ISSN 1977-088X

Amtsblatt

der Europäischen Union

C 105

European flag  

Ausgabe in deutscher Sprache

Mitteilungen und Bekanntmachungen

65. Jahrgang
4. März 2022


Inhalt

Seite

 

I   Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

 

STELLUNGNAHMEN

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

564. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — Videokonferenz über Interactio, 20.10.2021-21.10.2021

2022/C 105/01

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Anspruchsvolle nachhaltige und soziale Ziele mit einem günstigen Umfeld für Kleinstunternehmen und KMU in Einklang bringen (Initiativstellungnahme)

1

2022/C 105/02

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die Werbebranche im Dienste eines zeitgemäßen und verantwortungsvollen Konsums (Initiativstellungnahme)

6

2022/C 105/03

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Neugestaltung des haushaltspolitischen Rahmens der EU für einen nachhaltigen Aufschwung und einen gerechten Übergang (Initiativstellungnahme)

11

2022/C 105/04

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die europäische Glasindustrie am Scheideweg: Wie kann die Glasindustrie umweltfreundlicher und energieeffizienter werden, ohne ihre Wettbewerbsfähigkeit und ihre qualifizierten Arbeitsplätze einzubüßen? (Initiativstellungnahme)

18

2022/C 105/05

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die EU-Mobilitätsstrategie und industrielle Wertschöpfungsketten der EU: ein Ökosystemansatz in der Automobilindustrie (Initiativstellungnahme)

26

2022/C 105/06

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen des 5G-Ökosystems (Initiativstellungnahme)

34

2022/C 105/07

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Die nächste Generation von Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung — Überprüfung des 15-Punkte-Aktionsplans (Initiativstellungnahme)

40

2022/C 105/08

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Eine ganzheitliche Strategie für nachhaltige ländliche und städtische Entwicklung (Initiativstellungnahme)

49

2022/C 105/09

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Strategische Autonomie sowie Sicherheit und Nachhaltigkeit der Lebensmittelversorgung (Initiativstellungnahme)

56


 

III   Vorbereitende Rechtsakte

 

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

 

564. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — Videokonferenz über Interactio, 20.10.2021-21.10.2021

2022/C 105/10

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Aktualisierung der neuen Industriestrategie von 2020: einen stärkeren Binnenmarkt für die Erholung Europas aufbauen (COM(2021) 350 final)

63

2022/C 105/11

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zum Thema Der globale Ansatz für Forschung und Innovation — Europas Strategie für internationale Zusammenarbeit in einer sich verändernden Welt (COM(2021) 252 final)

77

2022/C 105/12

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag über eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 im Hinblick auf die Schaffung eines Rahmens für eine europäische digitale Identität (COM(2021) 281 final — 2021/0136 (COD))

81

2022/C 105/13

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Binnenmarkt verzerrende drittstaatliche Subventionen (COM(2021) 223 final — 2021/0114 (COD))

87

2022/C 105/14

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher (COM(2021) 347 final — 2021/0171 (COD))

92

2022/C 105/15

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die allgemeine Produktsicherheit, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 87/357/EWG des Rates und der Richtlinie 2001/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (COM(2021) 346 final — 2021/0170 (COD))

99

2022/C 105/16

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur zeitweiligen Aussetzung der autonomen Zollsätze des Gemeinsamen Zolltarifs für Einfuhren bestimmter gewerblicher Waren auf die Kanarischen Inseln (COM(2021) 392 final — 2021/0209 (CNS))

105

2022/C 105/17

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: Strategie für einen reibungslos funktionierenden und resilienten Schengen-Raum (COM(2021) 277 final) und Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Einführung und Anwendung eines Evaluierungs- und Überwachungsmechanismus für die Überprüfung der Anwendung des Schengen-Besitzstands und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 (COM(2021) 278 final — 2021/0140 (CNS))

108

2022/C 105/18

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Strategischer Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021-2027 — Arbeitsschutz in einer sich wandelnden Arbeitswelt (COM(2021) 323 final)

114

2022/C 105/19

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zum Blended Learning für eine hochwertige und inklusive Primar- und Sekundarschulbildung eine wichtige politische Rolle bei der Konferenz zur Zukunft Europas (COM(2021) 455 final)

128

2022/C 105/20

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen für einen nachhaltigen Luftverkehr (COM(2021) 561 final — 2021/0205 (COD))

134

2022/C 105/21

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/87/EG hinsichtlich der Mitteilung über die im Rahmen eines globalen marktbasierten Mechanismus zu leistende Kompensation durch Luftfahrzeugbetreiber mit Sitz in der Union (COM(2021) 567 final — 2021/0204 (COD))

140

2022/C 105/22

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Auf dem Weg zu einem gesunden Planeten für alle — EU-Aktionsplan: Schadstofffreiheit von Luft, Wasser und Boden (COM(2021) 400 final)

143

2022/C 105/23

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des europäischen Parlaments und des Rates über einheitliche Verfahren für die Kontrolle von Gefahrguttransporten auf der Straße (COM(2021) 483 final — 2021/0275 (COD))

148

2022/C 105/24

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1286/2014 durch Verlängerung der Übergangsregelung für Verwaltungsgesellschaften, Investmentgesellschaften und Personen, die über Anteile von Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) und Nicht-OGAW beraten oder diese verkaufen (COM(2021) 397 final — 2021/0215 (COD))

149

2022/C 105/25

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2009/65/EG im Hinblick auf die Verwendung von Basisinformationsblättern durch Verwaltungsgesellschaften von Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) (COM(2021) 399 final — 2021/0219 (COD))

150

2022/C 105/26

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Erhaltungs- und Bewirtschaftungsmaßnahmen für die Erhaltung von Südlichem Blauflossenthun (COM(2021) 424 final — 2021/0242 (COD))

151

2022/C 105/27

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank: Jährliche Strategie für nachhaltiges Wachstum 2021 (COM(2020) 575 final) (ergänzende Stellungnahme)

152

2022/C 105/28

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Empfehlung für eine Empfehlung des Rates zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets (COM(2020) 746 final) (ergänzende Stellungnahme)

158


DE

 


I Entschließungen, Empfehlungen und Stellungnahmen

STELLUNGNAHMEN

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

564. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — Videokonferenz über Interactio, 20.10.2021-21.10.2021

4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Anspruchsvolle nachhaltige und soziale Ziele mit einem günstigen Umfeld für Kleinstunternehmen und KMU in Einklang bringen“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 105/01)

Berichterstatter:

Bruno CHOIX

Beschluss des Plenums

25.3.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

30.9.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

227/0/9

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

99,8 % der europäischen Unternehmen sind Kleinstunternehmen und KMU, die 82,4 Mio. Menschen beschäftigen. Diese Unternehmen sind für die wirtschaftliche Erholung und die Verwirklichung der sozialen und ökologischen Ziele der EU unabdingbar. Aufgrund ihrer Merkmale — überschaubare Größe und Nähe — können sie diesen Herausforderungen, bei denen sie selbst in Krisenzeiten gute Ergebnisse erzielen, naturgemäß leichter gerecht werden.

1.2.

Dafür ist ein auf die Besonderheiten von Kleinstunternehmen und KMU zugeschnittenes Regelungsumfeld erforderlich. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) fordert die tatsächliche Umsetzung des Small Business Act‚ des Grundsatzes „Vorfahrt für KMU“ und der KMU-Strategie. Die Verwaltungslasten, insbesondere in Bezug auf Transparenz und Berichterstattung, müssen strikt begrenzt werden, da jegliche Verpflichtung Kosten nach sich zieht.

1.3.

Der EWSA unterstützt den Ansatz einer besseren Rechtsetzung und empfiehlt eine systematische Einbeziehung der Sozialpartner, Berufszweige und Industrie- und Handelskammern in allen Phasen der Rechtsetzung (Vorbereitung der öffentlichen Konsultationen, Folgenabschätzung, Änderungsanträge). Er fordert die Kommission auf, die Ergebnisse der Folgenabschätzungen gebührend zu berücksichtigen. Der Grundsatz „One in, one out“ muss rasch, wirksam und ausgewogen angewandt werden, um für eine ehrgeizige Umwelt- und Sozialgesetzgebung zu sorgen. Schließlich schlägt der EWSA vor, die Koordinierung der KMU-Beauftragten sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene zu stärken.

1.4.

Der EWSA fordert die EU-Organe auf, systematisch Alternativen zu den Transparenz- und Berichtspflichten zu prüfen, wenn dadurch zu große Belastungen entstehen.

1.5.

Dank nationaler und regionaler Initiativen für den sozialen Dialog in Kleinstunternehmen, im Handwerk und in den freien Berufen lässt sich sozialen Fragen, dem Dialog zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern sowie der Konfliktprävention leichter Rechnung tragen, weshalb solche Initiativen gefördert werden sollten.

1.6.

Der EWSA stellt fest, dass das Potenzial der Berufszweige und -verbände sowie der Industrie- und Handelskammern sowohl im Hinblick auf die Verbreitung sozialer und ökologischer Innovationen sowie Innovationen bei der Unternehmensführung und -kontrolle als auch in Bezug auf die Flankierung von Kleinstunternehmen und KMU stärker ausgeschöpft werden muss. Er empfiehlt der Kommission und den Mitgliedstaaten, sich auf ihr Fachwissen und ihr jeweiliges Netzwerk zu stützen, anstatt neue aufwändige und verbindliche Bestimmungen zu schaffen.

1.7.

Der EWSA plädiert dafür, Unternehmern, sobald sie ein Unternehmen gründen oder übernehmen, Zugang zu lebenslangem Lernen zu gewährleisten, damit sie sich die Kompetenzen aneignen können, die für eine gute Unternehmensführung, die Integration des sozialen Dialogs sowie den ökologischen und digitalen Wandel erforderlich sind.

2.   Hintergrund und allgemeine Bemerkungen

2.1.

Kleinstunternehmen und KMU sind ein wichtiger Bestandteil der europäischen Wirtschaft und aufgrund ihrer flächendeckenden Präsenz ein wesentliches Element, um mit wirtschaftlichen Schwächen kämpfende lokale Gemeinschaften zu unterstützen und die Resilienz des gesamten Systems zu stärken.

2.2.

Die Erholung ist der einzige Weg, um eine Abwanderung zu verhindern: Sie ermöglicht den Erhalt der Beschäftigungsquote und die Verteilung des Wohlstands, zumal sie in Europa auf Nachhaltigkeitszielen beruht.

2.3.

Kleinstunternehmen und KMU werden für eine grüne und digitale Wirtschaft mobilisiert. Kreislaufwirtschaft, nachhaltige Entwicklung und sozialer Dialog sind Teil der DNA von Kleinstunternehmen, Handwerksbetrieben und freien Berufe. Nach Ansicht des EWSA sollten die EU-Organe auf die Entwicklungsfähigkeit dieser Unternehmen vertrauen und ihre führende Rolle beim doppelten Übergang durch gezielte Programme für Finanzierung, technische Hilfe und Beratung sowie maßgeschneiderte Maßnahmen unterstützen, statt ihre Dynamik zu bremsen.

2.4.

Der EWSA stellt fest, dass viele Unternehmen und Behörden Neuerungen einführen, um Kleinstunternehmen und KMU dabei zu unterstützen, die Kreislaufwirtschaft entsprechend den EU-Zielen in ihr Geschäftsmodell (Vermeidung von Abfällen und unverkauften Waren, Förderung von Reparatur, Wiederverwendung und Recycling) zu integrieren.

2.5.

Trotz des im Jahr 2008 angenommenen Small Business Act haben die vergangenen dreizehn Jahre gezeigt, dass die Gesetzgeber, statt den Verwaltungs- und Finanzkapazitäten von Kleinstunternehmen und KMU entsprechende Texte anzunehmen, sich in den meisten Fällen für auf alle Unternehmen ausgerichtete Vorschriften entscheiden und diese anschließend an kleinere Unternehmen anpassen, wodurch für diese neue Belastungen entstehen, die ihre Wettbewerbsfähigkeit sowie ihre Innovations- und Beschäftigungsfähigkeit beeinträchtigen. Die Berücksichtigung der Ergebnisse des KMU-Tests ist verbesserungswürdig, und die Zunahme von Transparenz- und Offenlegungsmaßnahmen könnte schädlich sein. So wurden mit der DSGVO (1) unklare Verfahren eingeführt, die Kleinstunternehmen und KMU dazu zwingen, auf Leitfäden oder externe Sachverständige zurückzugreifen, was Kosten mit sich bringt. Die Maschinenverordnung sieht ähnliche Verpflichtungen vor, indem Bewertungsverfahren im Wege einer Zertifizierung durch externe Stellen vorgeschrieben werden. Mit der Geldwäscherichtlinie (2) wird für alle Unternehmen eine Pflicht zur Meldung der wirtschaftlichen Eigentümer eingeführt, die in mehreren Mitgliedstaaten kostenpflichtig ist.

2.6.

Aus dem Bericht des Ausschusses für Regulierungskontrolle aus dem Jahr 2020 geht hervor, dass die Auswirkungen der vorgeschlagenen Rechtsvorschriften auf KMU unzureichend bewertet werden.

2.7.

Der EWSA hat die KMU-Strategie der Kommission aus dem Jahr 2020 begrüßt. Er unterstützt die Entschließung (3) des Parlaments, laut der passende administrative, regulatorische und technische Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, um Kleinstunternehmen und KMU bei der Verbesserung ihrer Leistung, insbesondere ihrer Umweltbilanz, zu unterstützen, und durch übermäßige administrative und regulatorische Belastungen ihre Entwicklung gebremst wird.

2.8.

Der EWSA hat die Mitteilung „Bessere Rechtsetzung“ begrüßt, in der betont wird, dass eine bessere Rechtsetzung der Schlüssel für eine nachhaltige Entwicklung ist. Diese kann nicht allein auf dem Wirtschaftswachstum beruhen, sondern erfordert ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem wirtschaftlichen, dem nachhaltigen und dem sozialen Ansatz.

2.9.

Dennoch lassen mehrere Legislativvorschläge und Debatten neue Berichtspflichten für Kleinstunternehmen und KMU erkennen (Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (4), Lohntransparenz (5), Sorgfaltspflicht), die diese direkt oder — aufgrund der Anforderungen großer Unternehmen der Wertschöpfungskette — indirekt betreffen und Kosten verursachen. Allerdings verfügen Kleinstunternehmen und KMU nicht über die personellen und finanziellen Ressourcen, um den entsprechenden Pflichten nachzukommen, was v. a. in Krisenzeiten ihre Tätigkeit, ihr Geschäftsmodell und damit ihr Überleben gefährdet.

2.10.

Dennoch erzielen Kleinstunternehmen und KMU ermutigende oder sogar über den nationalen Durchschnittswerten liegende Ergebnisse, und zwar ohne Zwang. Der EWSA fordert, die Rechtsvorschriften für die 21 Mio. Kleinstunternehmen und KMU und nicht für die 0,2 % größeren Unternehmen zu konzipieren und anschließend die Grundsätze auf die anderen zu übertragen, um nicht nur den Bedürfnissen der Unternehmer, sondern auch ihrer zahlreichen Beschäftigten gerecht zu werden. Darüber hinaus spricht sich der EWSA dafür aus, systematisch Alternativen zur Berichterstattung vorzuschlagen.

3.   Kosten und Nutzen von Berichterstattungsmaßnahmen

3.1.

Bei ihrer Schätzung der Kosten und der Verwaltungslasten geht die Kommission häufig wenig transparent vor und benachteiligt Kleinstunternehmen und KMU. Hinzu kommen noch die mit den Verpflichtungen der Wertschöpfungskette verbundenen indirekten Auswirkungen, die sich von der Kommission schwer beziffern lassen. Wie in der Mitteilung „Bessere Rechtsetzung“ dargelegt, sind die vom Parlament und vom Rat eingereichten Änderungsanträge selten Gegenstand von Folgenabschätzungen und KMU-Tests. Schließlich ist die Umsetzung von Maßnahmen in einzelstaatliches Recht mitunter mit zusätzlichen Kosten verbunden.

3.2.

Um diesen wachsenden Verpflichtungen gerecht zu werden, können die Unternehmer nur in der für ihre eigentliche Tätigkeit vorgesehenen Zeit selbst aktiv werden oder externes Fachwissen in Anspruch nehmen. Beides wirkt sich auf die Geschäftstätigkeit des Unternehmens aus und verursacht zusätzliche Kosten. Diese Kosten sind für Kleinstunternehmen proportional höher als für Großunternehmen. Darüber hinaus warnt der EWSA vor der Zunahme von Berichterstattungsmaßnahmen, die zwar für sich genommen minimal erscheinen mögen, aber in Summe erhebliche Auswirkungen haben.

3.3.

Dabei sind in Bereichen, in denen keine Berichtspflicht besteht, gute Ergebnisse zu verzeichnen: Viele Kleinstunternehmen und KMU, die von ihrem Fachverband oder Industrie- und Handelskammern gefördert werden, investieren in die Kreislaufwirtschaft, da sie darin ein Interesse für ihre Entwicklung und Bekanntheit sehen (6); die überschaubare Größe der KMU erleichtert den Austausch zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, wodurch das Lohngefälle zwischen Frauen und Männern häufig geringer als auf nationaler Ebene ist (7) usw. Die Länder, die bei bestimmten Sozialgesetzen Schwellenwerte für KMU eingeführt haben, verweisen auf eine geringe Zahl von Rechtsbehelfen, was zeigt, dass die betreffenden Unternehmen sich auch ohne belastende Maßnahmen beispielhaft verhalten können. Im Einklang mit den Stellungnahmen des EWSA (8) sollte die Definition des Begriffs „KMU“ erörtert werden.

3.4.

Kleinstunternehmen und KMU, darunter auch Unternehmen der Sozialwirtschaft, stellen vollwertige Akteure der Kreislaufwirtschaft dar: Sie bieten lokale Dienstleistungen an, die die sozialen Bindungen stärken, schaffen nicht verlagerbare Arbeitsplätze und Wohlstand in Gebieten, in denen es an Industrie und bestimmten öffentlichen Dienstleistungen mangelt, und bieten schutzbedürftigen gesellschaftlichen Gruppen Geschäfts- und Beschäftigungsmöglichkeiten. Mehr als die Hälfte der jungen Menschen, die eine duale Ausbildung absolvieren, wird in Kleinstunternehmen und KMU ausgebildet, was einen aktiven Beitrag zur Jugendbeschäftigung ermöglicht. Durch ihr Geschäftsmodell und ihre überschaubare Größe wird eine künstliche Intelligenz begünstigt, bei der der Mensch die Kontrolle behält, und der Schwerpunkt auf die Lebensqualität am Arbeitsplatz und die partizipative Unternehmensführung gelegt.

3.5.

Zusätzliche Berichterstattungsmaßnahmen werden von diesen Unternehmen häufig als ungerechte Belastung angesehen, die sich negativ auf ihre Wirtschaftstätigkeit auswirkt und die Gefahr birgt, dass ihnen der Zugang zu öffentlichen Aufträgen oder Finanzmitteln verwehrt wird, ohne dass bei in vielen Fällen von ihnen selbst initiierten politischen Maßnahmen wesentliche Fortschritte erzielt würden. All dies nährt Ressentiments gegenüber einem Europa, das als zu bürokratisch und von der Basis abgekoppelt empfunden wird.

3.6.

Darüber hinaus ist der EWSA der Auffassung, dass die sozialen und ökologischen Ziele nur erreicht werden können, wenn die Ursachen der Ungleichgewichte angegangen werden, und nicht durch mehr verbindliche Anforderungen.

3.7.

Um ein KMU-freundliches Umfeld zu fördern, muss besonderes Augenmerk auf den demografischen Wandel gelegt werden, der erheblich die Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte und somit die Produktivität von KMU verringert. Die berufliche Aus- und Weiterbildung, das Lernen und die Kompetenzentwicklung müssen Priorität haben, auch im Bereich der grünen und digitalen Kompetenzen.

4.   Bessere Rechtsetzung

4.1.

Bessere Rechtsetzung erfordert ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem wirtschaftlichen, dem nachhaltigen und dem sozialen Ansatz. Der EWSA empfiehlt der Kommission, bei der Bewertung der Auswirkungen von Rechtsvorschriften stärker auf Sozialpartner, Berufszweige und Industrie- und Handelskammern auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene zurückzugreifen.

4.2.

Jede Transparenzmaßnahme verursacht Kosten. Der EWSA erinnert die Kommission daran, dass der „Small Business Act“ und der Grundsatz „Vorfahrt für KMU“ entsprechend den von ihr eingegangenen Verpflichtungen umgesetzt werden müssen. Infolge der Mitteilung „Bessere Rechtsetzung“ fordert der EWSA, dass jeglicher neue direkte oder indirekte Verwaltungsaufwand auf das Notwendigste begrenzt wird.

4.3.

Der EWSA fordert die Kommission auf, den EWSA bei der Ausarbeitung der Konsultationen zurate zu ziehen, um den Besonderheiten der KMU gezielter durch unvoreingenommene und auf alle Unternehmensformen zugeschnittene Fragestellungen Rechnung zu tragen. Er betont, dass kurze Konsultationen in allen EU-Sprachen zu bevorzugen sind, um den Beitrag der besagten Unternehmen zu erleichtern.

4.4.

Der EWSA fordert die Kommission auf, das Netzwerk und die Koordinierung der KMU-Beauftragten auf nationaler Ebene und bei ihrem Austausch mit der Kommission zu stärken.

4.5.

Der EWSA nimmt den Grundsatz „One in, one out“, dem sich die Kommission verpflichtet hat, zur Kenntnis. Die Verringerung der Verwaltungslasten muss mit den Sozialpartnern mit dem Ziel erörtert werden, sie zu mindern, ohne dadurch die politischen Ziele zu gefährden oder die hohen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Standards der EU zu senken. Zu diesem Zweck fordert der EWSA die Kommission auf, die operativen und methodischen Einzelheiten zur Ermittlung der unnötigen Lasten vorzulegen. Die Frist für die Umsetzung dieses Grundsatzes scheint nicht dem Arbeitsprogramm der Kommission zu entsprechen, demzufolge in den kommenden Monaten mehrere wichtige Texte veröffentlicht werden sollen. Der EWSA ersucht die Kommission, rasch zu ermitteln, welche Verwaltungslasten aufgehoben werden können. Darüber hinaus fordert er die Kommission auf, nach jeder Aufhebung einer Verwaltungslast zu verfolgen, ob sich diese auch in den nationalen Rechtsvorschriften verringert, um die Wirksamkeit des Grundsatzes und die Gleichbehandlung zu gewährleisten.

4.6.

Der EWSA fordert, dass jeder neue Vorschlag, insbesondere wenn er direkte oder indirekte Transparenz- und Berichterstattungsmaßnahmen nach sich zieht, einer echten Folgenabschätzung unterzogen wird. Der KMU-Test muss von allen Institutionen angewandt werden, er muss eine wirtschaftliche und rechtliche Analyse umfassen und seine Quellen müssen veröffentlicht werden. Er ist für jede neue Textfassung durchzuführen, im Vorschlagsstadium und während der Verhandlungen. Der EWSA empfiehlt, die Sozialpartner, insbesondere die Arbeitgeberverbände, bei jeder Folgenabschätzung zu konsultieren, damit sie einen Beitrag zur Analyse der Bestimmungen für Kleinstunternehmen und KMU leisten können. Die Kommission muss die Ergebnisse der Folgenabschätzungen bei der Ermittlung der bevorzugten politischen Option gebührend berücksichtigen. Im Einklang mit den Vorschlägen in der Mitteilung „Bessere Rechtsetzung“ fordert der EWSA die MdEP und den Rat auf, die Auswirkungen ihrer Änderungen auf Kleinstunternehmen und KMU zu dokumentieren.

4.7.

Laut dem Bericht des Ausschusses für Regulierungskontrolle ist die Zahl der Vorschläge, die auf KMU zugeschnittene Bestimmungen enthalten, erheblich zurückgegangen (von 22 % im Zeitraum 2017-2019 auf 15 % im Jahr 2020). Für den Fall, dass Transparenzmaßnahmen ergriffen werden, fordert der EWSA die Organe auf, Schwellenwerte vorzusehen, um den Aufwand für Kleinstunternehmen und KMU zu verringern. Der EWSA fordert eine beschleunigte Einführung des für 2023 geplanten einheitlichen digitalen Zugangstors.

5.   Alternativen zur Informationsveröffentlichung

5.1.

Um die Einführung zu zahlreicher möglicherweise als Strafe angesehener Maßnahmen zu vermeiden, fordert der EWSA die Kommission auf, für Kleinstunternehmen und KMU in jedem Vorschlag Alternativen zu den Berichtspflichten vorzusehen.

5.2.

In vielen Mitgliedstaaten gibt es spezielle Beratungsgremien, in denen die Sozialpartner über die sozialen und wirtschaftlichen Maßnahmen und deren konkrete Gestaltung diskutieren können. Viele nationale KMU-Verbände sind repräsentativ. Der EWSA empfiehlt der Kommission, sich verstärkt an KMU-Verbände, Sozialpartner, Berufszweige und Industrie- und Handelskammern auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene zu wenden. Aufgrund ihrer Erfahrung, ihres Fachwissens und ihres aktiven Netzwerks sind sie am besten in der Lage, Kleinstunternehmen und KMU zu unterstützen und zu fördern sowie Instrumente zu entwickeln, die den sozialen und ökologischen Zielen entsprechen. Es ist wichtig, ihnen die für die Entwicklung von Unterstützungsmaßnahmen erforderlichen finanziellen und personellen Mittel an die Hand zu geben.

5.3.

Der EWSA stellt fest, dass die Kommission eine Reihe von Instrumenten entwickelt hat, die für Kleinstunternehmen und KMU von Nutzen sein können, aber ihre Zielgruppe nicht erreichen. Er empfiehlt, die KMU-Beauftragten stärker zu mobilisieren, um diese Instrumente an die Bedürfnisse von Kleinstunternehmen und KMU anzupassen und ihre Kenntnis und Übernahme zu erleichtern.

5.4.

Der EWSA schlägt vor, nationale und regionale Maßnahmen zu fördern und zu nutzen, die den sozialen Dialog in Kleinstunternehmen, Handwerksbetrieben und bei freien Berufen (9) erleichtern, indem den Arbeitnehmern und Arbeitgebern alle Informationen/Ratschläge zu den für sie geltenden gesetzlichen oder tarifären Bestimmungen zur Verfügung gestellt werden, unternehmens- und arbeitnehmerspezifische Fragen erörtert und nützliche Stellungnahmen dazu abgegeben werden und durch Informationen und Empfehlungen an Arbeitnehmer und Arbeitgeber zur Konfliktverhütung beigetragen wird.

5.5.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, den Berufszweigen bei ihren Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmaßnahmen für KMU Hilfe zuteilwerden zu lassen, damit sie den sozialen und ökologischen Anforderungen gerecht werden können. Derartige Maßnahmen sind verbindlichen Bestimmungen vorzuziehen.

5.6.

Im Einklang mit seiner Initiativstellungnahme „Auf dem Weg zu einer kreislauforientierten Auftragsvergabe“ (10) fordert der EWSA die Behörden auf, Kleinstunternehmen und KMU bei ihrem Verständnis einer nachhaltigeren öffentlichen Auftragsvergabe, insbesondere auf lokaler Ebene, zu unterstützen und in den Ausschreibungsunterlagen auf ein Gleichgewicht zwischen qualitativen und quantitativen Kriterien zu achten.

5.7.

Betriebsleiter in Kleinstunternehmen und KMU müssen genauso wie Arbeitnehmer die Möglichkeit zur lebenslangen Weiterbildung haben. Das gilt auch beim Antritt dieser Funktion oder der Übernahme eines Unternehmens. Um einen Pool von Betriebsleitern und Nachfolgern für die Weiterführung bestehender Unternehmen zu schaffen, die in der Lage sind, die sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen, hält es der EWSA für wesentlich, die Teilnahme an auf die neuen Kompetenzen ausgerichteten Schulungszyklen vorzuschlagen und zu fördern.

5.8.

Der EWSA schlägt vor, Anreizmaßnahmen für die Verringerung der CO2-Bilanz in Kleinstunternehmen und KMU finanziell zu fördern, ohne dadurch die Entwicklung der Unternehmen zu behindern oder zusätzliche Belastungen zu verursachen.

5.9.

Der EWSA empfiehlt, Initiativen zu fördern, bei denen Unternehmen freiwillig, kostenlos und — zur Gewährleistung der Glaubwürdigkeit — durch Dritte ein Label verliehen wird (11)‚ wobei sicherzustellen ist, dass diese Systeme kein Hindernis für den Marktzugang darstellen und nicht zu zahlreich sind, um bei den Verbrauchern keine Verwirrung zu stiften.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. L 119 vom 4.5.2016, S. 1).

(2)  Richtlinie (EU) 2018/843 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2018 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2015/849 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung und zur Änderung der Richtlinien 2009/138/EG und 2013/36/EU (ABl. L 156 vom 19.6.2018, S. 43).

(3)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. Dezember 2020 zu einer neuen Strategie für europäische KMU (2020/2131(INI)).

(4)  Vorschlag für eine Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen (2021/0104(COD)).

(5)  Vorschlag für eine Richtlinie zur Stärkung der Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit durch Lohntransparenz und Durchsetzungsmechanismen (2021/0050(COD)).

(6)  Bspw. hat ein niederländischer Handwerksbetrieb auch ohne Transparenzpflicht kreislauforientierte Maßnahmen ergriffen: https://www.deb.nl/ondernemersverhalen/slagerij-van-koppen-dacht-na-over-duurzaamheid/

(7)  Les entreprises de proximité au féminin (Frauen in lokalen Unternehmen) (März 2019):

https://u2p-france.fr/sites/default/files/etude_les_entreprises_de_proximite_au_feminin.pdf

(8)  ABl. C 345 vom 13.10.2017, S. 15 und ABl. C 81 vom 2.3.2018, S. 1.

(9)  Interprofessionelle regionale paritätische Ausschüsse für das Handwerk (CPRIA: https://cpria.proximeo-france.fr/) und regionale paritätische Ausschüsse für freie Berufe (CPR-PL).

(10)  ABl. C 341 vom 24.8 2021, S. 16.

(11)  Als Beispiel sei Répar’acteurs (Repar’Akteure) genannt: https://www.artisanat.fr/reparacteurs#:~:text=Le%20label%20%C2%AB%20R%C3%A9par’acteurs%20%C2%BB,de%20la%20r%C3%A9duction%20des%20d%C3%A9chets


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/6


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die Werbebranche im Dienste eines zeitgemäßen und verantwortungsvollen Konsums“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 105/02)

Berichterstatter:

Thierry LIBAERT

Beschluss des Plenums

25.3.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

30.9.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

132/0/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) betont, dass die Europäische Union (EU) ihre Werbebranche unterstützen muss, die von der COVID-19-Krise stark betroffen ist. Mit Blick auf den digitalen Wandel und den Wettbewerb durch Google, Amazon, Facebook und Apple ist Werbung für Wirtschaftstätigkeiten und Arbeitsplätze wichtiger denn je.

1.2.

Angesichts der Notwendigkeit eines respektvolleren Umgangs mit den Verbrauchern und im Hinblick auf die Herausforderungen im Zusammenhang mit dem ökologischen Wandel und der Bekämpfung des Klimawandels müssen umfassende Überlegungen dazu angestellt werden, wie sichergestellt werden kann, dass die Werbebranche insbesondere die Ziele des Übereinkommens von Paris berücksichtigt.

1.3.

Der EWSA fordert die Werbebranche auf, sich zu einer Verringerung ihres CO2-Fußabdrucks zu verpflichten, um im Einklang mit den Zielen der EU, ihre Tätigkeiten bis 2050 CO2-neutral zu machen und die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 % zu senken, zu der bis 2050 angestrebten CO2-Neutralität der Union beizutragen.

1.4.

Der EWSA fordert alle Akteure der Werbebranche auf, sich in ihrem jeweiligen Tätigkeitsfeld für eine Verringerung ihrer Umweltauswirkungen einzusetzen. Dies kann durch eine Senkung des Energieverbrauchs digitaler Werbeflächen sowie die Verbesserung ihrer Recyclingfähigkeit, durch die bevorzugte Verwendung von Papier aus nachhaltig bewirtschafteten Wäldern (PEFC- und PFC-Gütezeichen) sowie von Tinten, die den REACH-Normen und GreenGuard-Standard für Plakate auf Papier und Werbebroschüren entsprechen, ebenso wie durch eine Verringerung der technischen, energetischen und logistischen Auswirkungen auf audiovisuelle Produktionen erreicht werden.

1.5.

Der EWSA empfiehlt den Akteuren der Werbebranche, sich verstärkt unentgeltlich für ökologisch verantwortliche Initiativen von Akteuren einzusetzen, die nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen (KMU, Start-ups, Genossenschaften usw.).

1.6.

Der EWSA fordert die Akteure der Branche auf, ihre Mitglieder für die Herausforderungen des ökologischen Wandels zu sensibilisieren. Diese Sensibilisierung muss gleichzeitig auch im Rahmen der Hochschulausbildung im Bereich Kommunikation erfolgen.

1.7.

Der EWSA empfiehlt der Werbebranche, einen Nachdenkprozess über die Bildsprache der Werbung und die zugrunde liegenden Konzepte anzustoßen. Dies wäre ein Beitrag dazu, Werbung von einem Hindernis zu einem echten Hebel für den ökologischen Wandel zu machen, der es ermöglicht, faktenbasiert und präzise jene Produkte herauszustellen, die zur Verringerung der Umweltauswirkungen beitragen.

1.8.

Der EWSA fordert, die Bemühungen um eine stärkere Regulierung der Werbung auf europäischer Ebene zur Bekämpfung von grünem Etikettenschwindel und irreführenden Umweltaussagen im Hinblick auf eine Harmonisierung zwischen den EU-Mitgliedstaaten fortzusetzen.

1.9.

Der EWSA hält es für wünschenswert, dass neben den Aspekten des ökologischen Wandels besondere Anstrengungen in Bezug auf die Werbung für jüngere Menschen, namentlich in den sozialen Netzwerken, unternommen werden.

1.10.

Seiner Ansicht nach kann es keine uneingeschränkt verantwortungsvolle Werbung geben, wenn die Werbeakteure in Europa ihrer Verantwortung im Bereich der Desinformation nicht gerecht werden. Die Europäische Kommission muss ihre Anstrengungen zur Bekämpfung der Monetarisierung von Desinformation verstärken (1).

1.11.

Der EWSA fordert, dass die Werbebranche gegenüber der Zivilgesellschaft offener wird und häufiger den Austausch mit den verschiedenen Zielgruppen sucht, damit sie sich entsprechend den neuen gesellschaftlichen Erwartungen weiterentwickeln kann.

2.   Begriffsbestimmungen

2.1.

Für die Zwecke der vorliegenden Stellungnahme wird „Werbung“ wie von der EU definiert wie folgt verstanden: „[…] jede Äußerung bei der Ausübung eines Handels, Gewerbes, Handwerks oder freien Berufs mit dem Ziel, den Absatz von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen […] zu fördern“. Diese Definition lässt jedoch die auf ein institutionelles Ziel (Verbesserung des Unternehmensimages) ausgerichtete Werbung sowie jene von öffentlichen Akteuren oder Verbänden außer Acht.

2.2.

Verantwortungsvoll ist Werbung dann, wenn sie ihrer Verantwortung in Bezug auf die großen gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen sowie insbesondere bei der unabdingbaren Bekämpfung des Klimawandels gerecht wird.

3.   Werbung als Motor für Wirtschaft und Beschäftigung in Europa

3.1.

Werbung steht in engem Zusammenhang mit Wachstum und Beschäftigung. Dort, wo die Werbeinvestitionen hoch sind, ist das Wachstum höher als dort, wo sie niedriger sind. (2) Laut einer Studie des Weltverbands der werbenden Wirtschaft aus dem Jahr 2017 haben die 92 Mrd. EUR, die 2016 an Werbeausgaben im engeren Sinne getätigt wurden, einen zusätzlichen Vermögenswert von 643 Mrd. EUR generiert. (3).

3.2.

Verschiedenen Studien zufolge hat eine Investition von einem Euro in Werbung einen Multiplikator- und Austrahlungseffekt von 5 bis 7 zusätzlichen Wachstumspunkten. Auf Belgien bezogen ergibt sich ein Multiplikatoreffekt von 5 (2,2 Mrd. EUR an Werbeausgaben haben 13 Mrd. EUR Umsatz für die belgische Wirtschaft generiert (4)).

3.3.

Werbung beschleunigt die Verbreitung neuer Produkte und Dienstleistungen sowie mitunter auch von Innovationen, wofür die Nutzungsdauer bestimmter Geräte wie Computer und Telefone ein ausgezeichnetes Beispiel ist. Die beschleunigte Verbreitung neuer Produkte wirft Fragen zu ihren Umweltauswirkungen auf.

3.4.

Werbung belebt den Wettbewerb. Ohne Werbung wären wir alle Kunden ein und derselben Bank, die ihre Tarife nach eigenem Ermessen festsetzen würde. Die Bankdienstleistungen aller Banken sind im Großen und Ganzen ja ähnlich, sodass sich Unterscheidungsmerkmale auch aus der Werbung ergeben. Dies gilt für eine Vielzahl von Wirtschaftszweigen (Energie, Einzelhandel usw.).

3.5.

Von der Werbung leben viele Branchen, angefangen von den Medien. In vielen EU-Ländern ist sie eine der Haupteinnahmequellen für Printmedien, Radio und Fernsehen. Werbung ist jedoch nicht nur Einnahmequelle, sondern schafft auch ein Abhängigkeitsverhältnis, das sich manchmal auf die Inhalte von Produktionen auswirken und Fragen bezüglich der redaktionellen Unabhängigkeit aufwerfen kann.

3.6.

Der Umsatz der europäischen Werbebranche belief sich im Jahr 2018 auf 140 Mrd. EUR, wobei die 280 000 oft kleinen und mittleren Unternehmen der Branche ganz oder teilweise für die Kommunikation von Unternehmen tätig sind und 998 000 Mitarbeiter beschäftigen (5).

3.7.

Werbung wirkt sich indirekt auf viele weitere Berufe aus, die im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit stehen, wie z. B. die audiovisuelle Produktion, das künstlerische Schaffen oder die Fotografie. Aus der oben zitierten belgischen Studie geht hervor, dass der Arbeitsplatz von 87 000 Personen aus Werbeeinnahmen finanziert wurde bzw. dass sie über Lieferketten an der Werbeproduktion beteiligt waren.

3.8.

Berücksichtigt man sämtliche Kommunikationsausgaben der Unternehmen, so kommen noch erhebliche Summen hinzu, die in der EU alljährlich zur Unterstützung von Unterhaltungs-, Sport- und Kulturaktivitäten im Rahmen von Sponsoring und Patenschaften ausgegeben werden.

4.   Auswirkungen nicht nur auf wirtschaftliche und soziale Aspekte

4.1.

Die Auswirkungen auf die Presse bestehen anerkanntermaßen in einem umfassenderen Zugang zu den Medien. Ohne Werbung würden die Preise für Zeitungen wohl deutlich steigen, und für viele von ihnen würde weniger Werbung den wirtschaftlichen Tod bedeuten.

4.2.

Zudem ist es der Werbung zu verdanken, dass es Gratis-Zeitungen gibt, die es mehreren Millionen Menschen täglich ermöglichen, Nachrichten zu lesen.

4.3.

Auch der künstlerische und kreative Aspekt ist hervorzuheben. Tatsache ist, dass sehr viele Filmemacher, Fotografen und Zeichner ihre Karriere in der Werbebranche begonnen haben.

4.4.

Werbung als fixer Bestandteil mancher urbaner Landschaften hat Orte wie den Times Square in New York oder den Piccadilly Circus in London zu Touristenattraktionen gemacht. Die Werbeflächen wirken prägend auf Städte und verleihen bestimmten Orten eine besondere Strahlkraft. Diese starke Präsenz von Werbung im öffentlichen Raum lässt sich natürlich durchaus stark in Frage stellen.

4.5.

Werbung trägt zu einem positiven Diskurs über die Welt, Glück, Freude und Schönheit bei. Angesichts des permanenten Krisenzustands, in dem wir uns gegenwärtig befinden, tragen Werbebotschaften zur Verbreitung optimistischer und anregender Botschaften bei. Außerdem hält die Werbung gute Ratschläge für unser Leben parat: „Don’t imitate — innovate“ (Hugo Boss), „Denk an dich“ (Garnier), „Impossible is nothing“ (adidas). So vermittelt Werbung im Allgemeinen ein positives Bild von der Welt. Diese positive Vision kann für den ökologischen Wandel äußerst wichtig sein.

5.   Das Werbemodell und seine gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen

5.1.

Werbung wirkt sich unmittelbar auf die Treibhausgasemissionen aus. Zudem wirkt sie sich auf den Verbrauch von Papier, einer Reihe von Rohstoffen (insbesondere für die neuen LCD-Bildschirme) und Energie (Internet und audiovisuelle Medien) aus. Die Auswirkungen auf die Treibhausgasemissionen oder die Umwelt im weiteren Sinne (etwa die Recyclingfähigkeit des Werbemittels) werden in der Praxis nie als Kriterium für die Konzipierung einer Werbekampagne herangezogen.

5.2.

Im Übrigen zeitigt Außenwerbung spezifische Umweltauswirkungen. Dies gilt insbesondere für die Leuchtschilder und digitalen Schilder, bei denen der Energieverbrauch und die Auswirkungen in puncto Lichtverschmutzung nicht unerheblich sind Für die Herstellung eines digitalen Werbebildschirms (Standardgröße mit einem Gewicht von 200 kg) werden schätzungsweise 8 Tonnen an Rohstoffen benötigt (6).

5.3.

Werbung zielt darauf ab, immer mehr von den beworbenen Produkten zu verbrauchen und fördert damit einen übermäßigen und nicht unbedingt bedarfsgerechten Konsum. Es gibt eine Vielzahl von Produkten und Geräten, deren Nutzen in Wirklichkeit begrenzt ist und fallweise in keinem Verhältnis zu ihren Umweltauswirkungen steht. Mitunter wandern einige davon schon nach der ersten Verwendung in den Müll. Die Werbung versucht die Bedürfnisse und Erwartungen des Einzelnen entsprechend der Interessen ihrer Auftraggeber und nicht unbedingt im Einklang mit dem Allgemeinwohl zu beeinflussen.

5.4.

Durch ihre starke Präsenz in den Metropolen kann Werbung auch zur einer Uniformisierung des urbanen Raums in den großen europäischen Städten beitragen. Die überall gleichen Werbekampagnen führen dazu, dass sich die Stadtlandschaften immer ähnlicher sehen und an Qualität verlieren. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Großteil der Werbekampagnen von einer kleinen Zahl von Werbetreibenden konzipiert wird.

5.5.

Die Werbebotschaften haben häufig nicht viel mit den Werten „Teilen“, „Solidarität“ und „Mäßigung“ zu tun. Die Werbung vermittelt den Eindruck, dass Konsum glücklich macht. Sie ruft uns in Erinnerung, dass man alles kaufen kann. Um glücklich zu sein, müssen wir mehr besitzen und konsumieren. In Meinungsumfragen lässt sich jedoch keine statistisch belastbare Korrelation zwischen Konsum und Glücksgefühl belegen. Dieses beruht in erster Linie auf bestimmten Werten sowie auf der wichtigen Rolle des familiären Gefüges und der direkten Sozialkontakte. Werbung, die zu immer mehr Konsum anhält, kann für Verbraucher auch ein Quell anhaltender Unzufriedenheit sein und insbesondere bei den am stärksten benachteiligten Menschen, die nicht über die für den Erwerb der beworbenen Waren und Dienstleistungen erforderlichen Mittel verfügen, Frustration hervorrufen.

5.6.

Europäische Unternehmen geben, ohne sich dessen bewusst zu sein, mehr als 400 Mio. EUR auf Desinformationsseiten im Internet aus (7). Anerkanntermaßen verfolgen die wichtigsten Quellen von Desinformation finanzielle Ziele und nehmen insbesondere durch Verlinkungen hohe Beträge aus der Online-Werbung ein.

5.7.

Der EWSA stellte fest, dass immer mehr Werbung in den sozialen Medien nicht als Werbung gekennzeichnet ist, sondern sich hinter mehr oder weniger bekannten Influencern verbirgt. Schätzungen zufolge bleiben bei über einem Viertel (26,6 %) der Werbung in sozialen Medien die Marke und die Geschäftsabsicht unerwähnt (8). Dies stiftet eine das Markenvertrauen erschütternde Verwirrung, zu deren Bekämpfung das Gesetz über digitale Dienste mit der obligatorischen Nennung der Organisation beitragen kann, in deren Namen die Werbung verbreitet wird (9).

6.   Die Entwicklung der Werbung schneller voranbringen, um sie besser mit den Herausforderungen des ökologischen Wandels in Einklang zu bringen

6.1.

Angesichts der immer dringlicheren Notwendigkeit, konkrete Maßnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen, ist es nur schwer nachvollziehbar, dass es seitens der Werbebranche keine förmliche Selbstverpflichtung zur Einhaltung des Übereinkommens von Paris gibt. Vor Kurzem hat das Europäische Parlament (EP) eine Entschließung verabschiedet, um die Senkung der Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 % zu gewährleisten, und die Europäische Kommission hat am 14. Juli 2021 ihr Paket „Fit für 55“ veröffentlicht, das zwölf Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels umfasst. Sämtliche Wirtschaftszweige müssen einen Beitrag zu dieser gemeinsamen Anstrengung leisten, und die Werbebranche muss dieses Kernziel wie die anderen Branchen auch innerhalb von nicht ganz einem Jahrzehnt erreichen.

6.2.

Die meisten Werbefachleute haben die Herausforderungen des Klimawandels und die Notwendigkeit, den großen Erwartungen der Gesellschaft Gehör zu schenken, sehr wohl verstanden. Seit mehreren Jahren setzen sie sich aktiv gegen irreführende Umweltaussagen und Öko-Etikettenschwindel ein. Künftig müssen sie ihre Anstrengungen noch verstärken.

6.3.

Die Europäische Kommission unterstützt dies. 2012 richtete die Generaldirektion für Justiz eine spezifische Interessenträgergruppe ein (Multi-Stakeholder Group on Environmental Claims). In den Jahren 2013 und 2016 wurden mehrere Berichte veröffentlicht. Diese Dokumente haben ein besseres Verständnis des Problems irreführender Umweltangaben ermöglicht und die Umsetzung der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (10) über unlautere Geschäftspraktiken beeinflusst. Die Europäische Kommission arbeitet an der Aktualisierung dieser Leitlinien, die bis Ende 2021 veröffentlicht werden sollen. Im endgültigen Text sollte die Anwendung der Richtlinie 2005/29/EG über irreführende Umweltangaben weiter präzisiert werden. Im Jahr 2020 führten die nationalen Verbraucherschutzbehörden ein von der Kommission koordiniertes „Scannen“ von Websites von Unternehmen durch, die angeblich umweltfreundliche Produkte verkaufen. In 42 % der Fälle wurde festgestellt, dass die Behauptungen übertrieben, falsch oder irreführend waren und möglicherweise als unlautere Handelspraktiken im Sinne der EU-Vorschriften eingestuft werden könnten (11).

6.4.

Auch in dem am 11. März 2020 veröffentlichten neuen Aktionsplan der Europäischen Kommission für die Kreislaufwirtschaft wird zum ersten Mal die Frage der Verantwortung der Werbebranche thematisiert. In Ziffer 2.2 äußert die Kommission darin die Absicht, den Schutz der Verbraucher vor Grünfärberei zu stärken. In dem Aktionsplan ist vorgesehen, dass Unternehmen ihre Umweltaussagen anhand von Methoden zur Messung des Umweltfußabdrucks von Produkten und Organisationen belegen müssen. In Ziffer 3.2 äußert die Kommission die Absicht, Anreize für eine Erhöhung des Belegungsgrads von Fahrzeugen zu schaffen (wozu auch die Werbung beitragen kann, indem weniger Autos gezeigt werden, in denen nur der Fahrer sitzt).

6.5.

Im Europäischen Parlament wurde im November 2020 über einen Initiativbericht des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) mit dem Titel „Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Binnenmarkt für Unternehmen und Verbraucher“ (12) abgestimmt. Darin wird „betont, wie wichtig verantwortungsvolle Werbung ist, bei der die öffentlichen Normen in Bezug auf die Umwelt und die Gesundheit der Verbraucher eingehalten werden“.

6.6.

Der EWSA hat sich besonders aktiv gegen irreführende Umweltaussagen eingesetzt, u. a. in seiner Stellungnahme zum Thema „Umwelt-, gesellschafts- und gesundheitsbezogene Werbeaussagen im Binnenmarkt“ (13). Außerdem hat er in seiner Stellungnahme zum Thema „Eine EU-Strategie für nachhaltigen Konsum“ (14) auf die Notwendigkeit eines besseren Rahmens für Werbung im Hinblick auf einen nachhaltigeren Konsum hingewiesen. In seiner jüngst verabschiedeten Stellungnahme zur neuen Verbraucheragenda (15) zeigte er überdies auf, dass die Verbraucher besser informiert und Öko-Etikettenschwindel bekämpft werden müssen.

7.   Für eine europäische Werbung im Dienste eines nachhaltigeren und verantwortungsvolleren Konsums

7.1.

Der EWSA spricht sich für einen anreizbasierten Ansatz aus, bei dem die Werbebranche in die Verantwortung genommen wird. Ein solcher Ansatz rechtfertigt sich durch die von der Branche insbesondere bei der Bekämpfung irreführender Umweltaussagen ebenso wie durch die im Bereich der Regulierung erzielten Fortschritte. Er ergibt sich überdies aus der Notwendigkeit, einen Wirtschaftszweig, der Wachstum und Beschäftigung schafft, in einer besonders heiklen Zeit zu unterstützen. Nach Ansicht des EWSA besteht die Gefahr, dass von allfälligen Beschränkungen der europäischen Werbemodelle nur die Digitalwerbebranche profitiert, die sich im Wesentlichen im Besitz von Google, Amazon, Facebook und Apple befindet, die sich nach wie vor weitgehend den europäischen Steuersystemen entziehen. Auch dieses Modell wird aufgrund des Ausbaus der Regeln für Cookies in Zukunft weiterentwickelt werden müssen. Der EWSA ist jedoch der Auffassung, dass für bestimmte Produktgruppen mit besonders starken Umweltauswirkungen wie zum Beispiel fossile Brennstoffe eine stärkere Regulierung in Betracht gezogen werden kann.

7.2.

Vor dem Hintergrund der derzeitigen Wirtschaftskrise spricht sich der EWSA dafür aus, den kleinsten und fragilsten Akteuren der Werbebranche (KMU) im Gegenzug für strukturelle Veränderungen in Bezug auf die oben beschriebenen Aspekte rasch außerordentliche Finanzhilfen zu gewähren, um den Fortbestand dieser Unternehmen im derzeitigen Kontext zu sichern.

7.3.

Jeder Beruf innerhalb der Werbebranche in Europa sowie die in der Europäischen Union tätigen Werbeagenturen berücksichtigen die Ziele des Übereinkommens von Paris von 2015 bei ihrer Politik zur Verringerung der Treibhausgasemissionen und insbesondere die jüngsten EU-Ziele von – 55 % bis 2030.

7.4.

Alle Wirtschaftsakteure der Werbebranche erkennen die Ziele im Zusammenhang mit dem ökologischen Wandel an und tragen ihnen in ihrer Geschäftstätigkeit Rechnung, indem sie Bewertungen ihrer Treibhausgasbilanz sowie Reduktionspfade und auf diese Ziele zugeschnittene Aktionspläne vorschlagen. Diese Umstellung der Werbedienste muss flexibel erfolgen, insbesondere um mittelgroße Agenturen zu fördern und zu unterstützen.

7.5.

Die Akteure der Werbebranche müssen sich zur Bewertung der CO2-Bilanz von Werbeproduktionen verpflichten, um die bislang gängige Praxis zu verändern, umweltfreundlichere Produktionsalternativen anzubieten und Möglichkeiten für eine Rückverlagerung nach Europa zu prüfen.

7.6.

Die Akteure der Werbebranche müssen die in den Bereichen Klimaschutz und soziale Inklusion aktivsten Organisationen stärker unentgeltlich unterstützen. Generell muss die Regulierung des Werbesektors in Richtung einer umfassenderen Beteiligung der Zivilgesellschaft weiterentwickelt werden, wofür auch neu zu entwickelnde Steuerungsmodelle in Erwägung gezogen werden sollten.

7.7.

Die Akteure der Werbebranche müssen regelmäßige Bildungsangebote zu den Herausforderungen in den Bereichen ökologischer Wandel und verantwortungsvollere Werbepraktiken bereitstellen, ihre Mitarbeiter diesbezüglich intern schulen sowie zur Ausbildung von Schülerinnen und Schülern in den Bereichen Marketing und Kommunikation beitragen.

7.8.

Die Werbebranche muss sich verpflichten, ihre Selbstregulierungsmechanismen weiter zu stärken, und zu diesem Zweck den europäischen Regulierungsbehörden umfassendere Kontrollbefugnisse einräumen und eine stärkere wirksame Einbindung der Zivilgesellschaft (Umweltschutzorganisationen, Verbraucherverbände, Gewerkschaften usw.) in die Steuerung dieser Regulierung vorschlagen.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Europäische Kommission: Leitlinien zur Stärkung des Verhaltenskodex für den Bereich der Desinformation, 26. Mai 2021. https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_2585

(2)  Maximilien Nayaradou, L’impact de la régulation de la publicité sur la croissance économique, Kurzfassung erschienen in Publicité et croissance économique‚ Union des annonceurs, 2006. Dissertation, Universität Paris Dauphine, 2004

(3)  Weltverband der werbenden Wirtschaft. The value of advertising, Deloitte, 2017.

(4)  Union belge des annonceurs, L’impact de la publicité sur la croissance économique en Belgique, 3. Dezember 2015.

(5)  Quelle: Eurostat; Advertising and Market Research Statistics.

(6)  ADEME, Modélisation et évaluation environnementale des panneaux publicitaires numériques, September 2020.

(7)  Claudia Cohen, „Des marques financent, malgré elles, la désinformation“ (Markenhersteller finanzieren ungewollt Desinformation), Presseartikel aus Le Figaro vom 5. August 2021.

(8)  Observatoire de l’influence responsable (Beobachtungsstelle für verantwortungsvolle Einflussnahme). 13. September 2021.

(9)  ABl. C 286 vom 16.7.2021, S.70.

(10)  Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) (ABl. L 149 vom 11.6.2005, S. 22).

(11)  Täglicher Newsletter, Agence Europe, Nr. 12646, 24. Januar 2021.

(12)  https://oeil.secure.europarl.europa.eu/oeil/popups/ficheprocedure.do?reference=2020/2021(INI)&l=en

(13)  ABl. C 383 vom 17.11.2015, S. 8.

(14)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 51.

(15)  ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 45.


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/11


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Neugestaltung des haushaltspolitischen Rahmens der EU für einen nachhaltigen Aufschwung und einen gerechten Übergang

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 105/03)

Berichterstatterin:

Dominika BIEGON

Beschluss des Plenums

25.3.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

5.10.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

168/3/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die EU-Haushaltsregeln müssen überarbeitet werden. Bereits nach der Finanzkrise 2008/2009 war klar, dass sie unzulänglich sind, und im Zuge der COVID-19-Pandemie haben sich noch ernsthaftere Herausforderungen für den aktuellen Haushaltsrahmen ergeben. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) hat die Überprüfung der wirtschaftspolitischen Steuerung durch die Europäische Kommission in früheren Stellungnahmen begrüßt. In der vorliegenden Stellungnahme bekräftigt er seinen Standpunkt zur Notwendigkeit von Reformen und fordert die Kommission auf, die zum Stillstand gekommene Überarbeitung des EU-Rahmens für die wirtschaftspolitische Steuerung zügig fortzusetzen. Bevor der überarbeitete Rahmen in Kraft tritt, sollte die Kommission Leitlinien für einen Übergangszeitraum vorlegen, während dessen kein Defizitverfahren eingeleitet und die Möglichkeit geschaffen werden sollte, die „Klausel betreffend außergewöhnliche Ereignisse“ auf länderspezifischer Basis anzuwenden.

1.2.

Jeder künftige haushaltspolitische Rahmen muss a) die öffentlichen Investitionen stärken, b) mehr konjunkturelle Flexibilität schaffen und c) unter Gewährleistung der Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen mehr Flexibilität sowie eine länderspezifische Differenzierung in Bezug auf Schuldenanpassungspfade ermöglichen. Eine Reform des EU-Haushaltsrahmens ist nicht nur für eine kurz- bis mittelfristige Stabilisierung der Wirtschaft erforderlich. Auch für die Finanzierung des sozioökologischen Wandels unserer Wirtschaft und zur Gewährleistung der Vollbeschäftigung, guter Arbeitsplätze und gerechter Übergänge ist sie von entscheidender Bedeutung.

1.3.

Konkret betrifft der wichtigste Vorschlag des EWSA für die Überarbeitung des haushaltspolitischen Rahmens die von ihm bereits in früheren Stellungnahmen angeregte Einführung der goldenen Regel für öffentliche Investitionen in Kombination mit einer Ausgabenregel. Darüber hinaus begrüßt der EWSA den Vorschlag des Europäischen Fiskalausschusses (EFA) zur länderspezifischen Differenzierung der haushaltspolitischen Anpassungspfade.

1.4.

Schließlich weist der EWSA drauf hin, dass die Haushaltspolitik ein klassischer Bereich der parlamentarischen Politik ist und sich haushaltspolitische Entscheidungen auf die gesamte Struktur der Einnahmen und Ausgaben eines Staates auswirken. Daher muss sowohl den nationalen Parlamenten als auch dem Europäischen Parlament eine wichtige Rolle im künftigen Rahmen für die wirtschaftspolitische Steuerung der EU eingeräumt werden.

1.5.

Außerdem muss die Zivilgesellschaft sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene stärker in das Europäische Semester einbezogen werden. Auf diese Weise kann eine ausgewogene Wirtschaftspolitik gestaltet werden, bei der alle Interessen miteinander in Einklang gebracht werden. Dies gilt insbesondere für die Steuerung der Aufbau- und Resilienzfazilität, an der die Zivilgesellschaft nur unzureichend beteiligt ist (1). Das Partnerschaftsprinzip, das seit Langem bei der Verwaltung der europäischen Struktur- und Investitionsfonds angewandt wird, sollte als Vorbild für einen wirksamen Mechanismus zur Einbeziehung der Zivilgesellschaft herangezogen werden.

2.   Hintergrund: Neue Herausforderungen nach der COVID-19-Pandemie

2.1.

