31976D0642

76/642/EWG: Entscheidung der Kommission vom 9. Juni 1976 betreffend ein Verfahren nach Artikel 86 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (IV/29.020 - Vitamine) (Nur der deutsche Text ist verbindlich)

Amtsblatt Nr. L 223 vom 16/08/1976 S. 0027 - 0038


ENTSCHEIDUNG DER KOMMISSION vom 9. Juni 1976 betreffend ein Verfahren nach Artikel 86 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (IV/29.020 - Vitamine) (Nur die deutsche Fassung ist verbindlich) (76/642/EWG)

DIE KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN -

gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, insbesondere auf Artikel 86,

gestützt auf die Verordnung Nr. 17 vom 6. Februar 1962 (1), insbesondere auf die Artikel 1, 3, 15 und 16,

gestützt auf den Beschluß der Kommission vom 16. Juli 1975, von Amts wegen ein Verfahren nach Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 gegen die Gruppe Hoffmann-La Roche einzuleiten, deren Muttergesellschaft ihren Sitz in Basel (Schweiz) hat, (im folgenden "Roche" genannt),

nach Anhörung von Roche gemäß Artikel 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 in Verbindung mit der Verordnung Nr. 99/63/EWG (2), vom 25.7.1963,

im Hinblick auf die vom Beratenden Ausschuß für Kartell- und Monopolfragen am 17. Dezember 1975 gemäß Artikel 10 der Verordnung Nr. 17 abgegebene Stellungnahme,

in Erwägung nachstehender Gründe: I. Sachverhalt

(1) Der Sachverhalt stellt sich im wesentlichen wie folgt dar:

Die vorliegende Entscheidung betrifft bestimmte Verträge, die Roche mit den folgenden Unternehmen, alle als Hersteller und Verkäufer im Gemeinsamen Markt tätig, abgeschlossen hat.

Afico (Société d'assistance technique pour produits Nestlé), (für die Nestlé-Gruppe), La Tour de Peilz, Schweiz;

American Cyanamid Company, Wayne, N.J., USA;

Animedica International GmbH, Frankfurt am Main, Bundesrepublik Deutschland;

Beecham Group Ltd., Brentford, Vereinigtes Königreich;

Capsugel S.A. (für die Parke Davis-Gruppe), Basel, Schweiz;

Dawe's Laboratories, St. Nicolas, Belgien;

Guyomarc'h, Paris, Frankreich;

Isaac Spencer & Co Ltd., Aberdeen, Vereinigtes Königreich;

Merck, Darmstadt, Bundesrepublik Deutschland;

Nitrovit Ltd., Dalton, Vereinigtes Königreich;

Organon NV, Oß, Niederlande;

Pauls and Whites Foods Ltd., Ipswich, Vereinigtes Königreich;

Protector S.A., Anderlecht, Belgien;

Provimi (Bonda's Veevöderfabriek Provimi B.V.), Rotterdam, Niederlande;

RADAR NV, Astene, Belgien; (1)ABl. Nr. 13 vom 21.2.1962, S. 204/62. (2)ABl. Nr. 127 vom 20.8.1963, S. 2268/63.

Ralston Purina Europe, Brüssel, Belgien;

Ramikal Werk, Hamburg, Bundesrepublik Deutschland;

Sandoz AG, Basel, Schweiz

Trouw & Co. NV, International, Putten, Niederlande;

Unilever Inkoop Mij. NV, Rotterdam, Niederlande;

Upjohn International Inc., Kalamazoo, Mich., USA;

Wyeth International Limited, Philadelphia, USA. A. DER VITAMINMARKT

(2) Das vorliegende Verfahren betrifft nicht abgepackte, zu nachstehenden 13 Vitamingruppen gehörende synthetische Erzeugnisse : A, B1, B2, B6, B12, C, D, E, K, PP, Pantothensäure (B3), Biotin (H) und Folsäure (M). Jede Vitamingruppe schließt miteinander verwandte Stoffe ein, die dieselben biologischen Wirkungscharakteristiken aufweisen. Dabei hat jede Vitamingruppe spezifische stoffwechselwirksame Funktionen, so daß eine Gruppe nicht mit einer anderen Gruppe austauschbar ist. Ausserdem können sich bei Verwendung verschiedener Vitamingruppen nebeneinander synergetische und komplementäre Effekte ergeben.

Der Mangel an Vitaminen einer bestimmten Gruppe kann bestimmte, in der Medizin bekannte Krankheiten oder Störungen auslösen.

Vitamine werden haptsächlich in folgenden Bereichen verwendet: a) Im therapeutischen Bereich, dem ältesten Verwendungsbereich. Die Vitamine werden entweder einzeln oder in Polyvitaminen oder nebeneinander mit anderen Arzneimitteln verwendet (z.B. antibakterielle Medikamente und Antibiotika mit Vitaminbeigabe).

b) Im Lebensmittelsektor : Hier werden Vitamine vor allem bei der Herstellung solcher Lebensmittel verwendet, die im Zuge von Verarbeitungsprozessen ihre ursprünglich vorhandenen Vitamine ganz oder teilweise eingebüsst haben (Beispiel : Margarine, Milch, Butter und Schokolade).

c) Im Futtermittelsektor : Hier dienen die Vitamine dazu, vor allem bei den Tieren, die in industriell ausgerichteten Betrieben aufgezogen werden, den Ernährungshaushalt im Gleichgewicht zu halten.

Die Nutzung der Vitamine verteilt sich auf die drei Hauptverwendungsbereiche wie folgt: - Arzneimittel : 25 %

- Lebensmittel : 15 %

- Futtermittel : 60 %.

Auf Grund ihrer stoffwechselwirksamen Charakteristiken kann jede Vitamingruppe in den drei vorerwähnten Bereichen einen ständig vorhandenen Bedarf decken, der durch andere Erzeugnisse, insbesondere durch Vitamine anderer Gruppen, nicht gedeckt werden kann.

