohne Beschränkungen aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit, der Rasse, der Religion oder der Staatsangehörigkeit sicherzustellen und mit den humanitären Hilfsorganisationen uneingeschränkt und ehrlich zusammenzuarbeiten, damit die humanitären Bedürfnisse des afghanischen Volkes befriedigt werden können;

c) die nationalen und internationalen Bemühungen hinsichtlich des Minenproblems, die eine wichtige Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung sind, weiterhin unterstützen;

d) die einander bekriegenden Gruppierungen auffordern, keine weiteren Landminen zu verlegen, und gleichzeitig hervorheben, daß die Union die politische Linie vertritt, in Gebieten, in denen weiterhin Minen verlegt werden, keine Minenräumungsarbeiten zu finanzieren;

e) die Wirksamkeit der Hilfe durch eine engere internationale Koordinierung der Geber, insbesondere über die Unterstützungsgruppe für Afghanistan und das Programmplanungsgremium für Afghanistan, verbessern;

f) darauf hinwirken, daß die Friedensbemühungen der Vereinten Nationen und die Hilfsanstrengungen eng aufeinander abgestimmt werden und sich gegenseitig ergänzen, wie dies in dem gemeinsamen strategischen Rahmen der internationalen Gebergemeinschaft und der VN-Organisationen vorgesehen ist;

g) sicherstellen, daß die Hilfe seitens der Union entsprechend dem von der Gebergemeinschaft und den VN-Organisationen beschlossenen gemeinsamen strategischen Rahmen geleistet wird, und so auf eine effizientere gemeinsame Programmplanung für Afghanistan hinzuwirken.

Artikel 5

Im Hinblick auf die Drogenbekämpfung wird die Union

a) ihre Kontakte zu den politischen Gruppierungen und den Ländern, die Einfluß auf diese Gruppierungen haben, dazu nutzen, um auf die Besorgnisse der Union angesichts der starken Zunahme der unerlaubten Drogenproduktion und des Drogenhandels in Afghanistan hinzuweisen, durch die die Stabilität der Region bedroht wird und die Gesundheit und das Wohlergehen der Bevölkerung in Afghanistan, den Nachbarstaaten und anderen Ländern Schaden nimmt, und deutlich zu machen, daß die Union bei der Entscheidung über eine Beteiligung an der Entwicklungshilfe zum Wiederaufbau Afghanistans nach einer Einigung über eine dauerhafte Friedensregelung den Aspekt der Drogenbekämpfung berücksichtigen wird;

b) die Hilfsorganisationen ersuchen, bei der Planung und Durchführung von Vorhaben den Zielen der Drogenbekämpfung dadurch Rechnung zu tragen, daß sie berücksichtigen, wie sich die Projekte auf den Anbau, die Produktion, den Handel und den Mißbrauch von Drogen auswirken;

c) eine dauerhafte alternative Entwicklung als wichtige Komponente einer ausgewogenen und umfassenden Drogenbekämpfungsstrategie unterstützen. Alternative Entwicklungsprogramme sollten an die spezifischen Gegebenheiten in Afghanistan angepaßt werden, die Menschenrechte beachten und geschlechterspezifische Aspekte miteinbeziehen, indem Frauen und Männer in die Lage versetzt werden, in gleicher Weise am Entwicklungsprozeß teilzunehmen. Strafverfolgungsmaßnahmen sind eine notwendige Ergänzung zu diesen Programmen;

d) alle kohärenten Bemühungen, einschließlich der Bemühungen im Rahmen des Drogenkontrollprogramms der Vereinten Nationen (UNDCP), fördern, die auf eine wesentliche Verringerung der Produktion, des Handels und des Mißbrauchs von Drogen in Afghanistan abzielen; ferner stellt sie fest, daß der Durchführung der Gemeinschaftsvorhaben zur Unterstützung der Drogeninitiative der Union in Zentralasien große Bedeutung zukommt.

Artikel 6

Die Union verurteilt den Terrorismus in allen seinen Erscheinungsformen, wo und wann immer auch Terrorakte verübt werden. Damit bei der Bekämpfung des Terrorismus Fortschritte erzielt werden, wird die Union

a) alle afghanischen Parteien auffordern, terroristische Organisationen weder zu finanzieren noch auszubilden noch solchen Organisationen Unterschlupf zu gewähren und auch in keiner anderen Weise terroristische Tätigkeiten zu unterstützen;

b) die afghanischen Behörden auffordern, die Ausbildungslager für ausländische Terroristen in Afghanistan zu schließen und die erforderlichen Schritte zu unternehmen, damit die für terroristische Anschläge Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden;

c) an die Taliban appellieren, der Entschließung 1267/99 des VN-Sicherheitsrates vom 15. Oktober 1999 uneingeschränkt und unverzüglich nachzukommen.

Artikel 7

Der Rat nimmt davon Kenntnis, daß die Kommission die Absicht hat, auf die Verwirklichung der Ziele und Prioritäten dieses Gemeinsamen Standpunkts, gegebenenfalls mit geeigneten Gemeinschaftsmaßnahmen, hinzuwirken.

Artikel 8

Der Gemeinsame Standpunkt 99/73/GASP wird aufgehoben.

Artikel 9

Dieser Gemeinsame Standpunkt gilt ab dem Zeitpunkt seiner Annahme.

Er wird spätestens zwölf Monate nach seiner Annahme überprüft.

Artikel 10

Dieser Gemeinsame Standpunkt wird im Amtsblatt veröffentlicht.

Geschehen zu Brüssel am 24. Januar 2000.

Im Namen des Rates

Der Präsident

J. GAMA

(1) ABl. L 294 vom 16.11.1999, S. 1.

(2) ABl. L 23 vom 30.1.1999, S. 1.

(3) ABl. L 342 vom 31.12.1996, S. 1.