Die europäischen Haushaltsregeln müssen überarbeitet werden. Vor der Krise hatte der Europäische Fiskalausschuss (2) in seiner Bewertung des haushaltspolitischen Rahmens der EU (2019) zu Recht auf zwei Hauptprobleme hingewiesen: Einerseits seien die Haushaltsregeln tendenziell prozyklisch. Nach der Finanzkrise 2008/2009 führten die großen Bedenken hinsichtlich der Tragfähigkeit zu einer verfrühten Haushaltskonsolidierung und infolgedessen zu einer doppelten Rezession der europäischen Wirtschaft. Auf der anderen Seite waren von Ausgabenkürzungen in der EU in erster Linie öffentliche Investitionen betroffen. Ein Vergleich der durchschnittlichen öffentlichen Investitionsquote im Zeitraum 2015-2019 mit der Durchschnittsquote vor der Krise (2005-2009) zeigt, dass die Investitionen in 20 von 27 Mitgliedstaaten teilweise um bis zu 50 % zurückgegangen sind, sodass der staatliche Kapitalstock zwischen 2013 und 2017 im Euroraum an Wert verloren hat, was sich in einem Rückgang der öffentlichen Nettoinvestitionen niederschlug.

2.2.

Die COVID-19-Pandemie stellt den haushaltspolitischen Rahmen der EU vor noch gravierendere Herausforderungen: Der Konjunktureinbruch sowie die politischen Maßnahmen zur Abfederung der sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie haben in vielen Mitgliedstaaten zu einem massiven Anstieg der Haushaltsdefizite und der Schuldenquoten im Verhältnis zum BIP geführt (3). Schätzungen des Europäischen Fiskalausschusses (2020) (4) zufolge würden die erwarteten Maßnahmen zur Reduzierung der Schuldenquote bei unveränderter Anwendung der EU-Haushaltsregeln nach Aufhebung der allgemeinen Ausweichklausel einige Mitgliedstaaten übermäßig stark belasten, was erhebliche negative Auswirkungen auf die Wirtschaft, Gesellschaft und Politik hätte und die wirtschaftliche Erholung in der EU gefährden würde.

2.3.

Eine Reform der EU-Haushaltsregeln ist nicht nur für eine kurz- bis mittelfristige Stabilisierung der Wirtschaft erforderlich. Auch für die Finanzierung des sozioökologischen Wandels unserer Wirtschaft und zur Gewährleistung der Vollbeschäftigung, guter Arbeitsplätze und gerechter Übergänge ist sie von entscheidender Bedeutung. Um die Klimaziele der EU zu erreichen, ist eine tief greifende Modernisierung des Kapitalstocks erforderlich. Für eine nachhaltige Wirtschaft bedarf es einer massiven Erhöhung der öffentlichen Investitionen, andernfalls werden die europäischen Volkswirtschaften mit klimabedingten Haushaltsrisiken konfrontiert sein (5). Gleichzeitig muss die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen sichergestellt werden. In seinen früheren Stellungnahmen hat der EWSA bereits die Notwendigkeit einer goldenen Regel für öffentliche Investitionen im EU-Haushaltsrahmen hervorgehoben (6). Diese Forderungen sind nach wie vor gültig: Wenn Europa seine Klima- und Umweltziele bis 2030 erreichen soll, entsteht nach jüngsten Schätzungen der Europäischen Kommission bis zum Jahr 2030 eine Finanzierungslücke von 470 Mrd. EUR jährlich (7). Wie zu Recht hervorgehoben, wird die Mobilisierung des erforderlichen Finanzvolumens eine große politische Herausforderung darstellen, und öffentliche Investitionen werden dabei zweifelsfrei eine entscheidende Rolle spielen, nicht zuletzt, um private Investitionen anzukurbeln. Bei der Reform des haushaltspolitischen Rahmens der EU müssen diese Überlegungen berücksichtigt werden.

2.4.

Der EWSA betont, dass sich die Mitgliedstaaten der Herausforderung stellen und ihre öffentliche Schuldenquote reduzieren müssen, sobald die wirtschaftliche Erholung greift, um ausreichenden haushaltspolitischen Spielraum für die nächste Wirtschaftskrise zu schaffen. Mit der in dieser Stellungnahme vorgeschlagenen Ausgabenregel (siehe Absätze 3.3.2 und 3.3.3) ließe sich in der Tat sicherstellen, dass die Mitgliedstaaten ihre öffentlichen Finanzen zeitnah konsolidieren können.

2.5.

Der EWSA betont, dass bei einer Überarbeitung des haushaltspolitischen Rahmens der EU der derzeitige makroökonomische Kontext berücksichtigt werden muss. Sowohl der IWF (8) als auch die Europäische Kommission (9) gehen davon aus, dass sich die Schuldenstandsquoten dank niedriger Zinssätze und steigender Wachstumsraten kurz- bis mittelfristig stabilisieren dürften. Die Tragfähigkeit der öffentlichen Verschuldung hängt von der (realen) BIP-Wachstumsrate, dem jährlichen Primärsaldo und den (realen) Zinssätzen für ausstehende Staatsschulden ab. Der EWSA fordert die Europäische Kommission nachdrücklich auf, diese Faktoren bei der Bewertung der Schuldentragfähigkeit der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen.

2.6.

Darüber hinaus betont der EWSA, dass nachhaltige öffentliche Finanzen stark von verlässlichen öffentlichen Einnahmen und einer gerechten Besteuerung abhängen, wozu etwa auch die Bekämpfung von Steuerbetrug und aggressiver Steuerplanung zählt. Darüber hinaus sollten die angekündigten neuen Eigenmittel zu einer gerechteren Besteuerung sowie zu sozialer Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit beitragen. Transparenz bei den Einnahmen und Ausgaben, eine offene Auftragsvergabe und die ständige Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Überwachung der öffentlichen Finanzverwaltung sind für tragfähige öffentliche Finanzen ebenfalls erforderlich.

2.7.

In seinen früheren Stellungnahmen hat der EWSA die Überprüfung der wirtschaftspolitischen Steuerung der Europäischen Kommission begrüßt und die Notwendigkeit einer Überarbeitung hervorgehoben (10). Der EWSA hat zudem vorgeschlagen, dass die Frage der Umgestaltung der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU auf der Konferenz über die Zukunft Europas debattiert werden soll. Die Anpassung der Vorschriften des AEUV über die wirtschaftspolitische Steuerung an die derzeitige wirtschaftliche Realität der EU sollte kein Tabu sein. Der EWSA bekräftigt diese Forderungen, insbesondere angesichts der COVID-19-Krise. Er fordert, möglichst bald mit der Überprüfung der wirtschaftspolitischen Steuerung zu beginnen, um sie auf ein wohlstandsorientiertes Konzept umzustellen und eine Rückkehr zu den alten Haushaltsregeln zu vermeiden (11).

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.   Neujustierung der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU

3.1.1.

Die Haushaltspolitik sollte Teil eines breiter angelegten und ausgewogenen Steuerungsrahmens sein. Der EWSA spricht sich für eine wohlstandsorientierte wirtschaftspolitische Steuerung aus, bei der dem sozialen und wirtschaftlichen Wohlergehen der Menschen Vorrang eingeräumt und niemand zurückgelassen wird, gleichzeitig aber auch die Tragfähigkeit der öffentlichen Verschuldung sichergestellt wird. Der Ausschuss fordert daher eine ausgewogene Wirtschaftspolitik, bei der mehrere zentrale politische Ziele als bedeutend angesehen und gleichrangig verfolgt werden: nachhaltiges und integratives Wachstum, Vollbeschäftigung, gute Arbeit und gerechte Übergänge, gerechte Verteilung von Einkommen und Wohlstand, Gesundheit und Lebensqualität, ökologische Nachhaltigkeit, Finanzmarktstabilität, Preisstabilität, ausgewogene Handelsbeziehungen, eine wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft und tragfähige öffentliche Finanzen. Diese Ziele entsprechen sowohl den in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union verankerten Zielen als auch den aktuellen UN-Nachhaltigkeitszielen (12).

3.1.2.

Um die Mitgliedstaaten auf ihrem Weg hin zu einer nachhaltigen und inklusiven Wirtschaft zu unterstützen, muss ihnen nicht nur unter bestimmten Bedingungen mehr haushaltspolitischer Spielraum gewährt werden, sondern es müssen auch weiterhin Anreize für Reformen gefördert werden. Der derzeitige Rahmen für die wirtschaftspolitische Steuerung der EU fußt auf drei Säulen: a) der haushaltspolitischen Überwachung, b) der makroökonomischen Überwachung und c) der Koordinierung der Sozial- und Beschäftigungspolitik. Die wirtschaftspolitische Steuerung ist also bereits jetzt stark auf Reformen ausgerichtet. In einer Reihe empirischer Studien wird betont, dass sich die meisten der bisherigen länderspezifischen Empfehlungen trotz Reformen auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte konzentriert haben (13). Der EWSA fordert die EU-Organe auf, bei künftigen länderspezifischen Empfehlungen ausgewogener vorzugehen: Neben haushaltspolitischen Richtwerten sollten auch die Klimaziele der EU und die europäische Säule sozialer Rechte als wichtige Bezugspunkte für länderspezifische Empfehlungen dienen. Besonderes Augenmerk sollte einerseits auf Reformen gelegt werden, die den Übergang zu einer grünen und digitalen Wirtschaft unterstützen (etwa aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und Programme für lebenslanges Lernen, darunter auch Umschulungsprogramme und Programme zur Unterstützung der beruflichen Neuorientierung) sowie andererseits auf Reformen, mit denen sichergestellt wird, dass EU-Mittel wirksam genutzt werden (z. B. Aufbau technischer Kapazitäten in den öffentlichen Verwaltungen zur Verwaltung von Investitionsvorhaben, effiziente und offene öffentliche Beschaffungssysteme sowie Reformen zur Beseitigung anderer nichtmonetärer Hindernisse für eine wirksame Investitionspolitik).

3.2.   Stärkung der öffentlichen Investitionen

3.2.1.

Der EWSA betont, dass bei einer Reform des haushaltspolitischen Rahmens der EU die öffentliche Investitionen besser geschützt werden müssen (14). Der Multiplikatoreffekt öffentlicher Investitionen ist besonders hoch. Kürzungen öffentlicher Investitionen wirken sich deshalb besonders negativ auf das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung aus. Kürzungen bei den öffentlichen Investitionen und bei den Staatsausgaben im Allgemeinen sind vor allem in Zeiten von Konjunktureinbrüchen und Rezessionen besonders schädlich (15). Darüber hinaus geht aus zahlreichen Studien hervor, dass öffentliche Investitionen langfristig wachstumsfördernd sind (16). Eine langfristige Erhöhung öffentlicher Investitionen bietet auch eine sicher Grundlage für die Planung im privaten Sektor (17).

3.2.2.

Diese Tatsachen rechtfertigen einen Ansatz, nach dem bei der Bewertung der Einhaltung der EU-Haushaltsvorschriften durch die Mitgliedstaaten die öffentlichen Investitionen bevorzugt behandelt werden. Der EWSA spricht dafür aus, bei öffentlichen Investitionen eine „goldene Regel“ (18) anzuwenden, um einerseits die Produktivität zu sichern und die soziale und ökologische Grundlage für das Wohlergehen künftiger Generationen zu schützen und andererseits die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte zu gewährleisten. Generell schlägt der EWSA vor, im überarbeiteten haushaltspolitischen Rahmen das traditionelle, die öffentlichen Finanzen betreffende Konzept der goldenen Regel anzuwenden (19). Das bedeutet, dass öffentliche Nettoinvestitionen bei der Berechnung des gesamtstaatlichen Defizits ausgenommen werden. Wenn, wie vom EWSA gefordert, eine Ausgabenregel eingeführt wird (siehe Absätze 3.3.2 und 3.3.3), dann sollten öffentliche Nettoinvestitionen auch von der Obergrenze für öffentliche Ausgaben ausgenommen und die Investitionskosten auf den gesamten Lebenszyklus und nicht — wie derzeit der Fall — auf einen Zeitraum von vier Jahren verteilt werden. Öffentliche Nettoinvestitionen erhöhen den öffentlichen und/oder sozialen Kapitalstock und bieten Vorteile für künftige Generationen (20). Die künftigen Generationen müssen zwar die öffentlichen Schulden weiter bedienen, erhalten aber im Gegenzug ein entsprechendes und höheres öffentliches Kapital.

3.2.3.

Der EWSA betont, dass die goldene Regel zu einer Vorzugsbehandlung öffentlicher Investitionen im haushaltspolitischen Rahmen der EU führt. Sie entbindet die Regierungen nicht von der Pflicht, wichtige Investitionsprojekte zu rechtfertigen und Mehrheiten dafür zu gewinnen. Transparenz und parlamentarische Rechenschaftspflicht müssen in jedem Fall aufrechterhalten bleiben, nicht zuletzt, um zu gewährleisten, dass nur solche öffentlichen Investitionen getätigt werden, die dem Gemeinwohl dienen.

3.2.4.

Als allerersten Schritt empfiehlt der EWSA eine grundlegende Überarbeitung der „Investitionsklausel“. Zunächst sollte seines Erachtens die im Stabilitäts- und Wachstumspakt enthaltene „Investitionsklausel“ flexibler ausgelegt werden. Bisher kam sie nur selten zum Tragen, was in erster Linie an den restriktiven Anwendbarkeitskriterien liegt (21). Diese Anwendbarkeitskriterien sollten gelockert werden: Grundsätzlich sollten öffentliche Investitionen eine vorübergehende Abweichung von den Anpassungspfaden rechtfertigen, und zwar unabhängig davon, in welcher Phase des Konjunkturzyklus sich der betreffende Mitgliedstaat gerade befindet, und selbst dann, wenn diese Investitionen zu einer Überschreitung des Defizit-Referenzwerts von 3 % des BIP führen.

3.2.5.

Derzeit sind Abweichungen vom mittelfristigen Haushaltsziel bzw. vom Anpassungspfad hin zu diesem Ziel nur zulässig, wenn sie mit den nationalen Ausgaben für von der EU kofinanzierte Vorhaben verknüpft sind (22). Der EWSA schlägt eine weiter gefasste Definition des Begriffs „Investitionen“ vor. Gleichzeitig muss die Definition von Investitionen klar und praktikabel sein, um „kreative Buchführung“ zu verhindern. Die an die Mitgliedstaaten gerichteten Leitlinien der Europäischen Kommission für die Umsetzung der Aufbau- und Resilienzfazilität und die darin enthaltene Definition von Investitionen bilden einen guten Ausgangspunkt (23), da sie sowohl Investitionen in materielle Vermögenswerte als auch Investitionen in Gesundheit, Sozialschutz und die allgemeine und berufliche Bildung sowie Investitionen für den grünen und den digitalen Wandel umfassen.

3.2.6.

Der EWSA begrüßt die Taxonomie für nachhaltige Tätigkeiten. Damit wird präzise festgelegt, was als „ökologisch nachhaltige Wirtschaftstätigkeit“ eingestuft werden kann, wodurch es wiederum möglich ist, „ökologisch nachhaltige Investitionen“ zu definieren (24). Der EWSA empfiehlt deshalb, die gut entwickelte EU-Taxonomie für nachhaltige Tätigkeiten in Kombination mit einer goldenen Regel als Grundlage für eine Bewertung der Nachhaltigkeit öffentlicher Investitionen heranzuziehen. Darüber hinaus sieht der EWSA mit Interesse den Vorschlägen der Kommission zur umweltgerechten Haushaltsplanung entgegen.

3.3.   Größere konjunkturelle Flexibilität für die Haushaltspolitik

Reform der Konjunkturbereinigungsmethoden vs. Einführung einer Ausgabenregel

3.3.1.

Der EWSA betont, dass die Konjunkturbereinigungsmethode der Europäischen Kommission intransparent ist und zu Prozyklizität führt. Die von der Europäischen Kommission angewandte Methode zur Bestimmung des strukturellen Saldos hat sich als problematisch erwiesen, da die Berechnung des Produktionspotenzials stark von der aktuellen Wirtschaftslage beeinflusst wird. In Phasen des Konjunkturabschwungs beispielsweise wird das Produktionspotenzial rasch und stark nach unten korrigiert, obwohl dies nicht den realen Bedingungen entsprechen muss (25). Die Abwärtskorrektur des Produktionspotenzials hat schwerwiegende Folgen für das berechnete strukturelle Defizit und die dementsprechend ermittelten Konsolidierungsmaßnahmen. Eine geringere Abhängigkeit der Berechnung des Produktionspotenzials von Konjunkturschwankungen würde den Mitgliedstaaten einen erheblichen haushaltspolitischen Spielraum für eine antizyklische Wirtschaftspolitik eröffnen. Dieser Reformvorschlag könnte leicht umgesetzt werden und sollte als reine Mindestanforderung für eine Umgestaltung der EU-Haushaltsregeln in Betracht gezogen werden, die eine angemessenere Reaktion auf konjunkturelle Schwankungen ermöglicht. Doch selbst nach einer Reform bleibt das strukturelle Defizit ein äußerst komplexes Konzept, und seine Berechnung lässt sich den Bürgern und Interessenträgern kaum erklären. Angesichts der technischen Probleme und der Intransparenz des Konzepts sollten alternative Optionen in Betracht gezogen werden.

3.3.2.

Eine andere Reformoption bestünde darin, ganz vom umstrittenen Konzept des strukturellen Defizits abzugehen und stattdessen eine Ausgabenregel in einem überarbeiteten haushaltspolitischen Rahmen anzuwenden (26). Im Gegensatz zum konjunkturbereinigten Haushaltsdefizit lassen sich öffentliche Ausgaben in Echtzeit mitverfolgen und werden direkt vom Staat kontrolliert. Öffentliche Investitionen sollten durch eine Trennung zwischen laufenden Ausgaben und einem Investitionshaushalt gefördert werden, wobei nur die laufenden Ausgaben Beschränkungen in Bezug auf das nominale Ausgabenwachstum unterliegen sollten. Auf diese Weise könnte die goldene Regel mit einer Ausgabenregel kombiniert werden (27).

3.3.3.

Die nominalen öffentlichen Ausgaben würden abzüglich der Zinszahlungen und der zyklischen Staatsausgaben berechnet. Die Obergrenzen könnten durch die mittelfristige Wachstumsrate des realen Produktionspotenzials zuzüglich der Zielinflationsrate der EZB von 2 % festgelegt werden. Wenn konjunkturelle Faktoren dazu führen, dass die Steuereinnahmen (bei einer Rezession) sinken oder (bei einem Boom) steigen, fördert die Regelung die Stabilität, indem sie sicherstellt, dass die Staatsausgaben nur innerhalb der festgelegten Grenzen steigen. Ausgaben über die festgelegte Obergrenze hinaus sollten nur dann zulässig sein, wenn sie haushaltsneutral sind, d. h., wenn die Ausgaben anderswo um denselben Betrag gekürzt werden oder wenn die Steuereinnahmen steigen. Bei allgemeinen Steuersenkungen müsste dieser Entzug von Mitteln in den Ausgabenzuwachsraten berücksichtigt werden. Die vorgeschlagene Kombination aus Ausgabenregel und goldener Regel für öffentliche Investitionen könnte ein wirksames Instrument darstellen, um die öffentlichen Ausgaben auf einem tragfähigen Niveau zu begrenzen und gleichzeitig die automatischen Stabilisatoren zu aktivieren und die Regierungen in die Lage zu versetzen, diskretionäre Maßnahmen zu ergreifen.

Flexible und länderspezifische Schuldenanpassungspfade

3.3.4.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag des Europäischen Fiskalausschusses (2020) (28), länderspezifische Elemente in einem vereinfachten haushaltspolitischen Rahmen einzuführen. Insbesondere begrüßt der EWSA den Vorschlag zur Differenzierung der Haushaltsanpassung in den einzelnen Mitgliedstaaten bei gleichzeitiger Wahrung der Schuldentragfähigkeit. Eine länderspezifische Differenzierung in Bezug auf die Strategien zur Reduzierung der Schuldenquote sollte auf einer umfassenden wirtschaftlichen Analyse beruhen, bei der folgende Faktoren berücksichtigt werden: Ausgangsverschuldung und ihre Zusammensetzung, Zins-Wachstums-Differenziale als Faktor der Tragfähigkeit, Inflationsaussichten, geschätzte Kosten der Bevölkerungsalterung und der ökologischen Herausforderungen, Arbeitslosigkeit und Armut, Einkommens- und Wohlstandsverteilung, interne und externe Ungleichgewichte und vor allem die Frage, ob die haushaltspolitische Anpassung realistisch ist (z. B. erforderlicher Primärüberschuss) (29).

3.3.5.

Der EWSA erinnert daran, dass die fiskalischen Referenzwerte nicht in Artikel 126 AEUV selbst, sondern in Protokoll Nr. 12 im Anhang zum Vertrag festgelegt sind. Deshalb können diese Werte im Rat einstimmig ohne offizielles Vertragsänderungsverfahren geändert werden. Der EWSA fordert die EU-Organe auf, eine Anhebung der Schuldenobergrenze von 60 % in Erwägung zu ziehen und dabei dem aktuellen makroökonomischen Kontext Rechnung zu tragen und die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen zu gewährleisten.

3.3.6.

Schließlich sollte in diesem Zusammenhang noch ergänzt werden, dass die ausschließliche Nutzung nationaler automatischer Stabilisatoren in Rezessionszeiten nicht ganz dem Konzept der antizyklischen Politik entspricht. Haushaltsdefizite aufgrund von Produktionsausfällen und sinkender Beschäftigung können konjunkturbedingte Verluste nicht in vollem Umfang ausgleichen und reichen auch nicht aus, um einem Konjunkturabschwung gänzlich entgegenzuwirken. Es handelt sich dabei lediglich um passive und nur teilweise antizyklische Reaktionen. Sie sollten durch aktive und befristete diskretionäre Maßnahmen ergänzt werden, die dazu beitragen, einen konjunkturellen Rückgang in einen Aufschwung umzukehren. In der Vergangenheit haben sich etliche Mitgliedstaaten für eine weitere Senkung der Schuldenquote entschieden, was negative wirtschaftliche Auswirkungen hatte. Haushaltspolitische Anreize wären da zielführender gewesen. In einem künftigen haushaltspolitischen Rahmen sollten unter der Voraussetzung, dass ein günstiges Zinsumfeld bestehen bleibt, höhere Primärdefizite zulässig sein, während gleichzeitig die Schuldenquote konstant gehalten bzw. gesenkt und die Schuldentragfähigkeit gewährleistet wird. Deshalb müssen Ausnahmeklauseln weiterhin ein Eckpfeiler eines jeden künftigen haushaltspolitischen Rahmens der EU bleiben und entsprechend angepasst werden.

Deaktivierung der Ausweichklausel

3.3.7.

Der EWSA begrüßt die im haushaltspolitischen Rahmen festgelegte allgemeine Ausweichklausel und warnt vor einer voreiligen „Rückkehr zum Normalbetrieb“, da dies einen kontraktiven Impuls auslösen und dazu führen könnte, dass die Mitgliedstaaten ihre Ausgaben kürzen, um die mittelfristigen Haushaltsziele zu erreichen, was nach 2010 bereits der Fall war und zu einer doppelten Rezession führte. Dies würde dem Ziel des Programms NextGenerationEU zuwiderlaufen und könnte eine neue Rezession auslösen.

3.3.8.

Der EWSA unterstützt die Entscheidung der Europäischen Kommission, die allgemeine Ausweichklausel 2022 weiter anzuwenden und sie 2023 auszusetzen, sofern das Niveau der Wirtschaftstätigkeit das Vorkrisenniveau erreicht hat (30). Darüber hinaus unterstützt der EWSA die Zusage der Europäischen Kommission, wonach länderspezifische „Situationen […] auch nach der Deaktivierung der allgemeinen Ausweichklausel weiterhin berücksichtigt werden“ (31). Die Kommission sollte schließlich Leitlinien für den Übergangszeitraum bis zum Inkrafttreten des neuen haushaltspolitischen Rahmens vorlegen, in dem bei einem übermäßigen Defizit kein Verfahren eingeleitet werden, es aber möglich sein sollte, auf länderspezifischer Basis die „Klausel betreffend außergewöhnliche Ereignisse“ anzuwenden. Darüber hinaus fordert der EWSA die Kommission auf, die zum Stillstand gekommene Überarbeitung des EU-Rahmens für die wirtschaftspolitische Steuerung zügig fortzusetzen. Anstelle einer „Rückkehr“ empfiehlt der EWSA, wie im Folgenden dargelegt, eine Wende hin zu einem überarbeiteten wirtschaftspolitischen Steuerungsrahmen (32).

3.4.   Die internationale Rolle des Euro

3.4.1.

Unsere gemeinsame Währung — der Euro — genießt ein hohes internationales Ansehen und ist weltweit als Reserve- und Handelswährung anerkannt. Der Ruf des Euro als stabile und vertrauenswürdige Währung hängt von klaren, verständlichen und durchsetzbaren Haushaltsregeln ab, die die öffentlichen Investitionen mit dem Ziel stärken, den Kapitalstock zu modernisieren und im Fall eines Konjunkturabschwungs unter Gewährleistung der Schuldentragfähigkeit einen größeren konjunkturabhängigen Spielraum zu schaffen. Der EWSA ist daher der Auffassung, dass eine Überarbeitung der Haushaltsregeln die Stabilität des Euro als wichtigste „Ankerwährung“ der Union in keiner Weise untergraben darf. Besonderes Augenmerk sollte in der Debatte über die Überarbeitung der Haushaltsregeln darauf gelegt werden, wie die Finanzmärkte die langfristigen Aussichten des Euro als Währung von globaler Bedeutung wahrnehmen. Grundsätzlich hängt der Ruf des Euro von der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Stabilität ab.

3.5.   Stärkung der Rolle der Parlamente und der Zivilgesellschaft bei der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU

3.5.1.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Haushaltspolitik ein klassischer Bereich der parlamentarischen Politik ist und haushaltspolitische Entscheidungen sich auf die gesamte Struktur der Einnahmen und Ausgaben eines Staates auswirken. Daher muss sowohl den nationalen Parlamenten als auch dem Europäischen Parlament eine wichtige Rolle im künftigen Rahmen für die wirtschaftspolitische Steuerung der EU eingeräumt werden. Die Rolle des Europäischen Parlaments sollte im Rahmen des Europäischen Semesters durch eine interinstitutionelle Vereinbarung gestärkt werden. Gleichzeitig müssen das Subsidiaritätsprinzip und die Aufteilung der Zuständigkeiten gemäß den Verträgen geachtet werden. Die nationalen Parlamente müssen ihre Regierungen für die von ihnen verfolgte Haushaltspolitik zur Rechenschaft ziehen. Deshalb müssen sie wirksam in das Europäische Semester und die Umsetzung der nationalen Aufbaupläne eingebunden werden.

3.5.2.

Außerdem muss die Zivilgesellschaft sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene stärker in das Europäische Semester einbezogen werden. Auf diese Weise kann eine ausgewogene Wirtschaftspolitik gestaltet werden, bei der alle Interessen miteinander in Einklang gebracht werden. Dies gilt insbesondere für die Steuerung der Aufbau- und Resilienzfazilität, an der die Zivilgesellschaft nur unzureichend beteiligt ist (33). Das Partnerschaftsprinzip, das seit Langem bei der Verwaltung der europäischen Struktur- und Investitionsfonds angewandt wird, sollte als Vorbild für einen wirksamen Mechanismus zur Einbeziehung der Zivilgesellschaft herangezogen werden.

3.5.3.

Bei erheblichen Abweichungen von den Indikatoren für die wirtschaftspolitischen Ziele sollten Verhandlungen zwischen den EU-Organen und den Mitgliedstaaten aufgenommen werden. Beide Seiten sollten gemeinsam und auf Augenhöhe nach Lösungen suchen. Anstatt den betroffenen Mitgliedstaaten finanzielle Sanktionen anzudrohen, könnte das Problem durch positive Anreize entschärft werden. Das zentrale Kriterium für Empfehlungen muss die Förderung eines inklusiven und nachhaltigen Wachstums sein (34).

3.5.4.

Der EWSA kritisiert die sogenannten „makroökonomischen Konditionalitäten“ in der Verordnung mit gemeinsamen Bestimmungen für die europäischen Struktur- und Investitionsfonds, in der Verordnung über die Aufbau- und Resilienzfazilität und im zwischenstaatlichen Vertrag über den Europäischen Stabilitätsmechanismus, nach denen die Auszahlung von EU-Mitteln grob gesagt eingestellt werden kann, wenn Mitgliedstaaten gegen die EU-Haushaltsregeln verstoßen oder zu makroökonomischen Ungleichgewichten beitragen. Nach Aussetzung der Ausweichklausel könnten diese makroökonomischen Konditionalitäten einen kontraktiven Impuls auslösen und die Mitgliedstaaten dazu veranlassen, ihre Ausgaben zu senken, um die haushaltspolitischen Ziele zu erreichen. Dies würde dem politischen Ziel des territorialen Zusammenhalts und den übergeordneten Zielen des Programms „NextGenerationEU“ zuwiderlaufen.

3.5.5.

Für eine nachhaltige Erholung ist eine akkommodierende Geldpolitik nach wie vor von entscheidender Bedeutung. Das Europäische Parlament könnte seine jährlichen Entschließungen zur EZB und seine vierteljährlichen Anhörungen zum „währungspolitischen Dialog“ mit der EZB nutzen, um über sekundäre Ziele abzustimmen und einen demokratischeren Prozess mit Leitlinien für die makroökonomische und die Industriepolitik in Gang zu setzen. Dies würde eine stärkere Einbeziehung der Sozialpartner, der Bürgerinnen und Bürger sowie der nationalen Parlamente ermöglichen. Auf diese Weise würde die EZB für ein erweitertes Bündel von Zielen neu legitimiert. Sie könnte effizient arbeiten und ihr komplettes Instrumentarium einsetzen, um unter der Federführung demokratischer Institutionen auf klare, in einem politischen Prozess festgelegte strategische Ziele hinzuarbeiten. Die EZB ist eine öffentliche Einrichtung und kann den Mitgliedstaaten dabei helfen, sich in Zeiten steigender Zinssätze zu finanzieren — entweder unter dem Gesichtspunkt der Preisstabilität oder der Beschäftigung —, indem sie Zinssätze und Zinsspreads anvisiert oder gezielte geldpolitische Instrumente einsetzt.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  EWSA Entschließung Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft in die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne — was funktioniert und was nicht? 2021 (ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 1).

(2)  Europäischer Fiskalausschuss (2019), Bewertung der Haushaltsvorschriften der EU mit Schwerpunkt auf den Sixpack- und Twopack-Verordnungen.

(3)  Europäische Kommission, European Economic Forecast Spring 2021 (Wirtschaftsprognose für Europa — Frühjahr 2020).

(4)  Europäischer Fiskalausschuss (2020): Annual Report 2020.

(5)  Finance Watch (2021), Fiscal Mythology Unmasked. Debunking eight tales about European public debt and fiscal rules.

(6)  ABl. C 353 vom 18.10.2019, S. 32, ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 12 und ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 227.

(7)  Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen: Identifying Europe’s recovery needs, SWD(2020) 98 final.

(8)  Fiscal Monitor Reports des IWF, April 2021.

(9)  Debt Sustainability Monitor, Europäische Kommission, Februar 2021.

(10)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 227.

(11)  ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 12.

(12)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 227.

(13)  Crespy, Amandine, Vanheuverzwijn, Pierre (2019), What Brussels means by structural reforms: empty signifier or constructive ambiguity?, in: Comparative European Politics, Band 17, Ausgabe 1, S. 92-111; Hacker, Björn (2019), A European Social Semester? The European Pillar of Social Rights in Practice. Brüssel, Europäisches Gewerkschaftsinstitut.

(14)  Siehe auch Europäischer Fiskalausschuss (2019).

(15)  Europäische Kommission (2016), Report on Public Finances in EMU 2016, Institutional Paper Nr. 045; J-M Fournier (2016), The positive effect of public investment on potential growth, OECD Economics Department, Arbeitspapier Nr. 1347.

(16)  „Fiscal Monitor“ des IWF (2020), Policies for the Recovery.

(17)  H. Bardt, S. Dullien, M. Hüther und K. Rietzler (2020), For a sound fiscal policy. Enabling public investments, IW Policy Paper Nr. 6/2020, Institut der deutschen Wirtschaft (IW), Köln.

(18)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 227.

(19)  A. Truger (2020), Reforming EU Fiscal Rules: More Leeway, Investment Orientation and Democratic Coordination, Intereconomics, 55(5).

(20)  Siehe auch P. Bom und J. Ligthart (2014), What have we learned from three decades of research on the productivity of public capital?, Journal of Economic Surveys, 28(5), S. 889-916.

(21)  J. Valero (2019), New investment clause fails to win EU member state support, Euractiv. Siehe Europäische Kommission (2015), Optimale Nutzung der im Stabilitäts- und Wachstumspakt vorgesehenen Flexibilität, COM(2015) 12 final.

(22)  Europäische Kommission (2015).

(23)  Europäische Kommission (2021), Guidance to Member States. Recovery and resilience plans, SWD(2021) 12 final, Teil 2/2.

(24)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 103.

(25)  A. Truger (2015), Austerity, cyclical adjustment and the remaining leeway for expansionary fiscal policies within the current EU fiscal framework, Journal for a Progressive Economy, 6, S. 32-37.

(26)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 227.

(27)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 227.

(28)  Europäischer Fiskalausschuss (2020).

(29)  Europäischer Fiskalausschuss (2020).

(30)  Europäische Kommission (2021), Wirtschaftspolitische Koordinierung im Jahr 2021: Überwindung von COVID-19, Unterstützung der Erholung und Modernisierung unserer Wirtschaft, COM(2021) 500 final.

(31)  Europäische Kommission (2021), Ein Jahr nach dem Ausbruch von COVID-19 — die fiskalpolitische Reaktion, COM(2021) 105 final.

(32)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 227.

(33)  EWSA Entschließung Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft in die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne — was funktioniert und was nicht? (2021) (ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 1).

(34)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 227.


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/18


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die europäische Glasindustrie am Scheideweg: Wie kann die Glasindustrie umweltfreundlicher und energieeffizienter werden, ohne ihre Wettbewerbsfähigkeit und ihre qualifizierten Arbeitsplätze einzubüßen?“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 105/04)

Berichterstatter:

Aurel Laurențiu PLOSCEANU

Ko-Berichterstatter:

Gerald KREUZER

Beschluss des Plenums

25.3.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständiges Arbeitsorgan

Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Annahme in der CCMI

29.9.2021

Verabschiedung im Plenum

21.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

142/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Die europäische Glasindustrie ist ein innovativer und strategisch überaus bedeutsamer Industriezweig, von dem die EU in hohem Maße profitiert. Glaserzeugnisse sind unabdingbar für die Umstellung auf eine klimaneutrale Kreislaufwirtschaft. Sie werden in der Renovierung von Gebäuden eingesetzt, man braucht sie, um verstärkt Energie aus erneuerbaren Quellen zu erzeugen, die verkehrsbedingten CO2-Emissionen zu senken und um nachhaltige Verpackungen herzustellen. Glasprodukte leisteten außerdem einen Beitrag zur digitalen Revolution in Europa. Kurzum, Glas ist ein Zukunftsprodukt.

1.2.

Der EWSA fordert die politischen Entscheidungsträger der EU auf, die Glasindustrie und ihre Unterbranchen in den Mittelpunkt der aktuellen politischen Prioritäten zu stellen, wie u. a. im Paket „Fit für 55“, im Paket zur Kreislaufwirtschaft, in der Digitalen Agenda, in der strategischen Agenda für Wertschöpfungsketten sowie in der internationalen Handelspolitik der EU und den entsprechenden Instrumenten.

1.3.

Die Renovierungswelle der EU würde ein enormes geschäftliches Potenzial für Glasprodukte eröffnen, das Investitionen erfordert und außerdem erheblich zur Verringerung der CO2-Emissionen von Gebäuden beiträgt. Wir fordern die EU und die nationalen politischen Entscheidungsträger auf, die derzeit vorgeschlagenen Ziele zumindest beizubehalten oder sie nach Möglichkeit noch höher zu stecken.

1.4.

Eine Energiewende innerhalb der Branche ist notwendig, um den naturgemäß energieintensiven Prozess der Glasherstellung kohlenstoffneutral zu gestalten. Diese Umstellung wird allerdings zu erheblichen Kostensteigerungen für die Unternehmen führen, da Betriebskosten und Kapitalanforderungen zunehmen werden.

1.5.

Der EWSA empfiehlt mit Nachdruck, die Glasindustrie durch Maßnahmen der EU zu unterstützen, um diesen Übergang zu ermöglichen, indem sowohl Kapital- als auch Betriebsausgaben finanziell unterstützt werden, Kapazitäten für erneuerbare Energien aufgebaut werden, eine erschwingliche Energieversorgung gewährleistet und sichergestellt wird, dass die Industrie keinem unlauteren Wettbewerb aus Drittländern ausgesetzt ist.

1.6.

Der EWSA befürwortet alle europäischen Maßnahmen und nationalen Konjunkturprogramme, die die Umstellung des Verkehrs auf intelligente und klimaneutrale Fahrzeuge und den massiven Ausbau der öffentlichen Verkehrssysteme erleichtern. Auch Hightech-Gläsern kommt dabei eine wichtige Rolle zu.

1.7.

Der EWSA empfiehlt der EU nachdrücklich, Glas als dauerhaftes Material einzustufen, da es inert, wiederverwendbar und unbegrenzt recycelbar ist.

1.8.

Der EWSA fordert eine Umstellung von nichtlinearen Materialien auf vollständig kreislauffähiges, wiederverwendbares und recyclingfähiges Glas. Dadurch könnte die Abhängigkeit von der Einfuhr fossiler Brennstoffe verringert werden, es müssten weniger neue Rohstoffe extrahiert werden, und die Erschöpfung der Ressourcen würde vermieden. Der EWSA schlägt vor, dass die EU die Vorteile von Glas als Beitrag zu nachhaltigen Verpackungssystemen anerkennt.

1.9.

Der EWSA empfiehlt dringend die verstärkte Anwendung der Grundsätze der Kreislaufwirtschaft, die durch eine öffentliche und private finanzielle Unterstützung und durch Partnerschaften nach Art der Initiative „Close the Glass Loop“ flankiert werden sollte, um das Glasrecycling zu fördern. So könnte man in Europa Glasabfälle vermeiden, den Energieverbrauch und die CO2-Emissionen senken und neue Arbeitsplätze im Glasrecycling schaffen.

1.10.

Aus Sicht des EWSA sollte die EU bedenken, dass Glas für die Erzeugung von grüner Energie unverzichtbar ist. Glas ist nicht nur ein wesentlicher Bestandteil von Solarzellen, sondern auch von Windkraftanlagen. Es kann darüber hinaus noch auf andere Weise zur Erzeugung von Ökostrom verwendet werden. Der EWSA fordert die Kommission und das Parlament auf, neue Maßnahmen der EU in Bezug auf die Klimaziele und die strategischen Wertschöpfungsketten zu entwickeln, damit es wieder eine Produktion von Solarzellen in Europa geben kann und die Produktion weiterer strategischer Glasprodukte (z. B. Windschutzscheiben für Fahrzeugbauer) und deren Wertschöpfungsketten gesichert werden.

1.11.

Der EWSA fordert mehr Unterstützung für Investitionen in die allgemeine und berufliche Bildung, damit neue, junge Arbeitskräfte die alternden Belegschaften ablösen können, wozu sie freilich die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten haben müssen. Die bereits in der Glasindustrie Beschäftigten müssen mit dem erforderlichen Wissen ausgestattet werden, um mit Innovationen und dem brancheninternen Wandel Schritt halten zu können.

1.12.

Der EWSA fordert die EU auf, unsere Glasindustrie vor dem Risiko der Verlagerung von CO2-Emissionen zu schützen. Wegen der immer höheren Klimaschutzziele und den steigenden CO2-Kosten braucht sie mehr anstatt weniger Schutz vor der Verlagerung von CO2-Emissionen. Die Wettbewerbsfähigkeit von Glasprodukten auf den Exportmärkten und in der EU selbst kann teilweise durch wirksame Maßnahmen gegen die Verlagerung von CO2-Emissionen im Rahmen des Emissionshandelssystems (EHS) sichergestellt werden. Dieses System sollte beibehalten werden, um die Industrie in der Umstellungsphase zu unterstützen, sodass das von der EU angestrebte Ziel der Klimaneutralität erreicht werden kann. Die Einführung des CO2-Grenzausgleichssystem (CBAM) und des Taxonomie-Pakets muss sorgfältig geprüft werden. Der Ausschuss fordert, dass das CBAM auch eine Lösung für den Export bieten und die Maßnahmen gegen die Verlagerung von CO2-Emissionen verstärkt werden sollten, indem ergänzend zum CBAM dafür gesorgt wir, dass bis mindestens 2030 eine freie Zuteilung in voller Höhe des Benchmarks im Einklang mit den WTO-Regeln möglich ist.

1.13.

Die Ökowende und der digitale Wandel in Europa und konkret in der Glasindustrie muss als ein gerechter Übergang gestaltet werden. Damit dieser Übergang möglichst breit mitgetragen wird, müssen die Arbeitnehmer einbezogen werden. Der soziale Dialog sollte deshalb auf allen Ebenen durch EU-Rechtsvorschriften unterstützt werden.

1.14.

Um die Entwicklungen in der Glasindustrie im Hinblick auf die Verringerung der CO2-Emissionen, die Produktion und weitere relevante Variablen zu überwachen, würde der EWSA eine gezieltere Unterstützung und Analyse der gesamten Branche und ihrer Unterbranchen sowie für jeden Mitgliedstaat begrüßen.

2.   Allgemeine Beschreibung der Glasindustrie

2.1.   Produktion

Laut Angaben der „Glass Alliance Europe“ wurden im Jahr 2020 in der EU 36,8 Mio. Tonnen Glas produziert. Die EU gehört zu den größten Glasherstellern der Welt. Die Glasindustrie produziert in fünf Teilbranchen:

a)

60,4 % — Behälterglas

b)

29,2 % — Flachglas

c)

3,2 % — Haushaltsglas

d)

5,3 % — Glasfasern (Bewehrung und Isolierung)

e)

2,1 % — Spezialglas

2.2.

Beschäftigung

Im Jahr 2018 waren in der Glasbranche in der EU-27 etwa 290 000 Arbeitnehmer beschäftigt (1). Diese Zahl bezieht sich auf die Herstellung, das Recycling und die Verarbeitung von Glas, da einige der Unterbranchen, insbesondere Flachglas, komplexe Wertschöpfungsketten aufweisen. In der Glasverarbeitung sind außerdem viele KMU tätig.

2.3.   Sicherheit und Gesundheitsschutz

2.3.1.

Die europäische Glasindustrie bietet hochwertige Arbeitsplätze in einem breiten Spektrum beruflicher Profile: vom Arbeiter ohne Fachausbildung bis hin zum Ingenieur mit Spezialwissen.

2.3.2.

Die Arbeit in der Glasindustrie ist mitunter körperlich hart und manchmal immer noch gefährlich. Gesundheits- und Sicherheitsmaßnahmen erfordern Investitionen und wirken sich häufig positiv auf die Produktivität aus. Die Maßnahmen zur Prävention von Berufskrankheiten werden kontinuierlich verbessert, wie etwa die Prävention von Silikose durch den sozialen Dialog über alveolengängiges kristallines Siliziumdioxid im Rahmen des „Europäischen Netzwerks Quarz“ (NEPSI). Die Sicherheits- und Präventionskultur hat die Qualität der Arbeitsplätze in der Branche verbessert.

2.4.   Alter, Bildung und Berufsbildung

Im Gegensatz zu Mittel- und Osteuropa sind die Arbeitskräfte in den westeuropäischen Ländern meist älter (50+) und sehr erfahren. Es wird immer schwieriger, neue, jüngere Arbeitnehmer zu gewinnen. Die Ablösung älterer und erfahrener Arbeitnehmer bedeutet, dass die nachrückenden Arbeitnehmer geschult und dass die heute Beschäftigten befähigt werden müssen, mit Innovationen und Veränderungen in der Branche Schritt zu halten.

2.5.   Die Glasindustrie ist hochinnovativ

2.5.1.

Durch Entwicklungen in den Bereichen Gesundheit und Wohlbefinden eröffnen sich neue Chancen und Märkte für nachhaltige, gesunde, wiederverwendbare und unbegrenzt recycelbare Glasverpackungen in einem geschlossenen Kreislauf. Die Glasindustrie arbeitet an Designinnovationen und versucht, bei der Senkung der im Produktionsprozess anfallenden CO2-Emissionen ganz neue Wege zu beschreiten, was zu einer tiefgreifenden Umgestaltung der Glasproduktion führt.

2.5.2.

Glaswaren für das Baugewerbe und die Automobilindustrie werden durch die Einarbeitung von Folien, Gasen, Beschichtungen, Kameras, Radar und anderen Materialien zur Verbesserung der Sicherheit, der Isoliereigenschaften und der Datenübertragungsfähigkeit zu immer komplexeren Produkten. Im Interesse der Effizienz können Solarzellen in Fassadenglas oder in Panoramadächer für PKW integriert werden, um Elektrizität zu erzeugen.

2.5.3.

Hightech-Glasprodukte werden außerdem in der Luftfahrt und in der Wehrtechnik eingesetzt. Glasprodukte und Verbundwerkstoffe kommen ferner in Raumfahrzeugen und Satelliten als Beschichtungen, Elektronik, Sensoren, Anzeigen usw. zum Einsatz. Dies macht die Glasindustrie nicht nur zu einer hightechorientierten und innovativen Branche, sondern auch strategisch sehr wichtig.

2.6.   Auswirkungen von COVID-19

Seit Beginn der Pandemie sind die Märkte in Schlüsselsektoren stark getroffen, was zu einem Produktionsrückgang geführt hat; die Erholung in einigen wichtigen Glasbranchen (Flachglas, Haushaltsglas, Glasfasern) verläuft nur schleppend. Im Jahr 2020 musste die Industrie je nach Unterbranche Rückgänge zwischen 1 % und 14 % verkraften. In der Flachglasbranche, die hauptsächlich die Bau- und Automobilindustrie beliefert, schrumpfte der Markt in der EU 2020 um mehr als 10 %. Die Nachfrage aus dem Baugewerbe hat sich stärker als erwartet erholt, während der Markt für Automobilglas bis heute nach wie vor sehr schwach ist.

3.   Der Beitrag von Glas zur Klimaneutralität, zur Kreislaufwirtschaft, zum Wohlergehen und zur Digitalen Agenda der EU

3.1.   Klimaneutralität

3.1.1.   Renovierungswelle

3.1.1.1.

In der Renovierungswelle der EU, die darauf abzielt, den Energieverbrauch und die CO2-Emissionen der Gebäude drastisch zu senken, sind Glasprodukte besonders wichtig. Fenster müssen mit Glas nach dem höchsten Energieeffizienz-Standard ausgestattet werden, um die Gebäude zu isolieren. Durch diese Maßnahme könnten massive CO2-Einsparungen erzielt werden, da hochperformante Verglasungen die CO2-Emissionen der Gebäude bis 2050 um 37,4 % senken könnten (2). Glaswolle, Schaumglas und andere Isolierglasfaserderivate sind ebenfalls entscheidend für eine optimale Gebäudeisolierung.

3.1.1.2.

Die Renovierungswelle der EU könnte ungeahnte Geschäftsmöglichkeiten eröffnen. Eine Verdoppelung der Austauschquote für Fenster könnte dem Markt für Flachglas ein Wachstum von mehr als 60 % bescheren und eine Investitionswelle auslösen.

3.1.2.   Grüne Energie

3.1.2.1.

Glas ist für die Erzeugung von grüner Energie unverzichtbar. Ohne Glas könnten keine Solarzellen gefertigt werden, und in Windkraftanlagen kommen Glasfasern zur Anwendung, um die Anlagen leicht und dennoch robust zu machen. Ökostrom kann ferner durch spezielles Spiegelglas erzeugt werden, das Licht auf zentrale Kollektoren lenkt, die wiederum Generatoren antreiben.

3.1.2.2.

Der dramatische Aufstieg und der ebenso dramatische Fall der europäischen Solarzellenproduktion aufgrund des unlauteren Wettbewerbs chinesischer Unternehmen ist ein warnendes Beispiel dafür, wie aufkommende Chancen in den erneuerbaren Energien in einem internationalen Wettbewerbsumfeld verspielt werden können. Neue EU-Klimaschutzmaßnahmen und strategische Wertschöpfungsketten könnten der Produktion von Solarzellen in Europa zu einem Neustart verhelfen.

3.1.3.   Verkehr

3.1.3.1.

Die Glasindustrie ist ein wichtiger Zulieferer für die Hersteller von Schienenfahrzeugen. Aufgrund der COVID-19-Krise haben einige öffentliche Verkehrsunternehmen eine Reihe von Großaufträgen auf Eis gelegt oder storniert, sodass nun mehrere Standorte von der Schließung bedroht sind, was wiederum zu einem Anstieg der Importe führen könnte. Ein rechtzeitiges Gegensteuern mithilfe nationaler Konjunkturprogramme könnte die europäische Produktion wirksam unterstützen.

3.1.3.2.

Obwohl die Automobilindustrie bereits vor COVID-19 in der Krise war, dürfte mit einer Nachfrage nach hochwertiger, leichter und stark isolierender Verglasung gerechnet werden. Durch das autonome Fahren wird die Nachfrage nach komplexeren Spezialglasprodukten für Anzeigen, Schalttafeln, erweiterte Reality-Geräte usw. ansteigen.

3.1.4.   Nachhaltige Verpackungen

Die Glasindustrie versorgt die europäische Lebensmittel-, Getränke-, Kosmetik- und Arzneimittelbranche (Stichwort: COVID-19-Impfstoffe) mit gesundheitlich unbedenklichen und nachhaltigen inerten Verpackungen. Die Glasindustrie ist Innovationsführer auf vielen Feldern im Bereich der ökologischen Produktgestaltung, der Dekarbonisierung und der Energieeffizienzoptimierung in der eigenen Produktion. Jedes Jahr werden mindestens 10 % der Produktionskosten in Dekarbonisierung, Energieeffizienz und Anlagenmodernisierung investiert. Das jüngste Behälterglas-Projekt „Furnace for the Future“ (3) (Ofen der Zukunft), für das eine Förderung durch den EU-EHS-Innovationsfonds beantragt wurde, soll die Emissionen um 60 % senken. Es handelt sich um eine von mehreren Initiativen, um das Ziel der Glasindustrie zu unterstützen, klimaneutrale Glasverpackungen zu liefern, die die Branche verändern und große Wachstumschancen für kohlenstoffarme Glasverpackungen bieten.

3.2.   Kreislaufwirtschaft: Glas als perfektes Kreislaufprodukt

3.2.1.

Glas ist ein beständiges, inertes und wiederverwendbares Material, das unbegrenzt und ohne Einbuße seiner Eigenschaften recycelt werden kann.

3.2.2.

Als umweltfreundliche Alternative zu zahlreichen Kunststoffanwendungen kann Glas wie kein anderes Material effektiv recycelt werden. Es ist zu 100 % wiederverwendbar und gestattet ein vollständig kreislauforientiertes System. Es ist zudem das einzige Verpackungsmaterial, das ohne Kunststoffbeschichtungen oder -schutzfolien auskommt und stets gesundheitlich unbedenklich und sicher für Lebensmittelverpackungen ist, und zwar unabhängig davon, wie oft es recycelt wird. Demnach ist es das einzige Verpackungsmaterial, mit dem das Ziel der Kreislaufwirtschaft erreicht werden kann. Glas ist eines der am meisten recycelten Verpackungsmaterialien, denn 76 % des heute auf dem Markt gebrachten Glases gelangt zum Recycling. Die Verwendung recycelten Glases spart sowohl Energie als auch CO2-Emissionen. EU-weite Anreize, um Interessenträger in der gesamten Wertschöpfungskette — darunter auch die Verbraucher — zu ermutigen, mehr und besser zu rezyklieren, sollten weiterhin unterstützt werden.

3.2.3.

In der Bauglasbranche entfallen derzeit 26 % des Rohstoffeinsatzes auf Recyclingglas (4). Das Recycling-Potenzial könnte allerdings noch stärker ausgeschöpft werden, würde man die Sammlung, Sortierung und Reinigung von Glas aus alten Fenstern oder Fassaden verbessern.

3.2.4.

Die erste Solarzellen-Generation nähert sich dem Ende ihrer Lebensdauer. Dadurch eröffnet sich die Gelegenheit für einen neuen industriepolitischen Anlauf im Bereich Solarenergie. Auch könnten durch ein verbessertes Recycling wertvolle Materialien in Europa gehalten werden. Dies sollte durch eine klare Vision und Politik der EU unterstützt werden.

3.3.   Wohlbefinden

3.3.1.

Glas umgibt uns auf Schritt und Tritt. Unser modernes Leben wäre ohne Glas undenkbar. Die Glasbranche ist einer der ältesten Industriezweige mit tiefen historischen Wurzeln in Europa, man denke etwa an dekoratives Glas, Kunst und Kultur. Diese lange Tradition hat das europäische Wissen, die Verfahren und die Kunst der Glasherstellung geprägt.

3.3.2.

Heute sorgt Glas dafür, dass Medizintechnik, Biotechnologie und Biowissenschaften überhaupt erst möglich sind. Glas schützt uns vor der Röntgenstrahlung (Radiologie) und vor Gammastrahlen (Kernenergie). Glas und Glasmöbel, z. B. Spiegel, Trennwände, Balustraden, Tische, Regale und Glasbeleuchtung, verschönern unsere Wohn- und Büroräume.

3.3.3.

Glas schützt die Qualität und die Haltbarkeit unserer Lebensmittel und Getränke. Glasgeschirr ermöglicht eine gehobene Tischkultur und ist dekoratives Zubehör. Durch Glasfenster gelangt natürliches Licht in unsere Wohnungen und Büroräume. Glas wird in Haushalts- und Bürogeräten und Elektronik verwendet, etwa in Form von Ofentüren, Kochfeldern, Fernseh- und Computerbildschirmen oder in Smartphones.

3.4.   Digitales Europa

Europäische Produktionsstätten liefern bereits hauchdünnes Glas für Displays, Smartphones, Tablets und andere (Touch-)Bildschirme. Über Glasfasern und Glasfaserkabel findet ein enormer und sogar interkontinentaler Transport von Daten statt, und auch in mikroskopisch kleinen elektronischen Geräten und Chips werden Verbindungen mit diesem Material hergestellt.

4.   Die Glasindustrie als energieintensive Branche

4.1.

Jedes Jahr werden sukzessiv neue Öfen gebaut oder auf innovative kohlenstoffarme Technologien, die wesentlich energieeffizienter sind, umgerüstet. Die Industrie arbeitet kontinuierlich an der Senkung ihres Energieverbrauchs, wobei sie Wärmerückgewinnungstechnologien, den Rankine-Kreislauf mit organischem Fluidum, zunehmende Mengen Bruchglas und andere symbiotische Technologien nutzt. Neue Energiemanagementsysteme und -technologien, die in allen Glasfabriken eingesetzt werden, tragen zur Steigerung der Energieeffizienz bei.

4.2.

Der Energieverbrauch in der Glasindustrie geht seit fast 100 Jahren erheblich zurück, und man erreicht nun die thermodynamische Grenze.

4.3.

Da die CO2-Emissionen der Glasindustrie direkt auf ihren Energieverbrauch zurückgehen, schlägt sich eine Verbesserung der Energieeffizienz auch in der Verringerung der CO2-Emissionen nieder. Diese Verbesserungen haben tatsächlich zu einer starken Senkung der CO2-Emissionen geführt. So hat beispielsweise die recht vielfältig aufgestellte und komplexe französische Glasindustrie ihre CO2-Emissionen zwischen 1960 und 2010 um 70 % verringert.

4.4.

Um die Fortschritte der Glasindustrie im Vergleich zu anderen energieintensiven Branchen erfassen zu können, sollte eine gezieltere Unterstützung für die gesamte Industrie, ihre Unterbranchen sowie für jeden Mitgliedstaat entwickelt werden.

4.5.   Wege zur Klima- und CO2-Neutralität

4.5.1.

Die Glasindustrie ist bereits fast bis zur thermodynamischen Grenze vorgestoßen, sodass mit konventioneller Technik und der Verbrennung von Erdgas keine nennenswerten Verringerungen der CO2-Emissionen mehr erzielt werden können. Was jetzt weiterführen würde, wäre eine Energiewende und eine noch stärkere Kreislauforientierung in der Glasproduktion in den Bereichen, in denen Potenzial vorhanden ist.

4.5.2.   Grüner Strom

Die Elektrifizierung ist ein weiterer zukunftsweisender Weg zur Dekarbonisierung der Glasproduktion. Derzeit wird ein Demonstrationsprojekt, „Furnace for the Future“, entwickelt. Er wäre der weltweit erste große Hybrid-Elektroofen für Behälterglas. Es gibt bereits kleine Elektroöfen, die für die Herstellung von Behälterglas und Haushaltsglas eingesetzt werden. Wie bei Wasserstoff müssen auch bei Ökostrom die Kapazitäten ausgebaut werden.

4.5.3.   Grüner Wasserstoff

Wasserstoff ist eine sehr vielversprechende Alternative zu Erdgas. Die Glasindustrie prüft bereits die Möglichkeit von Wasserstofföfen. Es wird allerdings noch Jahre dauern, bis die ersten Wasserstofföfen in einem wettbewerbsorientierten Umfeld in Betrieb genommen werden können und ausreichende Produktions- und Transportkapazitäten für Wasserstoff vorhanden sind.

4.5.4.   Kreislauforientierung

Bei der Glasschmelze mit Erdgasöfen entsteht bis zu 80 % des Kohlendioxids durch die Verbrennung des Erdgases, während 20 % auf das Konto der Primärrohstoffe geht. Ihre Ersetzung durch Recyclingglas (Bruchglas) verhindert, dass neue Materialien extrahiert werden müssen, es reduziert Abfälle und CO2 und spart Energie. Es bestünde die Möglichkeit, den Glaskreislauf zu schließen (5) und mehr Glas nach dem Verbrauch zu recyceln. Bei Bauglas und Automobilglas werden verschiedene Initiativen und Modelle erprobt, um die Sammlung zu verbessern. Vor dem eigentlichen Abriss von Gebäuden sollten zunächst die Fenster und Glasfassaden entnommen werden; es sollte ein materialspezifisches Sammelziel zur Ergänzung des allgemeinen Ziels für Bau- und Abbruchabfälle anvisiert werden, da dieses Ziel für leichte Materialien wie Glas unzweckmäßig ist. Um eine hohe Altglasqualität zu gewährleisten, sind getrennte Sammelsysteme erforderlich. Nur so kann ein hoher Recyclinganteil in Glasprodukten erreicht werden.

4.5.5.   Hindernisse und Herausforderungen

Es ist abzusehen, dass die Energiewende zu höheren Betriebskosten (OPEX) und Kapitalanforderungen (CAPEX) führen wird. Die Politik der EU muss die Investitionen der Glasindustrie unterstützen, um diesen Übergang zu bewältigen. Sie muss dafür sorgen, dass die Branche nicht schutzlos dem unfairen Wettbewerb aus Drittländern ausgeliefert ist. Handeln ist dringend geboten, da Öfen eine Lebensdauer von etwa 10-15 Jahren (Behälterglas) bzw. 15-20 Jahren (Flachglas) haben. Bis zum Stichjahr 2050 wird es also nur noch zwei Ofen-Generationen geben.