Die Produktions- und Angebotsstruktur

(3) Die zwischen 1930 und 1940 aufgenommene synthetische Herstellung der einzelnen Vitamine bereitet wissenschaftlich gesehen keine besonderen Schwierigkeiten. Dagegen erfordert die synthetische Herstellung im industriellen Rahmen bedeutende Investitionen. Da der Herstellungsprozeß für jede Vitamingruppe überwiegend spezifischer Art ist, werden jeweils spezielle Anlagen benötigt. Anlagen zur Herstellung einer Vitamingruppe können daher nicht zur Erzeugung anderer Vitamingruppen verwendet werden, und die Umstellung auf eine andersgeartete Vitaminproduktion ist schwierig. Wegen der Höhe der hier notwendigen Investitionen richtet sich die Kapazität der Werke für die meisten Vitamine normalerweise nach dem in einem Zeitraum von zehn Jahren zu erwartenden Anstieg des Bedarfs (vgl. Bericht über die am 11. Dezember 1972 in London abgehaltene Sitzung Unilever-Roche).

Eine Folge der im Zuge langfristiger Planung errichteten neuen Produktionsstätten sind weltweite Überkapazitäten im Vitaminbereich. Lediglich bei den Vitaminen B2 und C war 1971 und 1972 eine gewisse Versorgungsmangellage zu verzeichnen.

Der Vitaminmarkt ist sehr expansiv. Das Absatzvolumen hat sich in den letzten 15 Jahren verfünffacht.

In der Gemeinschaft erreichte der Vitaminabsatz 1974 wertmässig annähernd 110 245 000 Rechnungseinheiten. Der Anteil der Verkäufe innerhalb der Gemeinschaft an diesem Absatz beläuft sich auf mehr als die Hälfte, wie aus der nachstehenden Tabelle hervorgeht.

>PIC FILE= "T0008996"> (4) Die zur Vitaminherstellung erforderlichen Investitionen können nur von grossen pharmazeutischen Unternehmensgruppen vorgenommen werden. Diese Gruppen verfügen auch über ein sehr umfassendes Vertriebsnetz, das die Voraussetzung für den reibungslosen Absatz der Produktion bildet ; die Unternehmen wenden sich im allgemeinen unmittelbar an die Kunden aus den erwähnten drei Bereichen.

Die wichtigsten innerhalb des Gemeinsamen Marktes tätigen Hersteller nicht abgepackter Vitamine werden in der folgenden Übersicht aufgeführt ; dabei werden neben den von ihnen hergestellten Vitamingruppen auch die Vitamingruppen angegeben, über die sie nur als Wiederverkäufer verfügen. >PIC FILE= "T0008997">

Aus der vorstehenden Übersicht ist zu entnehmen, daß das Produktionsprogramm von Roche mit Abstand die grösste Zahl von Vitamingruppen umfasst, mit Ausnahme von Philips-Duphar, dessen Produktion bei bestimmten Vitamingruppen jedoch praktisch bedeutungslos ist.

Berücksichtigt man ferner die Vitamine, die Roche nicht selbst herstellt, sondern nur als Wiederverkäufer absetzt, so ist sie das einzige Unternehmen, das die ganze Vitaminpalette zum Verkauf anbietet.

(5) Roche ist der grösste Vitaminhersteller der Welt. Ihre Marktanteile innerhalb des Gemeinsamen Marktes erreichen bei Zugrundelegung des Umsatzes der einzelnen Hersteller etwa folgende Höhe:

Von Roche hergestellte Vitamine

Vitamin A : 47 v.H. ; auf den zweitgrössten Hersteller entfällt nur etwas mehr als die Hälfte dieses Anteils.

Vitamin B1 : 50 v.H. ; der restliche Marktanteil liegt praktisch in den Händen des zweitgrössten Herstellers.

Vitamin B2 : 86 v.H. ; der restliche Marktanteil verteilt sich auf mehrere Hersteller.

Vitamin B6 : 95 v.H.

Vitamin C : 68 v.H. ; der Marktanteil des zweitgrössten Herstellers beläuft sich auf weniger als ein Viertel des Marktanteils von Roche.

Vitamin E : 70 v.H. ; der Marktanteil des zweitgrössten Herstellers beträgt weniger als ein Drittel des Marktanteils von Roche.

Biotin (H) : 95 v.H.

Pantothensäure : 64 v.H.

Von Roche weiterverkaufte Vitamine

Vitamin B12 : 13 v.H.

Vitamin D : 10 v.H.

Vitamin PP : 68 v.H.

Folsäure : 47 v.H.

Vitamin K : 10 v.H.

Unter Zugrundelegung des Umsatzes 1974 im Gemeinsamen Markt bei allen von ihr hergestellten Vitaminen betrug der Marktanteil von Roche 65 v.H. Bezogen auf sämtliche von Roche zum Verkauf angebotenen Vitamine belief er sich auf 60 v.H.

(6) Hoffmann-La Roche, Basel, steht an der Spitze einer multinationalen Gruppe, die auf Grund ihres Umsatzes die grösste pharmazeutische Unternehmensgruppe der Welt ist (1974 erzielter Umsatz : 5 050 000 000 sfrs). Innerhalb des Gemeinsamen Marktes sind im Vitaminbereich nachstehende Tochtergesellschaften der Gruppe tätig:

Belgien:

Produits Roche S.A., Brüssel : Vertriebsunternehmen

Niederlande:

Hoffmann-La Roche, Rotterdam : Vertriebsunternehmen

Bundesrepublik Deutschland:

Hoffmann-La Roche, Grenzach : Herstellung und Vertrieb (umsatzstärkste Niederlassung in der EWG ; liegt nach Basel an zweiter Stelle)

Italien:

Produits Roche : Vertrieb von Arzneimittel

Istituto delle vitamine : Vormischung von Vitaminen und Spezialitäten der Tierheilkunde

Frankreich:

Produits Roche, Neuilly : Vertriebsunternehmen sowie Herstellung von Biotin (H)

Großbritannien:

Roche Products Ltd. : Vertriebsunternehmen sowie Herstellung der Vitamine B1 und B2 und von Pantothenat

Dänemark:

Roche A/S : Vertriebsunternehmen.