5.   Die Glasindustrie in der EU-Politik

5.1.

Grüne Erholung: Der Grüne Deal, die Renovierungswelle der EU, das Streben nach mehr erneuerbaren Energien, eine nachhaltige Verkehrspolitik und Initiativen zur Kreislaufwirtschaft sollten wirksame Triebkräfte für kohlenstoffarme Glasprodukte sein.

5.2.

Neue Energiequellen: Es bedarf einer Unterstützung und des Aufbaus von Kapazitäten für grünen Strom und grünen Wasserstoff aus erneuerbaren Energien; die Versorgung mit ausreichend Biogas muss gesichert sein. Wind- und Solarenergie müssen im Energiemix gefördert werden.

5.3.

FuE: stärkere öffentliche Unterstützung und Finanzierung von FuE- und Vorzeigeprojekten (6) wie der EHS-Innovationsfonds zur Dekarbonisierung der Produktion und Weiterentwicklung energieeffizienter Öfen. Der Fonds wurde in der ersten Ausschreibungsrunde massiv überzeichnet, was auch bei späteren Aufrufen zu erwarten sein dürfte.

5.4.

Vermarktung: Benötigt werden Mechanismen, um die Markteinführung CO2-armer Glasprodukte zu unterstützen und die Rentabilität von Investitionen in eine CO2-arme Produktion sicherzustellen. Unterstützung der Ersetzung von Kunststoffen durch nachhaltige Glasalternativen im Einzelhandel, zu Hause, im Gastgewerbe, für die Mitnahme von Mahlzeiten sowie für Lebensmittel und Getränke zum Unterwegsverzehr. Dies soll den Übergang von linearen zu kreislaufwirtschaftlichen Systemen erleichtern.

5.5.

Renovierungswelle: Unterstützung von Maßnahmen der Renovierungswelle, die zur Verwendung CO2-armer Produkte anregen, sodass die Energieeffizienz und der Einsatz der erneuerbaren Energien sowohl in Gebäuden als auch im Verkehr zunehmen. Das Energieeffizienzziel muss höher gesteckt und EU-weit verbindlich gemacht werden, um Anreize für die Renovierung öffentlicher Gebäude zu setzen und ehrgeizigere Energiesparverpflichtungen zu erwirken. Unterstützung der Aufstockung der für Gebäuderenovierungen verfügbaren Mittel durch eine Reihe von Instrumenten, einschließlich des neuen Klima-Sozialfonds.

5.6.

Nachhaltiger Verkehr: Unterstützung der Verkehrsrevolution für intelligente und klimaneutrale Autos und Ausbau der öffentlichen Verkehrssysteme. Hightech-Glass spielt dabei eine wichtige Rolle.

5.7.

Nachhaltige Verpackungen: Unterstützung der Umstellung von nichtlinearen Materialien auf vollständig kreislauforientiertes, wiederverwendbares und recyclingfähiges Glas. Dadurch könnte die Abhängigkeit von Einfuhren fossiler Brennstoffe verringert werden, und es müssten weniger Primärrohstoffe extrahiert werden. Die natürlichen Ressourcen würden geschont.

5.8.

Kreislaufwirtschaft: Unterstützung von Infrastrukturen für die Getrenntsammlung und das Recycling, den Kapazitätsaufbau und Technologien zur Maximierung der Menge und der Qualität von Altglas für das Recycling im geschlossenen Kreislauf zu neuen Glasprodukten. Kooperationsanreize für öffentlich-private Partnerschaften in der Wertschöpfungskette, etwa nach dem Vorbild der Plattform „Close the Glass Loop“ (7) für Behälterglas.

5.8.1.

Insbesondere im Baugewerbe muss bei Bau- und Abbruchabfällen mehr getan werden, um Altglas besser zu nutzen.

5.8.2.

Es hat sich gezeigt, dass hohe Wiederverwendungsquoten von Glasgebinden und hohe Recyclingquoten von Glasverpackungen dazu beitragen, die Umweltwirkungen von Glasverpackungssystemen zu verringern und die Ressourceneffizienz zu steigern. Um hohe Wiederverwendungs- und Recyclingquoten zu erreichen, bestehen nicht nur Systeme der erweiterten Herstellerverantwortung für das Recycling von Einwegglasverpackungen, sondern die Industrie hat auch freiwillige Pfandsysteme für wiederverwendbare Glasverpackungen eingeführt; in einigen Mitgliedstaaten des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) gibt es verbindliche Pfandsysteme für Einweggetränkeverpackungen. Pflichtpfandsysteme gelten als ein wirksames Mittel zur Vermeidung von Vermüllung und zum Erreichen hoher Recyclingquoten von Getränkeverpackungen. Der EWSA ist der Auffassung, dass Einwegglas-Pfandsysteme für andere Glasbehälter (d. h. nicht nur für Getränkeverpackungen) mit den gut funktionierenden Systemen der erweiterten Herstellerverantwortung nicht vereinbar sind. Letztere haben sich bei Sammel- und Verwertungssystemen bewährt und als zweckdienlich erwiesen und zu sehr hohen Recyclingquoten geführt.

5.8.3.

Für nicht nachfüllbares Behälterglas bedarf es der Unterstützung für Systeme der erweiterten Herstellerverantwortung, um Altglas „lose“ einzusammeln. Dies ist sowohl ökologisch als auch ökonomisch weitaus effektiver als Pfandsysteme für Einwegverpackungen.

5.9.

Digitalisierung: Unterstützung von Branchen und Beschäftigten, die das digitale Europa vorantreiben (Glasfaseroptik, Touchscreens, Displays, Sensoren) durch eine wirksame europäische Industriepolitik und die Entwicklung von Ökosystemen nach Maßgabe aller oben genannten Herausforderungen und der Besonderheiten der verschiedenen Unterbranchen der Glasindustrie.

5.10.   Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit auf dem europäischen Markt

5.10.1.

Die Energiewende in der Glasbranche braucht Zeit. Während dieses Übergangs sorgen die sehr hohen und immer noch steigenden Energiekosten in der Glasbranche für eine sehr angespannte Situation. Die Energiekosten machen derzeit je nach Produkt und Preisschwankungen etwa 25-30 % der Glasproduktionskosten aus.

5.10.2.   Staatliche Beihilfen

Alle Glasbranchen sollten Förderinstrumente für Investitionsausgaben (CAPEX) und Betriebskosten (OPEX) in Anspruch nehmen können, wie u. a. den Modernisierungsfonds, die EU-Strukturfonds und den Innovationsfonds des EHS. Die Glasindustrie sollte von der Energiebesteuerungsrichtlinie ausgenommen werden, dafür aber unter die Gruppenfreistellung für Ausgleichszahlungen für Strom fallen und außerdem CO2-Differenzverträge nutzen können, damit sie in CO2-arme Produktionsprozesse investieren kann. Insbesondere Spezialglas sollte auf die „Klimaliste“ für staatliche Beihilfen gesetzt werden.

5.10.3.

Globale Wettbewerbsfähigkeit

5.10.3.1.

Unlautere Handelspraktiken, die in Drittländern angewendet werden, müssen rasch durch wirksame handelspolitische Instrumente unterbunden werden.

5.10.3.2.

Der Endlosglasfaser-Branche leidet aufgrund der hohen Einfuhren gedumpter und subventionierter Glasfasern aus Asien unter einem verzerrten Markt. Es besteht dringender Handlungsbedarf, um die Umgehungspraktiken, beispielsweise in Bezug auf Einfuhren aus Ägypten und Bahrain, zu stoppen.

5.10.3.3.

Auch die Hersteller von Windschutzscheiben für die Automobilindustrie werden vor allem durch chinesische Hersteller im Wettbewerb stark in Bedrängnis gebracht. Laxe Umwelt- und CO2-Emissionsnormen in Verbindung mit niedrigeren Löhnen und schlechteren Arbeitsbedingungen führen zu Wettbewerbsverzerrungen, was die europäischen Autobauer veranlassen könnte, mehr aus Fernost einzukaufen. In der Folge würde es global mehr CO2-Emissionen geben.

5.10.3.4.

Europa ist der weltweit führende Hersteller von Glasverpackungen. Die Branche versorgt die für Europa so wichtige Lebensmittel- und Getränkeindustrie, den größten Wirtschaftszweig in der EU. Glas trägt durch Waren im Wert von schätzungsweise 250 Mrd. EUR, die Glasverpackungen haben oder haben könnten, außerdem zum Außenhandel bei, was der EU mehr Exporterlöse einbringt als Kunststoffharze und -pellets, organische Chemikalien und Flugzeuge.

5.11.   Einen gerechten Übergang gewährleisten

Lebenslanges Lernen und lebenslange Weiterbildung sollten gefördert und unterstützt werden. Es hilft den Arbeitskräften, sich auf neue Technologien und Prozesse einzustellen, und es sorgt sowohl branchenintern als auch auf dem gesamten Arbeitsmarkt für mehr Arbeitsplatzsicherheit. Arbeitnehmer sollten in den Übergang einbezogen werden, weshalb der soziale Dialog auf allen Ebenen durch EU-Rechtsvorschriften unterstützt werden sollte.

5.12.   Rechtliche Stabilität und Rechtssicherheit

5.12.1.

Verlagerung von CO2-Emissionen: Wirksame Maßnahmen gegen die Verlagerung von CO2-Emissionen durch das EHS sollten beibehalten werden, um die Industrie beim Übergang zu unterstützen, sodass die von der EU angestrebte Klimaneutralität verwirklicht werden kann und es gleiche Wettbewerbsbedingungen in Europa und weltweit gibt.

5.12.2.

CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM): Der EWSA spricht sich für eine umsichtige Einführung des CBAM im Einklang mit den WTO-Regeln aus. Allerdings muss es auch eine Lösung für den Export umfassen, die eine freie Zuteilung in voller Höhe des Benchmarks bis mindestens 2030 vorsieht, damit sich die Unternehmen auf kohlenstoffarme Investitionen konzentrieren können und die Wirksamkeit des CBAM bewertet werden kann.

5.12.3.

Taxonomie: Der Ausschuss begrüßt die Arbeit am EU-Taxonomie-Paket, mit dem private Mittel in nachhaltige Tätigkeiten gelenkt werden sollen, meint jedoch, dass die Rolle der Glasherstellung und ihr Beitrag zur Anpassung an den Klimawandel und zur Eindämmung seiner Folgen berücksichtigt werden sollten.

5.12.4.

Der Ausschuss begrüßt den Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft und fordert, dass Glas in vollem Umfang als dauerhaftes Material anerkannt wird und in unseren Volkswirtschaften weiterhin ein produktiver Faktor bleibt. Initiativen zur Verbesserung des Glas-Recyclings sind uneingeschränkt zu unterstützen.

5.12.5.

Paket „Fit für 55“: Dieses Paket wurde während der Ausarbeitung dieser Stellungnahme vorgelegt. Es zielt auf die Änderung eines Dutzends bestehender Vorschläge (Emissionshandelsrichtlinie, Energiebesteuerungsrichtlinie, Erneuerbare-Energien-Richtlinie usw.) ab und enthält auch einige neue Vorschläge (darunter das CBAM). Der Ausschuss fordert die Kommission auf, die Auswirkungen dieses Pakets auf die Glasindustrie sorgfältig zu bewerten. Angesichts des Umfangs der in vielen verschiedenen Bereichen vorgenommenen Änderungen muss unbedingt die Kohärenz zwischen den verschiedenen Rechtsakten sichergestellt werden. Dabei sollten mögliche Widersprüche aufgelöst werden. Das Paket sollte die Industrie bei der Energiewende unterstützen und für gleiche Wettbewerbsbedingungen gegenüber der Konkurrenz aus Drittländern, die nicht dieselben CO2-Kosten tragen muss, sorgen.

Brüssel, den 21. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Quelle: Eurostat and FERVER.

(2)  Quelle: TNO-Bericht 2019: Glazing potential: energy savings and CO2 emission reduction — Glass for Europe.

(3)  Furnace for the Future: https://feve.org/about-glass/furnace-for-the-future/.

(4)  Glass for Europe — 2050: Flat glass in climate-neutral Europe — 2019. https://glassforeurope.com/wp-content/uploads/2020/01/flat-glass-climate-neutral-europe.pdf

(5)  Close the Glass Loop: https://closetheglassloop.eu/

(6)  In der Glasindustrie gibt es mehrere Dekarbonisierungsstrategien, wie die Umstellung auf erneuerbare Energiequellen, Energieeffizienzmaßnahmen, kohlenstoffarme Rohstoffe, Einsatz von Recyclingglas, Verkehr und Logistik.

(7)  Close the Glass Loop www.closetheglassloop.eu


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/26


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die EU-Mobilitätsstrategie und industrielle Wertschöpfungsketten der EU: ein Ökosystemansatz in der Automobilindustrie“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 105/05)

Berichterstatter:

Arnaud SCHWARTZ

Ko-Berichterstatterin:

Monika SITÁROVÁ

Beschluss des Plenums

25.3.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständiges Arbeitsorgan

Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Annahme in der CCMI

29.9.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

235/1/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der Ansicht, dass das europäische Automobil-Ökosystem bei der Entwicklung und Anwendung nachhaltiger Mobilitätslösungen eine Vorreiterrolle übernehmen kann. Innerhalb des Automobil-Ökosystems müssen deshalb aktiv Strategien entwickelt werden, um aktuelle Disruptionen und Megatrends in der europäischen Automobilindustrie mitzugestalten.

1.2.

Der EWSA betont, dass sich die EU um die Nachhaltigkeit aller Verkehrsträger bemühen und gleichzeitig nachhaltige Alternativen für die EU-Bürgerinnen und -Bürger allgemein verfügbar und zugänglich machen sollte, um die verkehrsbedingten Emissionen bis 2050 um 90 % zu verringern. Dieses Ziel kann durch eine intelligente Kombination von Antriebssystemen erreicht werden, mit der ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Umweltschutz, effizienter Nutzung erneuerbarer Energieträger, Rentabilität und Verbraucherakzeptanz unter Wahrung des Grundsatzes der Technologieneutralität hergestellt wird.

1.3.

Der EWSA betont ausdrücklich, dass individuelle Mobilität für alle zugänglich und erschwinglich bleiben muss, insbesondere für Pendler, die keinen Zugang zu guten öffentlichen Verkehrsdienstleistungen oder anderen Mobilitätslösungen haben. Eine gesellschaftliche Polarisierung zwischen denen, die sich ein umweltfreundliches Fahrzeug leisten können, und denen, die dazu nicht in der Lage sind, muss unter allen Umständen verhindert werden. In diesem Zusammenhang warnt der EWSA, dass durch die Einrichtung eines EHS-Nebensystems für den Verkehrssektor die öffentliche Unterstützung für die Defossilisierung des Straßenverkehrs untergraben werden könnte, wenn einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen und Personen, deren Lebensunterhalt vom Straßenverkehr abhängt, nicht angemessen entschädigt werden.

1.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass die europäische Automobilindustrie von jeher weltweit führend ist und als Motor für Wachstum und Arbeitsplätze wirkt. Sie sollte diese Stellung beim Übergang zum Paradigma eines digitalisierten und dekarbonisierten Straßenverkehrssystems beibehalten und Wirkungspfade für einen Wandel entwickeln, mit denen die disruptiven Trends, denen sich die Industrie derzeit gegenübersieht, bewältigt werden können. Dabei sollte sie auf ihren technologischen Stärken, ihren qualifizierten Arbeitskräften, dem erstklassigen Ingenieurwesen, anspruchsvollen Verbrauchern, hochentwickelten Lieferketten, einer starken KMU-Kultur und konstruktiven Beziehungen zwischen den Sozialpartnern aufbauen.

1.5.

Der erfolgreiche Start des wichtigen Vorhabens von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI) für Batterien hat bewiesen, dass die Bündelung öffentlicher und privater Mittel eindeutig zur Stärkung der Lieferkette in der Automobilindustrie beiträgt. Der EWSA ist daher überzeugt, dass mehr IPCEI in diesem Sektor in Erwägung gezogen werden müssen, z. B. für Wasserstoff (in Vorbereitung), automatisierte und vernetzte Pkw, die Kreislaufwirtschaft und Rohstoffe. Es müssen entschlossene Maßnahmen ergriffen werden, um die Versorgungsengpässe bei Halbleitern zu überwinden; die Einrichtung eines zweiten ICPEI für Halbleiter würde zur Lösung dieses Problems beitragen.

1.6.

Der EWSA fordert die EU auf, weltweit gleiche Wettbewerbsbedingungen zu unterstützen. Ziel der EU muss es sein, ihre starke Exportstellung in der Automobilindustrie zu erhalten. Dazu müssen folgende Maßnahmen ergriffen werden:

Bemühungen um Gegenseitigkeit bei den Handelsbeziehungen (Marktzugang, Vergabe öffentlicher Aufträge, Investitionen, Wahrung von Rechten des geistigen Eigentums, Beihilfen),

Abschluss bilateraler Freihandelsabkommen (einschließlich eines Kapitels zu Automobilindustrie/Straßenverkehr),

Bekämpfung unlauterer Handelspraktiken (Beihilfen, bilaterale Freihandelsabkommen, Unterschiede bei der CO2-Bepreisung, Sozial- und Umweltdumping),

Förderung der internationalen Zusammenarbeit bei sauberen Fahrzeugen und Kraftstofftechnologien mit geringem CO2-Ausstoß.

1.7.

Der Wandel in der Automobilindustrie wird dramatische Auswirkungen auf die Zahl und die Qualität der benötigten Arbeitsplätze haben. Deshalb müssen vorausschauende arbeitsmarktpolitische Maßnahmen ergriffen werden, um die Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitskräfte beispielsweise durch Weiterbildungs- und Umschulungsinitiativen (wie die Allianz für Kompetenzen im Automobilsektor) zu erhalten, damit Arbeitnehmer die Kompetenzen der Zukunft erwerben können. Im Fall von Arbeitnehmern, die nicht mehr in der Branche beschäftigt werden können, sollte (neben Vorruhestandsregelungen) für einen reibungslosen Übergang zu einem anderen Arbeitsplatz gesorgt werden.

1.8.

Der EWSA fordert, die Auswirkungen des digitalen und grünen Wandels der Branche genau zu erfassen, um die Regionen und Teile der Lieferkette zu ermitteln, die am stärksten gefährdet sind. Ferner muss der sich aufgrund von Dekarbonisierung und Digitalisierung verändernde Fußabdruck der Industrie überwacht werden, wobei alle relevanten Phasen des Lebenszyklus zu berücksichtigen sind. Da die Lieferkette der Automobilindustrie enorme Herausforderungen bewältigen muss, hält es der EWSA für wichtig, einen Mechanismus für einen gerechten Übergang in der Branche einzurichten, um die erforderlichen Begleitmaßnahmen zur Vermeidung sozialer Verwerfungen und zur Sicherstellung eines sozialverträglichen Übergangs vorzusehen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

Derzeitige Lage

2.1.

Die Automobilindustrie ist von jeher ein Grundpfeiler der Industrie der Europäischen Union und eng mit vorgelagerten Branchen wie der Stahl-, Chemie- und Bekleidungsindustrie sowie mit nachgelagerten Branchen wie den Bereichen IKT, Reparaturarbeiten, Kraftstoffe, Schmierstoffe und Mobilitätsdienstleistungen verbunden. Die Branche erwirtschaftet über 8 % des EU-BIP, auf sie entfallen 28 % der gesamten FuE-Ausgaben der EU, und mit ihren Ausfuhren wird ein hoher Handelsüberschuss erwirtschaftet. Die Zukunft der Automobilindustrie der EU wird jedoch davon abhängen, wie sie die grundlegenden Anpassungen vornehmen kann, die zur Bewältigung der beispiellosen Herausforderungen nötig sind, vor denen sie heute steht.

2.2.

Die europäische Autoindustrie steht vor einem radikalen Paradigmenwechsel, der aus dem komplexen Übergang zu einer digitalen und grünen Wirtschaft resultiert. Am 28. November 2018 nahm die Kommission eine langfristige Vision für eine klimaneutrale Wirtschaft bis 2050 an. Der Verkehrssektor spielt bei dieser Umstellung eine wichtige Rolle. Mit dem europäischen Grünen Deal von Dezember 2019 wurde ein strategischer Rahmen für das Erreichen der Klimaneutralität festgelegt. Dabei wird eine Verringerung der verkehrsbedingten Emissionen um 90 % bis zum Jahr 2050 gefordert. Vor diesem Hintergrund hat die EU beschlossen, ihr Ziel zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen bis 2030 auf mindestens 55 % anzuheben. Zur Verwirklichung dieses Ziels hat die Kommission am 14. Juli 2021 ihr Paket „Fit für 55“ veröffentlicht, mit dem die Lastenteilungsverordnung, die Richtlinie über den Aufbau der Infrastruktur für alternative Kraftstoffe und die Verordnung zur Festsetzung von CO2-Emissionsnormen überarbeitet werden.

2.3.

Die Umstellung von fossilen Brennstoffen auf CO2-arm erzeugten Strom sowie die Verlagerung der Wertschöpfung von der Massenproduktion von Autos hin zur Erbringung von Mobilitätsdienstleistungen wird für die Branche, die vielen KMU in ihren komplexen Lieferketten und die 13,8 Mio. Beschäftigten des Sektors erhebliche Umwälzungen mit sich bringen. Die Herausforderung wird deshalb darin bestehen, den Übergang zur Klimaneutralität in sozialverträglicher Weise zu bewerkstelligen.

Disruptive Megatrends

2.4.

Globalisierung. Während sich der Absatz auf den ausgereiften Märkten verlangsamt, nimmt der Automobilabsatz auf den Schwellenmärkten zu. Infolgedessen verlagert sich der wirtschaftliche Schwerpunkt von der EU und den USA nach Asien. China fertigt derzeit 26 Mio. Autos jährlich gegenüber 22 Mio. in der EU. China gehört auch zu den ersten Ländern, die mit der Produktion von Elektrofahrzeugen begonnen haben, und besitzt eine ausgereifte Batterieindustrie. Japan und Korea spielen ebenfalls eine führende Rolle bei Batterien und sind insbesondere bei Halbleitern leistungsstark. Europa hat zudem Schwierigkeiten beim Zugang zu ethisch gewonnenen Rohstoffen wie Lithium und Kobalt (1). Darüber hinaus muss der Automobilsektor den zunehmenden geopolitischen Spannungen Rechnung tragen.

2.5.

Die Herausforderung der nachhaltigen Entwicklung. Der in der Strategie der EU für nachhaltige und intelligente Mobilität dargelegten Vision zufolge werden bis 2030 „mindestens 30 Mio. emissionsfreie Pkw“ auf europäischen Straßen unterwegs sein. Am 14. Juli schlug die Europäische Kommission vor, ab 2035 nur noch emissionsfreie Fahrzeuge zuzulassen. Dazu muss der Anteil der emissionsfreien Pkw in der Fahrzeugflotte stark erhöht werden (von derzeit 0,2 % auf 11-14 % im Jahr 2030) (2). Durch die Verwirklichung der Ziele des Grünen Deals entstehen Vorreitervorteile, Europas Führungsrolle bei Technologien mit geringen CO2-Emissionen und seine internationale Wettbewerbsfähigkeit werden unterstützt. Dies erfordert auch massive Investitionen in die Entwicklung alternativer (batteriebetriebener, hybrider, wasserstoffbetriebener) Antriebsformen und nicht-fossiler Kraftstoffe für konventionelle Antriebe, die noch lange im Einsatz sein werden. Das Tempo der Einführung dieser Antriebssysteme und Kraftstoffe hängt von günstigen rechtlichen Rahmenbedingungen und den Amortisationszeiten für diese Investitionen ab. In der Strategie der EU für nachhaltige und intelligente Mobilität wird eingeräumt, dass alle Verkehrsträger nachhaltiger gemacht werden müssen. Dieser Ansatz erfordert die Einführung von Niedrigemissions- und emissionsfreien Fahrzeugen sowie erneuerbare und CO2-arme Kraftstoffe für den Straßen-, Schiffs- und Luftverkehr.

2.6.

Einstellungswandel bei den Verbrauchern. Das Mobilitätsverhalten verändert sich. Eine neue Generation von Verbrauchern ist weniger am Besitz eines Pkw interessiert, da viele in städtischen Gebieten mit gut funktionierenden öffentlichen Verkehrssystemen leben. Statt sich ein Auto anzuschaffen, greifen sie auf andere Mobilitätslösungen (Car-Sharing, Fahrgemeinschaften, Mikromobilität) zurück. Andere Trends, die sich bereits abzeichneten, wurden durch die Pandemie verstärkt, u. a. Online-Einkauf, Telearbeit, Videokonferenzen und Lieferdienste. Dies wird zu einer Abnahme der Mobilität privater Kraftfahrzeuge und einer Zunahme der Nutzung von Lieferwagen führen.

2.7.

Verbesserung der Konnektivität. Digitale Technologien sollen eine nahezu ständige Vernetzung von Pkw ermöglichen. So könnte ein beträchtliches Potenzial für neue datengestützte Geschäftsmodelle entstehen. Intelligente Fahrzeuge wären mit aktiven Sicherheitsfunktionen, Infotainment, Verkehrsinformationsdiensten, Kommunikation zwischen Fahrzeug und Infrastruktur usw. ausgestattet.

2.8.

Schrittweise Automatisierung des Pkw. Der Weg hin zu selbstfahrenden Autos wird zu einem steigenden Maß an autonomen Fahrzeugfunktionen führen. Automatisiertes Fahren würde enorme Investitionen in Software, Kommunikationsnetze und Hardware (Radargeräte, Lidar-Geräte, Transponder) erfordern. Ferner stellen sich zahlreiche Probleme im Hinblick auf Zuverlässigkeit, Rechtsrahmen, Preis, Straßenausstattung und Haftung.

2.9.

Digitalisierung der Produktion. Die Automobilindustrie hat das Fließband (Ford), die Grundsätze der schlanken Produktion (Toyota) und globalisierte Produktionsplattformen (VW) erfunden. Derzeit werden die Grundsätze der Industrie 4.0 mit fortgeschrittener Robotisierung, digital integrierten Lieferketten, fortgeschrittenen Fertigungssystemen und additiver Fertigung umgesetzt.

Auswirkungen des grünen und digitalen Wandels

2.10.

Eine kleinere, digitalisierte Automobilindustrie, die weniger CO2-Emissionen verursacht, wird erhebliche Herausforderungen für die Arbeitsplätze mit sich bringen. Elektrospeicherfahrzeuge haben weniger Bauteile und sind einfacher zu fertigen, und mindestens 36 % ihres Mehrwerts befinden sich in Batterien. Einer Hochrechnung aus einer aktuellen Studie des deutschen IFO-Instituts zufolge werden 620 000 Arbeitsplätze in der EU-Wertschöpfungskette für konventionelle Antriebssysteme gefährdet sein. Lösungen können teilweise zum Beispiel im (Vor-)Ruhestand (3) oder allgemein in einer Revolutionierung der Zukunft der Arbeit (4) bestehen. Durch den Wandel entstehen jedoch auch neue Arbeitsplätze in angrenzenden Branchen wie Leistungselektronik, intelligente Netze, Straßen- und Ladeinfrastruktur, Batterien, neue Materialien und alternative Antriebssysteme.

2.11.

Trend zur Konsolidierung und zu strategischen Bündnissen (z. B. Stellantis, Bündnis von BMW und Mercedes sowie von VW und Ford), um Forschung und Entwicklung bei neuen Antriebssträngen zu bündeln und den Einkauf von Bauteilen zu kombinieren. Diese Fusionen und Zusammenschlüsse werden in allen Fällen neue Unternehmensstrategien, die Überprüfung des industriellen Fußabdrucks, die Auslagerung in Regionen mit niedrigeren Arbeitskosten, Stellenabbauprogramme und erhöhten Druck auf die Zulieferer zur Folge haben. Außerdem ermöglicht die Ausgliederung ausgereifter Geschäftsbereiche den Unternehmen, ihre Ressourcen auf die neuen Antriebsstränge zu konzentrieren.

2.12.

Verschwimmen der Grenzen zwischen der Automobilindustrie und dem IT-Sektor. Die Informationstechnologie wird in alle Teile der Lieferkette vordringen. Daten werden der neue Rohstoff und eine Einnahmequelle sein. Eine globale Umwälzung der Branche ist im Gange, neue Akteure drängen in die Branche: Mobilitätsanbieter (Uber), IT-Riesen (Google, Apple, Baidu), Chiphersteller (Intel, NXP, STM), Batteriehersteller (Panasonic, CATL, LG), neu entstehende Erstausrüster (Tesla).

2.13.

Die Wertschöpfung könnte sich vom Kern der Automobilindustrie (Erstausrüster) weg auf andere Teile der Lieferkette verlagern, da der Anteil der Informationstechnologien an der Wertschöpfung zu Lasten der mechanischen Komponenten zunehmen wird.

2.14.

Voraussichtlich wird immer mehr Wertschöpfung bei Mobilitätsdienstleistungen geschaffen werden, zu denen Fahrgemeinschaften, Mitfahrdienste, Car-Sharing und viele digitale Dienstleistungen wie Navigation-Apps, Infotainment, Werbung und fortgeschrittene Fahrerunterstützungssysteme gehören. Dadurch werden neue Geschäftsmodelle entstehen: Erstausrüster sehen die Autoindustrie als einen Markt von 100 Mio. Fahrzeugen, für digitale Plattformen stellt sie hingegen einen Markt dar, auf dem jedes Jahr 10 Billionen Meilen verkauft werden können.

2.15.

Die Arbeitsplatzstruktur der Branche wird sich vollständig verändern. Neue Kompetenzen und Erfahrungen werden gebraucht (Elektronik, Elektrochemie, neue Materialien, Informationstechnologien), während gleichzeitig die Nachfrage nach herkömmlichen mechanischen Fähigkeiten abnimmt. Es wird eine wichtige Aufgabe für die Automobilindustrie sein, den Arbeitskräften diese Kompetenzen zu vermitteln.

2.16.

Alle genannten Megatrends werden sich gegenseitig verstärken. Zwar besteht ein breiter Konsens darüber, dass eine bahnbrechende Disruption begonnen hat, doch muss für alle Akteure Priorität haben, dass der soziale Übergang hin zu einem dekarbonisierten Verkehr durch die Gestaltung eines gerechten Übergangs schrittweise erfolgt. Nachhaltige Mobilität wird nur dann akzeptiert, wenn sie für alle erschwinglich ist.

3.   Bewältigung des Wandels

Umwelt: Umstellung auf Nachhaltigkeit

3.1.

Um die verkehrsbedingten Emissionen bis 2050 um 90 % zu verringern, sollte sich die EU bemühen, alle Verkehrsträger nachhaltig zu gestalten und gleichzeitig nachhaltige Alternativen für die EU-Bürgerinnen und Bürger allgemein verfügbar und zugänglich machen. Dieses Ziel kann durch eine intelligente Kombination von Antriebssystemen erreicht werden, mit der ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Umweltschutz, effizienter Nutzung erneuerbarer Energieträger, Rentabilität und Verbraucherakzeptanz unter Wahrung des Grundsatzes der Technologieneutralität hergestellt wird. Dazu müssen verschiedene Strategien miteinander kombiniert werden:

Verringerung der Tank-to-Wheel-CO2-Emissionen (48V, Hybridfahrzeuge, Strom, Wasserstoff, leistungsfähigere Verbrennungsmotoren usw.),

Verringerung von Well-to-Wheel-CO2-Emissionen. Die Entwicklung von E-Fuels und Biokraftstoffen, die im Einklang mit den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen und den Nachhaltigkeitskriterien der Richtlinie zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (5) stehen, muss unterstützt werden, um Auswirkungen auf Landnutzung, biologische Vielfalt und Wälder zu vermeiden,

eine abgestimmte Strategie für saubere Städte (z. B. durch die Senkung der verkehrsbedingten CO2-Emissionen für die Feinverteilung („letzte Meile“), innovative Mikromobilitätslösungen, intermodales Reisen),

Verringerung der Lebenszyklusemissionen (Herstellung und Recycling),

Verringerung der Emissionsintensität des Verkehrssektors (intelligente Verkehrslösungen, geteilte Mobilität), Für jeden Beförderungsbedarf muss eine nachhaltige Mobilitätslösung zur Verfügung stehen (Güterfernverkehr mit Biokraftstoffen und synthetischen Kraftstoffen/Wasserstoff, batteriegestützter Elektroantrieb für den städtischen Lieferverkehr für die Feinverteilung) unter Wahrung des Grundsatzes der Technologieneutralität,

Unterstützung der Nachrüstung, das heißt der Ersetzung des Verbrennungsmotors durch einen Elektromotor, oder der Umrüstung in ein Hybridfahrzeug mittels Ergänzung durch einen Radnabenmotor.

Verringerung des Gewichts neu in Verkehr gebrachter Fahrzeuge (6).

3.2.

Die Kommission beabsichtigt, ein EHS-Nebensystem für den Straßenverkehr und Gebäude einzurichten. Die Bepreisung der Emissionen aus dem Straßenverkehr ist gleichbedeutend mit einer Besteuerung von Kraftstoff (allerdings mit einer qualifizierten Mehrheit). Die Einnahmen werden zur Entschädigung von Personen verwendet, die entweder für die Arbeit oder aufgrund eines Mangels an alternativen Beförderungsmöglichkeiten auf ein Fahrzeug mit Verbrennungsmotor angewiesen sind. Da die Ausgestaltung eines solchen Ausgleichsmechanismus äußerst komplex sein wird und die höheren Kraftstoffpreise einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen unverhältnismäßig stark treffen werden, ist dies nach Ansicht des EWSA nicht der richtige Weg, da die öffentliche Unterstützung für Klimaschutzmaßnahmen beeinträchtigt wird. Bemühungen zur Senkung der Lebenszykluskosten alternativer Antriebssysteme und zur Senkung der Kosten für CO2-arme und -neutrale Kraftstoffe sind besser geeignet, einen Verkehr mit geringen CO2-Emissionen für möglichst viele Menschen erschwinglich zu machen.

3.3.

Vorrang sollten die Gebiete haben, in denen bisher kaum Ladesäulen existieren. Derzeit gibt es 213 000 Ladestationen, wobei 70 % aller Ladestationen in der EU in drei Ländern konzentriert sind (Niederlande, Deutschland und Frankreich). Die Tatsache, dass die Zahl der öffentlichen Ladestationen bis 2025 auf eine Million und bis 2030 auf drei Millionen aufgestockt werden soll, bedeutet, dass im Hinblick auf die Infrastrukturentwicklung eine enorme Lücke zu schließen ist (im Rahmen der europäischen Strategie für nachhaltige und intelligente Mobilität wird geschätzt, dass im nächsten Jahrzehnt zusätzliche Investitionen in die Lade- und Betankungsinfrastruktur für CO2-arme Kraftstoffe in Höhe von 130 Mrd. EUR jährlich getätigt werden müssen). Der EWSA spricht sich deshalb für die Festlegung verbindlicher Ziele aus. Mit dem Vorzeigeprojekt „Aufladen und Auftanken“, das Teil der Aufbau- und Resilienzfazilität ist, werden die Mitgliedstaaten lediglich aufgefordert, die Einrichtung von Lade- und Betankungsstationen im Rahmen ihrer Aufbaupläne zu beschleunigen. Besonderes Augenmerk sollte auf Wohnhäusern, der Vorbereitung der Netze für eine verstärkte Integration von E-Fahrzeugen, der Interoperabilität der Ladeinfrastruktur, der Entwicklung intelligenter Ladedienste (z. B. durch Lastausgleich) und der Versorgung mit erneuerbaren und CO2-armen Kraftstoffen liegen. Da zunehmend vollelektrische schwere Nutzfahrzeug eingesetzt werden, muss auch ihnen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

3.4.

Solange die (für 2025–2027 vorgesehene) Preisparität zwischen konventionellen Fahrzeugen und Elektrofahrzeugen nicht erreicht ist, werden finanzielle Anreize nötig sein, um die Markteinführung von Fahrzeugen mit geringen CO2-Emissionen zu unterstützen. Dies können finanzielle Anreize (Beihilfen, Steuererleichterungen, Abwrackregelungen) oder nicht-finanzielle Anreize (Sonderfahrstreifen, Mautbefreiungen, reservierte Parkplätze) sein, zu denen auch ein kohärentes regulatorisches Umfeld zur Förderung von Investitionen in CO2-arme Kraftstoffe gehört. Besonderes Augenmerk sollte auf der Ökologisierung von Fahrzeugflotten liegen, da dies ein wichtiges Mittel zur Beschleunigung der Umstellung sein könnte und zudem dazu beiträgt, einen Gebrauchtmarkt für CO2-neutrale und -arme Fahrzeuge zu schaffen.

3.5.

Unterstützung der Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft im Automobil-Ökosystem: Recycling, Wiederverwendung und Wiederverwertung von Autos und Teilen. Die Grundsätze der Kreislaufwirtschaft sollten auch angewendet werden, um die Menge an Sekundärrohstoffen, die der Industrie zur Verfügung stehen, zu erhöhen und die Abhängigkeit von Einfuhren zu verringern. Jüngste Studien deuten jedoch darauf hin, dass recycelte Materialien erst in einem Jahrzehnt, wenn die Lebensdauer von E-Fahrzeugen erreicht ist, eine ausreichende Marktgröße haben werden. Daher ist es wichtig, realistisch zu sein und anzuerkennen, dass die Primärgewinnung zumindest in den 2020er-Jahren eine wesentliche Rolle spielen wird. Die Versorgungssicherheit muss deshalb durch eine Diversifizierung von Lieferketten sowie eine grüne und ethische Gewinnungsstrategie gewährleistet werden. Zudem muss bei der künftigen Überarbeitung der Altfahrzeug-Richtlinie 2000/53/EG (7) der Elektrifizierung von Fahrzeugen und der notwendigen Entwicklung von Märkten für Sekundärmaterial Rechnung getragen werden.

Wirtschaft: Erhaltung und Entwicklung der vollständigen Lieferkette in der Automobilindustrie innerhalb der EU

3.6.

Förderung der Zusammenarbeit der Unternehmen. Angesichts der beträchtlichen Mittel für Forschung und Entwicklung (derzeit 60 Mrd. EUR jährlich), die gegenwärtig in die Entwicklung CO2-armer, vernetzter, automatisierter und geteilter Mobilität investiert werden, sind eine Zusammenarbeit innerhalb der Branche und öffentliche-private Partnerschaften erforderlich. In dieser Hinsicht sollte der Aufbau von Innovationspartnerschaften innerhalb des Clusters 5 (Klima, Energie, Mobilität) von Horizont Europa (sauberer Wasserstoff, Batterien, vernetzte und automatisierte Mobilität, emissionsfreier Straßenverkehr, Impulse für den städtischen Wandel) umfassend unterstützt werden. Zudem bieten Industrieallianzen unter der Schirmherrschaft der Europäischen Kommission (wie für Batterien, Wasserstoff, Rohstoffe und die angekündigte Allianz für die Wertschöpfungskette bei erneuerbaren und CO2-armen Kraftstoffen) eine breite und offene Plattform für die Festlegung strategischer Fahrpläne und die Abstimmung von Forschung und Entwicklung, Investitionen sowie die Markteinführung neuer Innovationen. darüber hinaus werden durch die Bündelung öffentlicher und privater Mittel in IPCEI die Lieferkette in der europäischen Automobilindustrie deutlich gestärkt, strategische Abhängigkeiten verringert und der doppelte grüne und digitale Wandel gefördert. Neue IPCEI müssen in folgenden Bereichen in Betracht gezogen werden: vernetzte und automatisierte Pkw, Kreislaufwirtschaft, Integration von Energiesystemen, Versorgung mit Rohstoffen, Datenwirtschaft, Halbleiter.

3.7.

Herausforderungen der Entwicklung einer nachhaltigen und zirkulären Wertschöpfungskette für Batterien (8) in der EU. Die Lokalisierung der Batterie- und Brennstoffzellenproduktion muss ein wichtiges Ziel der EU sein. Die Batterie-Allianz und die Wasserstoff-Allianz der EU sollten unterstützt werden, und ihnen müssen ausreichende Mittel bereitgestellt werden. Durch diese Industrieallianzen müssen massive Investitionen in Produktionsanlagen mobilisiert und Tausende von Arbeitsplätzen in Europa geschaffen werden. Es muss dafür Sorge getragen werden, eine Kluft zwischen den Regionen Europas zu verhindern, wie sie derzeit sichtbar wird.

3.8.

Der Megatrend vernetzter und automatisierter Pkw könnte zu einer Verlagerung der Wertschöpfung vom Verkauf und der Wartung von Fahrzeugen hin zu neuen disruptiven Geschäftsmodellen führen, die auf datengestützten Dienstleistungen und Mobilität als Dienstleistung beruhen. Das Automobil-Ökosystem muss auf den Einstieg in diese neuen Geschäftsmodelle und die Sicherung seiner Position in diesen Modellen vorbereitet sein. Dies erfordert technologische und regulatorische Standards, um neue innovative Mobilitätsdienstleistungen wie nutzungsabhängige Zahlung, ortsbezogene Werbung, Fernaktualisierung/Fernwartung von Fahrzeugen anbieten zu können. Der Aufbau eines europäischen Raums für Mobilitätsdaten ist entscheidend, um die Führungsrolle Europas bei digitalen Mobilitätsdiensten sicherzustellen. Zudem müssen die erforderliche Infrastruktur für die digitale Kommunikation eingerichtet und Fahrpläne für eine zunehmende Automatisierung aufgestellt werden (einschließlich eines Rahmens für umfassende Tests, des Zugangs zu Daten und eines neuen Konzepts für die Typgenehmigung von Fahrzeugen). Ferner müssen die langfristigen Auswirkungen von zunehmend automatisierten Fahrzeugen, insbesondere auf Arbeitsplätze und ethische Fragen, bewertet werden, da dies wichtig sein wird, um soziale Akzeptanz zu erreichen. Da der Güterverkehr künftig zunehmen könnte (Online-Handel), müssen intelligente Lösungen für die Verkehrsmobilität entwickelt werden, die auf einer multimodalen Organisation des Verkehrs, Kosteneffizienz (Fahrzeugkombinationen mit hoher Kapazität) und nachhaltigen Verkehrsträgern basieren und bei denen Automatisierungs- und Konnektivitätslösungen in der Logistikkette genutzt werden.

3.9.

Intelligente Technologien und digitale Lösungen auf der Basis des „Paradigmas Industrie 4.0“ müssen die Integration von Produktionsystemen unterstützen und dazu beitragen, die Systeme flexibler zu gestalten. Durch verbesserte Produktionssysteme (nicht nur die Integration der Produktionsprozesse auf Unternehmensebene) entlang der gesamten Lieferkette werden die Lieferketten der Automobilindustrie resilienter und die Wettbewerbsfähigkeit verbessert. Die Digitalisierung muss gefördert werden, indem ein Industriedatenraum für die Branche geschaffen wird. Diese Technologien bringen jedoch auch eine zunehmende Automatisierung mit nachteiligen Folgen für den Arbeitsmarkt mit sich, auf die reagiert werden muss.

3.10.

Unterstützung weltweit gleicher Wettbewerbsbedingungen. Ziel der EU muss es sein, ihre starke Exportstellung in der Automobilindustrie zu erhalten. Dazu müssen Maßnahmen ergriffen werden:

Bemühungen um Gegenseitigkeit bei den Handelsbeziehungen (Marktzugang, Vergabe öffentlicher Aufträge, Investitionen, Wahrung von Rechten des geistigen Eigentums, Beihilfen),

Abschluss bilateraler Freihandelsabkommen (einschließlich eines Kapitels zu Automobilindustrie/Straßenverkehr),

Bekämpfung unlauterer Handelspraktiken (Beihilfen, bilaterale Freihandelsabkommen, Unterschiede bei der CO2-Bepreisung, Sozial- und Umweltdumping),

Förderung der internationalen Zusammenarbeit bei sauberen Fahrzeugen und Kraftstofftechnologien mit geringem CO2-Ausstoß.

3.11.

Die Unterstützung der weltweiten technischen Harmonisierung im Rahmen der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UNECE) muss verstärkt werden. Die Versorgungsengpässe bei Automobilhalbleitern müssen durch gezielte Maßnahmen gelöst werden. Die Nachfrage nach Halbleitern wird weiterhin steigen, da Autos zu elektronischen Geräte werden. In diesem Zusammenhang unterstützt der EWSA vorbehaltlos den jüngsten Vorschlag zur Industriepolitik, ein Instrumentarium zur Verringerung und Vermeidung der strategischen Abhängigkeiten Europas zu entwickeln. Auch das im Rahmen des europäischen Digitalen Kompasses gesteckte Ziel, den Marktanteil Europas an der weltweiten Halbleiterproduktion von 10 auf 20 % zu verdoppeln, ist ausdrücklich zu unterstützen. Die Einrichtung eines zweiten IPCEI für Halbleiter wird zweifellos zur Verwirklichung dieses Ziels beitragen. Die EU-Mitgliedstaaten sollten auch ihr Versprechen einlösen, 20 % der Aufbau- und Resilienzfazilität für die Digitalisierung zu verwenden. Weitere Maßnahmen könnten darin bestehen, ausländische Direktinvestitionen zu mobilisieren und eine strategische Zusammenarbeit zwischen Automobilunternehmen und Herstellern von Halbleitern zu begründen. Ferner muss die Beobachtungsstelle für kritische Technologien die vielen sonstigen strategischen Abhängigkeiten in der Automobilindustrie überwachen: Rohstoffe, Wasserstoff, Batterien, erneuerbare Energie, Cloud-Technologien usw.

3.12.

Die Auswirkungen der neuen Automobillandschaft auf den Anschlussmarkt müssen behandelt werden. Auf dem Automobil-Anschlussmarkt mit vier Millionen Beschäftigten wird es zu einem tiefgreifenden Strukturwandel kommen, der sich aus dem Rückgang der Verkaufszahlen, der Elektrifizierung, der geringeren Nachfrage nach Kraftstoffen, dem Online-Verkauf und der reduzierten Wartung ergibt. Die Branche muss sich als Anbieter von Mobilitätsdienstleistungen wie Aufrüstung von Fahrzeugen, vorbeugende Wartung, Fahrgemeinschaften, Car-Sharing neu erfinden und Geschäftsmodelle in der Mikromobilität entwickeln. Interessenkonflikte beim Zugang zu fahrzeuginternen Daten müssen überwunden und eine interoperable und standardisierte Plattform eingerichtet werden, damit der Anschlussmarkt datenbasierte Dienstleistungen (wie Ferndiagnose, Software-Updates, vorbeugende Wartung) entwickeln kann.

Gesellschaft: Bewerkstelligung des Wandels und Sicherstellung eines sozial ausgewogenen Wandels

3.13.

Der Wandel der Automobilindustrie wird dramatische Folgen für die Zahl der bei der Fertigung von Autos und ihren Bauteilen benötigten Arbeitsplätze sowie für die Arbeitsplatzprofile haben, die für das neue Paradigma gefordert sind. Der Schwerpunkt arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen sollte daher auf der Erhaltung/Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitskräfte durch lebenslanges Lernen und auf der Schaffung flexibler Wege zwischen Bildungswesen und Arbeitswelt liegen (d. h. Systeme für duales Lernen, gut funktionierende Ausbildungsmärkte und Zertifizierung nicht formalen Lernens). Die interne Mobilität von Arbeitnehmern in den Unternehmen sollte durch Weiterbildung und Umschulung gefördert werden, um ihnen die Kompetenzen der Zukunft zu vermitteln (Rückgang manueller Tätigkeiten und deutliche Zunahme digitaler Kompetenzen mit einem besonderen Schwerpunkt auf Software und Ingenieurwesen). Europäische sektorbezogene Initiativen wie DRIVES und ALBATTS und die neue Allianz für Kompetenzen im Automobilsektor sind wichtige Instrumente zur Bewältigung der Herausforderungen bei den Kompetenzen.

3.14.

Im Fall von Arbeitnehmern, die nicht mehr in der Branche beschäftigt werden können, sollte für einen reibungslosen Übergang zu einem anderen Arbeitsplatz gesorgt werden. Ihnen muss der Zugang zu den neuen Arbeitsplätzen ermöglicht werden, die in entstehenden Industriezweigen wie IT, 5G-Netze, Leistungselektronik, Ladeinfrastruktur, Erzeugung erneuerbarer Energieträger, intelligente Netze, intelligente Straßen, Mobilitätsdienstleistungen, Batterien, alternative Kraftstoffe, Energiespeicherung, Stromerzeugung und -verteilung geschaffen werden. Dies wird eine große Herausforderung darstellen, da diese Arbeitsplätze voraussichtlich an anderen Orten, zu einem anderen Zeitpunkt und mit anderen Qualifikationen als bei den wegfallenden Arbeitsplätzen entstehen werden. Während des Übergangs muss die Einkommenssicherheit gewährleistet sein. Massenentlassungen können auch durch Vorruhestandsregelungen, Kurzarbeit und eine Verringerung der Arbeitszeit verhindert werden. Ein angemessener sozialer Dialog muss sichergestellt werden, um den Wandel rechtzeitig zu antizipieren und soziale Verwerfungen und Konflikte zu vermeiden.

3.15.

Die Auswirkungen des digitalen und grünen Wandels der Branche müssen genau erfasst werden, um die Regionen und Teile der Lieferkette zu ermitteln, die am stärksten gefährdet sind. Es darf nicht zu neuen sozialen Verwerfungen zwischen Ost und West sowie zwischen Süd- und Nordeuropa kommen. Ferner muss der sich aufgrund von Dekarbonisierung und Digitalisierung verändernde Fußabdruck der Industrie überwacht werden. Es sollte genau geprüft werden, welche Fortschritte bei der Nutzung nachhaltiger Biomasse möglich sind, da hier auch Chancen für die Schaffung neuer Arbeitsplätze bestehen, wobei zugleich zu berücksichtigen ist, dass die ökologischen Grenzen unseres Planeten nicht überschritten werden dürfen.

3.16.

Alle Akteure (Unternehmen, Gewerkschaften, Clusterorganisationen, Behörden, Arbeitsmarktagenturen, Stellen für regionale Entwicklung) in den Automobilregionen sollten bei umfassenden regionalen Sanierungsplänen eng zusammenarbeiten.

3.17.

Verlorene Vermögenswerte in den Lieferketten der Automobilindustrie müssen verhindert werden, indem rechtzeitig eine angemessene Unterstützung für die vielen KMU bereitgestellt wird, die nicht über die (personellen und finanziellen) Ressourcen zur Umstrukturierung ihrer Tätigkeiten und zur Verlagerung auf aussichtsreichere Geschäftsmodelle verfügen.

3.18.

Die individuelle Mobilität muss für alle zugänglich und erschwinglich bleiben, insbesondere für Pendler, die keinen Zugang zu guten öffentlichen Verkehrsdienstleistungen oder anderen Mobilitätslösungen haben. Dies kann erreicht werden, indem ein Ausgleich für den höheren Preis von alternativen Antriebssystemen und von CO2-armen und -neutralen Kraftstoffen geschaffen wird, die in einem konventionellen Fahrzeug verwendet werden können. Eine gesellschaftliche Polarisierung zwischen denen, die sich ein umweltfreundliches Fahrzeug leisten können, und denen, die dazu nicht in der Lage sind, muss unter allen Umständen verhindert werden.

3.19.

Schlussfolgerungen. Die europäische Automobilindustrie ist von jeher weltweit führend und ein Motor für Wachstum und Arbeitsplätze. Sie sollte diese Stellung beim Übergang zum Paradigma eines digitalisierten und dekarbonisierten Straßenverkehrssystems beibehalten und Wirkungspfade für einen Wandel entwickeln, mit denen die disruptiven Trends, denen sich die Industrie derzeit gegenübersieht, bewältigt werden können. Dabei sollte sie auf ihren technologischen Stärken, ihren qualifizierten Arbeitskräften, dem erstklassigen Ingenieurwesen, anspruchsvollen Verbrauchern, hochentwickelten Lieferketten, einer starken KMU-Kultur und konstruktiven Beziehungen zwischen den Sozialpartnern aufbauen. Das europäische Automobil-Ökosystem muss bei der Entwicklung und Anwendung nachhaltiger Mobilitätslösungen eine Vorreiterrolle übernehmen. Innerhalb des Automobil-Ökosystems müssen deshalb aktiv Strategien entwickelt werden, um aktuelle Disruptionen und Megatrends in der europäischen Automobilindustrie mitzugestalten. Da die Lieferkette der Automobilindustrie enorme Herausforderungen bewältigen muss, hält es der EWSA für wichtig, einen Mechanismus für einen gerechten Übergang in der Branche einzurichten, um die erforderlichen Begleitmaßnahmen zur Vermeidung sozialer Verwerfungen und zur Sicherstellung eines sozialverträglichen Übergangs vorzusehen.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_20_2312.

(2)  Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen, Nachhaltige und intelligente Mobilität, SWD(2020) 331, S. 248.

(3)  Dr. Oliver Falck, Dr. Nina Czernich, Auswirkungen der vermehrten Produktion elektrisch betriebener Pkw auf die Beschäftigung in Deutschland, Mai 2021, ifo Institut; https://www.ifo.de/DocDL/ifoStudie-2021_Elektromobilitaet-Beschaeftigung.pdf

(4)  https://eeb.org/library/escaping-the-growth-and-jobs-treadmill/

(5)  Richtlinie (EU) 2018/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (ABl. L 328 vom 21.12.2018, S. 82).

(6)  Fahrzeuge unter 1 000 kg bzw. über 1 500 kg machten 1998 in Frankreich jeweils 36 % bzw. 7 % und 2019 15 % bzw. 16 % der verkauften Fahrzeuge aus (Eurostat).

(7)  Richtlinie 2000/53/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. September 2000 über Altfahrzeuge (ABl. L 269 vom 21.10.2000, S. 34).

(8)  Die Rolle der europäischen Batterie-Verordnung in diesem Zusammenhang wird in der Stellungnahme CCMI/128 ausführlich erläutert (ABl. C 220 vom 9.6.2021, S. 128).


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/34


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen des 5G-Ökosystems“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 105/06)

Berichterstatter:

Dumitru FORNEA

Beschluss des Plenums

25.3.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.10.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

210/2/19

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) stellt fest, dass sich die rasche Digitalisierung und Entwicklung der elektronischen Kommunikation tiefgreifend auf unsere Wirtschaft und die gesamte Gesellschaft auswirken. Die verantwortungsvolle Nutzung dieser Technologien wäre eine historische Chance für die Menschheit, eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Allerdings könnte uns die Beherrschung dieser Technologiesysteme in der Zukunft auch vor erhebliche Probleme stellen, wenn nachlässig gehandelt wird und es keine demokratische Kontrolle gibt.

1.2.

Der EWSA erkennt an, dass die elektronische Kommunikationsinfrastruktur die Lebensqualität der Menschen erheblich verbessern kann und direkten Einfluss auf die Armutsbekämpfung hat. Die 5G-Technologie bietet eine enorme Chance, die Gesundheitsdienste durch die Entwicklung der Telemedizin und die Verbreiterung des medizinischen Versorgungsangebots zu verbessern. Dass Telemedizin während der Pandemie eine große Hilfe war, ist gesellschaftlich unumstritten.

1.3.

Der EWSA stellt fest, dass sich die Debatte über den Aufbau von 5G-Netzen in eine kontroverse politische Auseinandersetzung verwandelt hat. Nichtsdestotrotz müssen soziale, gesundheitliche und ökologische Fragen unter Einbeziehung der Bürger und aller relevanten Akteure geklärt werden.

1.4.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, bei der Bewertung der Auswirkungen der neuen 5G- und 6G-Technologien auf die unterschiedlichen Bereiche wegweisend voranzugehen, da wir Instrumente und Maßnahmen zur Bewältigung von Risiken und zur Behebung der Schwachstellen benötigen. Der EWSA empfiehlt deshalb, europäische und nationale Mittel in eingehendere multidisziplinäre Forschungen und Folgenabschätzungen zu investieren, in denen es vor allem um Mensch und Umwelt geht. Ihre Ergebnisse sollen publik gemacht werden, damit die Öffentlichkeit und die Entscheidungsträger informiert sind.

1.5.

Der EWSA schlägt vor, dass die Europäische Kommission die Bürger und Organisationen der Zivilgesellschaft konsultiert und unter Einbeziehung aller einschlägigen öffentlichen Einrichtungen zum Beschlussfassungsprozess mit Blick auf die gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen der mobilen elektronischen Kommunikation beiträgt.

1.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU ein unabhängiges europäisches Gremium mit modernen Verfahren entsprechend den aktuellen technischen Rahmenbedingungen und einem multidisziplinären Ansatz benötigt, um Leitlinien zum Schutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte vor elektromagnetischer Strahlung festzulegen.

1.7.

Der EWSA empfiehlt, alle Sendestationen und die von ihnen genutzten Frequenzen zu erfassen und diese Information zu veröffentlichen, um eine bessere Kontrolle in den Gebieten und den Schutz der Interessen der Bürger und insbesondere der Risikogruppen (Kinder, Schwangere, chronisch kranke Personen, ältere Menschen, Menschen die unter Elektrosensibilität leiden) zu gewährleisten. Außerdem müssen die Gesundheit und die Sicherheit der Arbeitnehmer berücksichtigt werden.

1.8.

Der EWSA befürwortet den Vorschlag, 5G-Netzwerkausrüstungen ab Werk so auszulegen, dass sie in Echtzeit öffentliche Informationen über die Sendeleistung und weitere für Verbraucherorganisationen und andere Interessenträger relevante technische Parameter liefern können. Diese Daten müssen von den zuständigen Behörden zentral erfasst, verwaltet und offengelegt werden.

1.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Überwachung und Kontrolle der elektromagnetischen Verschmutzung auf der Grundlage eines stringenten interinstitutionellen und interdisziplinären wissenschaftlichen Ansatzes zu erfolgen hat. Unterstützt durch moderne Messausrüstungen, die die Parameter der elektronischen Kommunikationsnetze erfassen, müssen die kumulativen Auswirkungen über längere Zeiträume angemessen dargestellt und bewertet werden können.

1.10.

Zwar gibt es keine anerkannten wissenschaftlichen Daten, die für negative Auswirkungen von 5G auf die menschliche Gesundheit sprechen, doch hält es der EWSA für angezeigt, die sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Aspekte von 5G im Sinne des Vorsorgeprinzips kontinuierlich zu überwachen. Er respektiert die Bedenken, die hinsichtlich der gesundheitlichen Auswirkungen, einschließlich der thermischen und nichtthermischen Auswirkungen, der Intensität der Exposition und der langfristigen Auswirkungen einer solchen Strahlenbelastung vorgetragen werden. Einige Regionen und Gebiete werden vergleichsweise stark belastet sein, sodass spezifische Maßnahmen in Betracht gezogen werden sollten, darunter die Empfehlung, die Anwendung des ALARA-Grundsatzes auszuweiten, um die Auswirkungen der von 5G-Netzen emittierten elektromagnetischen Strahlung zu begrenzen.