Roche verfügt damit auf internationaler Ebene über stark aufgefächerte Produktionsstätten.

(7) In den Jahren nach 1930 hat Roche nach Erwerb eines Verfahrens zur Herstellung von Vitamin C bei der synthetischen Erzeugung mehrerer Vitamine durch Entwicklung neuer Produktionsverfahren (u.a. zur Herstellung der Vitamine A, B1, B2, B6, E, Biotin (H) und Pantothenat) Pionierarbeit geleistet. Zur Herstellung anderer Vitamine hat Roche Lizenzen erworben. Roche hat ferner bei der Einführung von Vitaminen im Lebensmittelsektor (Zusatz von Vitamin A bei Margarine) zusammen mit seinem Kunden Unilever eine führende Rolle gespielt ; so hat Roche zur Produktion von Vitamin A ein ganz den Ansprüchen dieses Kunden Rechnung tragendes Werk erstellt.

(8) Obwohl die Patente zur Herstellung von Vitaminen erloschen sind, verfügt Roche gegenüber seinen Konkurrenten immer noch über einen technologischen Vorsprung, der erkennbar ist an der jüngsten Entwicklung bei der industriellen Verwendung von Vitamin C (Antioxydans, Ferment für Brauereien usw.), der Vitaminbeigabe in Spezialarzneimitteln der Tierheilkunde und bei den Vorarbeiten für neue Mischungen für Tiere. Der Vorsprung äussert sich auch noch in einem erstklassigen und sehr versierten technischen Service in Form von Kundeninformation, technischer Hilfe bei der Lösung von Problemen im Zusammenhang mit der Verwendung der Erzeugnisse, besonders mit Hilfe der "Time sharing service", nämlich der Verwendung von Datenverarbeitungsanlagen, die für die Unternehmen des Futtermittelsektors Programme für die Verwendung der Erzeugnisse erstellt.

Darüber hinaus verfügt Roche über ein sehr umfassendes, spezielles Vertriebsnetz sowie über hohe örtliche Lagerbestände, so daß sie zuverlässig und schnell stets frische Erzeugnisse liefern kann.

Ausserdem wird in den Vitaminkatalogen von Roche ausgeführt : "In the development of the industrial production of synthetic vitamins, Roche has been playing a leading role and is the largest manufacturer in this field". Weiter heisst es : "Constant improvement of manufacturing methods and strict analytical control justify that Roche is known throughout the world for quality and service".

Nachfragestruktur

(9) Als Käufer nicht abgepackter Vitamine treten Unternehmen der Arzneimittel-, Lebensmittel- und Futtermittelherstellung auf, die die Vitamine anderen Erzeugnissen zusetzen. Die Vitaminnachfrage ist sehr breit gestreut. So werden Vitamine nicht nur an Grossabnehmer oder multinationale Unternehmensgruppen der vorerwähnten drei Bereiche, sondern auch - hier allerdings in geringeren Mengen - an kleinere und mittlere Unternehmen (Brotfabriken und Laboratorien aller Art) sowie an Handwerksbetriebe (z.B. Bäckereien) abgegeben.

Innerhalb des Gemeinsamen Marktes hat Roche ca. 5 000 in den drei Bereichen tätige Kunden.

Hauptinteressenten im Rahmen der Nachfrage, auf die sich der Wettbewerb konzentriert, sind jedoch die Grossabnehmer und multinationalen Unternehmensgruppen. Aus der Untersuchung der Kommission und den Rundschreiben der Firma Roche ergibt sich, daß die Grossabnehmer bei der Deckung ihres Vitaminbedarfs vorzugsweise mindestens zwei oder drei Lieferanten grössere Aufträge erteilen.

(10) Die Unternehmen, die mit Roche die nachstehend beschriebenen "Treueverträge" abgeschlossen haben, sind überwiegend bedeutende Kunden von Roche und gehören zu den Hauptabnehmern von Vitaminen. Bis auf einige wenige Ausnahmen kaufen sie von Roche auf Grund dieser Verträge die gesamte von ihr hergestellte Vitaminpalette und decken ihren Bedarf ganz oder grösstenteils bei Roche. Die Unternehmen verteilen sich wie folgt auf die bereits erwähnten drei Tätigkeitsbereiche:

Arzneimittel

Beecham, Capsugel (Parke-Davis), American Cyanamid Company, Merck, Sandoz, Upjohn und Wyeth.

Lebensmittel

Afico (Nestlé), Nitrovit (Imperial Food Limited), Pauls and Whites Foods Limited, Isaac Spencer and Unilever.

Futtermittel

Animedica, Dawe's, Guyomarc'h, Organon (Akzo), Protector, Provimi (Central Soya), Radar, Ralston Purina, Ramikal Werk und Trouw.

In nachstehender Übersicht sind die von vorgenannten Unternehmen 1974 von Roche bezogenen Mengen an Vitaminen aufgeführt, die Roche selbst herstellt. >PIC FILE= "T0008998">

Im Jahre 1974 beliefen sich die Vitaminkäufe der vorgenannten Kunden innerhalb des Gemeinsamen Marktes auf etwa 26 v.H. des Absatzes von Roche und auf 16 v.H. des gesamten Vitaminabsatzes.

B. DAS VON DEM VERFAHREN ERFASSTE VERHALTEN (11) Im Rahmen ihrer Marktstrategie für den Vertrieb nicht abgepackter synthetischer Vitamine hat Roche schon 1964 Vereinbarungen getroffen, die ihr die Allein- oder Vorzugsbelieferung von Kunden sichern, von denen die meisten bedeutend sind.

Diese Vereinbarungen, "Treueverträge" genannt, weisen alle folgenden wesentlichen Merkmale auf: - Die Abnehmer decken ihren Bedarf an von Roche hergestellten Vitaminen ganz oder grösstenteils bei Roche.

- Roche befriedigt die Vitaminnachfrage der Abnehmer ganz oder zum grössten Teil, wobei sie den auf dem nationalen Markt des Kunden jeweils günstigsten Preis anwendet.