1.11.

Der EWSA geht davon aus, dass sich eine gewisse Belastung der Bevölkerung durch verschiedene elektromagnetische Felder kaum vermeiden lässt. Bei der Überprüfung der Belastungsgrenzwerte in der Richtlinie über Mindestvorschriften zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch physikalische Einwirkungen (elektromagnetische Felder) (1) sollten die Sozialpartner von Anfang an einbezogen werden. Besonderes Augenmerk sollte den nichtthermischen Effekte gelten.

1.12.

Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz müssen verstärkt und verbessert werden, indem die Strahlungswerte streng kontrolliert und die Sicherheitsnormen für Arbeitskräfte, die in der Nähe elektromagnetischer Strahlungsquellen arbeiten, genau eingehalten werden.

1.13.

Der EWSA stellt fest, dass die institutionellen Mechanismen zur Gewährleistung aller Menschenrechte im neuen Kontext der Hyperdigitalisierung, Hyperautomatisierung und Hyperkonnektivität infolge der 5G-Technik auf den Stand der Zeit gebracht werden müssen. Dahinter steht der Gedanke, dass diese universellen Werte bei jeder technologischen Entwicklung berücksichtigt werden müssen. Sie bilden ein gültiges und unverzichtbares Element der Kosten-und-Nutzen-Betrachtung.

1.14.

Der EWSA versteht, dass die Bürger bei der Aufstellung der Antennen ihre Eigentumsrechte gewahrt wissen wollen und dass sie sich im Zusammenhang mit den mittlerweile allgegenwärtigen 5G-Netzen, die sich vom eigenen Wohnraum bis hin zu Satelliten im Weltraum erstrecken, um ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit sorgen. Das Recht auf Eigentum und die Entscheidungen der Menschen müssen respektiert werden. Es muss sichergestellt werden, dass es eine genaue Definition der „Einwilligung nach erfolgter Aufklärung“ gibt, denn nur so kann von einem echten Recht auf freie, auf umfassenden Informationen beruhende und gültige Einwilligung der Bürger die Rede sein.

1.15.

Der EWSA spricht sich für die Stärkung der europäischen Kapazitäten für die Prävention, die Aufklärung über und den Schutz vor Cyberrisiken aus. Dies könnte sowohl durch die Stärkung der einschlägigen Institutionen wie der Agentur der Europäischen Union für Cybersicherheit (ENISA) als auch durch die Schaffung technologischer, institutioneller und rechtlicher Instrumente geschehen. Auf diese Weise könnten die Bürgerrechte geschützt werden. Um bestimmte Sicherheitsbedrohungen abzuwenden, sollte die EU mehr in den Aufbau eigener Technologien und in die Unterstützung der Technologiebranche und -entwickler investieren. Vor allem sollte es bei diesen Maßnahmen darum gehen, Anreize für europäische KMU zum Aufbau einer sicheren und zuverlässigen 5G-Infrastruktur zu schaffen.

2.   Einleitung

2.1.

Bei 5G handelt es sich nicht um eine neue Technologie, sondern um eine Weiterentwicklung bereits vorhandener Technologien (1G bis 4G), die weiterhin im Einsatz sind. Letztlich bewegen wir uns auf ein gemischtes Netz aus Netzen mit immer mehr unterschiedlichen Funkfrequenzbändern zu, in dem es einen Mix aus Geräten für den Datenaustausch und eine Vielzahl von Nutzerinteraktionen geben wird. Einige der neuen Geräte und Technologien könnten sich in ihren Auswirkungen von früheren Technologiegenerationen unterscheiden.

2.2.

Durch 5G sollen eine drahtlose Hyperkonnektivität (WiFi), die Abdeckung und der Anschluss einer sehr großen Zahl von Geräten und erheblich höhere Übertragungsraten (in der Größenordnung von Gbit/s) gewährleistet werden. Ermöglicht wird dies durch Spektrumsaggregation mit Beamforming, parallele Mehrfachverbindungen mithilfe von Massive-MIMO-Antennen (Base Station Phased Array) und regulären MIMO-Antennen (Client-Geräte) sowie niedrigen Latenzzeiten (betreiberseitig im Millisekunden-Bereich, nicht aber mit dem übrigen Internet).

2.3.

Eine GSMA-Studie aus dem Jahr 2019 zeigt, dass die neuen Fähigkeiten der 5G-Netze notwendig sind, damit autonomes Fahren, virtuelle Realität, erweiterte Realität und taktile Internetumgebungen verwirklicht werden können. Die übrigen Anwendungen könnten auch mit der vorhandenen Technologie (4G LTE und Glasfaseroptik) realisiert werden. Darüber hinaus wird 5G die Entwicklung der „Industrie 4.0“ beschleunigen und die Entwicklung von Anwendungen der künstlichen Intelligenz erleichtern, weshalb diese Technologie als Schlüssel und als unabdingbares Element für die Entwicklung einer modernen, zunehmend automatisierten und digitalisierten Wirtschaft angesehen wird.

2.4.

Auf der ganzen Welt haben Wissenschaftler Erkenntnisse (2) darüber vorgelegt, dass die lang andauernde und allgegenwärtige Exposition des menschlichen Körpers und anderer biologischer Organismen mit Skepsis zu betrachten ist. Wir sind einer Vielzahl von in 5G-Netzen genutzten Wellen verschiedener Frequenzbereiche, gebündelter Strahlung und Funkfrequenzen von einigen Dutzend GHz, die für 5G spezifisch sind, ausgesetzt. Sorge bereiten auch die möglicherweise nachteiligen Folgen für die menschliche Gesundheit, die biologische Vielfalt und die Umwelt. Bislang haben die zuständigen Behörden der EU und der Mitgliedstaaten jedoch mitgeteilt, dass es keine wissenschaftlichen Belege für negative Auswirkungen von 5G auf die menschliche Gesundheit gibt. Die WHO stellt fest, dass sich bis heute trotz umfangreicher Forschungsarbeiten kein kausaler Zusammenhang zwischen gesundheitsschädlichen Auswirkungen und einer Exposition durch drahtlose Technologien feststellen lässt.

2.5.

Die Einführung von 5G und der neuen Technologien, die auf 5G aufbauen, ist eine Quelle der Unsicherheit, was allerdings für jede neu eingeführte Technologie gilt, und manche Auswirkungen mögen tatsächlich noch nicht erkennbar sein. Um alle Fragen zu den Auswirkungen von 5G auf die öffentliche Gesundheit befriedigend beantworten zu können und um zu verhindern, dass die öffentliche Meinung der Desinformation zum Opfer fällt, empfiehlt die Zivilgesellschaft im europäischen Gesetzgebungsprozess zur Regulierung dieser neuen Generation der elektronischen Kommunikation einen angemessenen und vorausschauenden Ansatz im Einklang mit dem Vorsorgeprinzip.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Im Allgemeinen verhehlen die internationalen Institutionen, Unternehmen und nationalen Behörden ihre Begeisterung in Bezug auf die Vorteile der 5G-Technologie nicht. Allerdings ist es notwendig, zu untersuchen, ob die Expansion des 5G-Ökosystems eventuell mit negativen Folgen verbunden ist, und implizit somit auch, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit diese Infrastrukturen und Dienste, die erhebliche gesellschaftliche Implikationen haben, von der Allgemeinheit akzeptiert werden.

3.2.

Die immer schnellere Entwicklung der elektronischen Kommunikationstechnologien und der Internetinfrastrukturen veranlasst die Bürger und die organisierte Zivilgesellschaft in den Industrieländern weltweit in zunehmendem Maße, sich zu der Notwendigkeit und den Chancen einer exponentiell beschleunigten Entwicklung der IKT-Netze zu äußern. Die Behörden müssen anerkennen, dass sich im Zusammenhang mit möglichen Beeinträchtigungen der Umwelt, der lebenden Organismen oder der Bürgerrechte durch diese technischen Systeme Herausforderungen stellen.

3.3.

Auf europäischer Ebene kommen im Beschluss Nr. 243/2012/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (3), Erwägungsgrund 31, folgende Bedenken hinsichtlich der möglichen gesundheitlichen Auswirkungen der elektromagnetischen Verseuchung zum Ausdruck: „Der Schutz der Bevölkerung vor den gesundheitlichen Auswirkungen elektromagnetischer Felder ist für deren Wohlbefinden unerlässlich und sollte im Rahmen eines kohärenten Konzepts für Frequenznutzungsgenehmigungen in der Union umfassend berücksichtigt werden. Für die Frequenznutzung gilt die Empfehlung 1999/519/EG des Rates vom 12. Juli 1999 zur Begrenzung der Exposition der Bevölkerung gegenüber elektromagnetischen Feldern (0 Hz-300 GHz); es ist jedoch unbedingt eine fortlaufende Überwachung der durch ionisierende und nicht ionisierende Strahlung bedingten Folgen der Frequenznutzung für die Gesundheit sicherzustellen, einschließlich der konkreten kumulativen Auswirkungen der Nutzung von Frequenzen in unterschiedlichen Frequenzbereichen und mit immer zahlreicheren Gerätearten.“

4.   Besondere Bemerkungen

5G und Rechte der Bürger

4.1.

In den vergangenen Jahren haben einige zivilgesellschaftliche Organisationen in der EU und in der Welt vor den negativen Effekten bzw. den komplexen und gravierenden Krisen gewarnt, die sich aus der mangelhaften demokratischen Kontrolle, dem Transparenzdefizit und den Sicherheitsbedrohungen aufgrund der Technologieabhängigkeit von Anbietern aus Drittländern ergeben können.

4.2.

Die Unternehmen der IKT-Branche und die von ihnen angebotenen systemumwälzenden 5G-Anwendungen basieren auf der Nutzung zweier sehr wichtiger Ressourcen. Erstens nutzen sie das Spektrum der Sendefrequenzen. Diese begrenzte natürliche Ressource, die der Allgemeinheit gehört, wird von den Regierungen mittels nationaler Agenturen oder anderer öffentlicher Gremien verwaltet und den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste zur Verfügung gestellt.

4.3.

Eine weitere wesentliche Ressource ist der Zugriff auf die Daten und Metadaten der Verbraucher bzw. Bürger. In dem sich entwickelnden Markt für digitale Dienste sind diese Daten eine wahre Goldgrube und bringen den Unternehmen, die auf sie zugreifen können, enorme Vorteile. Einige der diesbezüglichen Herausforderungen wurden in der Stellungnahme des EWSA zur Datenstrategie (4) genannt.

4.4.

Bei all dem darf nicht vergessen werden, dass 5G und die gemeinsame Nutzung und Sammlung von Daten wie viele andere Technologien ein wirkungsvolles Mittel sein können, um die Zivilgesellschaft zu stärken, öffentliche Dienste effizienter und zuverlässiger zu machen und Ungleichheit durch Ankurbelung des Wirtschaftswachstums abzubauen. Deshalb sollten die EU und die Mitgliedstaaten die 5G-Technologie nutzen, um den Zugang zu hochwertigen Daten zu verbessern und eine bessere digitale Verwaltungsinfrastruktur (elektronische Verwaltung) zu entwickeln. Sie würde damit für mehr Bürgernähe der öffentlichen und demokratischen Institutionen sorgen.

4.5.

Die verantwortungsvolle und nachhaltige Entwicklung der elektronischen Kommunikationsinfrastruktur sollte also die Lebensqualität der Bürger, insbesondere in den Regionen und den weniger entwickelten Ländern, verbessern. Die Entwicklung dieser Technologien hat somit einen direkten Einfluss auf die Bekämpfung der Armut.

4.6.

Mit der Richtlinie (EU) 2018/1972 des Europäischen Parlaments und des Rates (5) (Artikel 42, 43 und 44) hat die EU einen Rechtsrahmen für den schnellen Ausbau der 5G-Netze geschaffen. Dieser ermöglicht den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste erleichterten Zugang zum Grundbesitz, auf dem die für den Aufbau dieser Netze zwingend erforderlichen Ausrüstungen und Infrastrukturkomponenten errichtet werden. Die Zivilgesellschaft wacht über die Auslegung dieser Bestimmung, damit es nicht zu verfassungswidrigen Verletzungen der Eigentumsrechte bei der Umsetzung der Richtlinie kommt.

Umweltauswirkungen des 5G-Ökosystems

4.7.

Einige Organisationen der Zivilgesellschaft haben auf die potenziellen Umweltauswirkungen der neuen 5G-Netze hingewiesen. Sie bemängeln unter anderem unzureichende Bestimmungen im Hinblick auf die Durchführung von Umweltverträglichkeitsstudien und ungeeignete Mechanismen und Maßnahmen zur Verringerung des Energieverbrauchs der 5G-Netzinfrastruktur, und sie fordern mehr Recycling von Elektronikabfällen (6).

4.8.

Um die Auswirkungen von 5G auf Umwelt und Klima angemessen bewerten zu können, müssen die einschlägigen Stellen etwa die Treibhausgasemissionen (7), die Vorräte und den Verbrauch kritischer Rohstoffe sowie die Menge (und Quellen) der Energie kennen, die durch alle im Internet der Dinge (IoT) angeschlossenen und genutzten Objekte und durch die drahtlose Übertragung von Daten und den Betrieb von Datensammlungs- und -übertragungspunkten verbraucht werden.

4.9.

Die Einführung der 5G-Technologie und des Internets der Dinge wird dazu führen, dass Milliarden neuer Geräte des 5G-Netzes zusammen mit Haushaltsgeräten (Haushaltselektronik, Elektrogeräte, Installationen usw.) später das Aufkommen an Elektronikschrott („E-Abfall“) (8) vergrößern werden — ein Umstand, den man mit Blick auf die angestrebte Kreislaufwirtschaft und Abfallvermeidung nicht mehr ausklammern kann.

Vorbehalte hinsichtlich der Auswirkungen von 5G-Netzen auf die menschliche Gesundheit und lebende Organismen

4.10.

Die 5G-Technologie bietet gesundheitspolitisch enorme Chancen. Die Entwicklung der IKT-Infrastruktur und die Integration von 5G werden den Aufbau der Telemedizin beschleunigen, auch durch das Konzept des Internets der Dinge. Dank 5G werden komplexe Operationen aus der Ferne möglich. Damit ist ein wesentlich besserer Zugang zu hochwertiger medizinischer Versorgung möglich, insbesondere für diejenigen, die es sich nicht leisten können, wegen einer medizinischen Behandlung ins Ausland zu reisen.

4.11.

Die Weiterentwicklung der Telemedizin hat sich in der Pandemie als besonders wichtig herausgestellt, weil die medizinische Versorgung am Ort stark eingeschränkt war. Im Übrigen hat die 4G-Technologie die Entwicklung der Teleradiologie erst ermöglicht. Dank der IKT-Infrastruktur konnte den Patienten standortunabhängig eine Ferndiagnose (mittels MRT und CT) gegeben und fachärztliche Dienste angeboten werden. Die 5G-Technologie wird diesen Prozess vorantreiben und dem Patienten eine bessere Diagnostik und direkte, fernerbrachte medizinische Dienstleistungen ermöglichen.

4.12.

Andererseits hat die rasche technische Entwicklung der letzten 20 Jahre aber auch zu einer Verdichtung von elektromagnetischen Feldern und damit zu einer zunehmenden Umweltverschmutzung durch Elektrosmog geführt. Die Auswirkungen des Elektrosmogs müssen evidenzbasiert analysiert werden, um zu einer Einschätzung des tatsächlichen Risikos zu gelangen.

4.13.

Das Europäische Parlament (9), der EWSA (10) und der Europarat (11) haben anerkannt, dass Elektrosensibilität bzw. Elektrosensitivität eine Krankheit ist. Hiervon sind eine Reihe von Menschen betroffen, und mit der Einführung von 5G, für das eine viel höhere Dichte elektronischer Anlagen benötigt wird, könnte dieses Krankheitsbild häufiger auftreten.

4.14.

In weltweit durchgeführt Studien gelangte man zu dem Schluss, dass die biologischen Auswirkungen elektromagnetischer Strahlung nicht mit Gesundheitsrisiken verbunden sind, sofern die nationalen Standards oder die ICNIRP-Standards eingehalten werden. Gleichzeitig wird seit den 1970er-Jahren (12) in Studien vor den Gefahren für die menschliche Gesundheit gewarnt (13).

4.15.

Die Europäische Kommission und die amerikanische Federal Communications Commission (FCC) (14) weisen in ihren Berichten aus den Jahren 2019 bzw. 2020 zur Langzeitexposition von Menschen gegenüber elektromagnetischen Feldern von 5G darauf hin, dass es keine schlüssigen oder glaubwürdigen wissenschaftlichen Belege für Gesundheitsprobleme aufgrund der von Mobiltelefonen emittierten Funkfrequenzenergie gibt.

4.16.

Die Weltgesundheitsorganisation hat die durch hochfrequente Strahlung erzeugten elektromagnetischen Felder bereits vor Jahren als potenziell karzinogen eingestuft und unterstützt eine ähnliche Position wie die Behörden der EU und der USA. Im Zusammenhang mit der Einführung von 5G-Netzen im Jahr 2022 hat sie allerdings eine neue Bewertung der Risiken elektromagnetischer Felder für das Frequenzspektrum (zwischen 3 kHz und 3 000 GHz) (15) angekündigt.

4.17.

In der endgültigen Fassung der Resolution 1815 des Europarats vom 27. Mai 2011 zu den potenziellen Gefahren elektromagnetischer Felder und ihren Auswirkungen auf die Umwelt wird vor den Folgen der elektromagnetischen Verschmutzung für die menschliche Gesundheit gewarnt. Es wird eine Reihe allgemeiner und spezifischer Empfehlungen ausgesprochen, um den Herausforderungen infolge der Verbreitung mobiler Kommunikationsdienste mit einem kohärenten mittel- und langfristigen Konzept zu begegnen. In diesem Dokument wird betont, dass alle angemessenen Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Belastung durch elektromagnetische Felder im Einklang mit dem ALARA-Grundsatz (16) zu verringern, der bei ionisierender Strahlung zwingend anzuwenden ist.

4.18.

In einigen Studien wird die Strahlung der Mobiltelefonie und der drahtlosen elektronischen Kommunikationsinfrastrukturen mit neuronalen, reproduktiven, onkologischen sowie mutagenen Risiken assoziiert (obwohl es sich um nichtthermische Emissionen handelt) (17). Die zuständigen Stellen sind jedoch auf der Grundlage ihrer eigenen Bewertungen und Verfahren zu der Einschätzung gelangt, dass die Strahlung der Mobiltelefonie und der elektronischen Kommunikationsinfrastruktur für den Menschen unbedenklich ist.

4.19.

Wie bereits erwähnt, wurden die Auswirkungen elektromagnetischer Strahlung auf die Gesundheit von Mensch und Tier in Studien untersucht. Was allerdings die komplexen Auswirkungen der nichtionisierenden elektromagnetischen Strahlung auf Flora und Fauna angeht, so ist sehr wenig über die nichtthermischen Auswirkungen bekannt, und noch viel weniger wird über dieses Thema überhaupt gesprochen. Die bekanntesten Studien beziehen sich auf die erheblichen und unmittelbaren Auswirkungen auf Bestäuberinsekten und Vögel, doch gibt es in der Wissenschaft zahlreiche Bedenken, was die Langzeitauswirkungen elektromagnetischer Emissionen auf Biosysteme angeht.

Zweifel an den ICNIRP-Standards (18)

4.20.

Die Europäische Kommission und die überwiegende Mehrheit der nationalen Regierungen auf der Welt erkennen die ICNIRP-Leitlinien für die Festlegung von Grenzwerten für die Exposition der Bevölkerung gegenüber elektromagnetischen Feldern an. Die 2020 aktualisierten und veröffentlichten ICNIRP-Standards berücksichtigten auch die Parameter Strahlformung (beamforming) und Frequenzen, die für 5G-Kommunikationsinfrastrukturen und -geräte spezifisch sind, nicht jedoch die Aggregation der Frequenzen und die erhöhte Verbindungsdichte.

4.21.

Die ICNIRP bemüht sich sehr, ihre wissenschaftlichen Methoden für die Festlegung der Schutzleitlinien transparent zu machen; allerdings erkennt sie nur die thermischen Auswirkungen der elektromagnetischen Strahlung als potenziell schädlich an.

4.22.

In der vom Europäischen Parlament (19) gemäß den Empfehlungen der Resolution 1815 des Europarates von 2011 durchgeführten STOA-Studie werden die Einhaltung des Vorsorgeprinzips, die erneute Prüfung der von der ICNIRP vorgeschlagenen Grenzwerte sowie technische und administrative Maßnahmen zur Minderung der Folgen von elektromagnetischer Verschmutzung aufgrund der Telekommunikation unterstützt.

4.23.

Die vorgeschlagenen Maßnahmen dienen unter anderem einer verantwortungsvolleren Gestaltung der Kommunikationsinfrastruktur (Platzierung der Antennen und anderer spezifischer Geräte), der Aufklärung der breiten Öffentlichkeit über die potenziellen Folgen der elektromagnetischen Verschmutzung und über die Möglichkeiten zum Schutz vor elektromagnetischer Strahlung sowie dem Aufbau von Kapazitäten zur Überwachung elektromagnetischer Felder. Europäische und nationale Mittel sollten in eingehendere multidisziplinäre Forschungen und Folgenabschätzungen investiert werden, in denen sowohl der Mensch als auch die Umwelt im Mittelpunkt stehen. Ihre Ergebnisse sollen publik gemacht werden, damit die Öffentlichkeit und die Entscheidungsträger informiert sind.

5G-Cybersicherheit — Wirksamkeit der Instrumente und Maßnahmen

4.24.

Der EWSA hat bereits in seiner Stellungnahme „Sichere 5G-Einführung — EU-Instrumente“ (20) auf etliche Probleme in der Cybersicherheit hingewiesen. Nicht behobene Sicherheitslücken in 4G-Netzen dürften in 5G-Netzen noch problematischer werden. Diese Schwachpunkte liegen in der technischen Architektur, der Topologie und dem Protokoll begründet, worauf die ENISA (21) hingewiesen hat. Dem NIS-Bericht (22) zufolge kann man diesen kritischen Aspekten noch nicht mit wirksamen Abhilfemaßnahmen begegnen.

4.25.

Um bestimmte Sicherheitsbedrohungen abzuwenden, sollte die EU mehr in den Aufbau eigener Technologien und in die Unterstützung der Technologiebranche und -entwickler investieren. Vor allem sollte es bei diesen Maßnahmen darum gehen, Anreize für europäische KMU zum Aufbau einer sicheren und zuverlässigen 5G-Infrastruktur zu schaffen.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Richtlinie 2013/35/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über Mindestvorschriften zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch physikalische Einwirkungen (elektromagnetische Felder) (20. Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG) und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/40/EG (ABl. L 179 vom 29.6.2013, S. 1).

(2)  https://ehtrust.org/environmental-health-trust-et-al-v-fcc-key-documents/

(3)  Beschluss Nr. 243/2012/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2012 über ein Mehrjahresprogramm für die Funkfrequenzpolitik (ABl. L 81 vom 21.3.2012, S. 7).

(4)  TEN/708 (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 290).

(5)  Richtlinie (EU) 2018/1972 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2018 über den europäischen Kodex für die elektronische Kommunikation (ABl. L 321 vom 17.12.2018, S. 36).

(6)  https://www.greenpeace.org/static/planet4-eastasia-stateless/2021/05/a5886d59-china-5g-and-data-center-carbon-emissions-outlook-2035-english.pdf

(7)  https://www.hautconseilclimat.fr/wp-content/uploads/2020/12/rapport-5g_haut-conseil-pour-le-climat.pdf

(8)  https://www.itu.int/en/ITU-D/Climate-Change/Pages/Global-E-waste-Monitor-2017.aspx

(9)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 zu der Gesundheitsproblematik in Zusammenhang mit elektromagnetischen Feldern (2008/2211(INI)). https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-6-2009-0216_DE.html?redirect.

(10)  Stellungnahme des EWSA „Sichere 5G-Einführung in der EU — Umsetzung des EU-Instrumentariums“, TEN/704 (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 281).

(11)  Entschließung 1815 (2011), endgültige Fassung, Ziffer 8.1.4, http://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-XML2HTML-en.asp?fileid=17994 [liegt nicht auf DE vor].

(12)  https://bioinitiative.org/updated-research-summaries/

(13)  Defence Intelligence Agency — Biological Effects of Electromagnetic Radiation (Radiowaves and Microwaves) — März 1976.

(14)  Der Standpunkt der FCC wurde von US-amerikanischen Organisationen der Zivilgesellschaft vor Gericht angefochten: https://ehtrust.org/eht-takes-the-fcc-to-court/.

(15)  Gemäß der Vollzugsordnung für den Funkdienst der Internationalen Fernmeldeunion (ITU).

(16)  ALARA steht für As Low As Reasonably Achievable (so niedrig wie vernünftigerweise erreichbar). Der ALARA-Grundsatz bildet die Grundlage für die Aufstellung von Programmen zum Schutz vor ionisierender Wirkung.

(17)  So wurde beispielsweise die europäische REFLEX-Studie (2004) im Auftrag der EU mit einem Gesamtbudget von über 3 Mio. EUR und einem Zuschuss der Europäischen Kommission in Höhe von 2,059 Mio. EUR von 12 Hochschuleinrichtungen durchgeführt.

(18)  Internationale Kommission für den Schutz vor nichtionisierender Strahlung.

(19)  https://www.home-biology.com/images/emfsafetylimits/EuropeanParliamentSTOA.pdf

(20)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 281.

(21)  https://www.enisa.europa.eu/publications/enisa-threat-landscape-report-for-5g-networks/at_download/fullReport.

(22)  http://ec.europa.eu/newsroom/dae/document.cfm?doc_id=64468.


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/40


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Die nächste Generation von Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung — Überprüfung des 15-Punkte-Aktionsplans“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 105/07)

Berichterstatterin:

Tanja BUZEK

Beschluss des Plenums

25.3.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Außenbeziehungen

Annahme in der Fachgruppe

28.9.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

236/2/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Handel benötigt einen geeigneten politischen Rahmen, um Wachstum, die Entstehung guter Arbeitsplätze und eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung nach der COVID-19-Krise zu fördern und Unternehmen die Möglichkeit zu geben, ihre gestörten Liefer- und Wertschöpfungsketten wiederaufzubauen und neu zu ordnen. 2021 ist ein Wendepunkt, um die handelspolitische Steuerung der EU zu überdenken. Der EWSA unterstützt den eingeschlagenen offenen, nachhaltigen und selbstbewussten neuen Pfad.

1.2.

In den Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung (TSD) manifestiert sich das Eintreten der EU für eine „wertebasierte Handelsagenda“, die gleichermaßen eine wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung fördert. Das Vorgehen gegen eine Nichteinhaltung und eine verbesserte Umsetzung der Verpflichtungen im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung sind wichtig dafür, hohe Arbeits- und Nachhaltigkeitsstandards durch Handelsinstrumente zu erreichen. Sowohl bilateral als auch global sollte die EU mit gleichgesinnten Handelspartnern, die bereit sind, richtungsweisende Schritte zu unternehmen, ehrgeizige Messlatten für den Handel und die nachhaltige Entwicklung festlegen.

1.3.

Der EWSA begrüßt die frühzeitige Überprüfung des 15-Punkte-Aktionsplans und geht davon aus, dass er über seinen 2018 umrissenen begrenzten und „abgeschotteten“ Rahmen hinauskommt. Angesichts dessen, dass den rechtsverbindlichen Verpflichtungen in den Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung nicht in vollem Umfang nachgekommen wird, schlägt der EWSA eine ehrgeizige Überprüfung vor, die einen umgestalteten sanktionsbewehrten Ansatz zur Durchsetzung umfasst. Dazu gehören eine stärkere Überwachung durch die Zivilgesellschaft, der Einsatz innovativer Instrumente und mehr Druckmittel im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung. Die Handels- und Nachhaltigkeitskapitel der nächsten Generation müssen ein integraler Bestandteil der Handelsstrategie der EU sein und sowohl für gegenwärtige als auch für künftige Verhandlungsmandate gelten.

1.4.

Ein neuer Anfang ist nur möglich, wenn Mauern in den Köpfen niedergerissen werden. Eine erfolgreiche Um- und Durchsetzung der Verpflichtungen im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung erfordert ein lebhaftes, strukturiertes und kooperativeres Zusammenwirken der einzelnen Akteure, einen Austausch zwischen den Institutionen und internationalen Gremien, vor allem einen Austausch sowohl mit den Internen Beratungsgruppen (IBG) als auch einen Austausch der einzelnen IBG untereinander. Als international anerkannte Organisation sollte die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) in die Überwachung der Umsetzung der IAO-Übereinkommen im Rahmen von Freihandelsabkommen einbezogen werden.

1.5.

Große Probleme haben ihre Ursache häufig in den ersten Schritten. Der EWSA unterstreicht, wie wichtig es ist, im Vorfeld der Ratifizierung innerhalb des Kapitels über Handel und nachhaltige Entwicklung verbindliche Zusagen zu zentralen internationalen Übereinkommen oder verbindliche und durchsetzbare Fahrpläne mit klaren Fristen für die Ratifizierung einzufordern. Im ersten Durchsetzungsverfahren im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung, das im Rahmen des aktuellen Ansatzes stattfindet, hat sich bereits gezeigt, dass die vagen Formulierungen unzureichend waren.

1.6.

Alle drei Dimensionen von Handel und nachhaltiger Entwicklung sind miteinander verflochten und dürfen nicht getrennt voneinander behandelt werden. Der EWSA begrüßt die aktive Rolle der Unternehmen bei den Bemühungen um einen nachhaltigen Handel und sieht für sie eine positive Rolle beim Klimaschutz, bspw. mit Blick auf saubere Technologien, wobei den KMU besondere Aufmerksamkeit gelten sollte. Die Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung müssen enger mit den Leitsätzen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) für multinationale Unternehmen und mit der Dreigliedrigen Grundsatzerklärung der IAO über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik (MNE-Erklärung) verknüpft sein und zur Ratifizierung ihrer Übereinkommen beitragen, insbesondere im weiteren Verlauf der Lieferkette.

1.7.

Wirksame Veränderungen vor Ort erfordern es, über die klassischen Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung hinauszugehen und die große Hebelwirkung zusätzlicher politischer Instrumente zu berücksichtigen. Der EWSA fordert, dass bei der Vergabe öffentlicher Aufträge Zuschläge an Unternehmen aus Ländern vergeben werden, die sich an die Kernnormen der IAO und das Übereinkommen von Paris halten. Darüber hinaus fordert er als weitere wichtige flankierende Maßnahme ehrgeizige EU-Rechtsvorschriften über verbindliche Sorgfaltspflichten. Ausländische Investoren sollten dazu verpflichtet sein, der Sorgfaltspflicht nachzukommen, bevor sie von einem internationalen Investitionsabkommen profitieren können. Um einen nachhaltigen Handel zu erreichen, sollten die Maßnahmen durch Schritte zur Bekämpfung von Geldwäsche, Steuerstraftaten und Steuervermeidung sowie durch die Bekämpfung der Korruption ergänzt werden.

1.8.

Die nachhaltige Entwicklung muss aktuelle Entwicklungstrends aufgreifen und vorantreiben, wobei Arbeits- und Umweltnormen gleichrangig in ihrem Fokus bleiben müssen. Der Grüne Deal, die Initiativen zur Kreislaufwirtschaft und das CO2-Grenzausgleichssystem (CBAM) ergänzen die einschlägigen Themen im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung, wie es bei der Biodiversität bereits geschehen ist. Um konkrete Pflichten festzulegen, müssen umweltpolitische Zusagen in internationale Normen umgesetzt werden.

1.9.

Es gibt keine einfache Lösung für die Durchsetzung, aber ein Anfang muss damit gemacht werden, dass die effektive Durchsetzbarkeit verbessert wird. Der EWSA hat schon seit Langem einen Mechanismus mit einer neu gestalteten Sachverständigengruppe gefordert, in dessen Rahmen Geldstrafen oder Sanktionen verhängt werden können und der unter aktiver Beteiligung Interner Beratungsgruppen aktiviert wird. Das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich könnte als Modell für die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen und Nachhaltigkeit zugunsten von Unternehmen und Arbeitnehmern dienen.

1.10.

Die Handelspartner der EU haben innovative Ideen für neue Handelsinstrumente. Die EU sollte bei der Beilegung von Arbeitsstreitigkeiten ebenfalls einen innovativen Ansatz verfolgen und die Aussetzung von Präferenzzöllen für Unternehmen erwägen, die gegen vereinbarte internationale Standards verstoßen. Im Hinblick auf schrittweise intensivierte Wirtschaftsverbindungen befürwortet der EWSA eine stufenweise Senkung der Zölle für Partnerländer, die Verpflichtungen im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung umsetzen; im Fall von Verstößen muss die Möglichkeit der Rücknahme bestehen.

1.11.

Ohne Zivilgesellschaft gibt es keine Nachhaltigkeit. Die Schaffung der IBG ist kein Selbstzweck. Sie können nur ernst genommen werden und die Parteien bei der Umsetzung und Durchsetzung beraten, wenn sie Informationen, Ressourcen und Zugang erhalten und ein soliderer institutionalisierter Rahmen geschaffen wird. Über die IBG hinaus fordert der EWSA die Wiedereinsetzung der Sachverständigengruppe für Freihandelsabkommen.

1.12.

Der EWSA ist einer der stärksten Befürworter der IBG und wird ihre Arbeit weiterhin unterstützen. Die Debatten über die Stärkung der IBG haben in letzter Zeit an Intensität zugenommen. Der EWSA fordert die Europäische Kommission und andere Interessenträger (1) auf, in Absprache mit den IBG ihre Zusammensetzung, die Organisation ihrer Arbeit, ihren Umfang und ihre Rolle in den Durchsetzungsmechanismen sowie ihre institutionellen Kanäle zu verbessern, wie in Kapitel 5 dieser Stellungnahme ausführlicher dargelegt wird.

2.   Einleitung

2.1.

Eine aktive Handelspolitik muss die nachhaltige Entwicklung voranbringen und kommt Unternehmen, Arbeitnehmern, Verbrauchern und Menschen im Allgemeinen zugute, sofern sie neue Marktchancen, gute Arbeitsplätze und gleiche Wettbewerbsbedingungen schafft. Sie birgt allerdings auch inhärente Risiken, die nur durch eine inklusive Handelspolitik in den Griff zu bekommen sind, sprich eine Politik, die es der Zivilgesellschaft, den Interessenträgern und der breiten Öffentlichkeit ermöglicht, ihre Anliegen zur Sprache zu bringen.

2.2.

Der EWSA vertritt seit Langem die Auffassung, dass Nachhaltigkeit ein Leitfaden der Handelspolitik sein sollte, weil der Handel maßgeblich zur Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDG) beitragen muss. Die dieses Jahr vorgestellte neue Handelsstrategie der EU gibt den Rahmen für die kommenden Jahre vor. In einer gesonderten Stellungnahme (2) legte der EWSA zu handelsbezogenen Aspekten Empfehlungen vor, begrüßte den Fokus auf der Nachhaltigkeit und forderte eine entschiedene Stärkung der Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung (TSD) und deren effektive Durchsetzbarkeit.

2.3.

Die vorliegende Stellungnahme baut auf früheren Arbeiten des EWSA auf und bewertet vom Standpunkt der Zivilgesellschaft den gegenwärtigen Ansatz, mit dem ein Beitrag zur laufenden Überprüfung der Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung geleistet werden soll. Es werden innovative Ideen dargelegt, damit der Handel zu den Werten der EU für eine nachhaltige Entwicklung beiträgt: die nächste Generation von Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung.

3.   Handel und nachhaltige Entwicklung: eine wertebasierte EU-Handelsagenda

3.1.

Durch die systematische Aufnahme von Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung in Freihandelsabkommen unterstreicht die EU ihr Eintreten für eine „wertebasierte Handelsagenda“, die die Entwicklung unter wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Gesichtspunkten gleichermaßen fördert. Das Vorgehen gegen eine Nichteinhaltung und eine verbesserte Umsetzung der Verpflichtungen im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung sind wichtig dafür, hohe Arbeits- und Nachhaltigkeitsstandards durch Handelsinstrumente zu erreichen.

3.2.

Ausgehend von dem ersten, noch unausgereiften Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung in dem 2011 geschlossenen Freihandelsabkommen zwischen der EU und Südkorea haben Nachhaltigkeitskapitel in weiterentwickelter Form in alle späteren Freihandelsabkommen der EU Eingang gefunden. Sie haben einen rein dialogorientierten Streitbeilegungsmechanismus und sehen als institutionellen Überwachungsmechanismus der Zivilgesellschaft Interne Beratungsgruppen vor. Sie enthalten Verpflichtungen, multilaterale Arbeits- und Umweltübereinkommen einzuhalten, und hindern die Vertragsparteien daran, das Arbeits- und Umweltschutzniveau zu lockern oder zu senken, um Handel und Investitionen anzuziehen. Als bilaterale Dialog- und Kooperationsforen können sie auch als Plattformen dienen, um die multilaterale Agenda für nachhaltigen Handel voranzubringen.

3.3.

Die EU hat zwar Schritte unternommen, um die Nachhaltigkeit ins Zentrum ihrer handelspolitischen Ambitionen zu rücken, doch werden die laufenden Verhandlungen diesem Ziel nicht gerecht. Um der Überprüfung der Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung neue Impulse und mehr Durchsetzungskraft zu verleihen, braucht sie eine Frischzellenkur. Ihre ausgetretenen „Non-Paper“-Pfade müssen verlassen werden und die Überprüfung muss als integraler Bestandteil der EU-Handelsstrategie auch für Abkommen gelten, die gerade verhandelt werden, und in überarbeitete Verhandlungsmandate aufgenommen werden.

4.   Der 15-Punkte-Aktionsplan — eine Bewertung

4.1.

Die Wirksamkeit des EU-Konzepts für Handel und nachhaltige Entwicklung wurde vom EP, dem EWSA und einer großen Gruppe von Interessenträgern unter ständig wachsendem Interesse der Öffentlichkeit diskutiert, als die Europäische Kommission der Diskussion Anfang 2018 mit einem neuen 15-Punkte-Aktionsplan ein abruptes Ende bereitete. Dort wird, unterteilt in vier Hauptbereiche, der begrenzte und „abgeschottete“ Rahmen festgelegt, in dem sich Handel und nachhaltige Entwicklung in den letzten Jahren entwickelt haben. Dies wird vor dem Hintergrund erreichter Ziele und bestehender Mängel bewertet.

Miteinander arbeiten

4.2.

Partnerschaft mit den Mitgliedstaaten und dem EP: Die Sachverständigengruppe der Europäischen Kommission für den Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung sorgte für eine engere Verbindung zu den Mitgliedstaaten. Aufgrund der Art, wie sie aufgebaut ist, gehen dabei jedoch Expertise und Information verloren. Ihre Arbeit sollte in Bezug auf die Ergebnisse und Empfehlungen besser kommuniziert werden und erfordert engere, regelmäßige Verbindungen zu den Internen Beratungsgruppen und dem EWSA. Das Engagement der GD Handel muss als beständiger Teil des Informations- und Feedback-Flusses auf die für Handel und nachhaltige Entwicklung zuständigen Dienststellen in den Mitgliedstaaten ausgeweitet werden, eventuell unter Einbeziehung anderer zuständiger Generaldirektionen wie GD Beschäftigung und GD Klimapolitik mit ihren jeweiligen Netzwerken, sowie auf die Arbeit mit internationalen Organisationen. In die Unterrichtung des EP über Fragen, die für Handel und nachhaltige Entwicklung relevant sind, sollten die Internen Beratungsgruppen auf Augenhöhe eingebunden werden. Dies darf nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschehen. Das EP muss an der Überwachung und Umsetzung der Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung mitwirken, umfassend über die Tätigkeiten des Unterausschusses für Handel und nachhaltige Entwicklung und anderer einschlägiger gemeinsamer Lenkungsgremien informiert und in deren Beschlüsse einbezogen werden. Besonders wichtig ist dies im Zusammenhang mit dem Mechanismus für gleiche Wettbewerbsbedingungen im Rahmen des Handels- und Kooperationsabkommens der EU mit dem Vereinigten Königreich.

4.3.

Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen: Der EWSA spricht sich für einen proaktiveren und systematischeren Ansatz aus und fordert die Einbeziehung internationaler Gremien wie der IAO auch während der Verhandlungen und der Umsetzung von Freihandelsabkommen sowie in sämtlichen Phasen der Fahrpläne. Wie der Ratifizierungsfall Vietnams zeigt, könnte die IAO im Vorfeld sowie in der frühen Umsetzungsphase eine wesentliche Rolle übernehmen. Die Notwendigkeit einer engeren Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission, der IAO und dem EWSA ist ein zentraler Punkt bei der Herausbildung der technischen Unterstützung der IAO und beim Kapazitätsaufbau in Partnerländern. Die Maßnahmen müssen Hand in Hand mit einer stärkeren Integration der IAO in die Überwachungsaufgaben der IBG gehen, und jährliche hochrangige Sitzungen der GD Beschäftigung könnten dem EWSA und möglicherweise auch den Vorsitzen der IBG offenstehen. Der Ansatz für multilaterale Umweltübereinkommen (MEA) wurde bisher offenbar zu wenig verfolgt. Er könnte auf andere einschlägige internationale Organisationen wie die OECD und — angesichts der zunehmenden Bedeutung der Finanzierung der Nachhaltigkeitsziele — auf die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds ausgeweitet werden.

Befähigung der Zivilgesellschaft einschließlich der Sozialpartner zur aktiven Mitwirkung an der Durchführung

4.4.

Ermöglichung der Überwachungsaufgabe der Zivilgesellschaft einschließlich der Sozialpartner: Der EWSA begrüßt das Projekt des Partnerschaftsinstruments der EU, mit dem die Teilnahme von Mitgliedern der Internen Beratungsgruppen der EU an Sitzungen finanziert wird, was die politische Unabhängigkeit der Internen Beratungsgruppen wahrt. Er ruft die Europäische Kommission auf, die Finanzierung fortzusetzen und sich über deren Gestalt mit den Internen Beratungsgruppen ins Benehmen zu setzen. Er empfiehlt mehr Flexibilität bei der künftigen logistischen und technischen Unterstützung. Videokonferenzen können Präsenzsitzungen ergänzen, aber nicht ersetzen. Die künftige Finanzierung sollte jährliche Sitzungen vorsehen, in denen alle Mitglieder der Internen Beratungsgruppen zusammenkommen, um übergreifende Fragen des Handels und der nachhaltigen Entwicklung zu erörtern. Über die Bereitstellung von Finanzmitteln hinaus müssen auch strukturelle und organisatorische Probleme angegangen werden, um die Internen Beratungsgruppen umfassend zu befähigen, wie in Abschnitt 5 dargelegt.

4.5.

Ausdehnung der Mitwirkung der Zivilgesellschaft einschließlich der Sozialpartner auf das gesamte Freihandelsabkommen: Der EWSA empfiehlt seit langem nachdrücklich, dass die Internen Beratungsgruppen sich zu allen Aspekten von EU-Handelsvereinbarungen äußern können sollten. Ein besonderer Schwerpunkt sollte dabei auf der Umsetzung der Verpflichtungen im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung und im weiteren Sinne auf dem Einfluss des Handels auf die nachhaltige Entwicklung liegen. Diese neue Zuständigkeit wird das erste Mal im Rahmen des Handels- und Kooperationsabkommens der EU mit dem Vereinigten Königreich getestet. Der EWSA schlägt vor, den Aufgabenbereich der IBG in allen bestehenden Freihandelsabkommen durch überarbeitete Fassungen der Abkommen oder über eine harmonisierte Vorgehensweise im Rahmen ihrer Geschäftsordnungen zu erweitern.

4.6.

Maßnahmen in Bezug auf verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln: Der EWSA begrüßt die aktive Rolle der Wirtschaft bei den Bemühungen zur Gewährleistung eines nachhaltigen Handels und den Einsatz der Europäischen Kommission zur Förderung verantwortungsvollen Geschäftsgebarens. Er bedauert jedoch, dass weder der EWSA noch die zuständigen Internen Beratungsgruppen an der Betreuung der Projekte mit der OECD und der IAO beteiligt waren. Die Europäische Kommission sollte Indikatoren zur Bewertung konkreter Projektergebnisse entwickeln, die über Sensibilisierungsmaßnahmen hinausgehen und eine gezieltere, tiefgreifendere Überprüfung entlang der Lieferketten umfassen.

Zielerreichung

4.7.

Länderprioritäten: Der EWSA unterstützt einen strategischen und gezielteren Ansatz, wobei jedoch zu bedenken ist, dass sich die Partnerländer erheblich voneinander unterscheiden, selbst innerhalb eines Regionalabkommens wie z. B. des Abkommens EU-Zentralamerika. Bei der Prioritätensetzung und Bewertung muss die Zivilgesellschaft, insbesondere unter Einbeziehung der IBG proaktiv und zu unterschiedlichen Zeitpunkten konsultiert werden. Die geografischen Referate der GD Handel und der EU-Delegationen sollten stärker mit den IBG zusammenarbeiten, um Beiträge zu erhalten und systematische Rückmeldungen zu geben. Dies erfordert eine regelmäßige Bewertung der Fortschritte oder Rückschritte der Europäischen Kommission bei der Umsetzung dieser Prioritäten.

4.8.

Konsequente Durchsetzung: Aus dem Verfahren mit Südkorea zu den Arbeitsrechten ergeben sich wichtige Lehren. Erstens sollte die Europäische Kommission, wenn sie Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten über Handel und nachhaltige Entwicklung in Gang setzt, vorausschauender und schneller handeln und Internen Beratungsgruppen eine aktive Rolle einräumen. Zweitens ist es wichtig, Experten für internationales Arbeitsrecht in den Gremien zu haben, die die IAO zu ihrer Rechtsprechung und verbindlichen Auslegungen konsultieren. Drittens bestätigt der Panel-Bericht die Notwendigkeit verbindlicher und sanktionsfähiger Fahrpläne mit klaren Fristen für die Ratifizierung von IAO-Übereinkommen. Die unbestimmte Formulierung „kontinuierliche und nachhaltige Anstrengungen“ lässt den Parteien zu viel Spielraum. Obwohl Korea drei von vier fehlenden IAO-Übereinkommen (nicht jedoch C105 über die Abschaffung der Zwangsarbeit) ratifiziert hat, bleibt die Frage offen, ob mit den Änderungen der koreanischen Rechtsvorschriften die Bestimmungen der Übereinkommen C29, C87 und C98 auch vollständig umgesetzt werden. Dementsprechend ist der Fall immer noch offen, und der EWSA bekräftigt seine Forderung nach Folgemaßnahmen. Probleme bei der Einhaltung der Vorschriften bestehen jedoch nicht nur in den Partnerländern. Der EWSA stellt beunruhigt fest, dass es offenbar an Instrumenten für eine konsequente Durchsetzung in der EU und ihren Mitgliedstaaten mangelt.

4.9.

Förderung einer frühzeitigen Ratifizierung zentraler internationaler Abkommen: Der EWSA setzt sich im Sinne einer größtmöglichen Verhandlungsstärke und diplomatischen Wirksamkeit dafür ein, dass vor dem Abschluss und der Unterzeichnung eines Freihandelsabkommens grundlegende internationale Übereinkommen ratifiziert werden müssen. Diese positiven Effekte zeigten sich im Fall Vietnams, als das Land die IAO-Übereinkommen C98 und C105 ratifizierte. Bei der Ratifizierung des Übereinkommens C87 gibt es jedoch keine Fortschritte. Daher ist es aus Sicht des EWSA besonders wichtig, im Vorfeld der Ratifizierung innerhalb des Kapitels über Handel und nachhaltige Entwicklung verbindliche Zusagen zu zentralen internationalen Übereinkommen oder verbindliche und durchsetzbare Fahrpläne mit klaren Fristen für die Ratifizierung einzufordern.

4.10.

Überprüfung der wirksamen Umsetzung des Kapitels über Handel und nachhaltige Entwicklung: Der EWSA hält ebenfalls regelmäßige Überprüfungen und Bewertungen der Umsetzung des Kapitels über Handel und nachhaltige Entwicklung für erforderlich. Er bedauert jedoch die geringe Sichtbarkeit der Arbeit der Internen Beratungsgruppen und die Nichtbeachtung ihrer Empfehlungen in diesen Prozessen, insbesondere in den jährlichen Umsetzungsberichten. Künftige Berichte sollten die Arbeitsprogramme der Internen Beratungsgruppen und die gemeinsamen Erklärungen mit den IBG der Partnerländer besser widerspiegeln. Insbesondere bedauert der EWSA, dass bislang kaum Fortschritte dahingehend erzielt wurden, die derzeitigen Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung tatsächlich durchsetzbar zu machen. Im Falle des umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommens mit Kanada (CETA) haben der EWSA, die Interne Beratungsgruppe der EU und die Internen Beratungsgruppen Kanadas wiederholt zu deutlichen Fortschritten bei der frühzeitigen Überprüfung aufgerufen, zu der sich die Parteien im Gemeinsamen Auslegungsinstrument verpflichtet hatten, um eine wirksamere Durchsetzbarkeit der Arbeits- und Umweltvorschriften zu erreichen. In diese Überprüfung sollten die Internen Beratungsgruppen beider Seiten eng einbezogen werden.

4.11.

Handbuch zur Umsetzung: Der EWSA begrüßt die Entwicklung von Handbüchern zur Umsetzung, mit deren Hilfe die Abkommenspartner die Verpflichtungen im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung besser verstehen können und von denen sie sich bei der Umsetzung leiten lassen können. In Bezug auf die Arbeitnehmerrechte müssen die Sozialpartner als wichtige Partner vor Ort betrachtet werden. Formelle Vergleichsdatenbanken müssen weit über die Fortschritte bei den Formulierungen der Vereinbarung hinausgehen und den tatsächlichen Grad der Umsetzung der Bestimmungen über Handel und nachhaltige Entwicklung erfassen.

4.12.

Aufstockung der Ressourcen: Die EU sollte einen Teil ihrer Mittel für Handelshilfe („Aid for Trade“) im Rahmen nachhaltiger Handels- und Investitionsbemühungen für die Unterstützung der Beteiligung interner Beratungsgruppen und zivilgesellschaftlicher Organisationen aus Nicht-EU-Ländern und den Aufbau von Kapazitäten bereitstellen.

4.13.

Klimaschutz: Wenn der Handel auch keine Triebkraft der Klimapolitik ist, sollte er einen Beitrag zur globalen Klimaschutzagenda leisten. Die Wirtschaft kann dabei eine positive Rolle spielen, indem sie Chancen für saubere Technologien fördert, wobei eine besondere Aufmerksamkeit den KMU gelten sollte. Wenn das Übereinkommen von Paris zu einem „wesentlichen Bestandteil“ aller künftigen umfassenden Handelsabkommen gemacht wird, diese also im Fall der Nichteinhaltung ausgesetzt werden, ist dies ein positiver Schritt, der auf die grundlegenden und neueren IAO-Übereinkommen ausgeweitet werden sollte.

4.14.

Handel und Arbeitnehmerrechte: Der EWSA begrüßt den größeren Umfang dieser Fragen in den Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung und ruft zur Weiterentwicklung der Zusagen auf. Die Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung müssen enger mit der Dreigliedrigen Grundsatzerklärung der IAO über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik (MNE-Erklärung) und den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen verknüpft sein. Die Europäische Kommission sollte sich für die Ratifizierung der in der Grundsatzerklärung enthaltenen IAO-Übereinkommen starkmachen. Ein modernes EU-Recht, insbesondere für nachhaltige Unternehmensführung und verbindliche Sorgfaltspflichten, sollte einen ständigen Rahmen für die Weiterentwicklung der Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung bilden. Um jedoch vor Ort etwas zu bewirken, müssen diese Verpflichtungen mit einer proaktiveren Durchsetzung und einer verbesserten Durchsetzbarkeit einhergehen.

Transparenz und Kommunikation

4.15.

Mehr Transparenz und bessere Kommunikation: Der EWSA stimmt mit allen Institutionen und Interessenträgern in der Bedeutung von Transparenz und Kommunikation überein. Die Veröffentlichung umfassender Protokolle ist ein sinnvoller Ausgangspunkt für die Einbindung der Zivilgesellschaft. Zusammenkünfte im Rahmen des zivilgesellschaftlichen Dialogs der Europäischen Kommission sind eine wichtige Form der Begegnung, doch sollten sie strukturierter nachbereitet werden. Aus diesem Grund empfiehlt der EWSA, endlich das Eigenbrötlertum hinter sich zu lassen und sicherzustellen, dass die Kommunikationskanäle — mit dem EP, den Mitgliedstaaten und der Zivilgesellschaft — sich gegenseitig stärken.

4.16.

Termingebundene Antwort auf Beschwerden im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung: Der EWSA begrüßt die Einführung eines Beschwerdesystems im Jahr 2020 durch Schaffung der zentralen Anlaufstelle und insbesondere die Einrichtung einer eigenen, dem Leitenden Handelsbeauftragten unterstellten Dienststelle, die sich ausschließlich mit Beschwerden im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung befasst. Zur Beurteilung der Wirksamkeit ist es noch zu früh, doch erwartet der EWSA, dass die Zivilgesellschaft an der kontinuierlichen Gestaltung dieses Mechanismus mitwirkt und ihre Empfehlungen beachtet werden.

5.   Die nächste Generation der Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung

5.1.

Seit dem Aktionsplan von 2018 hat sich die Welt des Handels und auch die Debatte über Handel und nachhaltige Entwicklung weiterentwickelt. Der Grüne Deal ist nun das übergeordnete politische Ziel, auch für die Handelspolitik der EU. Bei institutionellen Akteuren wie dem EP und den Mitgliedstaaten wird der Ruf nach einer weitreichenden Reform der Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung immer lauter. Die COVID-19-Pandemie hat die Handelsströme in beispielloser Weise durcheinandergebracht. Dies hat größere Probleme in den globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten bloßgelegt, die häufig mit der Nichteinhaltung von Verpflichtungen im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung zusammenhängen. Das erste Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten im Zusammenhang mit Handel und nachhaltiger Entwicklung hat das gegenwärtige System einem institutionellen Lackmustest unterzogen. Die Erwartungen an den neuen Leitenden Handelsbeauftragten der EU sind hoch, was eine stärkere Fokussierung, die Ressourcen und neue Rechtsinstrumente für eine bessere Um- und Durchsetzung der Verpflichtungen im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung anbelangt. Gleichzeitig haben Handelspartner der EU wie Kanada und die USA in ihren eigenen Freihandelsabkommen starke Durchsetzungsinstrumente vorgesehen oder — wie bspw. Neuseeland — in den Handelsgesprächen mit der EU ehrgeizige Vorschläge vorgelegt, um sicherzustellen, dass der Handel für alle funktioniert.

5.2.

Die Diskussion über Handel und nachhaltige Entwicklung dreht sich nicht nur um Werte, sondern es ist eine Frage des Überlebens sowohl für die EU als auch für die übrige Welt. Der EWSA befürwortet einen ganzheitlichen Ansatz und unterstützt die Bemühungen der EU, die Nachhaltigkeitsagenda auf multilateraler Ebene voranzutreiben, und fordert strategische Allianzen mit wichtigen Handelspartnern in vorrangigen Fragen wie der Verlagerung von CO2-Emissionen oder der Sorgfaltspflicht. Er bekräftigt, dass die EU bei einer ehrgeizigen Reform der Welthandelsorganisation (WTO) eine Führungsrolle übernehmen und in Bezug auf die sozialen Aspekte des Handels Tabus durchbrechen muss. Als positiven Neuansatz begrüßte der EWSA den jüngsten Vorschlag der USA, das globale Problem der Zwangsarbeit auf Fischereifahrzeugen in den laufenden WTO-Verhandlungen über Fischereisubventionen (3) anzugehen.

5.3.

Der EWSA hat immer wieder die Aufnahme effektiverer Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung gefordert, denn er hatte den Eindruck, dass der 15-Punkte-Aktionsplan nicht fruchtet. In gleicher Weise werden in der Überprüfung der Handelspolitik 2021 weitere Maßnahmen zur wirksamen Umsetzung und Durchsetzung der Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung angemahnt, unter anderem „die Möglichkeit von Sanktionen bei Nichteinhaltung“.

5.4.

Es liegen nun genügend Erfahrungen und Erkenntnisse vor, um den derzeitigen Ansatz zu überdenken. Der EWSA schlägt eine Reihe neuartiger Initiativen vor, wie die rechtsverbindlichen Vorsätze in den Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung voll und ganz durchgesetzt werden können. Der gleiche hohe Stellenwert bei der Um- und Durchsetzung muss in dieser Debatte den Umwelt- und Arbeitsnormen zukommen.

Politische Instrumente für eine entschiedenere Durchsetzung der Verpflichtungen im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung

5.5.

Im Mai 2020 veröffentlichten Frankreich und die Niederlande ein Non-Paper, in dem die EU aufgerufen wird, ihre Analyse der sozioökonomischen Wirkungen des Handels zu verbessern und hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Handel und nachhaltiger Entwicklung in all ihren Dimensionen höhere Ansprüche zu verfolgen (4), natürlich im Einklang mit dem europäischen Grünen Deal. Der EWSA begrüßt einen stärker analytisch geprägten Ansatz in Bezug auf die Wirkungen des Handels und unterstützt nachdrücklich die Empfehlung von Anreizen für eine wirksame Umsetzung der Verpflichtungen im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung mittels stufenweiser Zollermäßigungen, einschließlich der Möglichkeit, bestimmte Zolltarifpositionen bei einem späteren Verstoß zurückzunehmen, sowie die Klarstellung der Bedingungen, die die Länder für diese Zollermäßigungen erfüllen müssen.

5.6.

Der EWSA ruft ferner dazu auf, über das klassische Handelsinstrumentarium hinaus nach flankierenden Maßnahmen zu suchen, die einem wirksamen Wandel vor Ort sicherstellen. Die EU sollte eine weitreichende EU-Richtlinie über die Sorgfaltspflicht erlassen, in der die Haftung basierend auf aktuellen Standards geregelt wird und die EU-Unternehmen und in der EU tätigen Unternehmen aus Nicht-EU-Staaten einen klaren, festen Rechtsrahmen bietet. Der EWSA hat sich in Bezug auf globale Liefer- und Wertschöpfungsketten nachdrücklich für Sorgfaltspflichten in Handelsabkommen eingesetzt, die wirtschaftlich, ökologisch und sozial nachhaltigen Unternehmen als Richtschnur für Managemententscheidungen dienen (5).

5.7.

Um ihre Agenda für nachhaltige Entwicklung voranzubringen, sollte sich die Europäische Kommission neben den traditionellen Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung auch andere Kapitel und Bereiche vornehmen, z. B. Kapitel über Investitionen, und hier synergetische Verknüpfungen anstreben. Ausländische Investoren sollten dazu verpflichtet sein, der Sorgfaltspflicht nachzukommen, bevor sie von einem internationalen Investitionsabkommen profitieren können. Gleichermaßen sollten die Parteien eines Freihandelsabkommens zusichern, dass Unternehmen, die in ihrem Hoheitsgebiet ansässig sind, die Sorgfaltspflichtanforderungen erfüllen (6).

5.8.

Im Interesse eines nachhaltigen Handels ist es unerlässlich, dass die EU bei der Bekämpfung von Geldwäsche, Steuerstraftaten und Steuervermeidung Bestimmungen über die Zusammenarbeit zwischen den Parteien einbringt. Korruption untergräbt ebenfalls die Bemühungen um nachhaltige Entwicklung und erfordert die Aufnahme vergleichbarer hoher Standards zu ihrer Überwindung.

5.9.

Die Vergabe öffentlicher Aufträge sollte an Bedingungen geknüpft sein und der Zuschlag an Unternehmen aus Ländern vergeben werden, die sich an die Kernnormen der IAO und das Übereinkommen von Paris halten. Außerdem muss die EU in ihren Freihandelsabkommen bewährte Verfahren für die Berücksichtigung umweltbezogener und sozialer Kriterien in der öffentlichen Auftragsvergabe fördern (7).

5.10.

Im umweltbezogenen Teil der Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung waren zwar in den letzten zehn Jahren beträchtliche Fortschritte zu verzeichnen, doch bestehen nach wie vor zwei wesentliche Herausforderungen: Erstens kommt es bei den Klimaschutzverpflichtungen des Übereinkommens von Paris letztlich auf eine national festgelegte Umsetzung an, was es schwer macht, Verstöße zu ahnden. Zweitens lassen sich aufgrund der fehlenden internationalen Umweltnormen, d. h. für saubere Luft oder sauberes Wasser, kaum Verpflichtungen ableiten. Es ist wichtig, eine praktikable Form für Umweltzusagen zu finden, um Normen zu setzen, die auch mit der Sorgfaltspflicht verknüpft sind. Angesichts der COVID-19-Pandemie ist das Thema Biodiversität dringlicher denn je geworden. Relevanz erhalten im Zusammenhang mit Handel und nachhaltiger Entwicklung der Grüne Deal, die Gesetzgebungsinitiativen der EU zur Kreislaufwirtschaft bzw. das CO2-Grenzausgleichssystem (CBAM) (8).

5.11.

Eine umfassendere Betrachtung zeigt, dass Freihandelsabkommen mit ernsten Nachhaltigkeitsproblemen behaftet sind, die mit Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung nicht lösbar sind. Beispielsweise hat die Landwirtschaft, einer der größten Verhandlungstrümpfe der EU, eindeutige Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit. Der EWSA legt besonderen Wert darauf, Ernährungssicherheit und Nachhaltigkeit in der EU in den Mittelpunkt der Analyse zu rücken (9). Mit Blick auf eine effizientere und gerechtere Lebensmittelversorgungskette fordert der EWSA eine reibungslose Umsetzung der Richtlinie über unlautere Handelspraktiken in der Agrar- und Lebensmittelversorgungskette.

Verbesserung der effektiven Durchsetzbarkeit

5.12.

Der EWSA hat schon seit Langem eine neu gestaltete Sachverständigengruppe gefordert, die die Möglichkeit hat, einen vertraglich festgelegten Mechanismus zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Staaten auszulösen, in dessen Rahmen Geldstrafen oder Sanktionen verhängt und Abhilfemaßnahmen für die geschädigte Partei festgelegt werden können (10). Die Internen Beratungsgruppen sollten in der Streitbeilegung eine aktive Rolle bekommen. Das Team des Leitenden Handelsbeauftragten sollte Fälle untersuchen, die von einer IBG vorgebracht wurden, und über Durchsetzungsmaßnahmen und Berichte der Sachverständigengruppe informieren und die Weiterverfolgung sicherstellen.

5.13.

Der EWSA begrüßt, dass mit Blick auf Handels- und Kooperationsabkommen ein neuer Weg für gleiche Wettbewerbsbedingungen und Nachhaltigkeit eingeschlagen wird, denen im Abkommen ein maßgeblicher Platz eingeräumt wird, sowie dass bei Verstößen die Anwendung eines Streitbeilegungsmechanismus mit Zugang zu Rechtsbehelfen vorgesehen ist. Dieses „hybride“ Modell kombiniert den Ansatz des Expertenpanels mit einer durchsetzbaren Komponente bei anhaltender Nichteinhaltung des Regressionsverbots oder der innerstaatlichen Durchsetzung von Arbeits-, Sozial-, Umwelt- oder Klimabestimmungen. Dazu gehören zwischen den Vertragsparteien vereinbarte vorübergehende Ausgleichsleistungen oder unter bestimmten Bedingungen die einseitige Aussetzung von Verpflichtungen durch die beschwerdeführende Partei in allen Bereichen (z. B. Zölle, Luftverkehrsrechte, Zugang zu Fischereigewässern).

5.14.

Die Durchsetzung der Kapitel über Handel und nachhaltige Entwicklung sollte durch ein unabhängiges Sekretariat für Arbeitsfragen, das sich mit transnationalen arbeitsrechtlichen Fragen im Rahmen von Freihandelsabkommen (einschließlich der Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt) befasst und die Einhaltung der Arbeitskapitel überwacht und untersucht, sowie durch einen Mechanismus für Kollektivbeschwerden ergänzt werden (11). Als international anerkannte Organisation sollte die IAO in die Überwachung der Umsetzung der IAO-Übereinkommen im Rahmen von Freihandelsabkommen einbezogen werden. Auch im Hinblick auf die richtige Auslegung der IAO-Instrumente im Falle eines Streits über internationale Arbeitsnormen sollte die Rolle der IAO gestärkt und institutionalisiert werden. Die IAO sollte systematisch hinzugezogen werden, um das Expertenpanel in diesen Fragen zu beraten.

5.15.

Der EWSA schlägt vor, innovative Konzepte für die Beilegung von Arbeitsstreitigkeiten zu suchen, die es internationalen Ad-hoc-Ausschüssen erlauben würden, gegen Unternehmen, die gegen vereinbarte internationale Arbeitsnormen verstoßen, Abhilfemaßnahmen zu verhängen. Die Internen Beratungsgruppen der EU und Kanadas im Rahmen des CETA (12) verwiesen auf das Beispiel des USMCA-Krisenreaktionsmechanismus (13), bei dem als mögliche Sanktionen die Aussetzung von Präferenzzöllen vorgesehen ist, die in ansteigender Intensität je nach dem Schweregrad und der Wiederholungshäufigkeit verhängt werden. Das Ziel bleibt aber nach wie vor, wo immer möglich, durch bilaterale Zusammenarbeit und den Dialog zwischen den Parteien zu einem Ausgleich zu gelangen. Drohen jedoch Konsequenzen, werden Unternehmen davon abgeschreckt, den Pfad der Einhaltung zu verlassen.

5.16.

Die Bewertung der Durchsetzung auf der Grundlage erfolgreich verhandelter Fälle vermittelt nur ein unvollständiges Bild, insbesondere da Rechtsstreitigkeiten immer nur ein letztes Mittel sind. Die Möglichkeit von Sanktionen stellt, unabhängig davon, ob sie genutzt werden oder nicht, auch eine starke Veranlassung für die Einhaltung der Vorschriften dar. Eigentlich sind also die verhinderten Fälle („non-cases“) und ihre Entwicklung viel aufschlussreicher, was die Europäische Kommission auch bei der Durchführung ihrer vergleichenden Studie über die unterschiedlichen Ansätze der Länder berücksichtigen sollte. Ein reiner Vergleich des Wortlauts des Abkommens und der Fortschritte in den sprachlichen Formulierungen allein sind zu wenig, um aussagekräftige Schlüsse ziehen zu können. Es muss auch eine qualitative Bewertung der Umsetzungsergebnisse erfolgen, z. B. indem man sich bei der Beratung in den Verhandlungen und der Überwachung der Umsetzung auf die Erfahrungen der Zivilgesellschaft stützt.

Ein stärkerer Rahmen für die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die Internen Beratungsgruppen

5.17.

Die Internen Beratungsgruppen sind eine wichtige Errungenschaft der Freihandelsabkommen der neuen Generation. Damit sie ihre Überwachungsaufgaben — sei es mit Blick auf den Handel und die nachhaltige Entwicklung oder auf die gesamten Freihandelsabkommen — angemessen wahrnehmen können, bedürfen sie eines stärker institutionalisierten Rahmens.

5.18.

Es bestehen nach wie vor erhebliche Bedenken, da einige der Gremien Interner Beratungsgruppen in den Partnerländern nicht aktiv, nicht repräsentativ oder sogar nicht frei von staatlicher Einflussnahme waren. Das Problem ergibt sich häufig aus den Verfahren für die Einsetzung dieser Gremien, die in den Abkommen nicht festgelegt werden, der Möglichkeit der Parteien, bestehende Gremien zu wählen, und der Folgenlosigkeit bei ungenügender Umsetzung der jeweiligen Verpflichtungen. Der EWSA befürchtet insbesondere, dass die Streichung des Merkmals der Ausgewogenheit hinsichtlich der Zusammensetzung der IBG aus dem Text von Handels- und Kooperationsabkommen schwerwiegende Folgen für ihre Arbeitsweise nach sich zieht.

5.19.

Im Rahmen regionaler Handelsabkommen, wie etwa EU-Zentralamerika und EU-Kolumbien/Peru/Ecuador, oder der künftigen Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur bestehen nach wie vor Bedenken hinsichtlich der Einrichtung einzelner Interner Beratungsgruppen in jedem Partnerland. Dieser streng „innerstaatliche“ Ansatz ist eine ernste Hürde für ein vernünftiges Zusammenwirken sowohl dieser innerstaatlichen Internen Beratungsgruppen der Partnerländer untereinander als auch zwischen ihnen und den entsprechenden IBG der EU.

5.20.

Daher müssen in den Kapiteln über Handel und nachhaltige Entwicklung speziell beauftragte Gremien der Internen Beratungsgruppen mit klaren Vorgaben zur Unabhängigkeit, Repräsentativität und einer ausgewogenen Zusammensetzung geschaffen werden. Die Parteien müssen für deren Einrichtung und Funktionsweise rechenschaftspflichtig sein. In regionalen Abkommen sollten gemeinsame regionale Gremien mit angemessener Sekretariatsunterstützung eingerichtet werden. Die EU-Delegationen und der EWSA sollten die Einrichtung und den laufenden Prozess, einschließlich der Leitlinien und bewährten Verfahren, unterstützen. Ebenso schlägt der EWSA vor, in den IBG der EU und der Drittländer für eine bessere Ausgewogenheit zwischen den repräsentativen Organisationen zu sorgen, insbesondere zwischen den Interessenträgern der Bereiche Umwelt und Wirtschaft.

5.21.

Zur Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den IBG der EU und ihren zivilgesellschaftlichen Ansprechpartnern in den Partnerländern sind jährliche gemeinsame Sitzungen der Internen Beratungsgruppen unerlässlich und sollten auch in die Freihandelsabkommen aufgenommen werden. Der EWSA sieht einen Mehrwert in der Schaffung gemeinsamer zivilgesellschaftlicher Gremien und leistet einen erheblichen Beitrag, insbesondere zur Unterstützung der Zivilgesellschaft in den Partnerländern. Seine besondere Rolle soll in den Gemischten Beratenden Ausschüssen (GBA) als wesentlicher Raum für den Dialog der Zivilgesellschaft der beiden Seiten von Assoziierungsabkommen, wie zwischen der EU und Chile, beibehalten werden (14).

5.22.

Die Rolle des EWSA bei der Gestaltung und Sicherstellung der effektiven Arbeit Interner Beratungsgruppen ist von entscheidender Bedeutung und sollte gestärkt werden. Im Juli 2021 legte der EWSA das weitere Vorgehen fest, indem er unter dem Hashtag #AllDAGs die allererste Sitzung aller IBG organisierte, in der alle Mitglieder der aktuell elf Internen Beratungsgruppen zusammenkamen, um konkrete Verbesserungsmaßnahmen zu erörtern. Als Mitglied in allen IBG ist der EWSA ein wichtiger Teil ihrer Vorsitze, die sich aus einem Vorsitzenden und zwei stellvertretenden Vorsitzenden zusammensetzen, die aus den drei Gruppen und allen Mitgliedern einer Internen Beratungsgruppe ausgewählt werden. Dank der Zusammenarbeit in den gemeinsamen Vorsitzen der Internen Beratungsgruppen profitiert die Arbeit der IBG von der Expertise des EWSA ebenso wie von der anderer Akteure. Diese Praxis sollte beibehalten werden. Insbesondere bei den IBG Ukraine, Moldau und Georgien hat sich die Mitwirkung von EWSA-Mitgliedern aus benachbarten EU-Ländern als sehr wertvoll erwiesen. Über die Rolle seiner Mitglieder hinaus unterstützt der EWSA die IBG auch dadurch, dass er ihnen wertvolle Sekretariatsunterstützung bietet.

5.23.

Ohne eine bessere Sichtbarkeit und strukturierte institutionelle Kanäle können keine Ergebnisse erzielt werden. Die Vorsitze der IBG sollten grundsätzlich zu den Sitzungen des Unterausschusses für Handel und nachhaltige Entwicklung der Vertragsparteien und der Monitoring-Gruppen des EP für die jeweiligen Abkommen eingeladen werden. Bei der Arbeit der IBG sollte über Berichterstattungs- und Austauschstrukturen ein enger Kontakt zu der Expertengruppe für Handel und nachhaltige Entwicklung mit den Mitgliedstaaten und dem Leitenden Handelsbeauftragten bestehen. Ergänzt werden sollte dies durch einen Informationsaustausch mit der IAO über die Umsetzung arbeitsbezogener Maßnahmen im Bereich Handel und nachhaltige Entwicklung und mit den Sekretariaten der multilateralen Umweltübereinkommen für Umwelt und Klima. Der Auswärtige Dienst der EU (EAD) und die EU-Delegationen in den Partnerländern sollten regelmäßige Briefings mit den IBG abhalten und in den Zielländern von speziellen Attachés für Arbeits- und Umweltfragen unterstützt werden.

5.24.

Der EWSA betont, dass von der Gestaltung bis zur Überwachung der Handelsinstrumente und -abkommen eine engere Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft nötig ist. Er spricht sich für die Wiedereinsetzung der Sachverständigengruppe für Freihandelsabkommen aus, deren notwendiges und kontinuierliches Engagement bei der Beschäftigung mit Handelsfragen seinesgleichen sucht. Die Internen Beratungsgruppen verfügen auch über ein unerschlossenes Know-how in bereichsübergreifenden Fragen von Handel und nachhaltiger Entwicklung, von dem intensiv Gebrauch gemacht werden sollte.

5.25.

Die wachsenden Herausforderungen für die IBG erfordern systemische Lösungen mit angemessenen personellen und finanziellen Ressourcen. Die IBG selbst sollten stärker in diesbezügliche Entscheidungen einbezogen werden.

5.26.

Die Rationalisierung der IBG ist kein Selbstzweck. Bei einem etwaigen neuen Ansatz, wie etwa einer stärkeren strukturellen Konzentration auf einzelne Themen, muss ihr wirksames Funktionieren gewährleistet sein, damit Reibungspunkte bei der Umsetzung des jeweiligen Abkommens angegangen werden, und müssen die IBG selbst in die Gestaltung einbezogen werden. Regelmäßige Sitzungen der Mitglieder aller Internen Beratungsgruppe der EU würden dazu beitragen, gemeinsame Lösungen für übergreifende Fragen zu finden, und böten eine Plattform für die Erörterung pragmatischer und praktischer Wege vor der nächsten Neubesetzung der IBG im Frühjahr 2023.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Im Jahr 2020 wurden in einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung Mängel der Internen Beratungsgruppen analysiert, und eine Gruppe von Mitgliederorganisationen der IBG erstellt derzeit unter Koordination des niederländischen Gewerkschaftsbundes CNV Internationaal ein Non-Paper mit Empfehlungen, wie die IBG gestärkt werden können.

(2)  ABl. C 374 vom 16.9.2021, S. 73.

(3)  ABl. C 374 vom 16.9.2021, S. 73.

(4)  Non-paper on trade, social economic effects and sustainable development [Non-Paper über Handel, sozioökonomische Auswirkungen und nachhaltige Entwicklung], 2020.

(5)  Siehe ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 136, und ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 197.

(6)  Ebd.

(7)  ABl. C 374 vom 16.9.2021, S. 73.

(8)  In Vorbereitung befindliche Stellungnahme NAT/834 zum CBAM.

(9)  In Vorbereitung befindliche Stellungnahme NAT/822 zum Thema Strategische Autonomie sowie Sicherheit und Nachhaltigkeit der Lebensmittelversorgung.

(10)  ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 53.

(11)  ABl. C 227 vom 28.6.2018, S. 27

(12)  Gemeinsame Erklärung der Internen Beratungsgruppen der EU und Kanadas, September 2020.

(13)  Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten, Mexiko und Kanada.

(14)  In der im Frühjahr 2022 zur Verabschiedung anstehenden Stellungnahme REX/536 wird der Rahmen für die Beteiligung der Zivilgesellschaft während des gesamten Lebenszyklus von Handels- und politischen Abkommen untersucht werden.


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/49


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Eine ganzheitliche Strategie für nachhaltige ländliche und städtische Entwicklung

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 105/08)

Berichterstatter:

Josep PUXEU ROCAMORA

Mitberichterstatterin:

Piroska KÁLLAY

Beschluss des Plenums

25.3.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

4.10.2021

Verabschiedung im Plenum

21.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

220/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist überzeugt, dass sich Europas Zukunft auch in den ländlichen Gebieten entscheiden wird und eine engere Zusammenarbeit mit den städtischen Gebieten erforderlich ist, damit alle Gebiete und alle Menschen gleichermaßen vom gerechten Übergang zu einer klimaneutralen, nachhaltigen und wohlhabenden Europäischen Union profitieren. Dies stünde im Einklang mit den Zielen des europäischen Grünen Deals, der auch ein Sozialer Deal sein muss, dem Aufbaupaket „NextGenerationEU“, der Territorialen Agenda 2030 und den 17 Nachhaltigkeitszielen.

1.2.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die EU die Unterschiede zwischen den Gebieten durch politische Maßnahmen für einen gerechten und nachhaltigen Übergang in allen Bereichen und eine gute Lebensqualität auf dem Land abbauen sollte.

1.3.

Angesichts der mit dem Klimawandel und Pandemien einhergehenden Herausforderungen betont der EWSA, dass dringend umgehend gehandelt und ein Paradigmenwechsel vollzogen werden muss, um den Mehrwert der Zusammenarbeit zu verdeutlichen und zum Nutzen aller Bürgerinnen und Bürger die gegenseitige Achtung und das Verständnis füreinander zu fördern.

1.4.

Daher fordert der EWSA die politischen Entscheidungsträger auf, eine umfassende und ganzheitliche EU-Strategie für eine ausgewogene, kohärente, gerechte und nachhaltige ländliche und städtische Entwicklung auszuarbeiten und umzusetzen und dafür die Stärkung der Rolle der lokalen Gemeinschaften, die Förderung traditioneller Wirtschaftszweige und die Schaffung neuer Wirtschaftstätigkeiten und Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem Land bei gleichzeitiger Förderung von Synergien mit städtischen Gebieten wirksam zu nutzen.

1.5.

Der EWSA empfiehlt Folgendes, um in stärkerem Maße gleiche Rahmenbedingungen für den ländlichen und den städtischen Raum sicherzustellen:

1.

es müssen ausreichende Mittel für die Politik für den ländlichen Raum, technische Kommunikationsmittel, Verkehrsinfrastrukturen (insbesondere öffentliche Verkehrsmittel, die für Alltags- und Berufsleben unabdingbar sind) und hochwertige und effiziente Bildungs- und Gesundheitssysteme bereitgestellt werden. Diese sollten genau auf die einschlägigen städtischen Dienstleistungen abgestimmt sein („Gleichbehandlung im Gesundheitsbereich“);

2.

das Arbeitsplatz-, Ausbildungs- und Wohnraumangebot sollte den im ländlichen Raum vorhandenen Ressourcen entsprechen und darauf aufbauen und gleichzeitig innovative Geschäftsmöglichkeiten schaffen;

3.

die ländlichen Parlamente und die von der örtlichen Bevölkerung betriebene lokale Entwicklung (Community Led Local Development — CLLD) müssen als Modelle partizipativer Demokratie von den politischen Entscheidungsträgern unterstützt werden und alle Bürgerinnen und Bürger des ländlichen Raums einbeziehen, darunter auch die Sozialpartner, Frauen, älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen, Minderheiten und insbesondere die jungen Menschen;

4.

das Kulturerbe sollte geschützt und gefördert werden (1).

1.6.

Hinsichtlich der Entwicklung der ländlichen/städtischen Gebiete spricht der EWSA folgende Empfehlungen aus:

1.

die Regierungs- und Verwaltungsebenen müssen Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger in allen Bereichen transparent und fair erbringen;

2.

die Organisationen der Zivilgesellschaft, einschließlich LEADER und der lokalen Aktionsgruppen, sollten im ländlichen und städtischen Raum lokale Partnerschaften entwickeln, um neue wirtschaftliche, soziale und ökologische Möglichkeiten zu schaffen und ein besseres Verständnis der wechselseitigen Abhängigkeiten zu fördern;

3.

das Verwaltungsmodell der Ernährungsräte könnte als Vorbild für eine wirksame Zusammenarbeit zwischen allen Interessenträgern auf lokaler Ebene dienen. Die Telearbeitsmöglichkeiten, das Wohnraumangebot im ländlichen Raum und der Zugang zu Landnutzung haben sich durch die neuen ökologischen Auswirkungen und Herausforderungen sowie durch die Pandemie verändert;

4.

die Förderung und Unterstützung des Austausches von bewährten Verfahren und Informationen über Risikofälle unter den Regionen ist zu begrüßen;

5.

der Zugang zu hochwertiger Bildung im ländlichen Raum kann zur lokalen Wirtschaftsentwicklung beitragen und die ländlichen Gemeinschaften bei der Anpassung an ein sich rasch wandelndes Umfeld unterstützen.

1.7.

Insbesondere richtet der EWSA folgende Empfehlungen an die Europäische Kommission und die nationalen Regierungen und regionalen Verwaltungen:

1.

die kürzlich von der Kommission verabschiedete langfristige Vision für die ländlichen Gebiete (2) muss weiterentwickelt werden und sich als Engagement für die ländlichen und städtischen Gebiete mit einem fairen Ansatz niederschlagen. Es ist wichtig, den Mehrwert aufzuzeigen, den die Zusammenarbeit zwischen ländlichen und städtischen Organisationen bringt, z. B. bei der Initiative „Vom Hof auf den Tisch“ und bei einem sozialverträglichen Grünen Deal;

2.

die Europäische Kommission sollte sich dafür einsetzen, dass auf der Grundlage der Initiative „Intelligente Dörfer“ eine Gruppe von Interessenträgern aus dem ländlichen und städtischen Raum gebildet wird, um bewährte Verfahren bei Partnerschaftsmodellen zu entwickeln;

3.

zur Unterstützung dieses Engagements sollten Investitionen in lokale Pilotprojekte sowie europaweite Anreize/Konditionalitäten und Auszeichnungen für beispielhafte inklusive Vereinbarungen vorgesehen werden.

1.8.

Der EWSA verpflichtet sich darüber hinaus, bei der Inauftraggabe von Untersuchungen, der Konsultation der organisierten Zivilgesellschaft und der Förderung einer Europäischen Charta der Rechte und Pflichten des ländlichen und städtischen Raums mit dem Europäischen Parlament und dem Ausschuss der Regionen zusammenzuarbeiten.

1.9.

Der EWSA wird in seinen künftigen Stellungnahmen zur territorialen, städtischen und ländlichen Politik einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen. Die vorliegende Stellungnahme wurde bspw. vor ihrer Verabschiedung unter verschiedenen EWSA-Fachgruppen erörtert.

2.   Einleitung

2.1.

Entsprechend den Empfehlungen der EWSA-Stellungnahme zum Thema „Ein integrierter Ansatz für die ländlichen Gebiete der EU unter besonderer Berücksichtigung der benachteiligten Regionen“ vom September 2020 (3) und der Anhörung vom 18. Juni 2021 (4) strebt der EWSA nun eine ganzheitliche Strategie der EU für eine nachhaltige ländliche/städtische Entwicklung an. Dazu wird er den Gesamtrahmen analysieren, in dem die Politik für den ländlichen Raum mit den anderen relevanten Politikbereichen verknüpft ist, bestehende Herausforderungen und Hindernisse ermitteln und die Rolle der Zivilgesellschaft, der Unternehmen und der lokalen Gemeinschaften bei der Entwicklung von Bottom-up-Konzepten herausstellen. Der EWSA wird aktiv dafür sorgen, dass diese Strategie bei der Konzipierung der EU-Maßnahmen berücksichtigt wird.

2.2.

Erforderlich ist ein besserer Ansatz für die Vielfalt des ländlichen Raums entsprechend den Möglichkeiten der einzelnen Gebiete. Manche ländlichen Gebiete profitieren aufgrund ihrer Stadtnähe über die Wechselbeziehung zwischen Stadt und Land vom „Ballungsraumeffekt“; in anderen, entlegeneren Gebieten, die deutlich stärker von einem einzigen Sektor wie der Landwirtschaft, der Forstwirtschaft, der Fischerei oder dem Bergbau abhängen, ist die Interaktion mit der Stadt weniger spürbar.

2.3.

Ländliche und städtische Gebiete sind zwar zwei unterschiedliche Räume mit eigenen Besonderheiten und einer ungleichen Entwicklung, doch in Wirklichkeit sind sie eng miteinander verknüpft. Diese wechselseitigen Abhängigkeiten werden zugleich immer komplexer und dynamischer und umfassen strukturelle und funktionale Ströme von Personen und Investitionsgütern, Informationen, Technologien, Lebensweisen usw. Daher muss ein Gleichgewicht zwischen ländlichen und städtischen Gebieten gefunden werden, zwei Räumen, die aufeinander angewiesen sind und nicht ohneeinander existieren können.

2.4.

Es gilt — selbst in entlegenen und benachteiligten Gebieten — das Ideal eines Lebens auf dem Lande zu verwirklichen, bei dem das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Bevölkerung sichergestellt sind. Die Strategie muss den Ansatz für das notwendige Gleichgewicht zwischen diesen beiden Aspekten und ihre Ergänzung bieten, um künftig für Nachhaltigkeit zu sorgen.

2.5.

Die Herausforderungen der ländlichen Gebiete (demografischer Wandel, Bevölkerungsabwanderung, digitale Kluft, geringes Einkommen, eingeschränkter Zugang zu bestimmten Dienstleistungen, mangelnde Beschäftigungsaussichten, spezifische Auswirkungen des Klimawandels) lassen sich nur mit einem ganzheitlichen und neuen territorialen Ansatz meistern, der auf eine auf Gegenseitigkeit beruhende Entwicklung ausgerichtet ist.

2.6.

Dieser neue Kontext, der über die traditionelle Verbindung zwischen den ländlichen Gebieten mit deren Kopplung an den Agrarsektor und Trennung vom städtischen Raum hinausgeht, erfordert Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen Raums mit einem alle Regionen umfassenden multisektoralen und integrierten Ansatz, bei dem bestehende Synergien genutzt werden und die ländlichen, städtischen und Übergangsgebiete einander ergänzen.

3.   Herausforderungen und vorgeschlagene Maßnahmen

3.1.

Herkömmlicherweise wird klar zwischen ländlichen und städtischen Gebieten unterschieden. Nun sind für die Klassifizierung des betreffenden Gebietes neue Konzepte, Interpretationen und Ansätze erforderlich und muss der Realität vor Ort Rechnung getragen werden.

3.2.

Die künftige Entwicklung der europäischen Regionen sollte sich auf die Komplementarität des ländlichen und des städtischen Raums und auf die Koordinierung der auf sie ausgerichteten politischen Maßnahmen stützen, mit dem letztlichen Ziel, dort für sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalt und ökologische Nachhaltigkeit zu sorgen.

3.3.

Nach Ansicht des EWSA müssen die Strategieansätze für die Entwicklung des ländlichen und städtischen Raums kohärenter gestaltet werden, um Überschneidungen und Diskrepanzen zwischen Strategien (z. B. LAG-Strategie, Strategie für integrierte territoriale Investitionen, lokale Entwicklungsstrategie, regionale Entwicklungsstrategie) zu vermeiden und ihre Umsetzung durch die Akteure vor Ort bei Entwicklungsprozessen und Investitionen zu erleichtern.

3.4.

Die ländliche und städtische Entwicklung muss im Einklang mit den Grundsätzen der Territorialen Agenda 2030 der EU, der Leipzig Charta, der Städteagenda der Vereinten Nationen, der EU-Städteagenda, dem Pakt von Amsterdam, der Erklärung von Cork 2.0 „Für ein besseres Leben im ländlichen Raum“ und den Grundsätzen der OECD für die Politik zur städtischen und ländlichen Entwicklung stehen, in denen thematische Partnerschaften und geteilte Verwaltung zwischen städtischen und ländlichen Gebieten berücksichtigt werden.

3.5.

Die mittelgroßen Städte spielen eine Schlüsselrolle bei der Anbindung der ländlichen Gebiete an die großstädtischen Ballungsräume, weshalb sie sowohl bei der Raumplanung als auch bei der Zuweisung von Ressourcen und Dienstleistungen besondere Aufmerksamkeit verdienen. Viele europäische Städte (wie Toulouse in Frankreich, Manresa in Spanien, Turin in Italien oder Aalborg in Dänemark) haben bereits sehr erfolgreiche Konzepte umgesetzt. Städtenetze wie ICLEI (5), Eurotowns (6) und Eurocities (7) sind wichtige Akteure beim Erfahrungsaustausch und bei der Förderung bewährter Verfahren.

3.6.

Die Wechselbeziehungen zwischen dem Land und der Stadt müssen auf die politische Tagesordnung gesetzt und den politischen Entscheidungsträgern und denjenigen, die die Maßnahmen konzipieren, besser verständlich gemacht werden. Zudem müssen gebietsbezogene Organisationsformen für die Maßnahmen gefördert werden.

3.7.

Auch die von der EU finanzierte Forschung sollte weiterhin nach Wegen suchen, wie eine gerechte und nachhaltige ländliche/städtische Entwicklung gefördert und die wirtschaftliche Entwicklung ländlicher Gebiete neubelebt werden kann. Projekte wie ROBUST (8), RUBIZMO (9) und LIVERUR (10) sollten weiterentwickelt werden und zu konkreten Veränderungen führen.

3.8.

Wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltige ländliche und städtische Gebiete erfordern eine umfassende Politik, die an die sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und ethnografischen Gegebenheiten vor Ort anknüpft und die Zusammenarbeit zwischen dem ländlichen und dem städtischen Raum und das Engagement der verschiedenen sozialen und wirtschaftlichen Akteure sowie geeignete Steuerungsmechanismen der lokalen Behörden fördert.

3.9.

Abgelegene ländliche Gebiete sind noch stärker mit den besonderen Schwierigkeiten der ländlichen Gebiete konfrontiert und benötigen daher spezifische politische Maßnahmen und eine Sonderbehandlung. Der EWSA schlägt vor, neben der Lösung von Problemen im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten beim Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, u. a. in den Bereichen Gesundheit und Bildung, Programme zur Wiederbelebung des lokalen Wirtschaftsgefüges in Zusammenarbeit mit dem Umland aufzulegen.

3.10.

Viele der Herausforderungen der ländlichen Gebiete sprengen den rechtlichen und finanziellen Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP), wie im jüngsten Informationsbericht des EWSA zur Bewertung der Auswirkungen der GAP auf die territoriale Entwicklung ländlicher Gebiete (11) hervorgehoben wird. Deshalb ist bei den verschiedenen Maßnahmen mit Auswirkungen auf den ländlichen Raum ein integrierter Handlungs- und Finanzierungsansatz erforderlich. Die GAP-Mittel für die Entwicklung des ländlichen Raums sollten durch Mittel aus nationalen Politikbereichen ergänzt werden.

3.11.

Die Agrar- und Ernährungspolitik und die Politik für den ländlichen Raum müssen mit der Klima- und Biodiversitätspolitik, der Politik zur Verringerung der Armut, der Infrastruktur- und Verkehrspolitik, der Bildungs- und Berufsbildungspolitik, der Politik der Daseinsvorsorge (Gesundheit, Wohnraum usw.), der Politik zur Förderung neuer Aktivitäten auf der Grundlage der Kreislaufwirtschaft und der Bioökonomie, der Digitalisierung und der Bekämpfung der Bevölkerungsabwanderung im Einklang stehen.

3.12.

Diese Politikbereiche müssen europäische Strategien (u. a. Grüner Deal (12) , Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ (13)) schlüssig ergänzen. Das gilt nicht zuletzt auch für die neue Industriestrategie (14), in der die Agrar- und Ernährungswirtschaft als eines der wichtigsten strategischen Ökosysteme der EU definiert wird, sowie für politische Maßnahmen zur Gewährleistung der Ernährungssicherheit. Die Erprobung neuer Formen der Zusammenarbeit zwischen Stadt und Land im Rahmen des europäischen Grünen Deals ist nicht nur eine Voraussetzung, sondern auch eine Chance für einen gerechten Übergang und eine regional ausgewogene nachhaltige Entwicklung.

3.13.

Die europäischen, nationalen und subnationalen Mittel müssen besser verwaltet und aufeinander abgestimmt werden, um die nachhaltige Entwicklung besser angehen zu können, indem stärker auf bereichsübergreifende Aspekte eingegangen wird und stets die Bedürfnisse der einzelnen Gebiete berücksichtigt werden.

3.14.

Der EWSA weist darauf hin, dass der Zugang zu einer nachhaltigen Finanzierung und die Konzipierung maßgeschneiderter Finanzinstrumente für die Entwicklung des ländlichen und des städtischen Raums unter Berücksichtigung seiner Risikostruktur und der Merkmale seines Wirtschaftsgefüges gewährleistet werden müssen. Außerdem sollten die Taxonomie und der haushaltspolitische Ansatz für ländliche Gebiete ihrem Entwicklungs- und Investitionsbedarf Rechnung tragen.

3.15.

Dieser integrierte Ansatz erfordert eine Abstimmung der verschiedenen Behörden und Verwaltungsstellen, einschließlich der zahlreichen für bereichsübergreifende Strategien zuständigen Direktionen der Europäischen Kommission. Diese horizontale Koordinierung setzt einen Ansatz voraus, bei dem die politischen Entscheidungsträger die Fragen des ländlichen Raums in allen Politikbereichen berücksichtigen, um sicherzustellen, dass diesen Bedürfnissen Rechnung getragen wird.

3.16.

Eine erfolgreiche Koordinierung zwischen den Behörden sollte folgende Aspekte umfassen:

i)

Ermittlung der richtigen Interventionsebene;

ii)

Festlegung einer klaren Führungsrolle bei der Koordinierung der Maßnahmen;

iii)

Stärkung von Kooperationsvereinbarungen zwischen den Regionen oder Kommunen;

iv)

Förderung von Partnerschaften zwischen Stadt und Land, um funktionale Verknüpfungen nutzen zu können;

v)

Verbesserung der vertikalen Koordinierung zwischen den verschiedenen Regierungs- und Verwaltungsebenen.

3.17.

Es gilt, dank einer aktiven Rolle der Regionen der EU den direkten Kontakt mit den ländlichen Gebieten aufrechtzuerhalten. Denn die Regionen tragen entscheidend zur Festlegung und Umsetzung von Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen Raums auf lokaler Ebene bei. Die Einbeziehung verschiedener Interessenträger und ein „Bottom-up“-Ansatz sind wesentliche Voraussetzungen für eine nachhaltige Politik des ländlichen Raums und die Eigenverantwortung der lokalen Ebene für diese Politik. Der EWSA fordert, die potenzielle Rolle der lokalen Aktionsgruppen und des Modells der von der örtlichen Bevölkerung betriebenen lokalen Entwicklung (CLLD) zu berücksichtigen.

3.18.

Der EWSA schlägt ferner vor, für eine wirksame Zusammenarbeit zwischen allen Interessenträgern auf lokaler Ebene das Verwaltungsmodell der Ernährungsräte als Vorbild zu nutzen.

3.19.

Es sollten Fortschritte bei territorialen Verträgen auf der Grundlage einer engagierten Politik erzielt werden. Dies erfordert die Festlegung von Zielen, Bündelung von Kräften, Schaffung von Anreizen für öffentliche und private Verpflichtungen mit territorialem Schwerpunkt, Entwicklung interinstitutioneller und bereichsübergreifender Kooperationsmechanismen, Umstrukturierung des institutionellen Gefüges, Förderung einer nachhaltigen Entwicklung, Anerkennung der Vielfalt der ländlichen Gebiete und Förderung der Verbindungen zwischen Stadt und Land. In diesem Zusammenhang haben Unternehmen und Organisationen des Agrar- und Lebensmittelsektors nun die Möglichkeit, den von der Kommission im Rahmen der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ auf den Weg gebrachten Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Unternehmens- und Marketingpraktiken (15) zu unterzeichnen.

3.20.

Die territorialen Verträge müssen auf Fairness und Respekt beruhen. In England, Wales und Schottland gibt es Verhaltenskodizes für den ländlichen Raum, mit denen eine Wertschätzung des ländlichen Raums vermittelt werden soll. Dies könnte die Grundlage für eine europäische Charta der Rechte und Pflichten für faire und nachhaltige Beziehungen zwischen Stadt und Land sein. (16) Diese Charta sollte Bestandteil einer staatsbürgerlichen Bildung für alle sein.

3.21.

Der EWSA erkennt an, dass es keine auf die verschiedenen Gebiete passenden Pauschalkonzepte gibt und jede Gebietseinheit unter Berücksichtigung der Besonderheiten, Vielfalt und Multifunktionalität der Anwendungsbereiche entsprechende Schwerpunkte setzen und sich spezialisieren und entsprechend den eigenen Möglichkeiten, Bedürfnissen, Fähigkeiten und Zielen Lösungen finden muss. Die Nutzung bestehender Infrastrukturen und Überlegungen zur Entwicklung neuer erfordern eine globale Herangehensweise. Zugleich müssen die Tendenzen beobachtet werden, um am richtigen Ort zu investieren.

3.22.

Die Beschäftigungsmöglichkeiten müssen verbessert werden:

i)

durch die COVID-19-Pandemie wurden Digitalisierung und Ökologisierung beschleunigt, die es nun mit entsprechenden Anstrengungen zu verstetigen gilt;

ii)

in den ländlichen Gebieten müssen neue Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen und bewahrt werden, u. a. in Verbindung mit der Bereitstellung von Dienstleistungen auf dem Land sowie mit der Telearbeit, den neuen Technologien oder den erneuerbaren Energien;

iii)

die Stärkung der multifunktionalen Aspekte der Landwirtschaft, die Förderung nichtlandwirtschaftlicher Tätigkeiten, die Ansiedlung von Dienstleistungsunternehmen für die Erzeugung sauberer Energie und von Gewerbebetrieben im ländlichen Raum können viele neue Arbeitsplätze bringen;

iv)

Förderung des Unternehmertums, Sicherstellung fairer Wettbewerbsregeln für KMU und Berücksichtigung der Bedürfnisse der jüngeren Generationen (z. B. Telearbeit);

v)

Verbleib der Arbeitsplätze und Geschäfte vor Ort. die Vision für den ländlichen und den städtischen Raum bietet Möglichkeiten für die Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft;

vi)

Förderung guter Arbeitsplätze und Verbesserung der Arbeitsbedingungen in ländlichen Gebieten, wobei sicherzustellen ist, dass alle Verantwortlichen in den Verbesserungsprozess eingebunden werden;

vii)

Verknüpfung der Verbrauchernachfrage mit den regionalen und ländlichen Märkten durch die Vermarktung lokaler Erzeugnisse und Gütesiegel;

viii)

in den ländlichen Gebieten sollten umfassend neue kulturelle Möglichkeiten gefördert werden, u. a. Kulturveranstaltungen und Schutz historischer und religiöser Stätten (Kirchen, Burgen usw.);

ix)

die Digitalisierung eröffnet neue Möglichkeiten, da sie den Menschen — insbesondere Jugendlichen — Perspektiven und Anreize bieten und eine Trendwende bei der Bevölkerungsabwanderung und der Lebensqualität auf dem Land bewirken kann. Dazu muss der ländliche Raum über eine angemessene Infrastruktur verfügen, um die Konnektivität zu gewährleisten. Hier bieten Konnektivitätsstrategien und digitale Plattformen Lösungen, während ein Digitalisierungsgesetz für den ländlichen Raum die Entwicklung digitaler Technologien in landwirtschaftlichen und in ländlichen Gebieten vorantreiben würde;

x)

in ländlichen und stadtnahen Gebieten sollten nachhaltige Landwirtschaft und Aquakultur (17) gefördert werden, ebenso wie der Ökotourismus, das Freizeitangebot und Bildungsmaßnahmen zum Thema Nachhaltigkeit. Diese Aktivitäten sollten mit dem Schutz der biologischen Vielfalt vereinbar sein, um für eine hohe Lebensqualität der Menschen zu sorgen;

xi)

Eine hochwertige und zugängliche frühkindliche Bildung im ländlichen Raum, kann zu besseren Lernergebnissen beitragen, während der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen wie Kinderbetreuung und Schulen ein standortbezogener Faktor ist, der mit zur Attraktivität ländlicher Gebiete, auch für hochqualifizierte Arbeitskräfte, beiträgt.

3.23.

Wirtschaftswachstum und Arbeitsplatzschaffung sind wichtig, sie müssen aber durch ein ausreichendes und hochwertiges Angebot an Dienstleistungen, Wohnraum, Energie, Freizeitmöglichkeiten, allgemeiner und beruflicher Bildung, Möglichkeiten für lebenslanges Lernen und Gesundheitsversorgung ergänzt werden, das dafür sorgt, dass ländliche Gebiete nicht nur zukunftsfähig, sondern auch lebenswert sind. Die EU muss dringend die Grundlagen für eine nachhaltige und inklusive Ökonomie des Wohlergehens entwickeln, die allen zugutekommt (18).

3.24.

So sollte insbesondere der kontinuierliche Auf- und Ausbau erschwinglicher öffentlicher Verkehrsdienste eine Priorität für die Entwicklung ländlicher Gebiete und somit für ihre Anbindung an städtische Gebiete sein. Die Bereitstellung solcher Verkehrsdienste ist für Alltags- und Berufsleben unabdingbar, wird damit doch der Zugang zu grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen wie Schulen, Kinderbetreuungseinrichtungen, Ärzten und Apotheken sowie die Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes gesichert.

3.25.

Dies erfordert neue Formen von Dienstleistungen auf dem Land:

i)

integrierte Dienstleistungen (Erbringung mehrerer Dienstleistungen in gemeinsamen Räumlichkeiten, Zusammenarbeit zwischen Dienstleistern, Zusammenarbeit zwischen Fachkräfteteams, Zusammenwirken öffentlicher, privater und lokaler Organisationen);

ii)

alternative und flexiblere Konzepte für die Dienstleistungserbringung (mobile Dienstleistungen, Hubmodelle für die regelmäßige Erbringung von Dienstleistungen von einem zentralen Standort aus, besser auf die lokalen Bedürfnisse zugeschnittene Dienstleistungen);

iii)

technologische und digitale Lösungen, auch in den Bereichen Bildung und Gesundheit.

3.26.

Eine umfassende Strategie zur Erreichung eines gewissen Dienstleistungsniveaus in den verschiedenen Gebieten und der Austausch von Diensten zwischen verschiedenen Gebietsteilen sind Schlüsselelemente für die Gestaltung nachhaltiger städtischer und ländlicher Gebiete.

3.27.

Es ist eine Strategie erforderlich, damit sich Menschen aufgrund eines besseren Dienstleistungsangebots und neuer Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem Lande niederlassen und vor allem der notwendige Generationswechsel gewährleistet wird.

Brüssel, den 21. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  EWSA-Stellungnahme „Der Beitrag der ländlichen Gebiete Europas zum Jahr des Kulturerbes 2018 durch die Gewährleistung von Nachhaltigkeit und Zusammenhalt zwischen Stadt und Land“ (ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 22).

(2)  COM(2021) 345 final.

(3)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 60.

(4)  Eine ganzheitliche Strategie für eine nachhaltige und gerechte ländliche/städtische Entwicklung | Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss.

(5)  https://www.iclei.org

(6)  http://www.eurotowns.org

(7)  https://eurocities.eu

(8)  https://rural-urban.eu

(9)  https://rubizmo.eu

(10)  https://liverur.eu/

(11)  https://www.eesc.europa.eu/de/our-work/opinions-information-reports/information-reports/evaluation-caps-impact-territorial-development-rural-areas-information-report

(12)  Ein europäischer Grüner Deal | Europäische Kommission.

(13)  Strategie „Vom Hof auf den Tisch“.

(14)  Mitteilung der Kommission: Aktualisierung der neuen Industriestrategie von 2020.

(15)  Verhaltenskodex (europa.eu).

(16)  The Countryside Code: advice for countryside visitors (Verhaltenskodex für den ländlichen Raum: Empfehlungen für Besucher auf dem Lande) — GOV.UK.

(17)  Siehe die EWSA-Stellungnahmen „Strategische Leitlinien für die nachhaltige Entwicklung der Aquakultur in der EU“ — NAT/816 (ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 103) und „Neuer Ansatz für eine nachhaltige blaue Wirtschaft in der EU“ — NAT/817 (ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 108).

(18)  EWSA-Stellungnahme „Die nachhaltige Wirtschaft, die wir brauchen“ (ABl. C 106 vom 31.3.2020, S. 1).


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/56


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Strategische Autonomie sowie Sicherheit und Nachhaltigkeit der Lebensmittelversorgung“

(Initiativstellungnahme)

(2022/C 105/09)

Berichterstatter:

Klaas Johan OSINGA

Beschluss des Plenums

25.3.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Initiativstellungnahme

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

4.10.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

128/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) schlägt eine Definition der offenen strategischen Autonomie für Lebensmittelsysteme vor, die auf Lebensmittelerzeugung, Arbeitskräften und fairem Handel beruht. Das übergeordnete Ziel ist eine sichere, nachhaltige Ernährung aller EU-Bürgerinnen und -bürger durch eine faire, gesunde, nachhaltige und widerstandsfähige Lebensmittelversorgung.

1.2.

Insbesondere müssen die Lebensmittelsysteme in der EU weiter diversifiziert werden; die landwirtschaftliche Erwerbsbevölkerung muss gestärkt werden, indem mehr junge Leute für diesen Wirtschaftszweig gewonnen sowie die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung verbessert werden; außerdem muss die Handelspolitik auf die EU-Standards für nachhaltige Lebensmittel und Wettbewerbsfähigkeit abgestimmt werden (1).

1.3.

Die offene strategische Autonomie und die Nachhaltigkeit der Lebensmittelsysteme lassen sich am besten mit einem Instrumentarium erreichen, das Risikomanagementmaßnahmen umfasst, damit die Lebensmittelversorgungsketten Extremsituationen bewältigen und nationale und europäische Behörden unverzüglich tätig werden können.

1.4.

Die jüngsten durch COVID-19, klimawandelbedingte Wetterextreme und Cyberangriffe verursachten Ereignisse zeigen, dass die Widerstandsfähigkeit und Nachhaltigkeit der Lebensmittelsysteme verbessert werden müssen. Im Rahmen der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ entwickelt die Europäische Kommission derzeit einen EU-Notfallplan für die Lebensmittelversorgung und Ernährungssicherheit und einen dazugehörigen EU-Krisenreaktionsmechanismus (2). Dies soll zu einem höheren Risikobewusstsein beitragen sowie die Ermittlung, Bewertung, Erfassung und Überwachung der Hauptrisiken durch Stresstests für kritische Systeme auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten einschließen. Außerdem soll es der Umsetzung von Maßnahmen zur Lösung der aufgetretenen Probleme dienen.

1.5.

Die EU braucht ein System zur Verhinderung von Ereignissen wie Strom- und Netzwerkausfällen oder Cyberangriffen, die aufgrund wechselseitiger Abhängigkeiten außer Kontrolle geraten könnten, z. B. eine Stadt, für die ein mehrwöchiger Lockdown angeordnet werden muss; ein Stromausfall, der mehrere Tage andauert; ein Lebensmittelhersteller oder -einzelhändler, der Ziel eines Cyberangriffs ist.

1.6.

Um die Bewältigungsstragien zu verbessern, müssen bestehende Lebensmittelsysteme weiterentwickelt und zugleich diversifiziert werden, u. a. im Hinblick auf Geschäftsmodelle für Hofläden, die urbane Landwirtschaft, die vertikale Landwirtschaft und den Ansatz „Lokal produziert, lokal konsumiert“ im Allgemeinen. Dies erfordert die umfassendere Anwendung von Forschung und Innovation durch Landwirte und Erzeuger und wäre auch ein Mittel gegen food deserts („Lebensmittelwüsten“, Gebiete mit ungenügender Verfügbarkeit von frischen Lebensmitteln) und Produktionsspezialisierung (3). Gleichzeitig sollten die Vorteile effizienter Vertriebssysteme, die von Agrarbetrieben über verarbeitende Unternehmen bis hin zu Märkten reichen, gestärkt werden.

1.7.

Um die langfristige Erzeugung gesunder Lebensmittel in ausreichender Menge sowie tragfähige Lebensgrundlagen sicherzustellen, ist es wichtig, die natürlichen Ressourcen nachhaltig zu nutzen, indem die Boden- und Wasserressourcen erhalten, der Klimawandel und der Verlust an biologischer Vielfalt bekämpft und das Tierwohl geschützt werden. Die EU sollte auch die lokale und regionale Produktion stärken, um eine ausgewogene Lebensmittelerzeugung und -verarbeitung mit einem geringen CO2-Fußabdruck zu verbinden.

1.8.

Die GAP ist wichtig für Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt. Sie sollte die Märkte in Krisenzeiten stabilisieren, während sie den Landwirten und Verarbeitungsbetrieben ein Sicherheitsnetz bietet und für den Schutz von Umwelt, Beschäftigten, Klima und Tierwohl sorgt. Außerdem trägt die GAP zur Erhaltung der strategischen Produktionskapazität und zur Lebensmittel- und Ernährungssicherheit bei.

1.9.

Landwirtschaftliche Betriebe, fruchtbare Agrarflächen und Wasser sind strategische Vermögenswerte und müssen bis zu einem gewissen Grad in der gesamten EU geschützt werden: Sie bilden das Rückgrat unserer offenen strategischen Autonomie im Lebensmittelbereich.

1.10.

Der EWSA bekräftigt seine Empfehlung, die Möglichkeit der Einrichtung eines mehrere Akteure und Ebenen einbeziehenden Europäischen Rates für Ernährungspolitik zu prüfen (4). Im Zusammenhang mit der offenen strategischen Autonomie könnte ein solcher Rat unter anderem eine Überwachungsfunktion übernehmen und die Bewertung und Antizipierung von Risiken in der Lebensmittelversorgungskette unterstützen.

1.11.

Die EU muss dafür sorgen, dass die Grenzen auf sichere Weise offen bleiben und die Arbeitskräfte und die Logistik für die Erzeugung und den Vertrieb von Lebensmitteln (green lanes) sowohl innerhalb der Union als auch mit Drittländern weiterhin ihre Aufgabe erfüllen können. Dies erfordert ein festes Verfahren der Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission und Drittländern.

2.   Einführung

2.1.

Zweck dieser Initiativstellungnahme ist es, das Konzept der „offenen strategischen Autonomie“ für Europa im Hinblick auf die künftige Sicherheit und Nachhaltigkeit der Lebensmittelversorgung zu untersuchen und zukunftsorientierte Ideen und politische Empfehlungen der Zivilgesellschaft zu unterbreiten. Insbesondere soll die Stellungnahme Denkanstöße zu Fragen liefern, die sich aus den jüngsten Ereignissen wie COVID-19, Wetterextremen, Cyberangriffen und politischen/sozialen Spannungen ergeben.

2.2.

Die „offene strategische Autonomie“ ist als Chance für die EU zu sehen, die Sicherheit ihrer Lebensmittelversorgung zu gewährleisten und hohe Nachhaltigkeitsstandards festzulegen, insbesondere im Kontext des europäischen Grünen Deals und der Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung. Die Herausforderung der nachhaltigen Lebensmittelversorgung muss von der EU auf interner und externer Ebene angegangen werden. In dieser Stellungnahme soll auch untersucht werden, wie die Verfügbarkeit nachhaltiger Lebensmittel für alle Unionsbürgerinnen und -bürger — insbesondere in Krisenzeiten — geschützt und verbessert werden kann.

2.3.

Die Stellungnahme baut auf einer Reihe von Vorschlägen und konkreten Ideen auf, die der EWSA bereits in früheren Arbeiten unterbreitet hat (5). Diese Anregungen können wie folgt zusammengefasst werden:

Die EU braucht eine umfassende Lebensmittelpolitik, um gesunde Ernährungsweisen auf der Grundlage nachhaltiger Lebensmittelsysteme unter Verbindung der Landwirtschaft mit Ernährungs- und Ökosystemleistungen zu fördern und um Versorgungsketten aufzustellen, die der Gesundheit aller Bevölkerungsgruppen in Europa dienlich sind. Eine solche Politik, die sich jetzt in der Kommissionsstrategie „Vom Hof auf den Tisch“ manifestiert, sollte die Kohärenz zwischen ernährungsbezogenen Politikbereichen verbessern, Lebensmitteln wieder ihren ursprünglichen Wert beimessen und einen langfristigen Übergang von Lebensmittelproduktivismus und -konsumismus hin zu einem von den Bürgern mitgestalteten Ernährungssystem (food citizenship) fördern.

Das Potenzial kurzer Lebensmittelversorgungsketten, der Agrarökologie und der Qualitätsregelungen für Agrarerzeugnisse sollte stärker zur Geltung gebracht werden.

Es muss für faire Preise gesorgt werden, und unlautere Handelspraktiken sollten verboten werden.

Die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ und die Biodiversitätsstrategie, die zum Grünen Deal gehören, sollten als globale Nachhaltigkeitsstandards in allen künftigen EU-Handelsabkommen berücksichtigt werden.

Es muss für die strukturierte Einbeziehung und Beteiligung der Zivilgesellschaft und aller Interessenträger der gesamten Lebensmittelversorgungskette gesorgt werden, u. a. durch einen Europäischen Rat für Ernährungspolitik.

2.4.

Schließlich soll die Initiativstellungnahme wertvolle Erkenntnisse für die laufenden Arbeiten an der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ des Grünen Deals, der GAP, der Überprüfung der Handelspolitik und der Agenda der strategischen Vorausschau liefern. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage der Sicherheit und Nachhaltigkeit von Lebensmitteln in der EU.

2.5.

Im September 2021 veranstalteten die Vereinten Nationen einen Welternährungsgipfel (Weltgipfel zu Ernährungssystemen), der zum Ziel hatte, die Länder bei der Verwirklichung der 17 Nachhaltigkeitsziele (insbesondere Ziel Nr. 2 — kein Hunger) zu unterstützen. Der EWSA leistete einen Beitrag zur einschlägigen Debatte (6).

3.   Offene strategische Autonomie — Kernelemente des Lebensmittelsystems

3.1.

Der Europäischen Kommission zufolge ist die „offene strategische Autonomie“ die Fähigkeit der EU, selbstbestimmt zu handeln und die Welt um sie herum mit Führungsstärke und Engagement zu gestalten, wobei sie sich von ihren strategischen Interessen und Werten leiten lässt. Die EU kann auf diese Weise sowohl wirtschaftlich als auch geopolitisch insofern stärker werden, als sie (7):

offen für Handel und Investitionen ist, was der Wirtschaft der EU hilft, sich von Krisen zu erholen sowie wettbewerbsfähig und weltweit eingebunden zu bleiben;

nachhaltig und verantwortungsvoll handelt, indem sie eine internationale Führungsrolle bei der Schaffung einer umweltfreundlicheren und gerechteren Welt übernimmt sowie bestehende Bündnisse stärkt und zahlreiche Partnerschaften unterhält;

weiterhin energisch gegen unlautere Praktiken und Zwangsmaßnahmen vorgeht und bereit ist, ihre Rechte durchzusetzen, wobei sie zugleich aber der internationalen Zusammenarbeit bei der Lösung gemeinsamer globaler Probleme stets den Vorzug gibt.

3.2.

Die „offene strategische Autonomie“ muss in Bezug auf Lebensmittelsysteme genauer definiert werden. Der EWSA möchte zur Diskussion über die Frage beitragen, wie die EU besser auf künftige Krisen vorbereitet werden kann. Diese Frage ist im Rahmen des EU-Aufbauplans zu beantworten, z. B. durch die Nutzung der Mittel aus NextGenerationEU.

3.3.

Der EWSA schlägt eine Definition der offenen strategischen Autonomie vor, die auf Lebensmittelerzeugung, Arbeitskräften und fairem Handel beruht. Das übergeordnete Ziel ist eine sichere, nachhaltige Ernährung der EU-Bevölkerung durch eine faire, nachhaltige und widerstandsfähige Lebensmittelversorgung.

3.4.   Lebensmittelerzeugung

3.4.1.

Die Frage der Ernährungssicherheit sollte aus einer internationalen, nationalen und lokalen Perspektive angegangen werden. 55 % der Weltbevölkerung leben in Städten, in denen nur wenige frische Lebensmittel erzeugt werden (man spricht hier von food deserts oder „Lebensmittelwüsten“). Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wird dieser Anteil bis 2050 auf 68 % steigen. Prognosen zufolge könnten sich im Zuge der Verstädterung in Verbindung mit dem weltweiten Bevölkerungswachstum bis 2050 weitere 2,5 Mrd. Menschen in städtischen Gebieten ansiedeln (8). Der Urbanisierunsgrad in Europa dürfte bis 2050 auf etwa 83,7 % (9) steigen.

3.4.2.

Im EU-Binnenmarkt werden täglich Lebensmittel zumeist von ländlichen Gebieten und verarbeitenden Betrieben zu Supermärkten in städtischen Gebieten transportiert. Während der Lockdowns in den Jahren 2020 und 2021 nahm allerdings unter den Verbrauchern die Beliebtheit von örtlichen Geschäften, Hofläden und Online-Shops zu.

3.4.3.

Die Entwicklung kurzer Versorgungsketten trägt zur Widerstandsfähigkeit Europas bei. Die lokalen Kanäle sollten im Einklang mit den Bedürfnissen der jeweiligen Bevölkerung und den besonderen Gegebenheiten und Klimabedingungen vor Ort stehen. Die Verarbeitungskapazitäten sollten auf lokaler Ebene ausgebaut werden.

3.4.4.