- Roche zahlt den Kunden, die ihren Bedarf ganz oder überwiegend bei ihr gedeckt haben, alljährlich (mitunter auch halbjährlich) einen unter Zugrundelegung der Gesamtkäufe berechneten Rabatt (bei der Rabattkalkulation werden so die bei Roche getätigten Käufe verschiedener Vitamingruppen zusammengezählt).

- Die Rabatte sind von Kunde zu Kunde verschieden und reichen von 1 v.H. bis 5 v.H. ; eine Ausnahme bildet ein Kunde, bei dem die Rabatte zwischen 12,5 v.H. und 20 v.H. liegen.

- Eine sogenannte "englische Klausel" sieht vor, daß die Kunden Roche über ihnen von anderen bekannten Herstellern (unter Ausschluß der Händler und Vermittler) zugehende Preisangebote unterrichten, die unter denen von Roche liegen ; sollte Roche ihre Preise nicht auf das Preisniveau der anderen Angebote herabsetzen, so ist es den Kunden freigestellt, von den anderen Herstellern zu beziehen, ohne daß sie den Treuerabatt für die bei Roche getätigten Käufe verlieren.

(12) Mehrere Rundschreiben der Muttergesellschaft der Gruppe Roche an ihre Tochtergesellschaften sowie das Protokoll einer Sitzung der Roche-Direktoren bestätigen die Hauptmerkmale dieses "Treuesystems" und stellen seine Vorteile für Roche heraus.

So wird dazu in einem Rundschreiben vom Dezember 1970 folgendes ausgeführt:

"Fidelity Contracts

According to the experience of various Roche companies, fidelity contracts provide a very efficient protection against competition, especially as far as BASF are concerned. In our today's Management Information we have therefore made a special provision for such contracts and would like to give you a brief definition of their contents and short description of their advantages. A fidelity contract should cover the following points: - The customer undertakes to purchase at least 90 % of his total requirements of vitamins from Roche.

- Roche applies automatically to all purchases of customers their best price for the quantity involved. Should the customer receive a lower quotation from another vitamin manufacturer, he will give Roche the possibility to meet this quotation before he places the order with the competitor in question. Should Roche not be willing to meet the price submitted to them, the customer is free with regard to this particular purchase without losing his fidelity status. The same principle applies if Roche are unable to cover the entire requirements of the customer dü to a shortage.

- At the end of the year the customer receives a fidelity rebate on his overall purchases during the year. This rebate will be cancelled entirely if the customer has not complied with the above principle for any single vitamin required by him and manufactured by Roche.

Since the fidelity rebate is being paid at the end of the year, there is no need for a written contract in cases where customers are not favourable to such a formal way of negotiating.

The fidelity rebate can also be substituted by a turnover contract if the turnover target represents about 90 % of the customer's total requirements and is being revised at the end of each year in order to reflect the customer's increased purchasing power.

The advantages of such agreements are obvious. If a feed mill for instance is purchasing Vitamin A, E, B2, Carophyll, etc., even the most tempting offer from a competitor like BASF for Vitamin A and E alone cannot induce the customer to change its supplier, because they would otherwise lose the fidelity rebate for Carophyll and for the vitamins BASF are not manufacturing. For the same reason it is in many cases possible to make the customer accept somewhat higher prices for individual items than the one offered by the competition, because the overall deal is still favourable for him."

In einem Rundschreiben vom Mai 1971 wird herausgestellt, wie wichtig für Roche die Treue einer bestimmten Kundengruppe ist ; ferner wird auf die wichtige Rolle der Treueverträge bei der Abschirmung des Marktes hingewiesen und die Möglichkeit erörtert, zu diesem Kundenkreis noch engere Beziehungen herzustellen:

"One rather serious factor which constantly endangers our market share in the vitamin busineß is that customers, especially in Europe, tend to purchase their raw materials from at least two different manufacturers. However, if we want to retain a 65 % market share it is of cardinal importance that we build up a large circle of entirely faithful customers. In many countries we are in fact already succeßfully operating fidelity contracts. However, the question was raised whether we should now go one step further by creating an even more far-reaching relationship based on mutal confidence which resembles a genuine partnership." (1)

Ein Vitamin C betreffendes Rundschreiben vom August 1971 enthält unter anderem zur Frage der Treueverträge nachstehende allgemeinen Ausführungen:

"Fidelity Contracts

We believe that most customers have realized during the past years with its frequent shortages in the field of fine chemicals, that in the long run it is more important to have a reliable supplier than to shop around for the lowest price. The precarious Vitamin C situation, of which customers will soon become aware, provides an excellent opportunity - and possibly the last one for a long time - to convince even the most reluctant firm of the advantage for such a "partnership" between manufacturers and users of the goods ... Fidelity contracts, which are in the first place designed to give security to the customer, may therefore help you to penetrate the market with the mentioned three vitamins without a collapse of the present price levels."

In einem Rundschreiben vom September 1970 betreffend Biotin (H) teilte Roche ihren Tochtergesellschaften mit, welche Maßnahmen zu treffen seien, um einem Vordringen der Konkurrenz bei diesem Vitamin zu begegnen.

Es heisst hier unter anderem:

"In the third place, you should protect your market through fidelity contracts or other arrangements, such as giving confidential end-year rebates to premixers and feedmills who are willing to use and promote Biotin.

We hope that you will make positive use of these inevitable developments, and we shall be glad to inform you regularly about experience gained on sales progreß in other markets."

In einem Protokoll einer Sitzung der Direktoren von Roche und der ihrer Tochtergesellschaften (Versammlung der europäischen "Bulk Manager" vom 12. und 13. Oktober 1971) wirft Roche, Basel, folgende Frage auf:

"Biotin marketing policy

We trust that in the meantime you have been able to study the mentioned documents and to decide on the best course to be followed in your market, particularly concerning the expansion of biotin sales through special arrangements coupled with confidential end-year rebates to selected customers who are prepared to use and promote Roche biotin."

Die niederländische Tochtergesellschaft bemerkte hierzu:

"As far as the threat of competition intruding into our market is concerned we believe to be able to protect our present and possibly future interests in the same way as we presently do with the other vitamins, e.g. in supply agreements with customers for their total or part of their year requirements."

Nach dem gleichen Protokoll fassten mehrere andere Tochtergesellschaften ins Auge, das System der Treueverträge weiter auszubauen.

Aus diesem Protokoll ist ausserdem ersichtlich, welche Bedeutung Roche den Verträgen mit multinationalen Kunden beimaß, um auf dem Markt zu einer "Ruhe an der Preisfront" zu gelangen:

"Most Roche companies abroad have already realized the importance of the multi-national customers and have written to Basle about it. Roche Holland says e.g. "We believe it of utmost importance to further tie customers, not on a national but preferably on an international level to Roche. Instead of having to fight each time a customer wants to buy, which in most cases means an open fight on prices between three or more suppliers, international agreements might result in price quietneß over a longer period internationally."

(13) Das in Rede stehende Verhalten würde einmal verwirklicht mit Hilfe von Direktverträgen der Muttergesellschaft der Gruppe Roche mit den Muttergesellschaften von Verarbeitungsunternehmen oder Tochtergesellschaften, die für ihre Gruppe handeln. Die Verträge gelten für die Tochtergesellschaften der Gruppen, die in den einzelnen Ländern im Vitaminbereich tätig sind (hierzu gehören je nach Lage des Falles sämtliche oder einige Mitgliedsländer des Gemeinsamen Marktes). Diese Verträge, nachstehend "multinationale Verträge" genannt, fallen generell am meisten ins Gewicht, denn sie werden mit Grossabnehmern geschlossen, die zu multinationalen Gruppen gehören und gebietsmässig einen vielfältigen Bedarf haben. (1)Zu den wichtigsten Zielen einer solchen engeren Beziehung gehören die automatische Anwendung der günstigsten Preise von Roche für gleiche Mengen, die volle Deckung des Bedarfs des Kunden, verbunden mit Vorzugsbelieferung bei Verknappungserscheinungen, sowie ein kostenloser technischer Service.

Das fragliche System wird zum anderen nach allgemeinen Weisungen der Muttergesellschaft durch Direktvertrag zwischen den Tochtergesellschaften von Roche und solchen Kunden angewendet, die in den von ihnen bearbeiteten Gebieten ansässig sind. Diese Verträge werden im folgenden "nationale Verträge" genannt.

Der Umfang des mit Hilfe der Verträge gedeckten Bedarfs und der Beginn der Treuebindung sind aus folgender Übersicht zu entnehmen:

>PIC FILE= "T0008999"> >PIC FILE= "T0009000"> Die Treuebindung dauerte mindestens bis Ende 1974.

(14) Die vorstehend beschriebenen Merkmale haben wie folgt in die fraglichen 26 Verträge Eingang gefunden:

Durch einige Verträge (Dawe's, Organon, Provimi, Ralston Purina, American Cyanamid, Radar, Animedica (nationaler Vertrag), Guyomarc'h Beecham (1973), Nitrovite, Pauls and Whites und Isaac Spencer) wird der Kunde ausdrücklich verpflichtet, einen bestimmten Teil seines Bedarfs bei Roche zu decken, wobei Roche als Gegenleistung hierfür einen Rabatt gewährt und die "englische Klausel" anwendet (letztere gilt nicht im Falle von Guyomarc'h. Der Vertrag Provimi wurde am 27. November 1974 geändert ; dabei wurde der Rabatt von 5 auf 2,5 v.H. gesenkt und in eine "Delkredereprovision" umgewandelt (s. folgende Nummer).

(15) Andere Verträge (Afico (Nestlé), Capsugel (Parke Davis) und Upjohn) enthalten jeweils eine Bestimmung, wonach Roche-Basel dem Vertragspartner als Gegenleistung dafür, daß der Partner für die Zahlung der Rechnungen seitens der Tochtergesellschaften seiner Gruppe bürgt, eine "Delkredereprovision" zahlt.

Die Treueverpflichtung findet sich in den genannten Verträgen in verschiedenartiger Form. So verpflichten sich Nestlé und Upjohn ausdrücklich in bezug auf ihren gesamten Bedarf. Im Vertrag Capsugel (Parke Davis) bringen einige Tochtergesellschaften von Parke Davis ihre "Absicht" zum Ausdruck, ihren gesamten Vitaminbedarf bei Roche zu decken.

Die englische Klausel findet sich ausdrücklich in den Verträgen mit Afico (Nestlé) und Capsugel (Parke Davis).

(16) In anderen Verträgen (Animedica, Vertrag im multinationalen Rahmen, Protector, Ramikal, Sandoz, Trouw und Wyeth) wird der Rabatt in folgender Weise gewährt : Unter der "Voraussetzung" einer 80 % igen Treue (Animedica), "in der Erwartung" einer gleichen Treue (Protector), "unter der Bedingung", daß der Bedarf hauptsächlich bei Roche gedeckt wird (Ramikal), als Gegenleistung für die Verpflichtung, den Tochtergesellschaften zu "empfehlen", ihren Gesamtbedarf bei Roche zu decken (Sandoz), unter Berücksichtigung der zwischen Roche und ihrem Kunden entstandenen engen Beziehung, in der die Absicht zum Ausdruck kommt, den Grossteil des Bedarfs durch Käufe bei Roche zu decken (Trouw), sowie als Gegenleistung für die Verpflichtung, sämtliche Vitamine bevorzugt von Roche zu beziehen (Wyeth). Die englische Klausel findet sich ausdrücklich in den mit Animedica, Ramikal, Sandoz, Trouw und Wyeth geschlossenen Verträgen.

(17) Die Unilever-Gruppe hat mit Roche einen multinationalen Vertrag und einen nationalen Vertrag für das Vereinigte Königreich für Vitamin A geschlossen.

Der multinationale Vertrag wurde zwischen Roche-Basel und Unilever Inkoop (Niederlande) geschlossen ; letztgenanntes Unternehmen fungiert dabei als Einkaufszentrale und Koordinierungsstelle für die europäischen Tochtergesellschaften der Gruppe.