Die Diversifizierung der Produktion wird ebenfalls dazu beitragen, die Resilienz Europas zu stärken. Eine Zunahme der für die ökologische/biologische Landwirtschaft genutzten Flächen ist Bestandteil der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“. Dabei sind die Parzellenzuteilung und die urbane und vertikale Landwirtschaft (10) sinnvolle Alternativen, die zur Verkürzung der Lebensmitteltransportwege (food miles) beitragen und immer populärer werden. Diese Initiativen sollten mit der übrigen lokalen und regionalen Lebensmittelerzeugung und -verarbeitung zu einem Sicherheitsnetz verflochten werden.

3.4.5.

Die EU müsste sich zunächst einmal mit der Ermittlung von Schwachstellen befassen. Die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission sollten bei der Aufdeckung von Lücken, der Verringerung von Lebensmittelverschwendung, der Entwicklung von Szenarien und der Koordinierung gezielter Weiterbildungs- und Kommunikationsmaßnahmen zusammenarbeiten.

3.4.6.

Eine intelligente Bewirtschaftung von Lebensmittelbeständen sollte Teil der offenen strategischen Autonomie der EU im Lebensmittelbereich sein. Dazu gehört etwa ein regelmäßiger Wechsel der strategischen Lagerbestände, wobei Handelsspekulation einschließlich des Kaufs von Waren und Lebensmitteln unter dem Selbstkostenpreis (11) und starke Marktreaktionen durch die Gewährleistung von Markttransparenz zu vermeiden sind.

3.5.   Arbeitskräfte

3.5.1.

Es gibt nicht genug junge Menschen, die ausgebildet und bereit sind, um als Landwirt zu arbeiten. 2016 kamen auf jeden EU-Landwirt unter 35 Jahren mehr als sechs Landwirte, die älter als 65 Jahre alt waren (12).

3.5.2.

Darüber hinaus haben die Landwirte immer noch einen unverhältnismäßig hohen Anteil an den durch Katastrophen verursachten Schäden und Verlusten zu tragen. Die zunehmende Häufigkeit und Intensität solcher Ereignisse — neben dem systemischen Charakter der Risiken — stellt das Leben der Menschen auf den Kopf, zerstört Lebensgrundlagen und bedroht unser gesamtes Ernährungssystem.

3.5.3.

Es ist von grundlegender Bedeutung, die Anzahl der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte in Europa zu erhöhen, die landwirtschaftliche Bewirtschaftung und fruchtbare Agrarflächen zu schützen sowie angemessene Systeme für Wissen und Innovation in der Landwirtschaft (AKIS) bereitzustellen. Junge Männer und Frauen müssen zur Aufnahme einer Arbeit in der Landwirtschaft ermutigt und für einen lang dauernden Verbleib im landwirtschaftlichen Betrieb gewonnen werden.

3.5.4.

Voraussetzung für ein nachhaltiges und widerstandsfähiges Lebensmittelsystem sind gute Arbeitsbedingungen für Arbeitskräfte aus EU-Mitgliedstaaten und Drittländern in der Landwirtschaft und im Lebensmittelsektor auf allen Stufen der Versorgungskette. In diesem Zusammenhang ist für angemessene Finanzmittel, gerechte und höhere Löhne, faire Preise, Beihilfen zur Anpassung an den Klimawandel und die Garantie der Rechte von Saisonarbeitskräften zu sorgen.

3.5.5.

Eine umfassende EU-Lebensmittelpolitik sollte nach Ansicht des EWSA für wirtschaftliche, ökologische und soziokulturelle Nachhaltigkeit sorgen. Deshalb ist unbedingt sicherzustellen, dass mit der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ die Dynamik der Versorgungskette grundlegend neu gestaltet und die Einkommen und Lebensgrundlagen der Landwirte nachhaltig verbessert werden (13). Der EWSA bezweifelt, ob es zu diesem notwendigen grundlegenden Wandel kommen wird, solange nicht die richtigen politischen und wirtschaftlichen Anreize gesetzt werden.

3.6.   Handel

3.6.1.

Die Agrar- und Lebensmittelausfuhren aus der EU-27 beliefen sich im Jahr 2020 auf 184,3 Mrd. EUR, was einem Anstieg um 1,4 % gegenüber 2019 entspricht, während die Einfuhren mit 122,2 Mrd. EUR 0,5 % höher ausfielen als im Vorjahr. 2020 betrug der Handelsüberschuss im Agrar- und Lebensmittelsektor 62 Mrd. EUR, ein Anstieg um 3 % gegenüber 2019 (14). Nach Angaben der Gemeinsamen Forschungsstelle werden durch Agrar- und Lebensmittelausfuhren in Höhe von einer Milliarde Euro durchschnittlich 20 000 Arbeitsplätze geschaffen, davon 13 700 im Primärsektor. Gleichzeitig entfielen 2016 rund 4,2 % der Gesamtbeschäftigung in der EU auf die Landwirtschaft (15).

3.6.2.

Das Vereinigte Königreich, die USA, China, die Schweiz und Japan waren die größten Agrar- und Lebensmittelmärkte der EU, auf die mehr als 52 % aller Ausfuhren entfielen. Im Jahr 2020 zählten zu den wichtigsten Herkunftsländern der Agrar- und Lebensmitteleinfuhren in die EU das Vereinigte Königreich, Brasilien, die USA, die Ukraine und China.

3.6.3.

Die EU spielt eine wichtige Rolle im weltweiten Handel mit Agrar- und Lebensmittelerzeugnissen, und es ist grundlegend, dass sich ihre Handelspolitik an ihren Nachhaltigkeitszielen orientiert. In einer früheren Stellungnahme (16) schlug der EWSA vor, die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ und die Biodiversitätsstrategie des Grünen Deals als globale Nachhaltigkeitsstandards in alle künftigen EU-Handelsabkommen aufzunehmen. Der Ausschuss ist sich bewusst, wie wichtig und wertvoll ein regelbasierter Handel mit gleichen Wettbewerbsbedingungen ist und welch wichtigen Beitrag dies zur wirtschaftlichen Erholung nach der COVID-19-Krise leisten wird.

3.6.4.

Um die Abhängigkeit von landwirtschaftlichen Betriebsmitteln zu verringern, sollte die EU Verfahren mit geringem Betriebsmitteleinsatz, insbesondere in Bezug auf fossile Brennstoffe und Pestizide, unterstützen und die Produktionskapazität landwirtschaftlicher Betriebsmittel in Europa fördern.

3.6.5.

Innovative Systeme sind erforderlich, um die natürlichen Ressourcen zu schonen und zu verbessern und gleichzeitig eine effiziente Produktion zu fördern (17). Neue Technologien, Roboter und Impfstoffe sind wichtige Aktivposten, die es zu entwickeln gilt.

4.   Risikomanagement und Stresstests

4.1.

Der FAO zufolge sind die Menschheit und unsere Ernährungssicherheit mit einer Reihe neuer und beispielloser Bedrohungen konfrontiert, wie durch den Klimawandel hervorgerufene Wetterextreme, Krankheiten und Pandemien. Die Landwirtschaft hat es mit einer Fülle von Risiken zu tun, die sich in einer hochgradig vernetzten Welt gegenseitig bedingen (18).

4.2.

Die FAO berichtet, dass die Lebensmittelpreise 2020/2021 auf den höchsten Stand seit 2011 gestiegen sind (19). Vielfach wird die Ansicht vertreten, dass die Preisvolatilität teilweise durch Spekulation entsteht. Den Vereinten Nationen und der OECD zufolge litten im Jahr 2020 zwischen 720 und 811 Mio. Menschen Hunger. Fast jeder dritte Mensch auf der Welt (2,37 Mrd.) hatte 2020 keinen Zugang zu einer angemessenen Ernährung, was einem Anstieg um 320 Mio. in einem Jahr entspricht (20).

4.3.

Die COVID-19-Pandemie zeigt, dass die Ernährungssicherheit — selbst in Europa — nicht als selbstverständlich angesehen werden sollte. In der gesamten Lebensmittelkette sind alle Akteure und Aktivitäten in hohem Maße miteinander vernetzt. Während der Pandemie führten Länder Handelsbeschränkungen ein. Sogar innerhalb der EU ergriffen die Mitgliedstaaten einseitige Maßnahmen zur Schließung von Grenzen, was die Beförderung von Lebensmitteln und Saisonarbeitskräften gefährdete. Dank rascher Anpassungen seitens der Landwirte und Partner in der Lebensmittelkette konnten Erzeugung, Verarbeitung und Vertrieb fortgesetzt werden. Die Kommission unternahm ebenfalls Schritte, um das Funktionieren des Binnenmarkts weiter zu gewährleisten. Aufgrund der Einschränkungen im Reiseverkehr, im Tourismus und in der Gastronomie brachte die Krise jedoch zahlreiche Unternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten.

4.4.

Da heute so vieles online erfolgt (Stichwort „Internet der Dinge“), verursachten Cyberangriffe, etwa mittels Erpressungstrojanern, schwerwiegende Probleme in der realen Welt. Nach Angaben der Presseagentur AP stieg der Durchschnittsbetrag der Zahlungen an Cyberkriminelle im Jahr 2020 um 311 % auf 310 000 US-Dollar. In der Regel erhielten die Opfer erst nach 21 Tagen wieder Zugang zu ihren Daten (21).

4.5.

Im April 2021 führte ein Cyberangriff auf einen Großhändler tagelang zu einem Mangel an Käseerzeugnissen bei der größten Supermarktkette der Niederlande (Albert Heijn) (22). Vor Kurzem wurde JBS, das größte Fleischverarbeitungsunternehmen der Welt, Ziel eines Cyberangriffs. Dies verstärkte die Sicherheitsbedenken in den USA hinsichtlich der nationalen Lebensmittelversorgung (23). Offenbar werden viele Cyberangriffe von Unternehmen nicht gemeldet, um Marktreaktionen wie Hamsterkäufe oder Preissprünge zu vermeiden. Cyberangriffe hatten auch bereits erhebliche Auswirkungen auf Unternehmen, die nicht das unmittelbare Ziel dieser Attacken waren; beispielsweise mussten im Juli 2021 in Schweden hunderte Coop-Supermärkte infolge des Erpressungssoftware-Angriffs auf den amerikanischen Softwareanbieter Kaseya schließen (24).

4.6.

Ebenso besorgniserregend war die Blockade des Suezkanals durch ein 200 000-Tonnen-Containerschiff Anfang April 2021. Solche Zwischenfälle veranschaulichen die Anfälligkeit der weltweiten Versorgungsketten. Wenn diese Ketten einige Tage lang unterbrochen werden, dauert es lange, den Rückstand wieder wettzumachen, was Preissteigerungen für Verbraucher und Unternehmen zur Folge haben kann.

4.7.

Im September hat die Europäische Kommission ihre strategische Vorausschau 2021 vorgelegt, in deren Mittelpunkt die offene strategische Autonomie steht (25). Die Kommission betrachtet die Gewährleistung nachhaltiger und resilienter Lebensmittelsysteme als einen der zentralen strategischen Bereiche für die Stärkung der weltweiten Führungsrolle der EU. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass in Innovationen investiert werden sollte, um widerstandsfähige und nachhaltige Lebensmittelsysteme zu gewährleisten (26).

4.8.

Darüber hinaus bietet ein von der Gemeinsamen Forschungsstelle kürzlich veröffentlichter Fachbeitrag Hintergrundinformationen zu den Resilienz-Dashboards, die in der strategischen Vorausschau 2020 der Europäischen Kommission enthalten sind (27). Sie enthalten auch Schwachstellenindikatoren für den Zugang zu lokalen Dienstleistungen und die Abhängigkeit von Lebensmitteleinfuhren und belegen die geopolitische Bedeutung von Lebensmitteln. Mithilfe eines solchen Dashboards können Aspekte der Anfälligkeit dargestellt und gezielte Stresstests entwickelt werden. Dies ist jedoch ein allgemeiner Ansatz, aus dem sich kein einzelner Indikator entnehmen lässt, zudem werden die Resilienz-Dashboards derzeit überarbeitet.

4.9.

Die Lieferketten müssen weniger zeitorientiert („just in time“) als bedarfsorientiert („just in case“) sein. Bei einer Abhängigkeit von Lieferanten mit einer Monopolstellung für bestimmte Waren besteht die Gefahr der Einflussnahme durch feindliche Regierungen. Dies ist auch eine Frage der Versorgung von Landwirten und Lebensmittelverarbeitern mit Betriebsmitteln. Der EWSA fordert daher eine Sicherheitsüberprüfung der Verfügbarkeit von Lebensmitteln in der EU, und zwar mithilfe von Szenariostudien.

4.10.

Zur Aufdeckung von Schwachstellen sollten Stresstests durchgeführt werden. Ein Beispiel: Welche Folgen kann ein mehrtägiger Ausfall lokaler/regionaler/nationaler Energie- und Telekommunikationsnetze haben? Dies wird gemeinhin als eines der größten Nachfragerisiken für jede nationale kritische Infrastruktur, einschließlich der Lebensmittelversorgung, betrachtet. Zu den direkten Auswirkungen auf die Lebensmittelversorgung gehören: Verlust an Strom-, Wasser- und Gasversorgung; Verlust an Kühl- und Gefrierkapazität; Verlust an Koch-, Back- und Verarbeitungs-/Herstellungseinrichtungen; Verlust an Heizung und Beleuchtung; Unmöglichkeit einer grundlegenden Lebensmittelhygiene und Unmöglichkeit der Beschaffung von Kraftstoff für Lieferfahrzeuge oder andere Zwecke in der Lieferkette. Aufgrund von Auswirkungen auf andere kritische Infrastrukturen kann es jedoch auch zu erheblichen indirekten Folgen kommen. Ein längerer Ausfall der Telekommunikations- und Datenverbindungen würde ernste und unmittelbare Probleme in der Art und Weise verursachen, wie Unternehmen intern oder mit staatlichen Stellen, Lieferanten, Kunden und Verbrauchern kommunizieren, um die Verbreitung wichtiger Informationen zu erleichtern sowie Nachbestellungen und Zahlungen durch Bankverbindungssysteme vorzunehmen.

4.11.

Der EWSA empfiehlt die eingehendere Untersuchung eines solchen Szenarios.

5.   Empfehlungen für das weitere Vorgehen

5.1.

Die offene strategische Autonomie ist ein Konzept, das Chancen bietet, aber auch Risiken birgt. Der Wohlstand der EU hängt auch vom Welthandel und damit von klaren Regeln für den Handel und den gesetzten Maßnahmen ab.

5.2.

Wenn Lebensmittel knapp werden bzw. der Anschein einer Verknappung entsteht, kann es zu Panikkäufen kommen, wobei der Wunsch von Verbrauchern nach Schutz des Klimas, der biologischen Vielfalt und des Tierwohls in den Hintergrund rückt. Europa kann also nur dann umweltfreundlicher werden, wenn es auch widerstandsfähiger wird.

5.3.

COVID-19 hat gezeigt, dass bei längeren Unterbrechungen der Lieferketten gesamtwirtschaftliche Dominoeffekte entstehen können. Die Wiederherstellung der Normalität kann dann mehrere Jahre dauern.

5.4.

Ohne eine offene und faire Handelspolitik kann es keine offene strategische Autonomie im Lebensmittelbereich geben. Die EU kann nicht zu protektionistischen Maßnahmen zurückkehren, da dies zu neuen Schwachstellen führen würde und großen Schaden anrichten könnte (28). Ein Beispiel hierfür sind die Getreidelieferungen der EU nach Nordafrika und in den Mittleren Osten. Internationale Lieferketten sind häufig effizienter und diversifizierter und können daher schneller auf neue Schocks reagieren als lokale.

5.5.

Die EU sollte bewerten, in welchen Fällen und für welche Produkte der Self-Reliance-Ansatz sinnvoll ist. Die Verbraucher und die breite Öffentlichkeit sollten stärker über die Funktionsweise von Lieferketten aufgeklärt werden.

5.6.

Die EU muss gemeinsam mit den Vereinten Nationen und ihren Handelspartnern die Ursachen der Ernährungsunsicherheit angehen und zu einer dringend benötigten Umgestaltung des Lebensmittelsystems beitragen, um die Landwirtschaft schockresistenter zu machen. Die Regierungen sind gefordert, die Versorgungsketten zu unterstützen, nachhaltiger, robuster und sicherer zu werden.

5.7.

In einem kürzlich veröffentlichten gemeinsamen Non-Paper haben Frankreich und die Niederlande energischere EU-Handelsbedingungen gefordert, einschließlich eines Plans der EU für verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln (Responsible Business Conduct Plan — RBC). Ziel ist es, eine kohärente, aufeinander abgestimmte Politik zu verfolgen, dabei aber auch gleiche Wettbewerbsbedingungen im EU-Binnenmarkt zu sichern. Ein Plan der EU für verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln sollte die übergreifende Strategie für den Ansatz der EU zur Förderung des fairen Handels, der verantwortungsvollen Produktion und des Lieferkettenmanagements bilden.

5.8.

Spanien und die Niederlande legten vor Kurzem ein gemeinsames Non-Paper über die Verwirklichung der strategischen Autonomie unter Wahrung einer offenen Wirtschaft vor. In diesem Papier wurde unter anderem ausgeführt, dass die „offene strategische Autonomie“ eines der Diskussionsthemen auf der Konferenz zur Zukunft Europas sein sollte.

5.9.

Die Beratungen der EU über die Sorgfaltspflicht (29) und den Verhaltenskodex (30) der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ sind in diesem Zusammenhang ebenfalls von Bedeutung. In dieser Hinsicht haben Unternehmen und Organisationen im Agrar- und Lebensmittelsektor nun die Gelegenheit, den Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Geschäfts- und Marketingmethoden zu unterzeichnen, den die Europäische Kommission im Zuge der Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ eingeführt hat (31).

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Es ist entscheidend, dass die in der EU nachhaltig erzeugten Lebensmittel wettbewerbsfähig sind, damit eine umfassende Ernährungspolitik der EU ihre Wirkungen für die europäischen Verbraucher auch tatsächlich entfalten kann. Dies bedeutet, dass die europäische Agrar- und Ernährungswirtschaft in der Lage sein muss, den Verbrauchern Lebensmittel zu Preisen anzubieten, die zusätzliche Kosten für Kriterien wie Nachhaltigkeit, Tierschutz, Lebensmittel- und Ernährungssicherheit mit einschließen, zugleich aber auch eine angemessene Vergütung der Landwirte ermöglichen, um somit ebenfalls ihre Position als bevorzugte Option für die große Mehrheit der Verbraucher zu behaupten (ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 18; ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 268).

(2)  Notfallplan, Europäische Kommission.

(3)  COVID-19 and the food phenomena [COVID-19 und Lebensmittelphänomene], FAO.

(4)  Siehe ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 18, und ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 268.

(5)  Unter anderem: ABl. C 129 vom 11.4.2018, S. 18, ABl. C 190 vom 5.6.2019, S. 9, ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 268, ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 66, ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 165, Stellungnahme des EWSA zum Thema Sicherung einer fairen Lebensmittelversorgungskette, NAT/823 (ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 38).

(6)  Contribution to the UN Food Systems Summit 2021 [Beitrag zum Welternährungsgipfel der Vereinten Nationen], EWSA.

(7)  Überprüfung der Handelspolitik, Europäische Kommission.

(8)  68 % of the world population projected to live in urban areas by 2050 [Bis 2050 leben voraussichtlich 68 % der Weltbevölkerung in städtischen Gebieten], Vereinte Nationen.

(9)  Urbanisation in Europe [Urbanisierung in Europa], Europäische Kommission; UN World urbanisation Prospects 2018 [Vereinte Nationen — Prognose zur weltweiten Urbanisierung 2018].

(10)  Vertical farming [Vertikale Landwirtschaft], WUR.

(11)  Stellungnahme des EWSA Sicherung einer fairen Lebensmittelversorgungskette, NAT/823 (ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 38).

(12)  CAP — Structural change and generational renewal [GAP — Strukturwandel und Generationenwechsel], Europäische Kommission.

(13)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 268.

(14)  2020 a year of stability for EU agri-food trade [2020 — ein Jahr der Stabilität für den Agrar- und Lebensmittelhandel der EU], Europäische Kommission.

(15)  Farmers and the agricultural labour force — statistics, Eurostat.

(16)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 66.

(17)  The future of food and agriculture [Die Zukunft der Nahrungsmittelversorgung und der Landwirtschaft], FAO.

(18)  The impact of disasters and crises on agriculture and food security: 2021 [Die Auswirkungen von Katastrophen und Krisen auf Landwirtschaft und Ernährungssicherheit], FAO.

(19)  FAO Food Price Index [FAO-Lebensmittelpreisindex], FAO.

(20)  2021 State of Food Security and Nutrition in the World [Lebensmittelsicherheit und Ernährung in der Welt — Sachstand 2021], WFP.

(21)  Cyberattack on US pipeline is linked to criminal gang [Cyberangriff auf US-Ölleitung wird mit krimineller Bande in Verbindung gebracht], AP News.

(22)  Kaasschaarste bij Albert Heijn na hack leverancier [Käse-Mangel bei Albert Heijn nach Cyberangriff auf Lieferanten], De Volkskrant.

(23)  Hacking American beef: the relentless rise of ransomware [Hacker und amerikanisches Rindfleisch: die unaufhörliche Ausbreitung von Erpressungssoftware], Financial Times.

(24)  NCSC statement on Kaseya incident [NCSC-Stellungnahme zu Kaseya-Vorfall], NCSC.

(25)  2021 Strategic Foresight Report [Strategische Vorausschau 2021], Europäische Kommission.

(26)  Shaping and securing the EU’s Open Strategic Autonomy by 2040 and beyond [Gestaltung und Sicherung der offenen strategischen Autonomie der EU bis 2040 und darüber hinaus], Gemeinsame Forschungsstelle.

(27)  Resilience Dashboards [Resilienz-Dashboards], Europäische Kommission.

(28)  Die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ und die Biodiversitätsstrategie, die zum Grünen Deal gehören, sollten als globale Nachhaltigkeitsstandards in allen künftigen EU-Handelsabkommen berücksichtigt werden (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 66).

(29)  Towards a mandatory EU system of due diligence for supply chains [Hin zu einem verbindlichen EU-System der Sorgfaltspflicht für Versorgungsketten], Euractiv.

(30)  Code of Conduct for Responsible Business and Marketing Practices [Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Geschäfts- und Marketingmethoden], Europäische Kommission.

(31)  Stellungnahme des EWSA zum Thema Abstimmung der Strategien und Maßnahmen der Lebensmittelwirtschaft auf die Nachhaltigkeitsziele zugunsten eines nachhaltigen Wiederaufbaus nach der COVID-19-Krise (noch nicht im Amtsblatt veröffentlicht).


III Vorbereitende Rechtsakte

Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss

564. Plenartagung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses — Videokonferenz über Interactio, 20.10.2021-21.10.2021

4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/63


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Aktualisierung der neuen Industriestrategie von 2020: einen stärkeren Binnenmarkt für die Erholung Europas aufbauen

(COM(2021) 350 final)

(2022/C 105/10)

Berichterstatterin:

Sandra PARTHIE

Mitberichterstatter:

Dirk BERGRATH

Befassung

Europäische Kommission, 1.7.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

30.9.2021

Verabschiedung im Plenum

21.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

194/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Eine schlüssige Industriestrategie sollte zwei Schwerpunkte haben: Pandemiefolgenbewältigung sowie Wiederaufschwung und Resilienz. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Forderung nach einer gemeinsamen Gestaltung von Übergangspfaden in die grüne und digitale Zukunft und betont, dass dies in Partnerschaft mit der Industrie, den Behörden, den Sozialpartnern und anderen Interessenträgern geschehen muss. Nach Ansicht des EWSA besteht der erste Schritt einer erfolgreichen und kohärenten Umsetzung der Industriestrategie in der Schaffung des richtigen Rahmens mit einem Schwerpunkt auf Wettbewerbsfähigkeit und Innovation. Dieser Fokus muss in jedem Ökosystem mit klaren Zielen und Zielvorgaben angesprochen werden.

1.2.

Der EWSA fordert zu diesem Zweck spezielle zentrale Leistungsindikatoren, mit denen nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit des Ökosystems, sondern auch Querschnittsaspekte beurteilt werden können. Er betont, dass die ausgewählten Indikatoren regelmäßig einer Prüfung unterzogen und im Laufe der Zeit angepasst oder geändert werden müssen.

1.3.

Der EWSA begrüßt das Engagement der Europäischen Kommission für den Erhalt und den Ausbau der Industrie- und Fertigungsbasis Europas und betont, dass die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft hierbei eine Schlüsselrolle spielen und in die Gestaltung der Zukunft der europäischen Industrie einbezogen werden müssen. Der EWSA fordert außerdem, dass die geplanten Maßnahmen im Hinblick auf Klimaneutralität und den digitalen Wandel mit den Zielen des sozialen Wohlbefindens und des nachhaltigen Wachstums in Einklang gebracht werden.

1.4.

Der Ausschuss teilt die Auffassung, dass die Resilienz der Wertschöpfungsketten immer wichtiger wird. Er unterstützt die Bemühungen der Kommission, die Lieferketten zu sichern und die Resilienz der Unternehmen zu stärken, da dies für die Wirtschaft der EU bedeutungsvoll ist und die COVID-19-Pandemie unerwartete Mängel — auch des Binnenmarkts — aufgezeigt hat.

1.5.

Die Pandemie hat in einigen Bereichen leider dazu beigetragen, die Kluft zwischen prosperierenden und weniger wohlhabenden Mitgliedstaaten der EU zu vergrößern. Hierdurch gerät der soziale und wirtschaftliche Zusammenhalt noch weiter in Schieflage. Mit NextGenerationEU steht der EU ein beispielloses Instrument zur Verfügung, um gegenzusteuern. Es muss genutzt werden, um eine bessere Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten und Regionen der EU zu erreichen, auch im Hinblick auf den doppelten Übergang zu einem nachhaltigen und digitalen Europa.

1.6.

Industrieallianzen haben sich bei der Entwicklung großer und grenzübergreifender Industrieprojekte in strategischen Bereichen als erfolgreich erwiesen. Diese Industrieallianzen sowie wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI) sind entscheidend für die wirtschaftliche Erholung und die Förderung europäischer Standards und Schlüsseltechnologien, insbesondere in Bereichen, in denen der Markt allein dies nicht leistet oder verzerrt wird.

1.7.

Unserer Ansicht nach erfordert eine erfolgreiche Umsetzung solcher Projekte einen engen Dialog mit Arbeitnehmervertretern und Gewerkschaften sowie mit Unternehmensvertretern und Arbeitgeberverbänden, um deren Know-how einzubeziehen und Ungewissheiten bei der Umstellung möglichst gering zu halten. Sie müssen mit einer Folgenabschätzung zu den Auswirkungen der Dekarbonisierung auf die Wertschöpfung, die Beschäftigung und die Kompetenzen einhergehen, die für eine dekarbonisierte Industrieproduktion und die Kreislaufwirtschaft erforderlich sind.

1.8.

Die Ermittlung klarer und geeigneter Maßnahmen zur Unterstützung der europäischen KKMU (1) ist von größter Bedeutung. Der EWSA unterstützt die Absicht, Unternehmen jeder Größe eine leicht abzurufende Unterstützung für Innovationen und eine umfassende Übernahme der Digitalisierung zu bieten. Ebenso notwendig ist eine Überarbeitung der politischen Maßnahmen, damit die Personalprobleme der Unternehmen überwunden und qualifizierte Arbeitskräfte angeworben werden können. Es muss ein unternehmensfreundliches Umfeld geschaffen und in die soziale Infrastruktur investiert werden, und für die Kompetenzen und die Ausbildung der Arbeitnehmer sowie für angemessene Arbeitsbedingungen muss Sorge getragen werden.

1.9.

Engpässe in den strategischen Wertschöpfungsketten und der Fachkräftemangel untergraben die Fähigkeit der europäischen Industrie, sich rasch von der Pandemie zu erholen. Für die Mitgliedstaaten und die EU ist entschlossenes Handeln geboten, um strategische Abhängigkeiten (2) anzugehen, unter anderem durch Reindustrialisierung, Kreislaufwirtschaft, Handelspolitik und kompetenzfördernde Maßnahmen. Im Allgemeinen sind die Unternehmen am besten in der Lage, ihre Lieferketten zu überprüfen und zu überarbeiten, und sollten dabei unterstützt werden.

1.10.

Die EU muss offen, fair und ihren Werten treu bleiben, um Investoren anzuziehen und die Wirtschaftstätigkeit zu unterstützen. Dessen ungeachtet unterstützt der EWSA einen offenen und fairen Binnenmarkt, der es europäischen Unternehmen ermöglicht, auf ausländischen Märkten zu konkurrieren. Er fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten daher auf, dafür zu sorgen, dass in digitale Lösungen investiert wird, die einen Mehrwert für die europäischen Volkswirtschaften schaffen. Die Digitalisierung der Wirtschaft sollte auf integrative Weise gefördert werden, um jegliche Art von digitaler Diskriminierung zu verhindern.

1.11.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die von der Kommission angekündigten Maßnahmen zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs aufgrund ausländischer Subventionen auch als Instrument zur Reindustrialisierung Europas und zur Unterstützung seiner industriellen Wertschöpfungsketten eingesetzt werden sollten. Der EWSA unterstützt auch die Kartierung der europäischen Produktionsketten, denn der Industrie kommt bei diesem Wiederaufschwung eine Vorreiterrolle zu. Europäische Normen sollten auf globaler Ebene besser gefördert werden.

2.   Die Mitteilung der Kommission

2.1.

Die vorliegende Mitteilung ist eine Aktualisierung der Mitteilung „Eine neue Industriestrategie für Europa“, die am 10. März 2020 veröffentlicht worden war. Ziel der Aktualisierung ist es, die Auswirkungen der Pandemie auf die europäische Wirtschaft und Industrie zu erfassen, die Lehren aus der Krise zu ziehen und die politischen Prioritäten in drei Hauptbereichen darzustellen:

Stärkung der Resilienz des Binnenmarkts;

Umgang mit den strategischen Abhängigkeiten Europas;

Beschleunigung des grünen und des digitalen Übergangs in der Industrie der EU.

2.2.

In der Aktualisierung werden auch die Resilienz und Funktionsweise des Binnenmarkts sowie die Bedürfnisse jedes industriellen Ökosystems bewertet, strategische Abhängigkeiten in wichtigen empfindlichen Ökosystemen ermittelt und wesentliche Leistungsindikatoren (KPI) zur Überwachung der Umsetzung der Strategie vorgeschlagen. Für KMU werden eine maßgeschneiderte finanzielle Unterstützung und Maßnahmen vorgesehen, um KMU und Start-ups zur Bewältigung des doppelten Übergangs zu befähigen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt die Aktualisierung der Industriestrategie. Die Strategie musste überarbeitet werden, weil die Wirtschaft, die industriellen Wertschöpfungsketten, Kleinstunternehmen sowie kleine und mittlere Unternehmen und die Bürgerinnen und Bürger Europas — insbesondere junge Menschen, Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, Geringverdiener und vulnerable Gruppen, darunter Menschen mit Behinderungen und Frauen — aufgrund der COVID-19-Krise unter Druck geraten sind. Es wurden zusätzliche Schwächen, Abhängigkeiten und Lücken in den Lieferketten aufgedeckt. Eine faktengestützte Lagebewertung ist angezeigt, damit sie erfolgreich behoben werden können. Der EWSA begrüßt die Bekräftigung der Kommission, die Industrie- und Fertigungsbasis erhalten und ausbauen zu wollen, und betont, dass die Sozialpartner und die Organisationen der Zivilgesellschaft hierbei eine Schlüsselrolle spielen und in die Gestaltung der Zukunft der europäischen Industrie einbezogen werden müssen. Der EWSA unterstreicht insbesondere die entscheidende Bedeutung des sozialen Dialogs, der Sozialpartner, der Tarifverhandlungen und der Beteiligung von Arbeitnehmern und Zivilgesellschaft für eine wettbewerbsfähige Industriepolitik.

3.2.

Da die bereits vor der COVID-19-Krise bestehenden Herausforderungen keineswegs verschwunden sind, muss für Kohärenz mit den in der Industriestrategie 2020 für Europa vorgeschlagenen Maßnahmen gesorgt werden. Der Aufschwung wird seine Zeit in Anspruch nehmen und muss durch eine kontinuierliche Unterstützung der europäischen Industrie, Unternehmen und Beschäftigten abgesichert werden. Die Herausforderung des doppelten Übergangs — die Bewältigung des Klimawandels und die weitere Digitalisierung — wird den Unternehmen und Behörden einiges abverlangen und muss einen zentralen Stellenwert in einer modernen Industriestrategie für Europa bekommen. Der EWSA betont, dass die geplanten Maßnahmen im Hinblick auf Klimaneutralität und den digitalen Übergang mit dem Ziel der Schaffung von sozialem Wohlergehen und nachhaltigem Wachstum in Einklang stehen müssen, sodass ein gerechter Übergang erreicht wird, bei dem niemand zurückgelassen wird. Neben der Fokussierung auf die Erholung von der COVID-19-Krise bedarf es einer längerfristigen Perspektive für einen ökologischen und digitalen Wandel, aber auch für Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit im Allgemeinen.

3.3.

Der Ausschuss teilt die Auffassung, dass die Resilienz der Wertschöpfungsketten immer wichtiger wird. Er unterstützt die Bemühungen der Kommission, die Lieferketten zu sichern und die Resilienz der Unternehmen zu stärken, da dies für die Wirtschaft der EU bedeutungsvoll ist und die COVID-19-Pandemie unerwartete Mängel — auch des Binnenmarkts — aufgezeigt hat. Eine starke horizontale Industriepolitik sollte die europäische industrielle Basis ohne willkürliche Eingriffe in die Marktergebnisse unterstützen. Der EWSA verweist auf die Bedeutung von Innovationen. Die Suche nach Möglichkeiten, ein angemessenes Maß an Versorgungssicherheit zu finden und die Kapazitäten zur Bewältigung von Versorgungsstörungen zu stärken, gehört auf die politische Tagesordnung, vor allem aber auf die Agenda der Unternehmen.

3.4.

Kompetenzen sind entscheidend für die Unterstützung des doppelten Übergangs und des Wiederaufbaus. Die EU kann nur dann eine geopolitische Kraft sein, wenn sie über eine sehr wettbewerbsfähige industrielle Grundlage mit starken Unternehmen, hochqualifizierten Arbeitskräften, Produktionsanlagen auf europäischem Boden und klaren und fairen Regeln für den Binnenmarkt verfügt. Der EWSA unterstützt den Kompetenzpakt, mit dem Maßnahmen zur Weiterbildung und Umschulung erwachsener Arbeitskräfte gefördert werden sollen. Maßnahmen im Rahmen des Pakts, etwa die Entwicklung von Kompetenzpartnerschaften in den jeweiligen Ökosystemen einschließlich öffentlich-privater Partnerschaften, lassen sich am besten auf sektoraler Ebene unter Einbeziehung der Sozialpartner der einzelnen Branchen und der relevanten zivilgesellschaftlichen Organisationen entwickeln. Auch müssen nationale Kompetenzinitiativen den Arbeitgebern Anreize bieten, Ausbildungsplätze zu schaffen. In diesem Zusammenhang ist die territoriale Dimension von größter Bedeutung; die Arbeitsmärkte sollten im Hinblick auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze in allen Regionen angemessen bewertet werden. Der EWSA wird diese Aspekte beobachten und fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft in die Überwachung und Umsetzung der Aufbau- und Resilienzpläne einzubeziehen, die mit dem europäischen Grünen Deal und der Industriestrategie im Einklang stehen müssen. Europa braucht qualifizierte Arbeitskräfte, die mit den Veränderungen in der Wirtschaft Schritt halten. Die erfolgreiche Weiterqualifizierung und Umschulung ist eine enorme Herausforderung (3).

3.5.

Der EWSA begrüßt die im Zuge der Strategie vorgenommene gründliche Analyse der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. Die vorgeschlagenen durchgehenden Überwachungs- und Beobachtungsaktivitäten und -instrumente wie der jährliche Binnenmarktbericht oder die Überwachung kritischer Rohstoffe können sehr nützliche Daten für die Bewertung der industriellen Stärke Europas liefern. Sie könnten in eine horizontale Industriepolitik einfließen, durch die Europa wieder eine weltweite Führungsposition erlangen kann.

3.6.

Die diversen Strategien oder Pläne, z. B. zum Grünen Deal oder NextGenerationEU, reichen jedoch nicht aus, solange es bei der Umsetzung hapert. Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, dafür zu sorgen, dass die verschiedenen Pläne für den Wiederaufbau Europas mit dem erforderlichen Rechtsrahmen und Anreizen einhergehen, damit der Übergang der Industrie, ihrer Unternehmen und der Beschäftigten zu einer nachhaltigen und digitalen Zukunft möglich wird.

3.7.

Im Einklang mit der europäischen Säule sozialer Rechte sollte dieser erhebliche Einsatz öffentlicher Mittel auf den Grundsatz der sozialen Nachhaltigkeit und Solidarität ausgerichtet sein. Dies sollte ein Leitprinzip bei der Umsetzung der aktualisierten Strategie sein. Angesichts des Ausmaßes der Herausforderungen reichen die derzeit über den Fonds für einen gerechten Übergang bereitgestellten Mittel nicht aus, um tragfähige Perspektiven für die betroffenen Regionen und Beschäftigten im Strukturwandel zu schaffen. Ein gerechter Übergang in der Industrie kann nur gelingen, wenn er koordiniert durchgeführt wird. Der EWSA ist der Auffassung, dass öffentliche Investitionen über breit angelegte und offene Forschungsprogramme wie Horizont Europa getätigt werden sollten, um eine Subventionierung marktnaher Tätigkeiten zu vermeiden.

3.8.

Industrie- und Handelspolitik sind miteinander verknüpft. Sie müssen sich gegenseitig verstärken und Marktverzerrungen beseitigen. Eine für Handel und Investitionen offene EU ist eine Voraussetzung für künftige Resilienz. Handel kann dazu beitragen, die Lieferketten zu diversifizieren und der EU einen ungehinderten Zugang zu den Betriebsmitteln zu verschaffen, die für unser Innovationsvermögen und die Ausweitung der Produktion unentbehrlich sind (4). Die Handelspolitik der EU kann dazu beitragen, unsere globale Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, etwa indem von den Handelspartnern höhere Klimaschutzziele verlangt werden, z. B. durch die Liberalisierung des Handels mit Umweltgütern und -dienstleistungen. Der EWSA betont, dass alle Politikbereiche der EU die nachhaltige Entwicklung sowohl auf europäischer als auch auf internationaler Ebene fördern sollten, indem sichergestellt wird, dass die wirtschaftliche Entwicklung mit sozialer Gerechtigkeit, der Achtung der Menschenrechte und hohen Arbeits- und Umweltstandards verbunden wird. Die EU muss offen, fair und ihren Werten treu bleiben, um Investoren anzuziehen und ihre Wirtschaftstätigkeit zu unterstützen.

3.9.

Der Binnenmarkt ist Europas größter Trumpf, und mit seinem Erfolg steht und fällt der Übergang. Die Kommission sollte sich weiterhin auf die Umsetzung und Durchsetzung von Vorschriften und auf die Beseitigung von Binnenmarkthemmnissen konzentrieren, die es bereits vor der Krise gab.

3.10.

Die Pandemie hat in einigen Bereichen die Kluft zwischen prosperierenden und weniger wohlhabenden Mitgliedstaaten der EU vergrößert. Hierdurch gerät der soziale und wirtschaftliche Zusammenhalt noch weiter in Schieflage. Mit „NextGenerationEU“ wird ein beispielloses Instrument aufgeboten, um diese Auswirkungen abzumildern. Allerdings bedauert der EWSA, dass der regionale Aspekt, eine Randlage oder die geografische Lage bei der Aktualisierung der Industriestrategie überhaupt keine Rolle spielen. Ein Ökosystemansatz allein wird die Situation weder beheben noch die Unterschiede verringern. Ein Hauptziel der Strategie sollte darin bestehen, die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten und Regionen zu verringern und dabei gleichzeitig eine Aufwärtskonvergenz anzustreben.

4.   Überwachung industrieller Trends, der Wertschöpfungsketten und der Wettbewerbsfähigkeit

4.1.

Das verarbeitende Gewerbe ist ein Motor für Innovation und ein Dreh- und Angelpunkt der Wertschöpfungsketten (einschließlich Dienstleistungen) und bietet hochproduktive und gut bezahlte Arbeitsplätze. Die Sicherung der Zukunft des verarbeitenden Gewerbes, die Stärkung der Industrieproduktion und ein positives Geschäfts- und Regelungsumfeld sollten die Eckpfeiler einer auf Resilienz ausgerichteten, modernen europäischen Wirtschafts- und Industriepolitik sein, durch die Arbeitsplätze bewahrt und geschaffen werden.

4.2.

Engpässe in den strategischen Wertschöpfungsketten und der Fachkräftemangel untergraben die Fähigkeit der europäischen Industrie, sich rasch von der Pandemie zu erholen. Die Mitgliedstaaten und die EU müssen handeln, um strategische Abhängigkeiten anzugehen, unter anderem durch Ansiedlung der strategischen Produktion an Standorten in der EU, Kreislaufwirtschaft und handelspolitische Maßnahmen. Im Allgemeinen sind die Unternehmen am besten in der Lage, ihre Lieferketten zu überprüfen und umzugestalten. Der EWSA ist der Auffassung, dass die von der Kommission angekündigten Maßnahmen zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs aufgrund ausländischer Subventionen auch als Instrument zur Reindustrialisierung Europas und zur Unterstützung seiner industriellen Wertschöpfungsketten eingesetzt werden sollten. Die Verbesserung der strategische Kapazitäten Europas durch neue Industrieallianzen, die sich ansonsten nicht bilden würden, kann Arbeitsplätze und Wachstum schaffen, indem die Neuaufstellung bestimmter strategischer Produktionsanlagen angeregt wird.

4.3.

Das verarbeitende Gewerbe in Europa erhält zunehmend Konkurrenz aus den USA und China. Europa steht im Wettbewerb um Investitionen, die in vielen Teilen der Welt getätigt werden können. Günstige Investitionsbedingungen sind entscheidende Voraussetzungen für den künftigen Wohlstand Europas. Inländische, europäische und internationale Investoren müssen attraktive Bedingungen vorfinden, um den Kapitalstock zu halten und zu erhöhen, der das künftige Wachstum begünstigt. Für bestehende Unternehmen müssen die Bedingungen für die Weiterentwicklung erfüllt sein, während Unternehmensgründer überzeugt sein müssen, dass ihre geschäftlichen Vorhaben in Europa erfolgreich wachsen können. Der EWSA empfiehlt, den horizontalen Ansatz in der Industriestrategie zu stärken und ihn durch vertikale Ansätze zu ergänzen.

4.4.

Über die Besteuerung könnten auf wirksame Weise die erforderlichen Anreize gesetzt werden — aber nicht, solange die Mitgliedstaaten immer noch auf unfaire und schädigende Weise miteinander konkurrieren und es so einigen großen Unternehmen ermöglichen, die Entrichtung ihres gerechten Steueranteils zu umgehen. Der EWSA unterstützt die Ausarbeitung des Legislativvorschlags zu BEFIT (Business in Europe: Framework for Income Taxation) und begrüßt die jüngsten Vereinbarungen in der OECD zur Unternehmensbesteuerung.

4.5.

Im jährlichen Binnenmarktbericht wird eine Reihe von wesentlichen Leistungsindikatoren (KPI) festgelegt, mit denen die wirtschaftlichen Entwicklungen analysiert und die Fortschritte in den verschiedenen Bereichen überwacht werden sollen, die für die europäische Industrie als prioritär eingestuft wurden. Der EWSA unterstützt den Einsatz wesentlicher Leistungsindikatoren als Monitoringinstrument und begrüßt das Ziel, einen Überblick über die Leistungsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu erhalten, indem Vergleiche mit internationalen Partnern angestellt werden und die Spezifizität industrieller Ökosysteme analysiert wird. Der EWSA fordert die Kommission auf, eine jährliche Bewertung zu erstellen, in der aufgeschlüsselt wird, inwieweit die wesentlichen Leistungsindikatoren zu den vorgeschlagenen Zielen geführt haben. Erforderlichenfalls müsste es dann Korrekturmaßnahmen geben. Außerdem ist der EWSA der Auffassung, dass der Einsatz wesentlicher Leistungsindikatoren als Schlüsselinstrument für die Umsetzung der Industriestrategie quantifizierbare Ziele, einen klaren Zeitplan und klare Lenkungsstrukturen erfordert.

4.6.

Nach Auffassung des EWSA sind Indikatoren gefragt, die nicht nur weitere Daten generieren, sondern aufzeigen, was für die Wettbewerbsfähigkeit der EU wichtig ist. Mit den vorgeschlagenen KPI werden wichtige Indikatoren wie Alter, Geschlecht oder Qualifikationsprofil der Arbeitskräfte in den verschiedenen Ökosystemen nicht abgebildet. Diese Aspekte sind aber wichtig, wenn es darum geht, die bevorstehenden Veränderungen zu antizipieren und Engpässen und Hürden bei der Umgestaltung der europäischen Industrie vorzubeugen. Sie sind außerdem von großer Bedeutung für einen inklusiven Wiederaufbau, da junge Menschen, Frauen und Arbeitnehmer in prekären Beschäftigungsverhältnissen von der Krise am stärksten betroffen sind. Der EWSA empfiehlt, die vorgeschlagenen wesentlichen Leistungsindikatoren durch Indikatoren zur Messung der sozialen Leistungsfähigkeit der Industriestrategie und ihrer 14 Ökosysteme zu ergänzen, um gute Arbeits- und Produktionsbedingungen sowie gute Arbeitsplätze zu gewährleisten. Er fordert spezifische Indikatoren, die bei Bedarf anpassungs-, veränderungs- oder entwicklungsfähig sind, um nicht nur die Ökosysteme, sondern auch Querschnittsaspekte abbilden zu können. Die KPI sollten beispielsweise Verbraucherpräferenzen und insbesondere deren Verlagerung hin zu nachhaltigen Produkten berücksichtigen.

5.   Stärkung der Resilienz des Binnenmarkts

5.1.

Der EWSA begrüßt, dass der Binnenmarkt im Mittelpunkt der Aktualisierung steht. Ein starker Inlandsmarkt ist für europäische Unternehmen eine Voraussetzung dafür, sich zu etablieren, weiterzuentwickeln und zu expandieren. Der EWSA erinnert daran, dass es darum geht, hohe Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards zu sichern und das reibungslose Funktionieren der Lieferketten und Wertschöpfungsnetze in Europa zu gewährleisten. Sozialer Zusammenhalt, bezahlbare Gesundheitssysteme, effiziente öffentliche Dienste, gute Infrastrukturen, leistungsfähige Bildungssysteme und gut funktionierende Arbeitsbeziehungen sind entscheidende Voraussetzungen, um Investitionen anzuziehen und Wohlstand zu schaffen.

5.2.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag der Kommission für ein Notfallinstrument für den Binnenmarkt, das für mehr Transparenz und Koordinierung sorgen soll. Er begrüßt ferner die detaillierte Analyse der industriellen Ökosysteme, die durch sektorbezogene Analysen und Fahrpläne ergänzt werden muss, wobei nicht nur wechselseitigen Abhängigkeiten und Verbindungen, sondern auch Lücken in vielen Sektoren in der EU hervorgehoben werden müssen, einschließlich der Bewertung der Arbeitsmarktentwicklungen und des entsprechenden Qualifikationsbedarfs. Es sollte auch einen Spielraum für eine Überarbeitung der Definition und Verwendung der Ökosysteme (5) geben, aber auch für die Frage, welche Branchen geprüft werden, damit das Instrument nicht zu selektiv wird.

5.3.

Der EWSA begrüßt die Anerkennung der Rolle der europäischen Kleinstunternehmen sowie kleinen und mittleren Unternehmen (KKMU) und die Absicht, sie in ihrer Wachstumsphase und beim Anwerben qualifizierter Arbeitskräfte zu unterstützen. Dies erfordert ein unternehmensfreundliches Umfeld und Investitionen in die Kompetenzen und die Ausbildung der Arbeitskräfte sowie angemessene Arbeitsbedingungen und eine gute soziale Infrastruktur. Der EWSA begrüßt, dass die Kommission das Problem des Zahlungsverzugs unter die Lupe nimmt. Für die KMU ist es wichtig, dass etwas gegen den Zahlungsverzug unternommen wird. Alternative Streitbeilegungssysteme, bei denen Streitsachen vertraulich behandelt werden können, wären ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

5.4.

Industrieallianzen haben sich bei der Entwicklung großer und grenzübergreifender Industrieprojekte in strategischen Bereichen als erfolgreich erwiesen. Diese Industrieallianzen sowie wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI) sind entscheidend für die wirtschaftliche Erholung und die Förderung europäischer Standards und Schlüsseltechnologien, insbesondere in Bereichen, in denen der Markt allein dies nicht leistet oder verzerrt wird.

5.5.

Der EWSA dringt auf eine Reform des Beihilferechts. In seiner derzeitigen Gestalt ist es nicht mehr zweckmäßig. Wir brauchen ein System, das den Verwaltungsaufwand verringert, die Entscheidungsfindung beschleunigt und die Erfüllung der Anforderungen der Entsprechungsklausel erleichtert. Die Vorschriften über staatliche Beihilfen können auch ausschlaggebend für das Zustandekommen von Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI) sein, die für die Förderung öffentlicher und privater Investitionen sehr wichtig sind.

5.6.

Der EWSA bedauert, dass die Kommission die entscheidende Rolle der sozialwirtschaftlichen Unternehmen in der Pandemie und für den Aufbau eines resilienten, nach vorne strebenden Europas nur unzureichend anerkennt. In diesem Zusammenhang verweist der EWSA auf den angekündigten Aktionsplan zur Förderung der Sozialwirtschaft.

5.7.

Forschung, Entwicklung und Innovation sind für die Zukunft der europäischen Industrie von großer Bedeutung. Der EWSA bedauert, dass das Ziel, 3 % des BIP in Forschung, Entwicklung und Innovation zu investieren, immer noch weit verfehlt wird. Während einige Mitgliedstaaten dieses Niveau erreichen, liegen andere unter 1 %. Diese Unterschiede beeinträchtigen die globale Kapazität der EU als Wirtschaftsblock und lassen sie hinter die USA, Japan und China zurückfallen.

5.8.

Um die Widerstandsfähigkeit des Binnenmarkts zu stärken, muss die Marktintegration gefördert werden. Zu diesem Zweck sollten sowohl auf europäischer als auch auf internationaler Ebene die fiskalische Dimension und Integration sowie Maßnahmen zur Vermeidung von unlauterem Steuerwettbewerb berücksichtigt werden. Die Wettbewerbsregeln müssten überdies den neuen Gegebenheiten von heute angepasst werden, unabhängig von der Industriepolitik.

6.   Mit Abhängigkeiten umgehen: die offene strategische Autonomie in der Praxis

6.1.

Die EU muss offen, fair und ihren Werten treu bleiben, um Investoren anzuziehen und ihre Wirtschaftstätigkeit zu unterstützen. Ihre geopolitische Stärke beruht auf einer wettbewerbsfähigen industriellen Basis mit starken Unternehmen und hochqualifizierten Arbeitskräften, Produktionsanlagen in der EU sowie klaren und fairen Regeln für den Binnenmarkt, die international vorbildlich sind (6). Es ist wichtig, dass die handelspolitischen Schutzinstrumente mit Augenmaß eingesetzt werden, um einen fairen Wettbewerb in der EU aufrechtzuerhalten.

6.2.

Allerdings ist der EWSA überzeugt, dass eine auf Autonomie fixierte Politik nicht zweckmäßig ist. Stattdessen sollte die EU in ihrer Handelspolitik dem Umstand Rechnung tragen, dass Offenheit ein wesentlicher Faktor für die Resilienz ist. Es muss das richtige Gleichgewicht zwischen Offenheit und dem geplanten Rechtsinstrument gefunden werden, um den potenziell wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen ausländischer Subventionen im Binnenmarkt auf Unternehmen und Arbeitnehmer entgegenzuwirken. Der EWSA befürwortet einen offenen, fairen Binnenmarkt und gleiche Wettbewerbsbedingungen für europäische Unternehmen auf ausländischen Märkten.

6.3.

Andererseits sollte es vermieden werden, neue Begriffe wie „wettbewerbsorientierte Nachhaltigkeit“ zu gebrauchen, ohne sie näher zu erläutern. Die Unternehmen werden es in der Wiederaufbauphase schon schwer genug haben und benötigen einen Rechtsrahmen, der ihnen das Leben erleichtert.

6.4.

Der Ansatz, Industrieallianzen zu bilden und zu unterstützen, hat sich bei den aktuellen Beispielen Batterien und Wasserstoff als erfolgreich erwiesen. Der EWSA hält dies für ein sehr gutes Instrument und befürwortet die Gründung weiterer Allianzen in ausgewählten Sektoren, z. B. Prozessoren und Halbleitertechnik, Industriedaten, Spitzen- und Cloudcomputing, Trägerraketen und emissionsfreie Luftfahrt. Aus unserer Sicht ist es jedoch unabdingbar, dass die Allianzen transparent, inklusiv und unter besonderer Berücksichtigung der KKMU gebildet werden.

7.   Beschleunigung des doppelten Übergangs

7.1.

Wie im Grünen Deal anerkannt wird, kommt der Digitalisierung in allen Ökosystemen eine zentrale Rolle zu. Daher sollte EU-weit mehr investiert werden, um das Wachstumspotenzial neuer IKT-Sektoren wie Datenwirtschaft, Internet der Dinge, Cloud-Computing, Robotik, künstliche Intelligenz und fortgeschrittene Fertigung zu steigern; auch sollten europäische Industrienormen genutzt werden. Der EWSA ruft die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, dafür zu sorgen, dass in digitale Lösungen investiert wird, die einen Mehrwert für die europäischen Volkswirtschaften schaffen.

7.2.

Die künftige digitale Wettbewerbsfähigkeit Europas muss höchste Priorität haben. In der Strategie wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die beiden gesetzgebenden Organe rasch das Gesetz über digitale Dienste und das Gesetz über digitale Märkte verabschieden müssen, und es wird die herausragende Bedeutung harmonisierter Normen für die Stärkung des Binnenmarkts für Waren und die Ermöglichung einer globalen Technologieführerschaft Europas betont, unter anderem durch den Einsatz der Digitalisierung zur Steigerung der Energieeffizienz. Ein gut funktionierendes europäisches Normungssystem ist entscheidend für die Verwirklichung des angestrebten doppelten Übergangs und die bessere Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz der europäischen Industrie. Der EWSA fordert die Kommission auf, ihre Bemühungen um eine Vorreiterrolle durch und bei der Normensetzung zu verstärken, indem bestehende europäische Industrienormen gemeinsam mit den Unternehmen gefördert und weiterentwickelt werden. Angesichts der Bedeutung des Dienstleistungssektors für einen gut funktionierenden Binnenmarkt und die Bewältigung des doppelten Wandels begrüßt der EWSA außerdem den ganzheitlichen Ansatz der Kommission.

7.3.

Dabei kommt es darauf an, den europäischen Arbeitskräften die digitalen Kompetenzen für diese neue Phase der Industrialisierung zu vermitteln. Im digitalen Zeitalter werden wir nur ankommen, wenn unsere Arbeitskräfte qualifiziert und gut vorbereitet sind. Kompetenzen sind ein wichtiger Katalysator für Innovation und Wertschöpfung. Die Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit erfordert umfassende Arbeitsmarktstrategien, an denen alle relevanten Interessenträger (Sozialpartner, Arbeitsmarkteinrichtungen, zivilgesellschaftliche Organisationen, Aus- und Fortbildungseinrichtungen) beteiligt werden. Digitale Fähigkeiten und Kompetenzen müssen unter Beteiligung der branchenspezifischen Sozialpartner in alle Ebenen der allgemeinen und beruflichen Bildung integriert werden. Die örtliche Wirtschaft sollte in die Steuerung der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung einbezogen werden, da sie die Unternehmensstrukturen und die lokalen Markterfordernisse gut kennt. Die Digitalisierung der Wirtschaft sollte auf integrative Weise gefördert werden, um jegliche Art von digitaler Diskriminierung, insbesondere von älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen und Menschen in ländlichen und abgelegenen Regionen, zu verhindern.

7.4.

Der EWSA betont, dass ein starkes europäisches verarbeitendes Gewerbe auf der Grundlage emissionsarmer oder emissionsfreier Technologien und von Energieeffizienz sowohl dem wirtschaftlichen Wohlstand als auch dem Klima nützt. Grundsätzlich falsch wäre es, Produktionskapazitäten abzubauen und zu riskieren, dass CO2-Emissionen und Investitionen in Länder mit weniger ehrgeizigen Emissionsnormen verlagert werden. Der wichtigste Hebel für eine globale Emissionsreduktion ist die Entwicklung erschwinglicher kohlenstoffarmer bzw. -freier und energieeffizienter Technologien und deren Verbreitung auf den Weltmärkten. Es ist an Europa zu beweisen, dass ehrgeizige Emissionsreduktionen möglich sind, ohne den wirtschaftlichen Wohlstand zu gefährden.

7.5.

Wichtig hierfür sind die Kreislaufwirtschaft (7) und die Schaffung von Sekundärrohstoffmärkten. Abfallbewirtschaftungsstrategien und gesetzliche Vorgaben für recycelte Inhaltsstoffe in Verpackungen und anderen Produkten sind nötig, um Investitionen in den Recyclingketten anzustoßen.

7.6.

Um das Investitionsniveau zu erreichen, das für die Finanzierung des Grünen Deals erforderlich ist, sollte auch eine Überprüfung der Beihilfevorschriften für Investitionen in kohlenstoffarme Produkte und Verfahren erwogen werden. Darüber hinaus sollten die neu geschaffenen Innovations- und Modernisierungsfonds sowie die EHS-Versteigerungseinkünfte und die vorgeschlagenen CO2-Differenzverträge zusätzliche Ressourcen bereitstellen, die zur Unterstützung von klimaschutz- und energiepolitisch relevanten Vorhaben sowie zur Bewältigung der sozialen Auswirkungen eines Übergangs eingesetzt werden können, bei dem niemand zurückgelassen wird. Eine Verknüpfung der Industriestrategie mit dem europäischen Grünen Deal und dem EU-Aktionsplan „Schadstofffreiheit von Luft, Wasser und Boden“ ist ebenfalls herzustellen.

7.7.

Der EWSA unterstützt die Linie, die in der Aktualisierung der Industriestrategie zum CO2-Grenzausgleichssystem verfolgt wird. Dabei ist jedoch zu betonen, dass ein solches, für ausgewählte Sektoren eingeführtes Grenzausgleichssystem vollumfänglich mit den WTO-Regeln im Einklang stehen muss, um Gegenmaßnahmen von Handelspartnern zu vermeiden. Im Streben nach Klimaneutralität sollte das vorrangige Ziel künftiger multilateraler Verhandlungen in der Festlegung ähnlicher CO2-Preise auf internationaler Ebene bestehen.