Auf Grund dieses Vertrages hat Roche die Unilever-Gruppe zu versorgen ; dabei ist der Umfang der Lieferungen nur annähernd beziffert und nach dem Umfang des Bedarfs festgesetzt. Der Vertrag enthält auch die englische Klausel. Ein Rabatt ist hier zwar nicht ausdrücklich vorgesehen, doch haben Roche-Basel und Unilever Inkoop einen Sonderpreis vereinbart, der niedriger ist als der Preis, den die Tochtergesellschaften von Roche anwenden ; die Differenz zwischen dem seitens der Tochtergesellschaften von Roche den Unilever-Tochtergesellschaften in Rechnung gestellten Preis und dem vereinbarten Sonderpreis wird von Roche in halbjährlichen Abständen an Unilever Inkoop gezahlt.

(18) Die zwischen Roche und Merck im Bereich der Vitamine A, E und B6 geschlossenen Verträge enthalten die folgenden wesentlichen Merkmale: - Vitamin A

Roche verpflichtet sich, den Gesamtbedarf von Merck zu decken, während letztgenanntes Unternehmen die Verpflichtung übernimmt, seinen gesamten Bedarf bei Roche zu kaufen. Roche verpflichtet sich, Merck gegenüber seinen günstigsten Preis und seine günstigsten Verkaufsbedingungen anzuwenden. Ferner ist ein Mindestrabatt von 12,5 v.H. vorgesehen, der bis auf höchstens 20 v.H. aufgestockt werden kann. Daneben enthält der Vertrag die englische Klausel. Der Vertrag ist für die Dauer von 5 Jahren geschlossen.

- Vitamin E

Roche verpflichtet sich, den gesamten Bedarf von Merck zu decken, während Merck die Verpflichtung übernimmt, nur bei Roche einzukaufen. Dabei wird ein Mindestrabatt von 15 v.H. (Hoechstgrenze : 20 v.H.) festgesetzt und eine englische Klausel aufgenommen. In jedem Falle räumt Roche der Firma Merck seine günstigsten Preise und seine günstigsten Verkaufsbedingungen ein. Der Vertrag ist für einen Zeitraum von 5 Jahren geschlossen.

- Vitamin B6

Hier verpflichtet sich Roche, den gesamten, die Eigenproduktion von Merck übersteigenden Bedarf zu decken, während Merck die Verpflichtung übernimmt, nur von Roche zu beziehen. Ein Rabatt von 20 v.H. sowie eine englische Klausel sind vorgesehen. Der Vertrag wird für einen Zeitraum von 5 Jahren geschlossen.

II. Zuwiderhandlung gegen Artikel 86

(19) Nach Artikel 86 des EWG-Vertrages ist mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar und verboten die mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Gemeinsamen Markt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.

Der relevante Markt

(20) Jede Vitamingruppe bildet einen gesonderten Markt, da sie zur Befriedigung eines gleichbleibenden Bedarfs besonders geeignet und mit anderen Gruppen oder anderen Erzeugnissen nicht oder nur in geringem Masse austauschbar ist.

Bei den von dieser Entscheidung betroffenen Produktmärkten handelt es sich um folgende Vitamingruppen : A, B2, B6, C, E, Biotin (H), Pantothensäure (B3).

Der von dieser Entscheidung betroffene räumliche Markt ist der gesamte Gemeinsame Markt.

Marktbeherrschende Stellung

(21) Auf den relevanten Märkten ist Roche in ihrem Verhalten insgesamt so unabhängig, daß sie einen wirksamen Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes verhindern kann und somit eine beherrschende Stellung auf diesen Märkten erhält.

Diese beherrschende Stellung ergibt sich aus folgendem: - Die Marktanteile von Roche für die einzelnen vorerwähnten Vitamine sind sehr groß, da sie von 95 v.H. für die Vitamine B6 und H bis zu 47 v.H. (der Anteil des zweitgrössten Herstellers ist nur etwa halb so groß) für das Vitamin A reichen.

- Roche stellt ein viel breiteres Vitaminsortiment her als ihre Wettbewerber. Da sich der Bedarf vieler Verbraucher auf mehrere Vitamingruppen erstreckt, kann Roche auf den einzelnen Märkten im Vergleich zu den übrigen Herstellern eine vom Wettbewerb viel unabhängigere Verkaufs- und vor allem Preisstrategie verfolgen.

Bei der Beurteilung der marktbeherrschenden Stellung von Roche ist ausserdem zu berücksichtigen, daß Roche für alle Vitamine zusammen der grösste Hersteller der Welt ist, daß ihr Umsatz den aller übrigen Hersteller zusammen übersteigt und daß sie einen technologischen und kommerziellen Vorsprung vor ihren Wettbewerbern besitzt. Da der Zugang zu den Vitaminmärkten ausserdem nur dann rentabel ist, wenn umfangreiche spezifische Investitionen vorgenommen und die Kapazitäten für lange Zeiträume geplant werden, ist nicht anzunehmen, daß das etwaige Erscheinen neuer Wettbewerber auf diesem Markt die Stellung von Roche derzeit merklich ändern kann.

Mißbrauch

(22) Das vorstehend beschriebene Verhalten von Roche (oben Nrn. 10 bis 18) stellt den Mißbrauch einer beherrschenden Stellung dar. Denn es ist geeignet, die Wahlfreiheit und die Gleichbehandlung der Abnehmer zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zwischen Herstellern von nicht abgepackten Vitaminen im Gemeinsamen Markt einzuschränken. Ausserdem ist es geeignet, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.

Dieses Verhalten wird durch folgende Merkmale gekennzeichnet: a) Roche hat ihre Kunden durch eine ausdrückliche Ausschließlichkeitsbindung, durch Treuerabatte oder sonstige Maßnahmen gebunden, ihren gesamten Bedarf oder einen sehr bedeutenden Teil hiervon ausschließlich oder bevorzugt bei ihr zu decken.

b) Die Preisvorteile werden nicht gewährt nach Maßgabe der unterschiedlichen Kosten, die sich für Roche insbesondere aus den nach Mengen unterschiedlichen Lieferungen ergeben, sondern danach, ob der Bedarf in seiner Gesamtheit oder zu einem sehr bedeutenden Teil bei Roche gedeckt wird.

c) In bestimmten Fällen wird der Rabatt auf der Grundlage der Gesamtkäufe berechnet, so daß die Bezuege von Vitaminen einer Gruppe mit denen anderer Gruppen zusammengezählt werden (Gesamtsortimentsrabatt).

d) Die Verträge enthalten im allgemeinen die sogenannte "englische Klausel", die folgende Bedeutung hat : Die Kunden sind verpflichtet, Roche über Preisangebote anderer Hersteller zu unterrichten, wenn diese niedriger als die von Roche praktizierten Preise sind. Ermässigt Roche ihre Preise nicht auf das Niveau dieser Preisangebote, so steht es den Abnehmern frei, von den betreffenden Herstellern zu beziehen, ohne daß sie den Rabatt für die von Roche bezogenen Vitamine verlieren. In einigen Verträgen hat Roche festgelegt, daß es sich um Angebote "bekannter" Hersteller handeln muß (Händler und Vermittler sind ausgeschlossen).

(23) Die betreffenden Verträge enthalten keine einheitliche Regelung bezueglich der Verpflichtungen der Kunden. Alle sind jedoch so gestaltet, daß das angestrebte Ziel erreicht wird : Der Kunde bezieht seinen gesamten Vitaminbedarf oder einen wesentlichen Teil hiervon von Roche. Einige Verträge enthalten die ausdrückliche Verpflichtung des Kunden, seinen gesamten oder fast seinen gesamten Bedarf bei Roche zu decken. In anderen Verträgen sind Treuerabatte vorgesehen. Bei weiteren Verträgen ergibt sich aus den Umständen, daß als Gegenleistung für eine Ausschließlichkeitsbindung des Kunden Preisvorteile gewährt werden. Das gilt für die Fälle, in denen der Rabatt als Delkredere-Provision bezeichnet wird. Denn dieses Delkredere wird nicht für selbständige Dritte geleistet, sondern für Tochter- oder Schwestergesellschaften innerhalb bekannter und durchaus zahlungsfähiger multinationaler Gruppen. Die laufenden Geschäftsverbindlichkeiten dieser Gesellschaften bedürfen keiner irgendwie gearteter Garantie.

(24) Die in den Verträgen vereinbarte Ausschließlichkeit für die Beziehungen zwischen Roche und ihren Kunden stellt einen Mißbrauch im Sinne des Artikels 86 dar. Denn sie ist unvereinbar mit dem Ziel des Artikels 3 Buchstabe f) des Vertrages, wonach der Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes vor Verfälschungen zu schützen ist, und insbesondere mit Artikel 86 Buchstabe c).

Dadurch, daß Roche mit ihren Kunden eine Ausschließlichkeit für die Deckung deren gesamten Bedarfs oder eines sehr bedeutenden Teils davon vereinbart, verlieren diese Kunden jede Möglichkeit, ihre Versorgungsquellen frei zu wählen, und sie werden an diesen Lieferanten gebunden. Der von Roche gewährte Preisvorteil ist die Gegenleistung dafür, daß diese Kunden ihre Möglichkeit aufgeben, einen wesentlichen Teil ihres Bedarfs bei Konkurrenten zu decken. Falls der Kunde diese Ausschließlichkeit nicht beachtet und einen Teil seines Bedarfs von einem anderen Vitaminhersteller bezieht, verliert er den Treuerabatt nicht nur für diesen Teil, sondern für die Gesamtheit seiner Bezuege von Roche. Diese einschränkende Wirkung wird dadurch verschärft, daß der Rabatt auf der Grundlage der Gesamtbezuege berechnet wird, so daß die Bezuege von Vitaminen einer Gruppe mit denen von Vitaminen anderer Gruppen zusammengezählt werden (Gesamtsortimentsrabatt).

Die betreffenden Verträge bewirken ausserdem eine Beeinträchtigung des Wettbewerbs zwischen Vitaminherstellern. Durch die zwischen Roche und ihren Kunden festgelegte Ausschließlichkeit wird anderen Vitaminherstellern der Zugang zu diesen Roche-Kunden gesperrt. Der von Roche gewährte Treuerabatt wirkt sich bei Mengen von einer bestimmten Grössenordnung so aus, daß für diese Roche-Kunden der Bezug von anderen Herstellern praktisch unmöglich gemacht oder zumindest sehr erschwert wird.

(25) Die sogenannte "englische" Klausel stellt nur eine sehr begrenzte Lockerung des von Roche angewendeten Systems dar. Das Argument, diese Klausel lasse dem Kunden tatsächlich die Freiheit, von Konkurrenten von Roche zu beziehen, verkennt die Funktion dieser Klausel. Diese Klausel, die Roche die Unterrichtung über die von ihren Konkurrenten angewendeten Preise erleichtert, behält Roche die Entscheidung darüber vor, ob es dem betreffenden Kunden freisteht, von dem Konkurrenten zu beziehen, der ein günstigeres Preisangebot macht. Nur dann, wenn Roche es ablehnt, ihren Preis zu ermässigen, kann sich der Kunde an den Konkurrenten wenden. Diese Möglichkeit wird ausserdem noch eingeschränkt, wenn verlangt wird, daß es sich um ein Angebot eines "bekannten" Herstellers aus dem Gebiet des Kunden handeln muß ; Angebote aus anderen Gebieten oder anderen Mitgliedsländern bleiben also ausser Betracht. Liegt ein Auftrag vor, an dem Roche interessiert ist, weil es sich um eine grosse Menge, ein wichtiges Vitamin oder um einen bekannten Konkurrenten handelt, so ist Roche wegen ihrer starken Stellung auf dem Vitaminmarkt zweifellos in der Lage, ihren Preis anzupassen und somit die Ausschließlichkeit der Versorgung des betreffenden Kunden aufrechtzuerhalten. Roche entscheidet demnach von Fall zu Fall auf Grund der gegebenen Verhältnisse über den teilweisen Zugang eines Konkurrenten zu dem Markt, den sie sich vorbehalten hat.