7.8.

Die Datenanalyse wird kurz- und mittelfristig eine entscheidende Rolle spielen. Die EU benötigt fortgeschrittene Programme zur Datenanalyse, mit denen die Wettbewerbsfähigkeit Europas im Vergleich zu unseren globalen Mitbewerbern bewertet werden kann. Der EWSA begrüßt daher die Bemühungen zur Schaffung von Industrieallianzen für Industriedaten, Spitzen- und Cloudtechnologien.

Brüssel, den 21. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG

NB:

Der Anhang zu diesem Dokument enthält auf den folgenden Seiten die zusätzliche Stellungnahme der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel — CCMI/185 — „Aktualisierung der neuen Industriestrategie — Auswirkungen auf das Ökosystem der Gesundheitsbranche“ (EESC-2021-02562-00-00-AS-TRA).

(1)  Kleinstunternehmen sowie kleine und mittlere Unternehmen (KKMU).

(2)  Der EWSA möchte darauf hinweisen, dass es logischerweise um strategische „Unabhängigkeiten“ und nicht um „Abhängigkeiten“ geht. Aus Gründen der Kohärenz bleibt er aber bei der Kommissionsterminologie.

(3)  ABl. C 374 vom 16.9.2021, S. 16.

(4)  Siehe ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 197 und ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 53.

(5)  Die Verwendung des Begriffs „Ökosysteme“ lässt fälschlicherweise an ein nachhaltiges Gleichgewicht denken. Der Begriff „Ökosysteme“ wird in den Mitteilungen der Kommission nicht kohärent verwendet. In der Mitteilung „Der europäische Grüne Deal“ vom Dezember 2019 wird „Ökosystem“ für natürliche Systeme und nicht für vom Menschen geschaffene Systeme verwendet. In der Mitteilung zur Aktualisierung der Industriestrategie bezeichnet der Begriff nur industrielle Gefüge.

(6)  Siehe ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 108.

(7)  Siehe ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 94 und ABl. C 14 vom 15.1.2020, S. 29.


ANHANG

Stellungnahme der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Aktualisierung der neuen Industriestrategie — Auswirkungen auf das Ökosystem der Gesundheitsbranche

(zusätzliche Stellungnahme zu INT/935)

Berichterstatter:

Anastasis YIAPANIS

Mitberichterstatter:

Antonello PEZZINI

Beschluss des Plenums

26.4.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 37 Absatz 2 der Geschäftsordnung

 

Zusätzliche Stellungnahme

Zuständiges Arbeitsorgan

Beratende Kommission für den industriellen Wandel (CCMI)

Annahme in der CCMI

29.9.2021

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist überzeugt, dass Gesundheitsbelange im neuen internationalen geopolitischen Kontext einen besonders hohen Stellenwert haben. Ein starkes und koordiniertes europäisches Gesundheitsökosystem leistet einen maßgeblichen Beitrag zur strategischen industriellen Autonomie und zur technologischen Souveränität der EU und hilft außerdem, den Menschen in der EU auf der Grundlage eines ganzheitlichen Ansatzes eine bessere Lebensqualität bieten zu können. Dazu bedarf es klarer Pläne sowie für Messungen geeignete, transparente Leistungsindikatoren.

1.2.

Gemeinsam mit den Mitgliedstaaten und den Branchenakteuren sollte eine Bottom-up-Bestandsaufnahme und Analyse vorgenommen werden, um ein genaues Bild davon zu zeichnen, wo Abhängigkeiten bestehen und welche Risiken sie für die Resilienz und das Funktionieren des industriellen Ökosystems beinhalten. Dadurch sollen Schwachstellen und Engpässe bei strategischen Materialien behoben werden.

1.3.

Der EWSA glaubt, dass Maßnahmen nötig sind, um ein stärkeres, gerechteres, effizienteres und besser zugängliches Ökosystem der Gesundheitsversorgung mit einer wirksamen Steuerung, einer geeigneten Diversifizierung der Bezugsquellen und einer interoperablen und vernetzten digitalen Architektur der Gesundheitsversorgung zu schaffen. Die EU muss geeignete Anreize für die Rückverlagerung strategischer Produktionskapazitäten entwickeln.

1.4.

Europa ist bei der Versorgung mit bestimmten Rohstoffen auf andere Länder angewiesen. Die Gesundheitsbranche braucht stärkere und vielfältigere internationale Lieferketten, um für künftige Krisen gerüstet zu sein. Der EWSA begrüßt den angekündigten Vorschlag zur Schaffung einer EU-Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen.

1.5.

Der EWSA unterstreicht, dass das Tempo erhöht werden muss, und zwar auch durch Synergien zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor. Es bedarf dringend einer strategischen Vorausschau auf Unionsebene, mit der für mehr Gerechtigkeit bei der Verfügbarkeit von Ausrüstungsmaterial und beim Zugang zum Ökosystem der Gesundheitsversorgung sowie für mehr Solidarität, Fairness und multilaterale Zusammenarbeit gesorgt wird. Der EWSA fordert im Interesse des sozialen Wohlbefindens, dass allen Menschen in der EU hochwertige und wirksame Arzneimittel problemlos zugänglich sind.

1.6.

Mögliche Synergien zwischen großen Unternehmen und KMU werden nicht vollständig ausgeschöpft, was die Stärkung von KMU erheblich hemmt und die Gesundheitsbranche daran hindert, als Inkubator für bahnbrechende Entdeckungen zu fungieren. Instrumente zur Investitionsförderung müssen wirksam koordiniert werden, wobei es spezielle Ausschreibungen für industrielle KMU geben sollte.

1.7.

Der EWSA fordert mehr Transparenz in Bezug auf den Austausch von Gesundheitsdaten und die Nutzung von künstlicher Intelligenz (KI). Regulatorische Hindernisse müssen ausgeräumt werden und es muss einen gemeinsamen EU-Ansatz für die Nutzung telemedizinischer Dienste geben. Er unterstützt voll und ganz die Einrichtung des europäischen Gesundheitsdatenraums unter uneingeschränkter Achtung der Rechte des Einzelnen und des Schutzes personenbezogener Daten.

1.8.

Die Gesundheitsbranche kann durch geeignete Abfallbewirtschaftungsstrategien, neue, auf die Kreislaufwirtschaft ausgerichtete Geschäftsmodelle und eine erhöhte Verkehrsinfrastrukturkapazität erheblich zur Klimaneutralität der EU beitragen.

1.9.

Investitionen in FuE sind für die Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit der Gesundheitsbranche unabdingbar. Die EU muss in ihren Politikbereichen Anreize für öffentliche und private Investitionen liefern, damit sozial- und gesundheitspolitische Aspekte Berücksichtigung finden.

1.10.

Der EWSA fordert eine intensivere Arbeit an den regulatorischen Verfahren zur Entwicklung harmonisierter Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Schutzausrüstungen und Medizinprodukte. Die Normungsgremien sollen nach Auffassung des EWSA ein klares Mandat im technischen Regulierungsprozess erhalten.

1.11.

Für die europäischen Arbeitskräfte im Gesundheitswesen sind gezielte Ausbildungs-, Umschulungs- und Weiterbildungsprogramme sowie Programme für lebenslanges Lernen notwendig, um die neuen Herausforderungen des Grünen Deals zu bewältigen. Der Schwerpunkt darf dabei nicht nur auf Gesundheitsfachkräften liegen: auch Forscher, Lehrpersonal, Medienvertreter und die Patienten selbst müssen einbezogen werden. Der EWSA fordert daher eine stärkere Kommunikation auf europäischer Ebene über Verbraucher-/Patientenrechte, an der auch die Sozialpartner und die einschlägigen Organisationen der Zivilgesellschaft umfassend zu beteiligen sind.

1.12.

Der EWSA fordert die Kommission auf, die Zusammenarbeit und den Dialog zwischen den Interessenträgern über die Resilienz der Arzneimittelbranche auf der Grundlage der bestehenden Strukturen im Rahmen der Arzneimittelstrategie für Europa fortzusetzen. Weiterhin sollte auf einen starken, nachhaltigen und digitalen Wandel des industriellen Gesundheitsökosystems entsprechend der Industriestrategie für Europa hingearbeitet werden.

2.   Hintergrund und Einführung

2.1.

Die COVID-19-Pandemie hat sämtliche EU-Mitgliedstaaten in eine beispiellose Krise gestürzt, die sich — im Gegensatz zu anderen Krisen — sowohl auf das Angebot als auch auf die Nachfrage und auf die Gesellschaft insgesamt ausgewirkt hat. Die EU wurde im Vergleich zu anderen Teilen der Welt schwer getroffen und die Zahl der in der EU verzeichneten Todesfälle pro Million Menschen lag über dem globalen Trend (1). Die Union hat in angemessener, praktisch abgestimmter Weise reagiert. Es hätte mehr getan werden können, wenn die EU als Union besser auf diese Art Schock vorbereitet gewesen wäre.

2.2.

Der Binnenmarkt ist eine der bedeutendsten Errungenschaften des europäischen Projekts. Aufgrund der uneinheitlichen Anwendung des EU-Rechts in den Mitgliedstaaten bestehen weiterhin Hindernisse. Durch die COVID-19-Pandemie sind diese Hindernisse noch größer geworden und es haben sich insbesondere die Anfälligkeit der Wertschöpfungsketten und die vermehrten Verteilungsprobleme gezeigt. Es ist klar geworden, dass die EU bei medizinischen Erzeugnissen von Drittländern abhängig ist.

2.3.

Auf die Gesundheitsbranche entfielen im Jahr 2018 über 7 Mio. Arbeitsplätze (2). Mit über 800 000 direkten Arbeitsplätzen und einem Handelsüberschuss von 109,4 Mrd. EUR (3) ist die Branche ein wichtiger Stützpfeiler für den Binnenmarkt. Arzneimittelhersteller leisteten 2019 den größten Beitrag zu FuE-Investitionen, während sich der Wert des europäischen Marktes für Elektromedizin mittlerweile auf 120 Mrd. EUR beläuft. Allerdings investiert die EU weniger als ihre Handelspartner: beispielsweise fließen 19,2 % der FuE-Investitionen der EU-Industrie in Innovationen im Gesundheitswesen, während es in den USA 26,4 % sind. Europa ist eine zentrale Drehscheibe für die globale Medizinprodukteindustrie. Mit etwa 32 000 Unternehmen und 730 000 Angestellten macht der EU-Medizinproduktemarkt ein Drittel des globalen Marktes aus.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Gesundheit ist — insbesondere in Europa — einer der großen Trends der Zukunft, und vor dem Hintergrund der neuen geopolitischen Lage ist eine Unterstützung des Ökosystems der Gesundheitsbranche, das zur strategischen Autonomie und technologischen Souveränität der Union beiträgt, von zentraler Bedeutung.

3.2.

Der EWSA begrüßt, dass die Europäische Kommission die Industrie, und insbesondere die Gesundheitsbranche, in ihrer Mitteilung in den Mittelpunkt der europäischen Politik rückt und ihre Fähigkeit anerkennt, einen grundlegenden Wandel herbeizuführen, die neuen Bedürfnisse und Herausforderungen der Gesellschaft zu deuten und innovative und wettbewerbsfähige Lösungen zu bieten. Allerdings fordert der EWSA einen ganzheitlicheren Ansatz als den von der Kommission verfolgten, der sich in erster Linie auf die Industrie konzentriert. Die politischen Entscheidungsträger haben eine große Verantwortung, da Gesundheit eine der Grundlagen des individuellen Daseins und unzweifelhaft das höchste Gut der Menschen ist. Der EWSA fordert daher, die Verbraucher-/Patientenrechte, einschließlich der in der EU-Charta der Grundrechte verankerten Grundrechte, besser auf EU-Ebene zu kommunizieren. Die EU braucht ein starkes und koordiniertes Gesundheitswesen.

3.3.

Die industrielle Struktur des Ökosystems der Gesundheitsversorgung ist ein umfassendes Gefüge, bestehend aus einigen großen Akteuren und einer Vielzahl von KMU. Die zwischen diesen beiden Gruppen möglichen Synergien werden jedoch nicht voll ausgeschöpft, was die Stärkung von KMU erheblich hemmt. In der Folge kann das Ökosystem der Gesundheitsversorgung nicht sein ganzes Potenzial entfalten und kann auch seiner Rolle als Inkubator für neue innovative Entdeckungen nicht gerecht werden.

3.4.

Das Ökosystem der Gesundheitsbranche braucht einen starken Binnenmarkt mit einer starken Produktion und einem starken Vertrieb. Der EWSA hat zuvor bereits die Bedeutung eines „funktionierenden, fairen sowie effizienten Binnenmarkts, in dem zum einen echte medizinische Innovation mit einem wirklichen Mehrwert für die Gesundheitsversorgung gefördert als auch honoriert, und zum anderen auch der Wettbewerb für einen gerechten sowie leistbaren Zugang zu Arzneimitteln gestärkt wird“ (4) betont.

3.5.

So ist eine erheblich stärkere Integration des Binnenmarktes durch Gewährleistung einer wirksameren Steuerung insbesondere in der Gesundheitsbranche nötig (5): ein gut funktionierender Binnenmarkt und eine gut funktionierende Wettbewerbspolitik sorgen für eine starke Geschäftsdynamik, die bei der Diversifizierung der Bezugsquellen in der EU eine wesentliche Rolle spielen und einer Fragmentierung des Gesundheitswesens entgegenwirken kann.

3.6.

Wie die COVID-19-Pandemie gezeigt hat, verbessern sich durch eine länderübergreifende Zusammenarbeit und Solidarität die Reaktionsfähigkeit der EU sowie die Resilienz der Union insgesamt. Es bedarf dringend einer strategischen Vorausschau auf Unionsebene, insbesondere, da die Pandemie Sektoren und Wertschöpfungsketten mit grenzüberschreitender Dimension besonders getroffen hat.

3.7.

Strategische Abhängigkeiten wirken sich auf die grundlegenden Interessen der EU aus. Diese betreffen insbesondere den Bereich Sicherheit, die Gesundheit der Europäerinnen und Europäer und die Möglichkeit des Zugangs zu Waren, Dienstleistungen und Technologien, die für den grünen und digitalen Wandel — eine der zentralen Prioritäten der EU — eine Schlüsselrolle spielen.

3.8.

Der EWSA hat empfohlen, „eine konkrete und umfassende Strategie für die europäische Industrie mit einer klaren kurz-, mittel- und langfristigen Ausrichtung“ vorzulegen und die Kommission nachdrücklich dazu aufgefordert, „einen konkreten Aktionsplan mit klaren jährlichen Zielen und Überwachungsverfahren vorzulegen, der eine enge Zusammenarbeit aller Interessenträger vorsieht“ (6) und gleichzeitig betont, dass „Arbeitgeber, Unternehmer und das Engagement der Privatwirtschaft als dynamisches Element im Strukturwandel [für den industriellen Wandel] unverzichtbar [sind]“ (7).

3.9.

Der medizinische Fortschritt ist die Triebfeder der innovativen medizinisch-pharmazeutischen Industrie. Ein großes Problem, das umgehend gelöst werden muss, ist die Unerschwinglichkeit bzw. Nichtverfügbarkeit von Arzneimitteln. Das soziale Wohlergehen muss durch einen einfachen Zugang aller Menschen in der EU zu hochwertigen und wirksamen Arzneimitteln gewährleistet werden. Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union hat erhebliche Auswirkungen auf die Hersteller von Medizinprodukten.

3.10.

In der COVID-19-Pandemie ist deutlich geworden, dass Europa bei bestimmten Ausgangsstoffen von einigen wenigen Herstellern und Ländern abhängig ist. Darüber hinaus besteht selbst bei den grünen und digitalen Technologien, die häufig mit der Gesundheitsbranche verknüpft sind, eine Abhängigkeit von einer ganzen Reihe von knappen, nach Europa eingeführten Rohstoffen, wobei ein sehr großer Teil der benötigten Seltenen Erden von einem einzigen Lieferanten stammt — China (8). Die Stärkung und Diversifizierung internationaler Lieferketten ist für die Entwicklung der Gesundheitsbranche und die Gewährleistung, dass die EU für künftige Krisen wie die COVID-19-Pandemie gerüstet ist, ebenfalls von grundlegender Bedeutung. Die Beseitigung von Schwachstellen und die Schaffung eines stabilen, vorhersehbaren und ressourceneffizienten Handelsumfelds sollten oberstes Ziel sein. Der angekündigte Vorschlag zur Schaffung einer EU-Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen ist begrüßenswert.

3.11.

Europa war mit seiner Strategie der Gründung öffentlich-privater Partnerschaften zur Förderung von FuE in der Arzneimittelindustrie erfolgreich, allerdings belaufen sich die Investitionen nur auf ein Zehntel dessen, was die US-amerikanische Biomedical Advanced Research and Development Authority (BARDA) ausgibt.

3.12.

Die größten Chancen werden in den kommenden Jahren digitale Gesundheitstechnologien bieten. Ob medizinische Produkte, Geräte und Verfahren oder Maßnahmen zur Verhütung, Diagnose und Behandlung von Krankheiten — sie alle sind für die Bürgerinnen und Bürger der EU lebenswichtig. Mit der kommenden Verordnung über künstliche Intelligenz (9), dem Legislativvorschlag zum europäischen Raum für Gesundheitsdaten (10) und der Standardisierung wird es beim Austausch von Gesundheitsdaten und bei der Nutzung von KI mehr Klarheit geben, werden regulatorische Hindernisse beseitigt und wird ein gemeinsamer EU-Ansatz für die Nutzung telemedizinischer Dienste unterstützt, während es mit dem Daten-Governance-Gesetz (11) möglich sein sollte, den Austausch von Gesundheitsdaten bei gleichzeitiger Gewährleistung des Schutzes personenbezogener Daten sicherzustellen und die übrigen Menschenrechte zu schützen.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der digitale Wandel in der Gesundheitsbranche bietet eine große Chance. Die Umsetzung des zweifachen Wandels kann der Union in einem komplexen und angespannten internationalen Umfeld weitere Wettbewerbsvorteile verschaffen. Die EU kann insbesondere mit Investitionen in Hochleistungscomputertechnologien und Technologien der künstlichen Intelligenz Spitzentechnologien, insbesondere prädiktive Spitzentechnologien, entwickeln. Die Pandemie hat gezeigt, dass es dringend intelligenter Gesundheitsdienste wie beispielsweise telemedizinischer Dienste bedarf.

4.2.

Zudem kann die Gesundheitsbranche durch eine Verringerung der Treibhausgasemissionen entlang der Wertschöpfungsketten erheblich zur Klimaneutralität der EU beitragen. Es ist eine bessere Abfallbewirtschaftung notwendig, da in der Branche erhebliche Mengen an Abfall in Form von Arzneimittelresten und gebrauchter technischer und persönlicher Ausrüstung anfallen. Es müssen neue, auf die Kreislaufwirtschaft ausgerichtete Geschäftsmodelle entwickelt werden, die Verkehrsinfrastrukturkapazität muss ausgebaut werden und es müssen alle Mitgliedstaaten und Interessenträger in die Dekarbonisierung der Wertschöpfungsketten eingebunden werden.

4.3.

Die menschliche Gesundheit hängt letztlich von Ökosystemprodukten und -dienstleistungen (wie der Verfügbarkeit von Süßwasser, Nahrung und Brennstoff) ab, die für eine gute menschliche Gesundheit und produktive Lebensgrundlagen erforderlich sind. Ein Verlust an Biodiversität kann erhebliche direkte Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit haben, falls soziale Bedürfnisse nicht mehr angemessen durch Ökosystemleistungen befriedigt werden können.

4.4.

Die traditionelle Medizin spielt nach wie vor eine wesentliche Rolle in der Gesundheitsversorgung, insbesondere in der Primärversorgung. Die Verwendung von Arzneipflanzen ist weltweit das gängigste Medikationsmittel in der traditionellen Medizin und der Komplementärmedizin. Viele Menschen verlassen sich auf Naturprodukte, die — neben der Nahrung — für medizinische und kulturelle Zwecke aus Ökosystemen gewonnen werden.

4.5.

Eine strategische Vorratshaltung und die Rückverlagerung von EU-Unternehmen sind weitere wichtige potenzielle Ziele und fallen unter die geteilte Zuständigkeit der EU. Während sich Technologie und Herstellungskapazitäten verbessern, muss die EU geeignete Anreize für die Rückverlagerung strategischer Produktionskapazitäten in die Union entwickeln. Steueranreizen könnte in dieser Hinsicht eine Schlüsselrolle zukommen.

4.6.

Es ist eine Bottom-up-Bestandsaufnahme und -Analyse zusammen mit den Mitgliedstaaten und der Industrie nötig, um die genaue Art der festgestellten Abhängigkeiten, einschließlich der mit ihnen für die Resilienz und die Funktionsweise der industriellen Ökosysteme in der EU verbundenen Risiken, sowie die möglichen Perspektiven für eine Verringerung dieser Abhängigkeiten und künftige Handelsstreitigkeiten und Cyberangriffe besser bewerten zu können.

4.7.

Investitionen in FuE sind für die Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit der Gesundheitsbranche unabdingbar. Neben den Mitteln aus den EU-Fonds muss die EU-Politik auch öffentliche und private Investitionen möglichst umfassend fördern. Die Gründung öffentlich-privater Partnerschaften wie IMI2 wird für die Hersteller ein Anreiz sein, in FuE&I-Tätigkeiten zu investieren bzw. diese Tätigkeiten, die für künftige medizinische Entdeckungen von entscheidender Bedeutung sind, zu verfolgen. Diese Art Initiativen sind geeignet, Europa weiterhin einen Spitzenplatz zu sichern, wenn es um medizinische Innovationen geht.

4.8.

Gleichermaßen ist es von zentraler Bedeutung, die Bemühungen der Mitgliedstaaten zu unterstützen, öffentliche Mittel im Wege wichtiger Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI) in jenen Bereichen zu bündeln, in denen der Markt allein keine bahnbrechenden Innovationen hervorbringen kann, wie es in der Arzneimittelbranche der Fall ist.

4.9.

Die Wettbewerbsfähigkeit der Branche muss mittels eines soliden Rahmens für geistige Eigentumsrechte, der Innovationen stärkt und schützt, gefördert werden. Der Zugang zu Daten ist auch für die Hersteller, insbesondere für KMU, die von der Pandemie schwer getroffen wurden und die darin bestärkt werden müssen, sich zu vergrößern und zu wachsen, von größter Bedeutung. Die EU benötigt speziell für die Massendatenanalyse und die interoperable Datenzugangsinfrastruktur entwickelte Strategien.

4.10.

Zudem muss sichergestellt werden, dass KMU einen einfachen Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten haben, damit sie sich entwickeln und wachsen können. Dies bedeutet auch, dass Quellen genutzt werden, die eine Alternative zu den herkömmlichen Bankkrediten darstellen, wie etwa Private-Equity- oder Venture-Capital-Finanzierungen. Instrumente zur Investitionsförderung müssen wirksam koordiniert werden, wobei Fördermittel vorzusehen sind, die speziell industriellen KMU vorbehalten sind. In diesem Bereich ist es wichtig, dass die Initiativen im Zusammenhang mit dem EU-Rahmen für nachhaltige Finanzierung, einschließlich der Umsetzung der Taxonomie, Chancen für die europäische Wirtschaft bieten — unter Berücksichtigung sowohl der Bedürfnisse der Finanzmärkte als auch der Herausforderungen, denen sich die Industrie gegenübersieht.

4.11.

Die Entwicklung eines europäischen Austauschformats für elektronische Patientenakten zur Ermöglichung des grenzüberschreitenden Verkehrs von Gesundheitsdaten bietet einen Rahmen für die weitere Entwicklung gemeinsamer technischer Spezifikationen für den sicheren Austausch von Gesundheitsdaten zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Hierzu erarbeitet das Europäische Komitee für Normung aktuell technische Spezifikationen. Der EWSA fordert eine intensivere Arbeit und die Beteiligung der relevanten Interessenträger an den regulatorischen Verfahren zur Entwicklung harmonisierter Qualitäts- und Sicherheitsstandards für persönliche Schutzausrüstungen und Medizinprodukte.

4.12.

Mit der Aufbau- und Resilienzfazilität lassen sich viele der Probleme, die es im Ökosystem der Gesundheitsversorgung gibt, lösen, und zwar durch Investitionen in die nationalen Gesundheitssysteme und deren Reform, Stärkung der Resilienz und Krisenvorsorge, Ausbau der medizinischen Grundversorgung, Stärkung eines gerechten und transparenten Zugangs zu Dienstleistungen, Beseitigung von Schwachstellen in den Lieferketten und Verbesserung der digitalen Kompetenzen der im Gesundheitswesen Beschäftigten, Telemedizin-Lösungen sowie Forschung, Entwicklung und Innovation.

4.13.

Der EWSA fordert die Entwicklung von spezifischen Ausbildungs-, Umschulungs- und Weiterbildungsprogrammen sowie von Programmen für lebenslanges Lernen für die Arbeitskräfte im europäischen Gesundheitswesen im Einklang mit ihrer so wichtigen beruflichen und sozialen Rolle, dem technischen Fortschritt und den neuen Anforderungen an eine stärkere Nachhaltigkeit. Unter der Federführung der Branchenakteure müssen klare Ausbildungskonzepte entwickelt werden, damit qualifizierte Fachkräfte zur Verfügung stehen, die mit den neuen Aufgabenstellungen des Grünen Deals zurechtkommen.

4.14.

Der EWSA hat zuvor bereits darauf verwiesen, dass „unter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen und der Sozialpartner […] neue politische Konzepte für Qualifikationen erarbeitet werden [sollten], denn die Anpassung der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung muss beschleunigt werden, damit auf den neuen Arbeitskräftebedarf reagiert werden kann“ (12). In der Gesundheitsbranche darf der Schwerpunkt dabei nicht nur auf Gesundheitsfachkräften liegen: auch Forscher, Lehrpersonal, Entscheidungsträger aller Art, Medienvertreter und die Patienten selbst sowie ihre Vertretungsorganisationen müssen einbezogen werden.

4.15.

Die strategische öffentliche Auftragsvergabe spielt eine Schlüsselrolle, wenn es darum geht, die EU-Industrie, Forschungszentren und europäische und nationale Regulierungsbehörden, insbesondere in der Gesundheitsbranche, zusammenzubringen, und erleichtert die Zusammenarbeit privater und öffentlicher Akteure, um so den Bedürfnissen öffentlicher und privater Gesundheitssysteme gerecht zu werden und den Kauf innovativer und erschwinglicher Gesundheitstechnologien, einschließlich grüner und digitaler Lösungen, sowie Sozialklauseln zu ermöglichen (13).

4.16.

Der EWSA hat die EU-Organe und die Mitgliedstaaten bereits aufgefordert, im Einklang mit den Grundwerten der EU den politischen Willen für einen „Gesundheitspakt für die Zukunft Europas“ zu zeigen (14).

4.17.

Die in der Arzneimittelstrategie vorgesehene Initiative für einen strukturierten Dialog (15) ist für Europa von zentraler Bedeutung, damit die Ursachen und treibenden Kräfte möglicher Anfälligkeiten der medizinischen Lieferketten und entsprechende Abhängigkeiten ausgemacht werden können.

4.18.

Der EWSA unterstützt uneingeschränkt die Schaffung des europäischen Raums für Gesundheitsdaten (16), damit die notwendige Datenaustausch-Infrastruktur für Diagnoseinstrumente und Behandlungen zur Verfügung steht, wenn es um eine Zusammenarbeit und Anstrengungen zur gemeinsamen Investition in Ökosysteme der Gesundheitsversorgung der nächsten Generation über alle Wertschöpfungsketten hinweg geht.

4.19.

Der EWSA meint, dass harmonisierte Standards als Mittel zur Verankerung wesentlicher Anforderungen an die Produktsicherheit eingesetzt werden sollten; flankiert werden sollte dies durch Instrumente zum Inverkehrbringen von Produkten. Die Europäische Union muss eine Überregulierung von Produkten vermeiden; Priorität muss es sein, den durch ein Zuviel an gesetzlichen Regelungen entstandenen Verwaltungsaufwand zu verringern und gleichzeitig einen einfachen Zugang zu Unterlagen, fundierte Informationen, einen reibungslosen Austausch bewährter Verfahren sowie eine wirksame Zusammenarbeit zu gewährleisten.

4.20.

Schließlich fordert der EWSA die Kommission auf, die Zusammenarbeit und den Dialog zwischen den Interessenträgern über eine verbesserte Resilienz des europäischen Arzneimittelsystems gegenüber künftigen Krisen aufbauend auf den bestehenden Mechanismen, die in der Arzneimittelstrategie für Europa (17) und der Industriestrategie für Europa vorgesehen sind, fortzusetzen (18). Der EWSA fordert die Kommission ferner auf, weitere Synergien zwischen den Mitgliedstaaten zu schaffen, neue Initiativen zur Stärkung der Koordinierung der verschiedenen einzelstaatlichen Systeme (im Einklang mit dem AEUV (19)) vorzuschlagen und weiterhin einen starken, nachhaltigen und digitalen Wandel des industriellen Gesundheitsökosystems anzubahnen.

Brüssel, den 29. September 2021

Vorsitzender der Beratenden Kommission für den industriellen Wandel

Pietro Francesco DE LOTTO


(1)  Studie des Europäischen Parlaments — Impacts of the COVID-19 pandemic on EU industries.

(2)  Eurostat — Statistik zum Gesundheitspersonal.

(3)  Internationaler Warenhandel nach Warenkategorien.

(4)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine Arzneimittelstrategie für Europa“ (ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 53).

(5)  Fragen und Antworten: Das Programm EU4Health 2021–2027.

(6)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine neue Industriestrategie für Europa“ (ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 108).

(7)  Stellungnahme des EWSA zu der Umstellung auf eine grüne und digitale Wirtschaft in Europa (ABl. C 56 vom 16.2.2021, S. 10).

(8)  z. B. Platin zur Erzeugung von sauberem Wasserstoff, Silizium für Solarzellen und Lithium für Elektrofahrzeuge.

(9)  Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für künstliche Intelligenz und zur Änderung bestimmter Rechtsakte der Union (COM(2021) 206 final).

(10)  Mitteilung „Eine europäische Datenstrategie“ (COM(2020) 66 final).

(11)  Vorschlag für eine Verordnung über europäische Daten-Governance (Daten-Governance-Gesetz) (COM(2020) 767 final).

(12)  Stellungnahme des EWSA zum Thema „Eine neue Industriestrategie für Europa“ (ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 108).

(13)  Sozialorientierte Beschaffung — Ein Leitfaden für die Berücksichtigung sozialer Belange im öffentlichen Beschaffungswesen — Zweite Ausgabe (ABl. C 237 vom 18.6.2021, S. 1).

(14)  Stellungnahme des EWSA zum „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Aktionsprogramm der Union im Bereich der Gesundheit 2021–2027“ (ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 251).

(15)  Strukturierter Dialog über die Sicherheit der Arzneimittelversorgung.

(16)  Kommission veröffentlicht öffentliche Konsultation zum europäischen Raum für Gesundheitsdaten.

(17)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A52020DC0761.

(18)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?qid=1593086905382&uri=CELEX:52020DC0102.

(19)  Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union.


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/77


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen zum Thema ‚Der globale Ansatz für Forschung und Innovation — Europas Strategie für internationale Zusammenarbeit in einer sich verändernden Welt‘“

(COM(2021) 252 final)

(2022/C 105/11)

Berichterstatterin:

Neža REPANŠEK

Befassung

Europäische Kommission, 1.7.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständiges Arbeitsorgan

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

30.9.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

231/0/4

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt, dass die EU in der internationalen Zusammenarbeit bei Forschung und Innovation eine Führungsrolle übernehmen und deren Offenheit wahren, zugleich jedoch ihren Grundwerten treu bleiben und keine Abstriche bei fairem Wettbewerb und Gegenseitigkeit machen will.

1.2.

Der EWSA begrüßt die Schlussfolgerungen der am 20. Oktober 2020 in Bonn auf der Ministerkonferenz zum Europäischen Forschungsraum (EFR) angenommenen „Bonner Erklärung zur Freiheit der wissenschaftlichen Forschung“, die wegweisend für eine dynamische Forschungs- und Innovationslandschaft ist, die auf die Gewinnung neuer Erkenntnisse und das Wohl der Gesellschaft abzielt. Der EWSA unterstützt, dass diese Grundsätze künftig auch international angewandt werden sollen.

1.3.

Der EWSA hält es für notwendig, dass die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten die zivilgesellschaftlichen Organisationen bei der Konzipierung von außerordentlichen Maßnahmen und Sonderprogrammen (etwa für Karrieremobilität, Gewinnung/Bindung von Forschern, angewandte Forschungs- und Innovationsergebnisse für die Unternehmenskultur der europäischen KMU) stärker einbeziehen, da diese einen Mehrwert für die EU erbringen, der sich in den kommenden Jahrzehnten in dem ehrgeizig angelegten europäischen Forschungsraum (1) bezahlt machen könnte. Insbesondere gilt es, die Lehren der Pandemie und die Auswirkungen des Klimawandels auf Gesellschaft und Volkswirtschaft sowie die Notwendigkeit zu berücksichtigen, den umfassenden Transfer von Wissen und Technologie durch den digitalen Wandel in der Forschung sicherzustellen. Durch die Pandemie ist die gesundheitspolitische Zusammenarbeit in den Vordergrund gerückt. Ihr Schwerpunkt muss auf der Versorgung mit Gesundheitsdiensten, der möglichst raschen Verbesserung und Stärkung des Gesundheitswesens sowie der Zusammenarbeit zwischen den Gesundheitsfachkräften liegen, denn durch Zusammenarbeit können auch sehr komplexe gesundheitspolitische Probleme gelöst werden.

1.4.

Der EWSA hält es für wichtig, die führende Rolle der EU bei der Unterstützung multilateraler Forschungs- und Innovationspartnerschaften zu stärken, um neue Lösungen für die Herausforderungen in den Bereichen Umwelt, Digitalisierung, Gesundheit, Soziales und Innovation zu finden, auch vor dem Hintergrund der derzeitigen Auswirkungen von COVID-19 auf die europäischen Gesundheitssysteme, Gesellschaften und Unternehmen sowie die Weltwirtschaft.

1.5.

Um konkret zum Ziel einer stärkeren EU in der Welt beizutragen, fordert der EWSA, dass die Organisationen der Zivilgesellschaft auf europäischer und nationaler Ebene angemessen in die Arbeit der Europäischen Kommission zur Überwachung der Maßnahmen einbezogen werden, wie sie in ihrer Mitteilung dargelegt hat. Mit Blick auf das geplante EFR-Forum für den Übergang schlägt der EWSA vor, gemeinsame Maßnahmen europäischer und einzelstaatlicher Institutionen durch einen vorläufigen Bericht des Wissensnetzwerks der Zivilgesellschaft zu unterstützen, der 2022 auf einer internationalen Konferenz vorgelegt und erörtert werden soll.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Im globalen Ansatz für Forschung und Innovation (FuI) wird die Perspektive der Kommission für Europas Strategie in Sachen internationale Zusammenarbeit bei Forschung und Innovation formuliert. Die Strategie zielt auch auf die Stärkung von Partnerschaften ab, damit neue Lösungen für die Herausforderungen in den Bereichen Umwelt, Digitalisierung, Gesundheit, Soziales und Innovation gefunden werden können.

2.2.

Die neue Strategie hat zwei Hauptziele. Erstens sollen auf Regeln und Werten beruhende Rahmenbedingungen für Forschung und Innovation geschaffen werden, die offen sind, damit Forscher und Innovatoren weltweit in multilateralen Partnerschaften zusammenarbeiten und Lösungen für globale Herausforderungen finden können. Zweitens sollen Gegenseitigkeit und gleiche Ausgangsbedingungen in der internationalen Forschungs- und Innovationszusammenarbeit sichergestellt werden.

2.3.

Der neue globale Ansatz sollte umgesetzt werden durch:

flexible Gestaltung der bilateralen Zusammenarbeit der EU im Bereich Forschung und Innovation, um diese Zusammenarbeit auf die europäischen Interessen und Werte abzustimmen und die offene strategische Autonomie der EU zu stärken;

Mobilisierung von Wissenschaft, Technologie und Innovation zur Beschleunigung einer nachhaltigen und inklusiven Entwicklung und zur Förderung des Übergangs zu einer belastbaren, wissensbasierten Gesellschaft und Wirtschaft in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen;

Bündelung der Maßnahmen der EU, der Finanzinstitute und der Mitgliedstaaten in Initiativen, die nach dem Konzept „Team Europa“ gestaltetet sind, um die Effektivität und Wirkung der Maßnahmen zu maximieren.

2.4.

Die Mitteilung soll auch als Richtschnur für die Umsetzung der internationalen Dimension des neuen EU-Programms für die zivile Forschung und Innovation „Horizont Europa“ und seiner Synergien mit anderen EU-Programmen dienen, insbesondere mit dem Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit — Europa in der Welt.

3.   Bekenntnis der EU zu internationaler Offenheit und Grundwerten in Forschung und Innovation

3.1.

Um ihre Führungsrolle behaupten zu können, muss die EU darauf achten, dass ihr Forschungs- und Innovationsprogramm der Welt auch in Zukunft offensteht. Das bedeutet, dass Teilnehmer aus der ganzen Welt unabhängig von ihrem Unternehmensstandort oder Wohnsitz in der Lage sein sollten, an EU-Programmen wie Erasmus+ und Horizont Europa teilzunehmen. Darüber hinaus sollten die Achtung und das gemeinsame Verständnis der Werte in der Forschung in allen internationalen Partnerschaften weiter gefördert und umgesetzt werden.

3.2.

Auf der Grundlage des „Europäischen Verhaltenskodex für die Integrität der Forschung“ (2) unterstreicht der EWSA in seiner Stellungnahme „Ein neuer EFR für Forschung und Innovation“ (3), dass der Grundsatz der wissenschaftlichen und ethischen Integrität in die Forschung einbezogen werden muss, um die menschliche Gesundheit zu schützen sowie finanzielle Verluste und wissenschaftliche Misserfolge zu vermeiden. In der Mitteilung wird beschrieben, was die EU zum Schutz der gemeinsamen Grundwerte bei der Bewältigung ethischer Herausforderungen und der Gewährleistung einer am Menschen orientierten technologischen Innovation unternehmen muss.

3.3.

Akademische Freiheit, institutionelle Autonomie, ethische Aspekte und Integrität der Forschung, empirische Grundlagen, Geschlechtergleichstellung, Vielfalt und Inklusivität sollten durchgängig berücksichtigt werden und ein die internationale Forschungszusammenarbeit einfließen. Der EWSA unterstützt ausdrücklich ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Geschlechtern, Geschlechtergleichstellung, Befähigung und Teilhabe junger Menschen und deren Inklusion sowie Vielfalt in der weltweiten Innovationsforschung. Ein inklusives und unterstützendes Umfeld für die Forschung, das frei von politischer Einflussnahme ist, sowie Möglichkeiten für die Forschung sollten auf allen Ebenen gefördert werden. Der EWSA begrüßt die Initiative der Europäischen Kommission, Leitlinien für den Umgang mit ausländischer Einflussnahme auf Forschungseinrichtungen und Hochschuleinrichtungen in der EU zu entwickeln und zu fördern.

3.4.

Generelles Ziel der EU ist es, Datenbestände im Rahmen des Konzepts der offenen Daten und der offenen Wissenschaft „FAIR“ („findable, accessible, interoperable and reusable“), d. h. auffindbar, zugänglich, interoperabel und wiederverwendbar zu gestalten.

3.5.

Die einzelstaatliche Grundfinanzierung ist für ein angemessenes Niveau von Investitionen in Forschung und Entwicklung unumgänglich, denn nur so können die anvisierten Ziele auf dem jeweiligen Gebiet erreicht werden.

3.6.

Durch Wissenschaftsdiplomatie könnte die EU ihre Softpower einbringen, ihren wirtschaftlichen Interessen und Werten wirksamer Geltung verschaffen, der Nachfrage und dem Interesse der Partnerländer entgegenkommen und von ihrer Stärke als Motor für Forschung und Innovation profitieren. Der EWSA ist der Überzeugung, dass ein konstruktiver sozialer und zivilgesellschaftlicher Dialog auf allen Ebenen zu einer erfolgreichen Wissenschaftsdiplomatie in unseren Gemeinschaften beitragen könnte.

4.   Nachjustierung des globalen Ansatzes — gleiche Ausgangsbedingungen und Gegenseitigkeit in Forschung und Innovation

4.1.

Durch ihre Strategien und Programme fungiert die EU als wichtiger Katalysator für die Internationalisierung im Bereich Forschung und Innovation. Sie kann außerdem die Produktion einbeziehen und Wissenschaft, Nachwuchsforscher, interdisziplinäre Netze, Technologien und Innovationen mobilisieren, um einerseits eine nachhaltige und inklusive Entwicklung und andererseits den Übergang zu widerstandsfähigen, wissensbasierten Gesellschaften und Volkswirtschaften in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen zu beschleunigen. Der EWSA betont, wie wichtig private und vor allem öffentliche Investitionen in die Wissenschaft sind. Ihnen ist es zu verdanken, dass wir mit anderen globalen Forschungs- und Innovationsakteuren Schritt halten und gleichzeitig die Menschenrechte und die Grundwerte schützen zu können.

4.2.

Andere große Wissenschaftsmächte investieren heute einen höheren Anteil ihres Bruttoinlandsprodukts in die Wissenschaft als die EU. Die geopolitischen Spannungen nehmen zu, Menschenrechte und Grundwerte wie die akademische Freiheit werden infrage gestellt. Die akademische Freiheit ist aber das Rückgrat der Hochschulbildung in der EU und muss gegenüber Drittländern geschützt werden. Angesichts der jüngsten Ereignisse begrüßt und unterstützt der EWSA den Appell europäischer Hochschullehrerverbände (4), unverzüglich zu handeln und für gefährdete Forscher und Wissenschaftler, einschließlich Wissenschaftler, Studenten und Akteure der Zivilgesellschaft aus Afghanistan, insbesondere für Frauen und Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten, schnellstmöglich ergänzende legale Lösungen zu finden.

5.   Gemeinsame Bewältigung globaler Herausforderungen

5.1.

Der EWSA unterstützt voll und ganz die klare Zielrichtung des gerechten doppelten Übergangs — digitaler Wandel und Grüner Deal — sowie eine langfristig angelegte Politik zugunsten des Gesundheitswesens und einer dauerhaften Erholung nach der COVID-19-Krise. Europa muss grenzüberschreitend und in einer bisher nicht gekannten Größenordnung zusammenarbeiten, um gemeinsam mit den Partnern innovative Lösungen für den gerechten ökologischen und digitalen Wandel im Einklang mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung zu entwickeln, die Widerstandsfähigkeit, den Wohlstand und die Wettbewerbsfähigkeit Europas, insbesondere im Interesse der Kleinstunternehmen, voranzutreiben sowie das wirtschaftliche und soziale Wohlergehen zu fördern. Neben dem Engagement für die Umstellung auf eine widerstandsfähigere europäische Wirtschaft geht es darum, den Wiederaufbau so zu gestalten, dass er bei allen Menschen in Europa ankommt — das ist wichtig für die Entwicklung, die uns zu einer nachhaltigen europäischen Wirtschaft und zu neuen Beschäftigungsmöglichkeiten führen soll. Soziale Innovation kann dabei ebenfalls ein wichtiger Aspekt sein.

5.2.

Gegenseitige Offenheit, freier Austausch von Ideen und die gemeinsame Suche nach Lösungen sind für das Streben nach bzw. die Weiterentwicklung des Grundlagenwissen von wesentlicher Bedeutung. Sie gehören zu den Grundbestandteilen eines lebendigen Innovationsökosystems, denn eine Kooperation in Offenheit, die das Handeln der EU auszeichnet, findet dann in einem transformierten globalen Umfeld statt.

5.3.

Die weltweite Mobilisierung von Forschern und Innovatoren wird für das Wohlergehen der Menschen und der nachfolgenden Generationen von entscheidender Bedeutung sein. Die Pandemie führt uns gerade heute vor Augen, dass bei einer engeren internationalen Zusammenarbeit, etwa in globalen Gesundheitsbelangen, bahnbrechende Innovationen möglich sind. Die EU sollte für ihr Ziele einer offenen strategischen Autonomie einstehen, indem sie gleichzeitig ihre bilaterale Zusammenarbeit mit Drittländern in bestimmten Bereichen (5) anpasst.

5.4.

Als Reaktion auf die aktuellen globalen Tendenzen sollte die EU mit gutem Beispiel vorangehen und für den regelbasierten Multilateralismus eintreten. Die multilaterale Ordnung muss neu belebt werden, damit sie ihren Zweck erfüllt, globalen Herausforderungen gerecht wird und den lauter werdenden Forderungen der Bürger nach Transparenz, Qualität und Inklusion entspricht. Weiterhin sollte sich die EU für eine grundlegende Modernisierung wichtiger multilateraler internationaler Institutionen einsetzten. Sie sollte einen gemeinsamen Zeit- bzw. Handlungsplan für die gegenseitige Öffnung der Forschungs- und Innovationszusammenarbeit anstreben, um globale Antworten auf globale Herausforderungen zu finden und den Austausch bewährter Verfahren zu erleichtern.

5.5.

Die EU sollte danach streben, weltweit Maßstäbe bei den Nachhaltigkeitsstandards zu setzen. Dieses Anliegen sollte auch durch eine stärkere Rolle bei der internationalen Zusammenarbeit für eine „KMU-freundliche“ pränormative Forschung und Standardisierung vorangetrieben werden. Der EWSA weist darauf hin, dass den KMU in allen Bereichen des Schutzes der Rechte des geistigen Eigentums durch entsprechende Maßnahmen geholfen werden muss.

5.6.

Der EWSA unterstützt den Aktionsplan für geistiges Eigentum (6) uneingeschränkt als einen sehr guten und ganzheitlichen Ansatz zur Modernisierung des Systems des geistigen Eigentums in der EU. Die Einführung des einheitlichen Patentsystems muss zu den obersten Prioritäten gehören und wird die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in der EU erheblich verbessern.

5.7.

Einige Länder streben zunehmend nach einer technologischen Führungsrolle, indem sie zu diskriminierenden Maßnahmen greifen und nicht selten Forschung und Innovation instrumentalisieren, um globalen Einfluss und soziale Kontrolle zu erlangen. Neben Wohlstand und wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit muss sich die EU auch verstärkt darum bemühen, unverzichtbare und sichere Technologien und Dienste für ihre Bürger aus eigener Kraft zu beschaffen bzw. bereitzustellen. Die EU sollte bei der Entwicklung neuer globaler Normen, internationaler Standards und Kooperationsrahmen in Bereichen wie der Digitalisierung, einschließlich künstlicher Intelligenz und sonstiger neuer Technologien, eine Vorreiterrolle übernehmen. Die demokratische und regulatorische Stärke der EU ist ein strategischer Vorteil, der zum Aufbau einer besseren Welt genutzt werden kann. Mit ihrer Glaubwürdigkeit als Friedensakteur und ihren Sicherheits- und Verteidigungsstrukturen kann sie zur Unterstützung multilateraler Bemühungen um die Erhaltung, Förderung und Konsolidierung des Friedens beitragen.

5.8.

Seit seiner ersten Stellungnahme zum Thema künstliche Intelligenz von 2017 (7) beteiligt sich der EWSA als Vordenker in der Debatte über künstliche Intelligenz (KI). In den vergangenen Jahren hat er eine Reihe von Stellungnahmen (8) zu diesem Thema verabschiedet. Er hat sich für einen Ansatz der Steuerung durch den Menschen („Human-in-command“) für KI ausgesprochen, bei dem sowohl die technische Kontrolle in der Hand des Menschen bleibt als auch die Entscheidung darüber, wann und wie KI in unserer Gesellschaft insgesamt genutzt werden soll. Auch die Auswirkungen der KI auf die Beschäftigung, die notwendige Ausgewogenheit zwischen Regulierung, Selbstregulierung und ethischen Leitlinien sowie die Auswirkungen der KI auf die Verbraucher müssen im Blickpunkt stehen. Der EWSA erarbeitet derzeit eine Stellungnahme zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für ein Gesetz über künstliche Intelligenz (9).

5.9.

Die Präsenz der EU als globale Kraft beruht auch darauf, dass ihr auswärtiges Handeln im Einklang mit der internen Politik in jedem Mitgliedstaat steht. Die EU muss darauf achten, dass sie mit einer Stimme spricht und eindeutige Botschaften sendet, wenn sie unsere Partnerschaften und Allianzen mit Drittländern festigen, multilaterale und regionale Organisationen unterstützen und einen stärker interessenorientierten Ansatz für globale öffentliche Güter verfolgen will.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Vermerk der Präsidentschaft an den Rat: Renewing the European Research Area — how to prepare the roll out of an ambitious ERA fit for the next decade? and New European Research Area: Council adopts conclusions — Pressemitteilung, 1. Dezember 2020.

(2)  The European Code of Conduct for Research Integrity, www.allea.org (accessed 6 June 2021).

(3)  Stellungnahme des EWSA, A new European Research Area (ERA) for Research and Innovation, (ABl. C 220 vom 9.6.2021, S. 79).

(4)  https://www.scholarsatrisk.org/2021/08/urgent-appeal-to-european-governments-and-eu-institutions-take-action-for-afghanistans-scholars-researchers-and-civil-society-actors/

(5)  Integrationszusammenarbeit mit EFTA-Ländern, dem westlichen Balkan, der Türkei, den Ländern der europäischen Nachbarschaftspolitik sowie dem Vereinigten Königreich, Vertiefung der EU-Partnerschaften mit Afrika, Lateinamerika und weiteren Regionen usw.

(6)  EWSA-Stellungnahme „Aktionsplan für geistiges Eigentum“, (ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 59).

(7)  ABl. C 288 vom 31.8.2017, S. 1.

(8)  ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 1; ABl. C 440 vom 6.12.2018, S. 51; ABl. C 240 vom 16.7.2019, S. 51; ABl. C 47 vom 11.2.2020, S. 64; ABl. C 364 vom 28.10.2020, S. 87.

(9)  INT/940 — Verordnung über künstliche Intelligenz (ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 61).


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/81


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum „Vorschlag über eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 im Hinblick auf die Schaffung eines Rahmens für eine europäische digitale Identität“

(COM(2021) 281 final — 2021/0136 (COD))

(2022/C 105/12)

Berichterstatter:

Tymoteusz Adam ZYCH

Befassung

Europäisches Parlament, 8.7.2021

Rat, 15.7.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

30.9.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

229/2/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den neuen Vorschlag der Europäischen Kommission für ein Instrument zur Änderung der eIDAS-Verordnung. Diese Änderung erfolgt im Hinblick auf die Schaffung eines Rahmens für eine europäische digitale Identität, um die Verordnung an die aktuellen Markterfordernisse anzupassen. Eine Bewertung der geltenden Verordnung hat gezeigt, dass bessere Lösungen für digitale Dienste gefunden werden müssen, die den Zugang sowohl zu öffentlichen Diensten als auch zu privaten Dienstleistungen erweitern und die der überwiegenden Mehrheit der europäischen Bürger und Einwohner zur Verfügung stehen.

1.2.

Der EWSA warnt davor, dass die vorgeschlagene Digitalisierung von Dienstleistungen auch dazu führen kann, dass Teile der europäischen Gesellschaft ausgeschlossen werden, insbesondere ältere Menschen, Menschen mit geringer digitaler Kompetenz und Menschen mit Behinderungen. Daher ersucht der EWSA die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten, den notwendigen Rahmen für die digitale Bildung und eine entsprechende Informationskampagne zu schaffen, um auf diesem Weg auch das Bewusstsein für den Schutz personenbezogener Daten zu schärfen.

1.3.

Der EWSA begrüßt, dass die Nutzung der Brieftasche für die europäische digitale Identität freiwillig und kostenlos sein wird. Die Einführung neuer digitaler Lösungen ist jedoch zwangsläufig mit einem erheblichen Zeit- und Kostenaufwand verbunden. Zur Vermeidung negativer Auswirkungen auf den Markt fordert der EWSA die Europäische Kommission daher auf, den tatsächlichen Zeitaufwand für die Umsetzung der neuen Verordnung genauer zu prüfen und in der Verordnung die zu erwartenden Kosten der Umsetzung eingehender zu analysieren und klarer darzulegen.

1.4.

Der EWSA stellt fest, dass im vorgeschlagenen Abschnitt 9 der Verordnung die grenzüberschreitende Anerkennung einer in einem Mitgliedstaat ausgestellten qualifizierten elektronischen Attributsbescheinigung verpflichtend vorgesehen ist. Angesichts der oft erheblichen Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften hält es der EWSA jedoch für erforderlich, klarzustellen, dass die Anerkennung einer in einem Mitgliedstaat ausgestellten qualifizierten elektronischen Attributsbescheinigung auf die Bestätigung der tatsächlichen Umstände beschränkt ist. Diese Klarstellung würde analog zu Artikel 2 Absatz 4 der Verordnung (EU) 2016/1191 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Förderung der Freizügigkeit von Bürgern durch die Vereinfachung der Anforderungen an die Vorlage bestimmter öffentlicher Urkunden innerhalb der Europäischen Union und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 (1) erfolgen: „Diese Verordnung gilt nicht für die in einem Mitgliedstaat vorgenommene Anerkennung rechtlicher Wirkungen des Inhalts öffentlicher Urkunden, die von den Behörden eines anderen Mitgliedstaats ausgestellt wurden.“

1.5.

Aus Sicht des EWSA ist ein wirksamer Datenschutz im Zusammenhang mit dem Schutz der Grundrechte, insbesondere des Rechts auf Privatsphäre und des Rechts auf den Schutz personenbezogener Daten, ein zentrales Anliegen. Daher unterstützt der EWSA voll und ganz die Anforderung, dass der EUid-Rahmen den Nutzern die Mittel an die Hand geben sollte, mit denen kontrolliert werden kann, wer Zugang zum eigenen digitalen Zwilling hat und auf welche Daten im Einzelnen zugegriffen werden kann. Der EWSA ruft die Kommission und die Mitgliedstaaten dazu auf, im Anschluss an Konsultationen zu den technischen Aspekten des Rahmens für eine europäische digitale Identität die Einrichtung eines Registers aufzunehmen, mit dessen Hilfe die Nutzer jeden Zugriff auf ihre Daten überprüfen können.

1.6.

Der EWSA möchte auf Sicherheitsaspekte im Zusammenhang mit der Digitalisierung hinweisen, insbesondere mit Blick auf die Entwicklung der Systeme zur Speicherung und Verarbeitung von Massendaten und deren Anfälligkeit für Betrug und Datenverlust. Auch ist sich der EWSA dessen bewusst, dass es derzeit kein Sicherheitssystem mit einem hundertprozentigen Datenschutz gibt. Daher ist der EWSA der Ansicht, dass den Nutzerinnen und Nutzern von Brieftaschen für die europäische digitale Identität eine Entschädigung für unerwünschte Situationen im Zusammenhang mit ihren Daten (z. B. Datendiebstahl oder Offenlegung) garantiert werden sollte. Diese Haftungsverpflichtung sollte unabhängig von einem schuldhaften Handeln des Anbieters bestehen.

2.   Einführung

2.1.

Gegenstand dieser Stellungnahme ist der Vorschlag der Kommission für eine Verordnung zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates (2) („eIDAS-Verordnung“) im Hinblick auf die Schaffung eines Rahmens für eine europäische digitale Identität.

2.2.

Laut Begründung böte die eIDAS-Verordnung folgenden Schutz und folgende Vorteile: (1) Zugang zu hochsicheren und vertrauenswürdigen Lösungen für die elektronische Identität, (2) Gewährleistung, dass sich öffentliche und private Dienste auf vertrauenswürdige und sichere Lösungen für die digitale Identität stützen können, (3) Gewährleistung, dass natürliche und juristische Personen in der Lage sind, Lösungen für die digitale Identität zu nutzen, (4) Garantie, dass die Lösungen mit vielfältigen Attributen verknüpft sind und einen gezielten Austausch von Identitätsdaten ermöglichen, der auf den Bedarf des jeweils verlangten Dienstes beschränkt bleibt, sowie (5) Akzeptanz qualifizierter Vertrauensdienste in der EU und Erbringung zu gleichen Bedingungen. Die vorgeschlagenen Änderungen sind eine Reaktion auf den steigenden Bedarf an vertrauenswürdigen grenzübergreifenden digitalen Lösungen mit dem erforderlichen hohen Sicherheitsniveau bei der Identifizierung und Authentifizierung.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA ist sich der im Binnenmarkt bestehenden neuen Anforderungen im Zusammenhang mit der Entwicklung elektronischer Identifizierungs- und Vertrauensdienste für elektronische grenzüberschreitende Transaktionen bewusst. Die bestehenden Lösungen der eIDAS-Verordnung, die seit Juli 2016 Rechtswirkung in verschiedenen Phasen der Umsetzung entfaltet, erfüllen diese Anforderungen nicht. Das zeigt sich daran, dass derzeit lediglich 59 % der Einwohnerinnen und Einwohner der EU über einen Zugang zu vertrauenswürdigen und sicheren eID-Lösungen verfügen. Darüber hinaus ist die grenzüberschreitende Nutzbarkeit derartiger Dienste aufgrund der mangelnden Interoperabilität zwischen den von den einzelnen Mitgliedstaaten angebotenen Systemen begrenzt.

3.2.

Aus diesem Grund begrüßt der EWSA den neuen Vorschlag der Kommission für ein Instrument zur Änderung der eIDAS-Verordnung mit Blick auf die Schaffung eines Rahmens für eine europäische digitale Identität, mit dem die Verordnung an die aktuellen Markterfordernisse angepasst werden soll. Es wird davon ausgegangen, dass die im Kommissionsdokument vorgeschlagenen Lösungen dazu beitragen könnten, den Anteil der Nutzer digitaler Personalausweise auf bis zu 80 % oder sogar 100 % aller EU-Bürger und -Einwohner zu erhöhen.

3.3.

Der EWSA begrüßt insbesondere die Lösungen, die auf eine Erhöhung der Sicherheit der personenbezogenen Daten der Nutzer abzielen, indem der Ermessensspielraum bei der Weitergabe der Daten gewährleistet und die Möglichkeit geschaffen wird, Art und Umfang der den vertrauenden Beteiligten zur Verfügung gestellten Daten zu kontrollieren. Da die Mitgliedstaaten dem Vorschlag zufolge die Kontrolle über die Anbieter digitaler Dienste behalten, würden sie gewährleisten, dass sensible Datensätze (mit z. B. Informationen über Gesundheit, Religion und Weltanschauung, politische Meinungen, Rasse oder ethnische Herkunft) nur auf Antrag von Diensteanbietern bereitgestellt werden, nachdem der Identitätsinhaber im Einklang mit dem geltenden nationalen Recht eine Entscheidung in voller Kenntnis der Sachlage getroffen hat.