(26) Soweit die betreffenden Verträge Treuerabatte vorsehen als Gegenleistung für die Roche von dem Kunden gewährte Ausschließlichkeit, liegen ausserdem die Voraussetzungen des Artikels 86 Buchstabe c) vor. Denn die betreffenden Rabatte führen zu einer Diskriminierung zum Nachteil der Roche-Kunden, die nicht in deren Genuß gelangen, und der Roche-Kunden, die geringere Rabatte erhalten. Das Roche-System führt dazu, daß gegenüber zwei Wirtschaftsunternehmen, die von Roche die gleiche Menge von Vitaminen bezogen haben, unterschiedliche Netto-Preise angewendet werden, wenn ein Unternehmen ausserdem von einem anderen Hersteller bezogen hat. Demnach sind unterschiedliche Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern angewendet worden, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt worden sind.

(27) Das betreffende Verhalten ist geeignet, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, da es die Ein- und Verkaufsmöglichkeiten von in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässigen Abnehmern und Lieferanten nicht abgepackter Vitamine einengt und sich somit unmittelbar auf die Handelsströme zwischen Mitgliedstaaten in einer Weise auswirkt, die der Verwirklichung der Ziele eines einheitlichen Marktes abträglich sein kann. Ausserdem zeigt die Prüfung der Statistiken über die Einfuhr unverpackter Vitamine in die Länder des Gemeinsamen Marktes, daß fast die Hälfte des Umsatzes mit unverpackten Vitaminen in der Gemeinschaft auf innergemeinschaftliche Einfuhren entfällt. Im vorliegenden Fall wird also ein bereits weitgehend innergemeinschaftlicher Handel durch die betreffenden Verträge in seiner Entwicklung gehemmt.

Geldbusse

(28) Nach Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 kann die Kommission gegen Unternehmen Geldbussen festsetzen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig gegen Artikel 86 verstossen. Bei der Festsetzung der Höhe der Geldbusse ist neben der Schwere des Verstosses auch die Dauer der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen.

Gegen Roche ist eine Geldbusse festzusetzen.

Roche hat die obenbeschriebene Zuwiderhandlung vorsätzlich, zumindest aber fahrlässig, begangen. Die angeführten Rundschreiben von Roche zeigen deutlich, daß die von Roche angestrebten Ziele und erwarteten Wirkungen die spürbare Einschränkung des Wettbewerbs waren. Roche musste erkennen, daß solch ein wettbewerbsbeschränkendes Verhalten mit Artikel 86 unvereinbar war.

Bei der Würdigung der Schwere des Verstosses ist zu berücksichtigen, daß das festgestellte Verhalten seiner Natur nach eine starke Behinderung des Wettbewerbs darstellt und daß es seinen Ausdruck in einer grossen Anzahl von Verträgen gefunden hat, bei denen es um bedeutende Mengen von Vitaminen ging. Diese Verträge sind mit wichtigen Abnehmern mit Sitz in mehreren Mitgliedstaaten abgeschlossen worden, deren Tätigkeitsfeld sich auf das Gesamtgebiet oder zumindest auf einen sehr grossen Teil des Gemeinsamen Marktes erstreckte.

Hinsichtlich der Dauer der Zuwiderhandlung ist festzustellen, daß das beanstandete Verhalten 1964 seinen Anfang genommen hat und seinen Niederschlag in einer stets wachsenden Anzahl von Verträgen fand. Die ersten Verträge sind erst Ende 1974 auf das Einschreiten der Kommission hin aufgelöst worden.

Für die Festsetzung der Höhe der Geldbusse zieht die Kommission aber nur den Zeitraum von 1970 bis Ende 1974 in Betracht. Von 1970 an hat sie ohne jeden Zweifel die Formulierung und Anwendung einer konsequenten Politik der Treueverträge durch Roche festgestellt, während Ende 1974 die ersten Verträge aufgelöst wurden. Das heisst, daß eine Dauer von fünf Jahren zu Grunde zu legen ist.

(29) Roche hat seinen Firmensitz zwar ausserhalb des Gemeinsamen Marktes, besitzt aber im Gemeinsamen Markt mehrere Tochtergesellschaften, besonders in der Bundesrepublik Deutschland.

Für die Zahlung der Geldbusse ist deshalb der in Rechnungseinheiten ausgedrückte Betrag in deutsche Mark umzurechnen -

HAT FOLGENDE ENTSCHEIDUNG ERLASSEN:

Artikel 1

Die Hoffmann-La Roche & Cie AG hat eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 86 des Vertrages begangen, indem sie Verträge abgeschlossen hat, die für die Käufer die Verpflichtung oder - durch die Gewährung von Treueprämien den Anreiz mit sich brachten, von Hoffmann-La Roche ausschließlich oder vorzugsweise die Gesamtheit oder den wesentlichen Teil ihres Bedarfs an Vitaminen zu beziehen.

Artikel 2

Hoffmann-La Roche hat die festgestellte Zuwiderhandlung unverzueglich abzustellen.

Artikel 3

Hoffmann-La Roche wird eine Geldbusse von 300 000 Rechnungseinheiten (dreihunderttausend), das ist ein Betrag von 1 098 000 Deutsche Mark (eine Million achtundneunzigtausend), auferlegt.

Die Geldbusse ist innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten, von der Zustellung dieser Entscheidung an gerechnet, zu entrichten.

Diese Entscheidung stellt nach Artikel 192 EWG-Vertrag einen vollstreckbaren Titel dar.

Artikel 4

Diese Entscheidung ist an die Firma Hoffmann-La Roche & Cie AG, Basel (Schweiz), gerichtet.

Brüssel, den 9. Juni 1976

Für die Kommission

Der Vizepräsident

Patrick J. HILLERY