3.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass der Zeitplan für das Inkrafttreten verschiedener Bestimmungen der neuen Verordnung recht optimistisch ist. Er fordert die Europäische Kommission auf, bei der Festlegung der endgültigen Fristen für die Anwendung auch zu berücksichtigen, dass die Dienstleister Zeit benötigen, um ihre IT-Systeme entsprechend den neuen Verpflichtungen umzurüsten. Der EWSA empfiehlt der Europäischen Kommission daher, zu prüfen, wie viel Zeit für die Umsetzung der neuen Verordnung tatsächlich benötigt wird, und den Zeitplan für ihre Anwendung so zu verlängern, dass Beeinträchtigungen des entsprechenden Markts vermieden werden. Beispielsweise müssen die bestehenden qualifizierten Vertrauensdiensteanbieter, die Fernsignaturen auf der Grundlage einer qualifizierten Fernsignaturerstellungseinheit anbieten, mit Inkrafttreten der Verordnung qualifizierte Anbieter für diesen speziellen Dienst werden. Sowohl die Umsetzung der technischen Aspekte als auch die Zulassung erfordern Zeit.

3.5.

Der EWSA stellt fest, dass die vorgeschlagene Digitalisierung von Dienstleistungen unabhängig von ihren Vorteilen auch dazu führen kann, dass Teile der europäischen Gesellschaft ausgeschlossen werden, insbesondere ältere Menschen, Menschen mit geringer digitaler Kompetenz und Menschen mit Behinderungen. Der EWSA ist sich der zentralen Rolle der Bildung der europäischen Bürger zur Verhinderung einer derartigen Ausgrenzung bewusst. Gleichzeitig sollte durch Bildung das Bewusstsein für den Schutz personenbezogener Daten geschärft werden.

4.   Rahmen für eine europäische digitale Identität (EUid-Rahmen): Verfügbarkeit und Anwendung nach Ermessen

4.1.

Der EWSA begrüßt das Vorhaben, bessere Lösungen für digitale Dienste anzubieten, die den Zugang nicht nur zu öffentlichen Diensten, sondern auch zu privatwirtschaftlichen Dienstleistungen erweitern. Darüber hinaus befürwortet der EWSA die Bemühungen der Europäischen Kommission, der überwiegenden Mehrheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger einen EUid-Rahmen zur Verfügung zu stellen. Aufgrund der bestehenden Hindernisse für den grenzüberschreitenden Zugang zu eID-Diensten (z. B. mangelnde Interoperabilität zwischen den von den Mitgliedstaaten entwickelten eID-Systemen) nutzen viele EU-Einwohnerinnen und -Einwohner diese gar nicht. Die neuen Lösungen auf der Grundlage der Brieftaschen für die europäische digitale Identität (EUid-Brieftaschen) können dazu beitragen, dass vertrauenswürdige Online-Dienste für wenigstens 80 % der Europäerinnen und Europäer verfügbar werden.

4.2.

Daher unterstützt der EWSA den Vorschlag, die Mitgliedstaaten zur Ausstellung von EUid-Brieftaschen zu verpflichten. Den Nutzern sollen sie Folgendes bringen: (1) das sichere, für den Nutzer transparente und nachvollziehbare Anfordern und Erhalten, Speichern, Auswählen, Kombinieren und Weitergeben der erforderlichen gesetzlichen Personenidentifizierungsdaten und elektronischen Attributsbescheinigungen, um sich on- und offline zur Nutzung öffentlicher und privater Online-Dienste zu authentifizieren, sowie (2) die Unterzeichnung von Dokumenten mit einer qualifizierten elektronischen und EU-weit akzeptierten Signatur.

4.3.

Darüber hinaus begrüßt der EWSA, dass sichergestellt werden soll, dass die EUid-Brieftasche gemäß den Bestimmungen des Anhangs I der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates (3), der mit dem in Artikel 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz der Nichtdiskriminierung in Einklang steht, Menschen mit Behinderungen gleichermaßen zugänglich gemacht wird. Um hier eine digitale Ausgrenzung zu verhindern, schlägt der EWSA vor, auf der Grundlage eines Multi-Stakeholder-Ansatzes und in Zusammenarbeit mit den entsprechenden Institutionen und nichtstaatlichen Organisationen, die Menschen mit Behinderungen vertreten, geeignete Lösungen auszuarbeiten.

4.4.

Positiv bewertet der EWSA weiterhin, dass es im Ermessen der Bürgerinnen und Bürger sowie der Einwohnerinnen und Einwohner liegen wird, ob sie eine EUid-Brieftasche nutzen wollen. Nach Auffassung des EWSA sollte auf die Nutzerinnen und Nutzer keinerlei Zwang zur Verwendung der Brieftasche beim Zugang zu privaten oder öffentlichen Dienstleistungen ausgeübt werden. Es sollte bei einer freiwilligen Nutzungsoption bleiben.

4.5.

Der EWSA begrüßt außerdem, dass die Nutzung der EUid-Brieftasche für die Nutzerinnen und Nutzer kostenlos und damit erschwinglich sein wird. Der EWSA fordert die Europäische Kommission jedoch auf, in der Verordnung nach weiterer Prüfung mit Blick auf die folgenden Aspekte Klarheit zu schaffen: i) die Kosten der Ausstellung für natürliche Personen, ii) die Kosten (Ausstellung und Nutzung) für juristische Personen und iii) die Kosten für die Hinzufügung von Attributen der digitalen Identität zu einer derartigen Brieftasche. Nach Ansicht des EWSA würde jede derartige Hinzufügung einen Vertrauensdienst darstellen, der für die Eigentümerin bzw. den Eigentümer der Brieftasche mit Unkosten einherginge.

5.   Nutzbarkeitsaspekte eines EUid-Rahmens

5.1.

Der EWSA begrüßt die Initiative der Europäischen Kommission zur Verbesserung der Nutzbarkeit elektronischer Identifizierungsmittel durch die Schaffung eines gemeinsamen EUid-Rahmens mithilfe grenzüberschreitend nutzbarer EUid-Brieftaschen.

5.2.

Dem Vorschlag zufolge kann die Nutzbarkeit durch die in dem neuen Artikel 12b der eIDAS-Verordnung vorgesehenen Mittel verbessert werden, die eine Reihe von Anforderungen an die Anerkennung von EUid-Brieftaschen enthalten. Diese richten sich nicht nur an die Mitgliedstaaten, sondern auch an private vertrauende Beteiligte, die Dienste erbringen, sowie an „sehr große Online-Plattformen“, die in Artikel 25 Absatz 1 des vorgeschlagenen Gesetzes über digitale Dienste definiert werden (4). Diesen neuen Bestimmungen zufolge sollte in einigen privaten Branchen (Verkehr, Energie, Bank- und Finanzdienstleistungen, soziale Sicherheit, Gesundheit, Wasserversorgung, Postdienste, digitale Infrastruktur, Bildung und Telekommunikation), bei denen nach nationalem oder Unionsrecht oder aufgrund vertraglicher Verpflichtungen eine starke Nutzerauthentifizierung für die Online-Identifizierung erforderlich ist, die Nutzung von EUid-Brieftaschen für die Erbringung von Diensten akzeptiert werden. Durch den Kommissionsvorschlag würde diese Anforderung somit auch für die sehr großen Online-Plattformen (z. B. soziale Netzwerke) gelten. Sie sollten die Nutzung von EUid-Brieftaschen in Bezug auf die Mindestattribute akzeptieren, die für die Authentifizierung bei bestimmten Online-Diensten erforderlich sind, wie etwa einen Altersnachweis.

5.3.

Der EWSA weist darauf hin, dass zur Sicherstellung einer breiten Verfüg- und Nutzbarkeit elektronischer Identifizierungsmittel, einschließlich EUid-Brieftaschen, private Anbieter von Online-Diensten (die nicht als „sehr große Plattformen“ gelten) in die Entwicklung der „Verhaltensregeln“ im Rahmen von Selbstregulierungsbemühungen einbezogen werden sollten. Dies soll eine breite Akzeptanz elektronischer Identifizierungsmittel ermöglichen. Die Europäische Kommission sollte dafür zuständig sein, die Wirksamkeit und Anwendbarkeit derartiger Bestimmungen für die Nutzerinnen und Nutzer von EUid-Brieftaschen zu bewerten.

6.   Aspekte der Rechtswirkung von EUid-Brieftaschen

6.1.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag in Bezug auf die Verbesserung des Zugangs zu digitalen öffentlichen Diensten, auch mit Blick auf grenzüberschreitende Vorgänge.

6.2.

In dem vorgeschlagenen neuen Abschnitt 9 der eIDAS-Verordnung ist vorgesehen, dass eine in einem Mitgliedstaat ausgestellte qualifizierte elektronische Attributsbescheinigung in allen anderen Mitgliedstaaten als qualifizierte elektronische Attributsbescheinigung anerkannt wird.

6.3.

In Bezug auf das einzelstaatliche Recht, das in einigen Fällen erheblich voneinander abweichen kann, weist der EWSA jedoch darauf hin, dass die in einem Mitgliedstaat anhand authentischer Quellen bescheinigten Attribute auf die Bestätigung tatsächlicher Umstände beschränkt sein und keine Rechtswirkung in anderen Mitgliedstaaten entfalten sollten, es sei denn, die bescheinigten Attribute entsprechen dem nationalen Recht. Im Wesentlichen sollten analog zu den Bestimmungen der Verordnung (EU) 2016/1191 die vorgeschlagenen rechtlichen Lösungen nicht die in einem Mitgliedstaat erfolgende Anerkennung der rechtlichen Wirkung des Inhalts der von einem anderen Mitgliedstaat anhand authentischer Quellen bescheinigten Attribute berühren. Einige personenbezogene Daten (in Bezug auf die Religion oder Weltanschauung) könnten hier als Beispiel dienen. In einigen EU-Ländern kann diese Art von Information Rechtswirkung entfalten (bspw. beinhalten in Deutschland die zentralen Personendaten auch die Religionszugehörigkeit. Diese wiederum begründet die Pflicht zur Entrichtung der Kirchensteuer, ohne die eine kirchliche Heirat nicht möglich ist). Dies ist in anderen Ländern (so z. B. in Polen) nicht der Fall.

6.4.

Daher fordert der EWSA die Europäische Kommission auf, eine Klarstellung des Wortlauts von Abschnitt 9 in Erwägung zu ziehen. Es soll deutlich werden, dass die Anerkennung einer in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten qualifizierten elektronischen Attributsbescheinigung auf die Bestätigung der tatsächlichen Umstände mit Blick auf das jeweilige Attribut beschränkt ist und keine Rechtswirkung in anderen Mitgliedstaaten entfaltet — es sei denn, die bescheinigten Attribute entsprechen dem nationalen Recht.

7.   Sicherheitsaspekte

A.   Datenschutz im Rahmen der Grundrechte

7.1.

Der EWSA stellt fest, dass Bürgerinnen und Bürger sowie andere Einwohnerinnen und Einwohner aufgrund des fehlenden gemeinsamen EUid-Rahmens beim digitalen grenzüberschreitenden Austausch von Informationen über ihre Identität in den meisten Fällen Hindernissen begegnen. Insbesondere ist dann mit Hindernissen zu rechnen, wenn dieser Austausch sicher und mit einem hohen Datenschutzniveau stattfinden soll.

7.2.

Daher begrüßt der EWSA die Versuche zur Schaffung eines interoperablen und sicheren Systems auf der Grundlage von EUid-Brieftaschen, das den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten u. a. in Bezug auf die Beschäftigungssituation oder soziale Rechte verbessern kann. In diesem Zusammenhang geht der EWSA davon aus, dass mit dem neuen EUid-Rahmen beispielsweise die Möglichkeiten für die grenzüberschreitende Beschäftigung rasch vergrößert werden und die automatische Gewährung sozialer Rechte ohne zusätzliche Antragsverfahren oder sonstigen Verwaltungsaufwand ausgeweitet werden kann.

7.3.

Aus Sicht des EWSA ist ein wirksamer Datenschutz das wichtigste Anliegen im Zusammenhang mit dem Schutz der Grundrechte. Insbesondere das Recht auf Privatsphäre und das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten müssen geschützt werden.

7.4.

Daher unterstützt der EWSA voll und ganz die Anforderung, dass der EUid-Rahmen jedem die Mittel an die Hand geben wird, zu kontrollieren, wer Zugang zum eigenen digitalen Zwilling hat und auf welche Daten (auch seitens der Behörden) im Einzelnen zugegriffen werden kann. Wie im Vorschlag dargelegt, erfordert dies auch ein hohes Maß an Sicherheit bei allen Aspekten der Bereitstellung der digitalen Identität, einschließlich der Ausstellung einer EUid-Brieftasche und der Infrastruktur für die Erhebung, Speicherung und Offenlegung von Daten der digitalen Identität.

7.5.

In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA den Vorschlag, dass die Nutzerinnen und Nutzer das Recht haben, ihre Attribute selektiv offenzulegen, und zwar beschränkt auf diejenigen, die in einer bestimmten Situation erforderlich sind. In dem Vorschlag ist vorgesehen, dass die Nutzerinnen und Nutzer durch die EUid-Brieftasche in der Lage sein werden, selbst zu kontrollieren, wie viele Daten an dritte Beteiligte weitergegeben werden, und darüber informiert werden sollten, welche Attribute für die Erbringung eines bestimmten Dienstes erforderlich sind.

7.6.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag, personenbezogene Daten in Bezug auf die Bereitstellung von EUid-Brieftaschen physisch und logisch von allen anderen bei den Ausstellern von EUid-Brieftaschen gespeicherten Daten zu trennen. Er begrüßt die Anforderung, der zufolge die Anbieter qualifizierter elektronischer Attributsbescheinigungen diese im Rahmen einer separaten juristischen Person erbringen müssen.

7.7.

Neben dem zu gewährleistenden wirksamen Datenschutz ist die Datenautonomie der Nutzerinnen und Nutzer ein entscheidender Punkt. In diesem Zusammenhang würde der EWSA auch die Schaffung eines EUid-Rahmens befürworten, der auf von den Mitgliedstaaten ausgestellten rechtlichen Identitäten und der Bereitstellung qualifizierter und nicht qualifizierter digitaler Identitätsattribute beruht.

7.8.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Nutzerinnen und Nutzer im Sinne eines hohen Schutzniveaus ihrer Daten mehr Kontrolle über EUid-Brieftaschen erhalten sollten. Dazu gehört auch, dass rückverfolgt werden kann, wer auf sie zugegriffen hat. Zu diesem Zweck sollten die technischen Aspekte, die in den Beratungen nach der Annahme des Vorschlags festzulegen sind, die Einrichtung eines Registers umfassen, das es dem Nutzer ermöglicht, auf Anfrage jeden Zugriff auf seine Daten zu überprüfen.

B.   Sonstige Sicherheits- und Haftungsaspekte

7.9.

Gemäß dem Vorschlag sind in dem neuen EUid-Rahmen Mechanismen zur Verhinderung von Betrug und zur verpflichtenden Authentifizierung der Personenidentifizierungsdaten vorgesehen. Da der Vorschlag eine Bestimmung zur Überprüfung von Attributen anhand authentischer Quellen enthält, könnte er bspw. die Online-Sicherheit von Kindern verbessern, indem diese daran gehindert werden, an nicht altersgerechte Inhalte zu gelangen. Der EWSA stellt fest, dass derzeit ein derartiger wirksamer Schutz auf nationaler Ebene entweder nicht existiert oder aber extrem ineffektiv ist.

7.10.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag, dass Webbrowser die Interoperabilität mit qualifizierten Zertifikaten für die Website-Authentifizierung gemäß der eIDAS-Verordnung sicherstellen und diese unterstützen sollten. Sie sollten qualifizierte Zertifikate für die Website-Authentifizierung erkennen und anzeigen, um ein hohes Sicherheitsniveau zu bieten, sodass Website-Eigentümer ihre Identität als Eigentümer einer Website belegen können und die Nutzer die Website-Eigentümer mit großer Gewissheit identifizieren können. Gleichzeitig hält der EWSA einfache, schnelle und wirksame Beschwerdeverfahren für notwendig. Sie sollen sicherstellen, dass eine Website, die fälschlicherweise als gefährlich gekennzeichnet wurde, wieder freigegeben wird. Für alle Fälle, in denen eine Website fälschlicherweise als gefährlich eingestuft wurde, sollten auch Haftungsvorschriften festgelegt werden.

7.11.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Digitalisierung von Daten immer auch Sicherheitsfragen aufwirft. Insbesondere gilt dies für die Systeme zur Speicherung und Verarbeitung von Massendaten, die eine für Betrug und Datenverlust anfällige Informationsquelle darstellen. Der EWSA ist sich darüber hinaus auch der Tatsache bewusst, dass es derzeit kein vollständig wirksames Sicherheitssystem (d. h. frei von Lücken und Fehlern) gibt, das eine derartige Bedrohung vollumfänglich abwenden würde.

7.12.

Daher fordert der EWSA, dass die von den Mitgliedstaaten in Abstimmung mit der Kommission entwickelte technische Architektur des EUid-Rahmens durch Datensicherheits- und Datenkontrollmechanismen geschützt wird, um derartige unerwünschte Situationen im Zusammenhang mit den Nutzerdaten weitestgehend zu vermeiden. Solche Mechanismen sind beispielsweise für die Verwendung von Daten der Nutzerinnen und Nutzern wichtig, die für andere als für die ursprünglich vorgesehenen Zwecke erhoben wurden. Gleichzeitig ist der EWSA der Auffassung, dass die technische Architektur unter Berücksichtigung der Grundrechte und des Grundsatzes der Souveränität der Mitgliedstaaten entwickelt werden sollte.

7.13.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass laut Artikel 13 Absatz 1 der eIDAS-Verordnung Vertrauensdiensteanbieter für Schäden haften, die einer natürlichen oder juristischen Person vorsätzlich oder fahrlässig dadurch entstanden sind, dass die Vertrauensdiensteanbieter ihren Verpflichtungen aus dieser Verordnung und den Verpflichtungen in Bezug auf das Cybersicherheitsrisikomanagement nach Artikel 18 der vorgeschlagenen „NIS-2-Richtlinie“ (gemäß Kommissionsvorschlag) nicht nachgekommen sind. Diese Bestimmung sollte im Einklang mit den nationalen Haftungsvorschriften angewandt werden (Artikel 13 Absatz 3).

7.14.

Bezüglich der Haftung möchte der EWSA darauf hinweisen, dass Fragen im Zusammenhang mit der Definition des Begriffs „Schaden“, seiner Höhe und der fälligen Entschädigung durch das einzelstaatliche Recht geregelt werden. Nach diesen Vorschriften kann die Haftung von Vertrauensdiensteanbietern nach den einschlägigen Bestimmungen des einzelstaatlichen Rechts und der von den Anbietern festgelegten „Diensterbringungspolitik“ beschränkt werden.

7.15.

Der EWSA ist der Auffassung, dass den Nutzern von EUid-Brieftaschen für jede unerwünschte Situation mit Blick auf ihre Daten wie Datendiebstahl, Verlust, Offenlegung, Verwendung für nicht vorgesehene Zwecke usw. eine Entschädigung garantiert werden sollte. Eine derartige Haftung sollte unabhängig vom Verschulden des Anbieters alle genannten Situationen umfassen, d. h. unabhängig davon, ob der Anbieter vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat.

7.16.

Jede Art von Diebstahl, unbefugter Weitergabe oder Datenverlust (insbesondere personenbezogener Daten) kann dem Besitzer langfristig schaden. Offengelegte digitale Informationen könnten langfristig von vielen Unternehmen gegen den Willen ihres Eigentümers erworben werden. Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, nach wirksamen Mechanismen, die den Dateneigentümern in derartigen Fällen Abhilfe bieten, zu suchen bzw. diese zu entwickeln.

7.17.

Die vorgeschlagenen Lösungen des neuen Systems werden die Diensteanbieter veranlassen, ihre elektronischen Sicherheitssysteme erheblich zu verbessern, auf ein wesentlich höheres Niveau zu bringen und dabei der Cybersicherheit besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Der EWSA geht davon aus, dass dies mit erheblichen Kosten und einer Modernisierung der bestehenden IT-Infrastruktur verbunden sein wird. Die Belastung könnte für einige Dienstleister allerdings zu groß sein und sogar dazu führen, dass Dienstleister, die nicht in der Lage sind, in kurzer Zeit derartige Investitionen aufzubringen, von manchen Märkten verschwinden. Daher sollten die Kommission und die Mitgliedstaaten nach Ansicht des EWSA nach Lösungen suchen, die die entsprechenden Anbieter vor Diskriminierung schützen und einen „weichen“ Übergang ermöglichen, bspw. dadurch, dass die Möglichkeit besteht, innerhalb eines angemessenen Zeitraums die neuen Anforderungen in mehreren Phasen zu erfüllen.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Verordnung (EU) 2016/1191 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 2016 zur Förderung der Freizügigkeit von Bürgern durch die Vereinfachung der Anforderungen an die Vorlage bestimmter öffentlicher Urkunden innerhalb der Europäischen Union und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 (ABl. L 200 vom 26.7.2016, S. 1).

(2)  Verordnung (EU) Nr. 910/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 1999/93/EG (ABl. L 257 vom 28.8.2014, S. 73).

(3)  Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (ABl. L 151 vom 7.6.2019, S. 70).

(4)  COM(2020) 825 final.


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/87


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Binnenmarkt verzerrende drittstaatliche Subventionen

(COM(2021) 223 final — 2021/0114 (COD))

(2022/C 105/13)

Berichterstatter:

Maurizio MENSI

Befassung

Europäisches Parlament, 7.6.2021

Rat, 3.6.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 114 und Artikel 207 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

30.9.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

220/3/9

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Bemühungen der Kommission und teilt die Auffassung, dass die politischen Instrumente zum Schutz des EU-Markts und seiner Unternehmen gestärkt werden müssen, indem eine Lücke im Rechtsrahmen für Wettbewerb, Handel und öffentliche Auftragsvergabe geschlossen wird. Es gilt, einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten, der nicht durch ausländische Subventionen verzerrt wird.

1.2.

Der EWSA hält den Vorschlag der Kommission, der die staatliche Finanzierung von auf dem EU-Markt tätigen Unternehmen aus ausländischen Quellen betrifft und den Markt verzerren könnte, für ein nützliches und wichtiges Werkzeug. Vor diesem Hintergrund wird davon ausgegangen, dass einige Aspekte der ordnungspolitischen Maßnahmen, die bereits komplex und vielschichtig sind, einer weiteren Feinabstimmung bedürfen.

1.3.

Die im Vorschlag weit gefasste Definition des Begriffs „drittstaatliche Subvention“ kann zahlreiche Formen von Subventionen eines ausländischen Staates einschließen, auch solche steuerlicher Art. Deshalb sollte die Kommission im Interesse der Transparenz und der Vereinfachung angeben, welchen Untersuchungen sie Vorrang zu geben gedenkt und ggf. Kriterien für das Vorgehen in den verschiedenen Bereichen festlegen.

1.4.

Mit dem Vorschlag wird die Kommission mit der Überprüfung der Investitionen in der EU betraut, die von aus dem Ausland subventionierten Rechtsträgern stammen. In diesem Zusammenhang sollte die Kommission nach Ansicht des EWSA den Anwendungsbereich der Verordnung — gegebenenfalls durch Leitlinien — eindeutig klären, um die einheitliche Anwendung auf EU-Ebene zu gewährleisten und das Risiko unterschiedlicher Auslegungen in den Mitgliedstaaten, die für die Überprüfung ausländischer Investitionen zuständig sind, zu minimieren. Zu diesem Zweck schlägt der EWSA auch vor, eine Stelle einzurichten, die Unternehmen über die Vorschriften über drittstaatliche Subventionen, Anforderungen und einschlägige Meldepflichten unterrichtet.

1.5.

Vor der Einleitung eines Verfahrens bewertet die Kommission die negativen und positiven Auswirkungen der drittstaatlichen Subvention auf die Entwicklung der betreffenden wirtschaftlichen Tätigkeit. Der EWSA hält es für wichtig, dass die Kommission weitere Angaben dazu macht, wie eine solche Bewertung in der Praxis durchgeführt wird, was die positiven Auswirkungen sein können oder wann eine Abwägung gerechtfertigt ist.

1.6.

Nach Auffassung des EWSA sollte die Kommission das Verhältnis zwischen den derzeitigen Fusionskontrollvorschriften und der vorgeschlagenen neuen Regelung klären, um Zeitverluste und Diskrepanzen zu vermeiden, die zu erheblichen Belastungen für die Unternehmen führen.

1.7.

Damit die Kommission das Verfahren einleiten kann, muss der Gesamtbetrag einer drittstaatlichen Subvention den Schwellenwert von 5 Mio. EUR in drei aufeinanderfolgenden Geschäftsjahren übersteigen. Der EWSA hält diesen Schwellenwert in absoluten Zahlen für ziemlich niedrig. Er schlägt der Kommission vor, diesen zugunsten kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) anzuheben, um kleinere und unbedeutendere Fälle zu vermeiden.

1.8.

Im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe sind Untersuchungen von Amts wegen und eine umfassende Überprüfung öffentlicher Ausschreibungen eine Quelle potenzieller Risiken und Belastungen für Unternehmen, die in der EU tätig sind und hier investieren. Daher muss die Kommission die geltenden Bestimmungen so weit wie möglich vereinheitlichen und klären, um die Anwendung der neuen Vorschriften zu erleichtern, insbesondere dann, wenn sie mit den bestehenden Vorschriften konkurrieren. Dadurch wird der Verwaltungsaufwand für die EU-Unternehmen verringert.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der EWSA hält es für wesentlich, dass die EU und ihre Märkte offen und wettbewerbsfähig bleiben. Er ist der Ansicht, dass dieser Aspekt für das ordnungsgemäße und ausgewogene Funktionieren ihres sozioökonomischen Systems, die Solidität der Unternehmen und das Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger als Grundlage ihres Modells der strategischen Autonomie von entscheidender Bedeutung ist (1). Vor diesem Hintergrund ist er der Auffassung, dass das Ziel, den Binnenmarkt vor Subventionen zu schützen, die zu unlauterem Wettbewerb führen, mit einem wirksamen Instrument einhergehen muss. Dieses sollte unionsweit einheitlich angewendet werden und die Unternehmen möglichst wenig belasten.

2.2.

Am 17. Juni 2020 verabschiedete die Kommission ein Weißbuch über die Gewährleistung fairer Wettbewerbsbedingungen bei Subventionen aus Drittstaaten, um die Frage anzugehen, eine öffentliche Debatte anzustoßen und mögliche Lösungen vorzuschlagen. In diesem Weißbuch wird eine Rechtslücke in den Beihilfevorschriften der EU für Wettbewerb, Handel und öffentliche Auftragsvergabe beschrieben. Diese hindert de facto die EU daran, einzugreifen, wenn drittstaatliche Subventionen Verzerrungen im Binnenmarkt verursachen, darunter durch die Finanzierung von Zusammenschlüssen oder Angeboten in Vergabeverfahren. Darüber hinaus wurden im Weißbuch verschiedene Probleme im Zusammenhang mit dem Zugang zu EU-Finanzierungen seitens Empfängern drittstaatlicher Subventionen festgestellt, was den Wettbewerb um EU-Finanzierungen verzerren könnte. Bislang verfügt kein Mitgliedstaat über nationale Rechtsvorschriften in Bezug auf mögliche verzerrende Auswirkungen drittstaatlicher Subventionen.

2.3.

Die Frage der drittstaatlichen Subventionen ist nicht neu und wurde wiederholt auf EU-Ebene hervorgehoben. Der Rat bezog sich in seinen Schlussfolgerungen vom 11. September 2020 auf das Weißbuch der Kommission, und der Europäische Rat verlangte in seinen Schlussfolgerungen vom 1./2. Oktober 2020„weitere Instrumente […], mit denen die wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen ausländischer Subventionen im Binnenmarkt angegangen werden können“. In seinem Bericht über die Wettbewerbspolitik vom Februar 2020 forderte das Europäische Parlament die Kommission auf, geeignete Prüfinstrumente zu sondieren, „wenn der Verdacht besteht, dass ein Unternehmen aufgrund staatlicher Subventionen wettbewerbsverzerrendes Verhalten an den Tag legt oder aufgrund einer marktbeherrschenden Stellung in seinem Heimatland übermäßige Gewinne erzielt“. In einem gemeinsamen Brief an die Exekutiv-Vizepräsidenten der Kommission Vestager und Dombrovskis sowie an das Kommissionsmitglied Breton erklärten 41 Mitglieder des Europäischen Parlaments ihre entschlossene Unterstützung für ein Instrument, um „Firmen aus Drittstaaten, die substantielle staatliche Unterstützung erhalten haben“ entgegenzutreten.

2.4.

Wie im Arbeitsprogramm der Kommission für 2020/2021 angekündigt, enthält der vorliegende Verordnungsentwurf detaillierte Bestimmungen für ein neues Instrument (ein System von Ex-ante-Meldungen bzw. Meldungen der umfangreichsten und potenziell am stärksten verzerrenden Fälle, in Verbindung mit einem von Amts wegen einzuleitenden Verfahren) zur Behebung der Regelungslücke im EU-Recht, zur Sicherstellung fairer Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt und zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen. Der Verordnungsvorschlag wird auch in Ziffer 3.2.6 der Mitteilung über die Überprüfung der Handelspolitik bezüglich der Wahrung gleicher Wettbewerbsbedingungen erwähnt.

2.5.

Kurzum: Der vorgeschlagene Rechtsakt verfolgt das Ziel, Fusionen, öffentliche Aufträge und Marktverhalten ausländischer subventionierter Unternehmen, die den EU-Binnenmarkt verzerren könnten, zu untersuchen und sie gegebenenfalls mit negativen Anreizen zu belegen oder zu unterbinden. Zusammenschlüsse müssen angemeldet werden, wenn der Umsatz des betreffenden Unternehmens 500 Mio. EUR übersteigt und die beteiligten Unternehmen in den letzten drei Jahren mehr als 50 Mio. EUR ausländische finanzielle Zuwendungen erhalten haben, wenn der Auftragswert 250 Mio. EUR übersteigt und wenn ausländische subventionierte Unternehmen beteiligt sind. Ferner ist vorgesehen, dass die Kommission das Marktverhalten einschließlich Fusionen und Übernahmen eines jeden Unternehmens untersuchen kann, das in drei aufeinanderfolgenden Jahren ausländische finanzielle Zuschüsse von über 5 Mio. EUR erhalten hat.

2.6.

Aus dem Vorschlag geht hervor, dass das Problem nicht ausländische Investitionen, sondern diejenigen Subventionen sind, die den Erwerb von EU-Unternehmen erleichtern, Investitionsentscheidungen beeinflussen, den Handel mit Waren und Dienstleistungen verzerren, das Verhalten der Begünstigten beeinflussen und den Wettbewerb beeinträchtigen. Im Unterschied zu den Subventionen, für die sich die Kommission die ausschließliche Handlungskompetenz vorbehält, unterliegen ausländische Investitionen der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Diese haben jedoch immer die Möglichkeit, ausländische Investitionen aus Gründen der Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung zu kontrollieren.

2.7.

Letztgenanntes wird durch die Verordnung (EU) 2019/452 des Europäischen Parlaments und des Rates (2) geregelt, die seit dem 11. Oktober 2020 in Kraft ist. Damit wurde ein System für den Informationsaustausch zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten eingeführt und die Kontrollverfahren, sofern bereits vorgesehen, verbessert. Die Kommission kann zu den von den Mitgliedstaaten genehmigten Transaktionen Kommentare oder Stellungnahmen abgeben. Besagte Verordnung betrifft in erster Linie Investitionen in kritische Infrastrukturen und Technologien, sensible Daten und Medien. Es wurden jedoch keine Mindestschwellenwerte festgelegt, weshalb die Mitgliedstaaten fast alle Investitionen aus Drittstaaten untersuchen können.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Der Begriff der „drittstaatlichen Subventionen“ wird im Verordnungsvorschlag sehr weit gefasst (Artikel 2): er umfasst jedwede Aktivität, mit der ein Drittstaat eine finanzielle Zuwendung gewährt, die einem Unternehmen, das eine wirtschaftliche Aktivität im Binnenmarkt ausübt, einen Vorteil verschafft. Diese Zuwendung kann ein einzelnes Unternehmen, mehrere Unternehmen oder Verbände von Unternehmen betreffen. Die finanziellen Zuwendungen können unterschiedlichster Natur sein und umfassen u. a. den Transfer von Geldern oder Verbindlichkeiten, Kapitalzuführungen, Zuschüsse, Kredite, Kreditgarantien, Steueranreize, Ausgleich von Betriebsverlusten, Ausgleich für von öffentlichen Stellen auferlegte finanzielle Belastungen, Schuldenerlass, Schuldenswaps oder Umschuldung, den Verzicht auf ansonsten fällige Einnahmen oder die Bereitstellung oder den Erwerb von Waren oder Dienstleistungen.

3.2.

Die weit gefasste Definition für drittstaatliche Subventionen im Vorschlag entspricht zwar im Wesentlichen der EU-Definition für staatliche Beihilfen. Sie könnte sich jedoch auf viele unterschiedliche Formen von Subventionen und Anreizen eines Drittstaates beziehen. Dies wirft die Frage auf, ob die Kommission tatsächlich den enormen Arbeitsaufwand bewältigen kann, der in Wirklichkeit mit allen Arten von Subventionen in allen Staaten der Welt verbunden ist. Dies könnte zu Rechtsunsicherheit führen und birgt das Risiko von Rechtsstreitigkeiten, die von Wettbewerbern bei strittigen Fusionen und Unternehmenskäufen angestrengt werden könnten. Es sollte klargestellt werden, welchen Untersuchungen die Kommission Vorrang einzuräumen gedenkt und ob sie die Festlegung diesbezüglicher Kriterien in Betracht zieht, die vorab mitzuteilen sind.

3.3.

Mit dem Vorschlag wird die Kommission im Grunde mit der Überprüfung der Investitionen in der EU betraut, die von aus dem Ausland subventionierten Rechtsträgern stammen. Einige Staaten können jedoch der Auffassung sein, dass solche Entscheidungen in ihre Zuständigkeit fallen, da sie Teil der nationalen Überprüfungssysteme für ausländische Investitionen der Mitgliedstaaten sind. In diesem Zusammenhang hält es der EWSA für angebracht, dass die Kommission den Anwendungsbereich der Verordnung — gegebenenfalls durch Leitlinien — eindeutig klärt. Es gilt, ihre einheitliche Anwendung auf EU-Ebene zu gewährleisten und das Risiko unterschiedlicher Auslegungen in den Mitgliedstaaten zu minimieren. Zu diesem Zweck schlägt der EWSA auch vor, eine Stelle einzurichten, die Unternehmen über die Vorschriften über drittstaatliche Subventionen, Anforderungen und einschlägige Meldepflichten unterrichtet.

3.4.

Der Verordnungsvorschlag führt daher zu einem neuen System der Ex-ante-Kontrolle (für große Zusammenschlüsse und öffentliche Vergabeverfahren) und gleichzeitig der Ex-post-Kontrolle, das über das derzeit für Zusammenschlüsse in der EU vorgesehene System hinausgeht, wobei es zwar daran ausgerichtet ist, aber sich auch davon unterscheidet (Kapitel 3). Auch hier umfassen die anmeldepflichtigen Zusammenschlüsse Fusionen, Übernahmen und Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen, wenngleich sich die finanziellen Schwellenwerte von denen der Fusionskontrollverordnung unterscheiden.

3.5.

Die Kommission prüft, ob eine „Verzerrung des Binnenmarkts“ vorliegt (Artikel 5). Diese Prüfung beschränkt sich auf das Umfeld des betreffenden Zusammenschlusses, auch wenn dabei nicht von der Kommission verlangt wird, einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Vorgang und der Verzerrung des Binnenmarkts herzustellen. Eine Verzerrung auf dem Binnenmarkt liegt laut Vorschlag dann vor, wenn eine drittstaatliche Subvention geeignet ist, die Wettbewerbsposition des betreffenden Unternehmens im Binnenmarkt zu verbessern, und folglich der Wettbewerb im Binnenmarkt tatsächlich oder potenziell beeinträchtigt wird.

3.6.

Im Verordnungsvorschlag wird der Kommission daher breiter Ermessensspielraum eingeräumt. Als potenziell relevante Indikatoren gelten: die Höhe und die Art der Subvention, die Situation des Unternehmens und der betreffenden Märkte, der Umfang der Wirtschaftstätigkeit des Unternehmens auf dem Binnenmarkt und der Zweck, die mit ihr verbundenen Voraussetzungen und die Verwendung im Binnenmarkt der drittstaatlichen Subvention.

3.7.

Diesbezüglich wäre die Kommission befugt, die negativen Auswirkungen einer drittstaatlichen Subvention in Form der Verzerrung des Binnenmarkts gegen ihre positiven Auswirkungen „auf die Entwicklung der betreffenden wirtschaftlichen Tätigkeiten“ abzuwägen (Artikel 5). Überwiegen die positiven Auswirkungen, werden keine Maßnahmen ergriffen. In diesem Fall sollte die Kommission klarstellen, wie sie diese Bewertung in der Praxis durchführt und vor allem was die positiven Auswirkungen sein können oder wann eine Abwägung gerechtfertigt ist. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Kommission umfassende und detaillierte Leitlinien zu EU-internen Subventionen ausgearbeitet hat, die mit dem Binnenmarkt vereinbar sind.

3.8.

Wenn die Kommission zur Auffassung gelangt, dass eine drittstaatliche Subvention den Binnenmarkt verzerrt, kann sie Maßnahmen zur Wiedergutmachung des entstandenen Schadens auferlegen (Artikel 6). Die Unternehmen können auch Verpflichtungsangebote machen, um die angeblichen Verzerrungen zu beseitigen, und die Kommission kann diese Verpflichtungen für bindend erklären. Die Verpflichtungen oder Abhilfemaßnahmen können Folgendes umfassen: Bereitstellung des Zugangs zu einer Infrastruktur zu fairen und diskriminierungsfreien Bedingungen; Lizenzvergabe für Vermögenswerte, die mithilfe drittstaatlicher Subventionen erworben oder entwickelt wurden; Verringerung der Kapazitäten oder der Marktpräsenz; Verzicht auf bestimmte Investitionen; Veröffentlichung der Ergebnisse von Forschung und Entwicklung; Veräußerung bestimmter Vermögenswerte; verzinste Rückzahlung der drittstaatlichen Subvention oder die Auflösung des Zusammenschlusses.

3.9.

Diesbezüglich sollte das Verhältnis zwischen der vorgesehenen neuen Regelung und dem derzeitigen EU-Fusionskontrollsystem verdeutlicht werden. Wenngleich die Anmeldeschwellen und die inhaltliche Prüfung unterschiedlich sind, könnten viele Transaktionen bei der Kommission parallel nach beiden Regelungen angemeldet werden. Dies birgt die Gefahr unterschiedlicher Fristen und Ergebnisse und könnte die Unternehmen erheblich belasten.

3.10.

Der Verordnungsvorschlag sieht eine gesonderte Meldepflicht für öffentliche EU-Vergabeverfahren vor, deren Wert 250 Mio. EUR übersteigt (Kapitel 4). Die Unternehmen, die an einem solchen Vergabeverfahren teilnehmen, melden dem Auftraggeber alle drittstaatlichen finanziellen Zuwendungen, die sie in den drei Jahren vor dieser Meldung erhalten haben, oder sie bestätigen in einer Erklärung, dass sie in diesem Zeitraum keine drittstaatlichen finanziellen Zuwendungen erhalten haben (Artikel 28).

3.11.

Die Auftraggeber sind gehalten, diese Meldung unverzüglich an die Kommission weiterzuleiten. Diese führt innerhalb einer Frist von 60 Tagen eine Vorprüfung und innerhalb weiterer 140 Tage eine eingehende Prüfung durch. Diese Frist kann unter besonderen Umständen verlängert werden. Das öffentliche Vergabeverfahren wird durch die Meldungen nicht ausgesetzt, aber der Auftraggeber kann das Verfahren nicht abschließen und den Auftrag nicht an ein Unternehmen vergeben, das von der Kommission geprüft wird. Kommen Unternehmen der Meldung nicht nach, kann die Kommission Geldbußen von maximal 10 % des Gesamtumsatzes dieser Unternehmen verhängen. Dies ist ein ziemlich schwerfälliges Verfahren, das den Abschluss komplexer Vorgänge wie z. B. die Auftragsvergabe — die bei der Umsetzung der Pläne NextGenerationEU für die Mitgliedstaaten von entscheidender Bedeutung ist — verlangsamen könnte.

3.12.

Dank der vorgeschlagenen Verordnung kann die Kommission von sich aus tätig werden, um mögliche Verzerrungen des EU-Binnenmarkts durch eine drittstaatliche Subvention zu untersuchen (Kapitel 2). Die einzige Voraussetzung für die Einleitung eines Verfahrens durch die Kommission besteht darin, dass der Gesamtbetrag einer drittstaatlichen Subvention den Schwellenwert von 5 Mio. EUR in drei aufeinanderfolgenden Geschäftsjahren übersteigt. Dieser Schwellenwert ist in absoluten Zahlen ziemlich niedrig. Deshalb schlägt der EWSA der Kommission eine Erhöhung vor, um KMU zu schonen und kleinere und unbedeutendere Fälle zu vermeiden. Darüber hinaus ist die Kommission befugt, ausländische Finanzbeiträge bis zu 10 Jahre vor Beginn ihrer Untersuchung zu prüfen. Dabei besteht die Möglichkeit, drittstaatliche Subventionen zu prüfen, die in den 10 Jahren vor Inkrafttreten der neuen Verordnung gewährt wurden, sofern die wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen nach dem Inkrafttreten der Verordnung eintreten.

3.13.

Der Verordnungsvorschlag wird insofern maßgebliche wirtschaftliche Folgen haben, als er potenziell sämtliche Unternehmen betrifft, die Unterstützung aus Drittländern erhalten und in der EU wirtschaftlich tätig sind (dies gilt insbesondere für Fusionen und Übernahmen oder Ausschreibungen für öffentliche Aufträge oberhalb der festgelegten Schwellenwerte), wobei er sich insbesondere positiv auf alle Unternehmen auswirken wird, die keine drittstaatlichen Subventionen erhalten.

3.14.

In der Praxis kann die Kommission dank dem Vorschlag von Nicht-EU-Staaten getätigte Subventionen einer Kontrolle unterziehen. Diese ist vergleichbar mit der nach den EU-Beihilfevorschriften zulässigen Kontrolle. Dies birgt die Gefahr, dass ein bereits umfassender Rechtsrahmen weiter verkompliziert wird und die EU-Unternehmen erheblich belastet werden. Beispielsweise könnte ein und dieselbe Transaktion künftig drei unterschiedlichen Verfahren mit jeweils eigenen Verfahrensregeln und Fristen unterliegen: der Fusionskontrolle, der Überprüfung ausländischer Investitionen und der Überprüfung drittstaatlicher Subventionen im Rahmen des Vorschlags.

3.15.

Im Bereich Fusionen und Übernahmen würde die Überprüfung drittstaatlicher Subventionen den obligatorischen Anmeldungen zur Fusionskontrolle (auf Ebene der EU oder der Mitgliedstaaten) und den nationalen Anmeldungen ausländischer Investitionen hinzugefügt. Dabei besteht die Gefahr rechtlicher Anfechtungen durch die beteiligten Unternehmen.

3.16.

Im Bereich der öffentlichen Auftragsvergabe sind Untersuchungen von Amts wegen und eine umfassende Überprüfung öffentlicher Ausschreibungen eine Quelle potenzieller Risiken und Belastungen für Unternehmen, die in der EU tätig sind und hier investieren. Dies würde ausländische Investoren in der EU und Unternehmen mit Sitz in der EU betreffen, die auf Finanzbeiträge aus dem Ausland (über ausländische Investoren oder Beihilfen für bestimmte Projekte) zählen können. In diesem Fall sollten die Unternehmen alle empfangenen ausländischen Subventionen sorgfältig prüfen, um die mögliche Anwendung der neuen Vorschriften zu bewerten.

3.17.

Daher muss die Kommission die geltenden Bestimmungen so weit wie möglich vereinheitlichen und klären, um die Anwendung der neuen Vorschriften zu erleichtern, insbesondere dann, wenn sie mit den bestehenden Vorschriften konkurrieren. Zudem muss sie den Verwaltungsaufwand für die EU-Unternehmen verringern.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Mitteilung der Kommission „Die Stunde Europas — Schäden beheben und Perspektiven für die nächste Generation eröffnen“ (COM(2020) 456 final). Siehe auch die Kommissionsmitteilung „Das europäische Wirtschafts- und Finanzsystem: Mehr Offenheit, Stärke und Resilienz“ (COM(2021) 32 final).

(2)  Verordnung (EU) 2019/452 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. März 2019 zur Schaffung eines Rahmens für die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen in der Union (ABl. L 79 I vom 21.3.2019, S. 1).


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/92


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher

(COM(2021) 347 final — 2021/0171 (COD))

(2022/C 105/14)

Berichterstatter:

Bogdan PREDA

Befassung

Europäisches Parlament, 8.7.2021

Rat, 14.7.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 114 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

30.9.2021

Verabschiedung im Plenum

21.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

159/5/16

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die vorliegende Aktualisierung der Rechtsvorschriften über die Verbraucherkreditvergabe, weist jedoch darauf hin, dass die Richtlinie in einigen Bereichen ehrgeiziger sein sollte und dass ihre Ziele und die dafür vorgeschlagenen Lösungen nicht in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Der EWSA ist ferner der Ansicht, dass bei den in der Richtlinie vorgesehenen Lösungen ein größerer Schwerpunkt auf die Folgen der Digitalisierung, den Anstieg in der Nutzung digitaler Geräte und die Bereitstellung grüner Verbraucherkredite gelegt werden sollte, um die Verbraucherinnen und Verbraucher zu nachhaltigeren Käufen zu bewegen.

1.2.

Der EWSA begrüßt die Bemühungen der Europäischen Kommission zur Förderung von Kampagnen zur Finanzbildung bzw. digitalen Kompetenz, da solche Bestrebungen für Verbraucher und Kreditgeber nur nutzbringend sein können.

1.3.

Aus Erkenntnissen über die Ursachen von Überschuldung geht klar hervor, dass die Festlegung von Obergrenzen für Kreditkosten zur Verhinderung extremer Preisbildungspraktiken mit konkreten Vorteilen für schutzbedürftige Verbraucher einhergeht, sofern diese Obergrenzen nach sorgfältiger Analyse des Marktes und der möglichen Auswirkungen korrekt festgesetzt werden. Nach Ansicht des EWSA sollte die Verbraucherkreditrichtlinie daher eine klare und harmonisierte Methode vorsehen, nach der die Mitgliedstaaten solche Obergrenzen in Erwägung ziehen und anwenden können, um extreme Praktiken, die zu Überschuldung führen könnten, zu verhindern und ihnen entgegenzuwirken. Damit könnten zudem gleiche Wettbewerbsbedingungen für Kreditgeber aus verschiedenen Ländern sichergestellt werden.

1.4.

Der EWSA hält es für vorteilhaft, die Verpflichtung aller Kreditgeber zur eingehenden Prüfung der Kreditwürdigkeit der Verbraucher ausführlicher zu beschreiben. Insofern befürwortet der EWSA den Ansatz der Kommission hinsichtlich der Arten von Daten, die bei der Prüfung der Kreditwürdigkeit zu nutzen sind, einschließlich der Ausnahme bezüglich sensibler personenbezogener Daten wie Gesundheitsdaten, da es sehr wichtig ist, eine ausgeglichene Verfahrensweise sicherzustellen. In der Richtlinie sollte jedoch unbedingt hervorgehoben werden, dass selbst eine eingehende Kreditwürdigkeitsprüfung die Rückzahlung des Kredits nicht garantieren kann.

1.5.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Verbraucherkreditrichtlinie überarbeitet werden sollte, um die Gleichbehandlung aller Kreditgeber sicherzustellen, vom Zulassungsverfahren bis hin zu den operativen Vorschriften/Verpflichtungen, um gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Wettbewerber sicherzustellen.

1.6.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die Kommission die Pflichten in Verbindung mit vorvertraglichen Informationen weitergehend analysieren sollte, um einen angemessenen Ausgleich zwischen der Notwendigkeit und Relevanz der Informationen für Verbraucher und der wirksamsten und flexibelsten Art ihrer Darstellung zu schaffen, wobei auch die Digitalisierung des gesamten Verfahrens zu erwägen ist.

1.7.

Der EWSA empfiehlt, dass die Kommission den Text der Verbraucherkreditrichtlinie in Bezug auf die vorzeitige Rückzahlung präzisiert.

2.   Einleitung

2.1.

Diese Stellungnahme bezieht sich auf den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie über Verbraucherkredite zur Aufhebung der Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (1) über Verbraucherkreditverträge.

2.2.

Wie in der Begründung dargelegt, ergibt sich die Notwendigkeit einer neuen Richtlinie daraus, dass seit 2008 die Digitalisierung vorangeschritten ist und sich sowohl die Gewohnheiten der Kreditvergabe (z. B. neue Möglichkeiten, Informationen digital offenzulegen und die Kreditwürdigkeit mithilfe automatisierter Entscheidungsprozesse und nicht-traditioneller Daten zu bewerten) als auch das Profil der Kreditgeber grundlegend verändert haben. Vor dem Hintergrund der COVID-19-Krise wurde es auch notwendig, Rechtsinstrumente zur Entlastung finanziell gefährdeterer Bürger und Haushalte bereitzustellen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission, den Rechtsrahmen in Bezug auf Verbraucherkredite zu aktualisieren, da sich der Markt seit 2008 in der Tat weiterentwickelt hat und die derzeitigen Bestimmungen nicht alle Arten von Akteuren/Produkten angemessen abdecken, wodurch in manchen Bereichen kein angemessener Verbraucherschutz besteht oder bestehende Regelungen verbessert werden können.

3.2.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die beiden Hauptziele der Verbraucherkreditrichtlinie, nämlich (i) die Benachteiligung der Verbraucher bei der Kreditaufnahme in einem sich verändernden Markt zu verringern und (ii) die grenzüberschreitende Bereitstellung von Verbraucherkrediten zu erleichtern und die Wettbewerbsfähigkeit des Binnenmarkts zu stärken, eng miteinander zusammenhängen und entscheidend dafür sind, einen angemessenen Geltungsbereich und die einheitliche Anwendung der neuen Richtlinie sicherzustellen. Ein Vorschlag beispielsweise, verbindliche Obergrenzen für Verbraucherkreditkosten zu erlassen, muss in der Verbraucherkreditrichtlinie nach einer klaren Methode weiter präzisiert und harmonisiert werden. Dies ist notwendig, um ein einheitliches Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten und in der gesamten EU unverantwortliche Kreditvergabepraktiken sowie die Entwicklung von Verbraucherkreditprodukten mit Wucherzinsen oder überhöhten Kosten zu verhindern, die häufig auf die schwächsten Verbraucher abzielen und nicht selten zu Überschuldung führen können. Eine solche harmonisierte Methode ist auch erforderlich, um gleiche Wettbewerbsbedingungen für Kreditgeber aus verschiedenen Ländern sicherzustellen.

3.3.

Eine Ausweitung der Anwendung der Richtlinie und die Präzisierung einiger Begriffsbestimmungen würde für Verbraucher und Kreditgeber gleichermaßen nur Vorteile bringen und dabei auch für mehr Klarheit über die damit verbundenen Rechte und Pflichten sorgen. Außerdem ist der EWSA der Ansicht, dass der Vorschlag, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, überschuldeten und anderen vulnerablen Verbrauchern eine unabhängige Schuldenberatung anzubieten, auch Verbrauchern in schwierigen Situationen zugutekommen sollte. Darüber hinaus schlägt der EWSA vor, die Kreditgeber im Rahmen der Richtlinie zur Umsetzung von Maßnahmen zur frühzeitigen Erkennung finanzieller Schwierigkeiten anzuhalten, was auch Bestimmungen über Stundungsmaßnahmen umfasst. Mit diesen beiden Schritten ließen sich Überschuldungen verhindern und die Gläubiger dazu bewegen, Lösungen für notleidende Kreditnehmer zu finden.

3.4.

Der EWSA begrüßt die Bemühungen der Europäischen Kommission, Initiativen zur Finanzbildung bzw. digitalen Kompetenz zu fördern, um sicherzustellen, dass die Verbraucher Kreditprodukte und die Risiken, die sie mit der Aufnahme eines Kredits eingehen, angemessen verstehen. Dies ist die wirksamste Methode zur Bewahrung einer soliden Finanzlage. In dieser Hinsicht ist der EWSA der Ansicht, dass der Text der Richtlinie betreffend die Kommunikation zwischen Kreditgebern und Verbrauchern in allen Stadien der Geschäftsbeziehung angepasst werden sollte, um dem digitalen Wandel und dem Anstieg in der Nutzung digitaler Geräte Rechnung zu tragen.

3.5.

Auch begrüßt der EWSA die Bemühungen der Kommission, klare Regelungen über Finanzberatungsleistungen bei Kreditverträgen bereitzustellen. Er würde es zudem begrüßen, wenn rechtlich klar dargelegt würde, wie solche Dienstleistungen angeboten werden können.

3.6.

Der EWSA begrüßt die Initiative, die Verpflichtung aller Kreditgeber zur eingehenden Prüfung der Kreditwürdigkeit der Verbraucher ausführlicher zu beschreiben, damit geprüft wird, ob diese sich die fraglichen Kredite leisten können und die Deckung ihres Finanzbedarfs gewährleistet ist, und gleichzeitig unverantwortliche Kreditvergabepraktiken und Überschuldung verhindert werden. Die Kommission sollte jedoch nicht vergessen, dass die neuen Regelungen die Verantwortung für das tatsächliche Zahlungsverhalten der Verbraucher nicht auf die Kreditgeber abwälzen dürfen und sollten, da Verbraucher nach Kräften versuchen müssen, ihre Tilgungsverpflichtungen einzuhalten und ihre persönlichen Ausgaben gut unter Kontrolle zu haben. Der EWSA fordert die Kommission auf, den Text der Verbraucherkreditrichtlinie weitergehend zu analysieren, um klarzustellen, dass eine eingehende Kreditwürdigkeitsprüfung keine Garantie für die Rückzahlung eines Kredits darstellt. Zur Sicherung eines angemessenen Verbraucherschutzes fordert der EWSA die Kommission ferner auf, ausführlicher darzulegen, in welchen Situationen Kreditgeber unter spezifischen und gut begründeten Umständen Verbrauchern, deren Kreditwürdigkeit der Prüfung nicht standhält, trotzdem Kredite gewähren können, ohne jedoch dazu verpflichtet zu sein.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA fordert die Kommission auf, einige der neuen Begriffsbestimmungen weitergehend zu analysieren, um die Klarheit des Texts sicherzustellen. Zum Bespiel sollte die Bestimmung des Begriffs Kreditgeber überarbeitet werden, um sicherzustellen, dass das gesamte Kreditgewerbe in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt und bei der Ausübung derselben Tätigkeit der gleichen Überwachung/Zulassungspflicht unterliegt. Ferner sollten zur Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen und des gleichen Schutzniveaus für die Verbraucher alle Kreditgeber ungeachtet ihrer Rechtsform dieselben Regelungen anwenden und denselben Pflichten einschließlich Berichtspflichten unterliegen, außer bei kostenlosen Darlehen unter der Voraussetzung, dass alle Verbraucherschutzbestimmungen eingehalten werden.

4.2.

Hinsichtlich der Pflichten, die sich aus der Tätigkeit der Kreditvergabe an Verbraucher ergeben, sollte die Richtlinie ehrgeizigere Bestimmungen beinhalten, wonach für eine solche Kreditvergabetätigkeit eine Zulassung durch die zuständige Behörde erforderlich ist. Dies trägt dazu bei, einen angemessenen Verbraucherschutz, eine wirksame Kontrolle und gleiche Wettbewerbsbedingungen für die Kreditvergabe an Verbraucher sicherzustellen. Bei dem derzeit vorgeschlagenen System scheint es sich um eine Mischform aus Zulassung und Registrierung zu handeln, was aber völlig unklar bleibt.

4.3.

Hinsichtlich der besonderen Bestimmung zur Umrechnung der auf Euro lautenden Kredite in die Landeswährung fordert der EWSA die Kommission auf, Artikel 4 der Verbraucherkreditrichtlinie zur Präzisierung der Anwendung nochmals zu überarbeiten. Die vorgeschlagene Lösung steht nicht nur nicht im Einklang mit Artikel 23 der Richtlinie 2014/17/EU des Europäischen Parlaments und des Rates (2) über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher, es mangelt ihr auch an Klarheit des Zwecks/der Anwendbarkeit und der für die Umrechnung vorgeschlagenen Methode.

4.4.

Bezüglich des Diskriminierungsverbots (Artikel 6 der Verbraucherkreditrichtlinie) hat der EWSA aus verschiedenen Gründen Bedenken, dass seine Umsetzung sehr schwierig sein könnte. Im Wesentlichen betrifft das die unterschiedlichen Anforderungen auf nationaler Ebene und die Schwierigkeit, alle Überprüfungen zu erhalten, die im Rahmen des Kreditwürdigkeitsprüfungsverfahrens erforderlich sind. Hinsichtlich des Zugangs zu Datenbanken befürchtet der EWSA, dass es unter bestimmten Umständen für Kreditgeber unmöglich oder unwirtschaftlich sein könnte, direkten Zugang zu Datenbanken anderer Mitgliedstaaten zu haben, und zwar aus verschiedenen Gründen (z. B. mangelnde Nachfrage nach grenzüberschreitenden Krediten, unterschiedliche Anforderungen auf nationaler Ebene und die Schwierigkeit, alle Überprüfungen zu erhalten, die im Rahmen des Kreditwürdigkeitsprüfungsverfahrens erforderlich sind). Daher fordert der EWSA die Kommission auf, diesen Grundsatz weitergehend zu analysieren und dabei den indirekten Zugang zu solchen Datenbanken zu berücksichtigen, z. B. indem Kreditgeber die für Kreditwürdigkeitsprüfungen erforderliche Dokumentation über ihre lokale Datenbank oder ihre lokalen Steuerbehörden anfordern.

4.5.

In Bezug auf nationale Datenbanken für die Berichterstattung stellt der EWSA fest, dass die Verarbeitung von Kreditdaten während der COVID-19-Pandemie oder in ähnlichen Ausnahmesituationen Auswirkungen auf die Integrität des Kreditberichterstattungssystems und letztlich auf die Bereitstellung von Verbraucherkrediten haben könnte. Daher ruft der EWSA die Kommission auf, in der Verbraucherkreditrichtlinie die Wichtigkeit des kontinuierlichen vollständigen Austauschs von Kreditauskünften zu betonen, einschließlich der Berichterstattung über Zahlungsverzug/Zahlungsaufschub während einer Krise wie in normalen Zeiten. Ferner empfiehlt der EWSA der Kommission auch, in Übereinstimmung mit den Leitlinien der EBA für die Kreditwürdigkeitsprüfung zu bestimmen, dass die Datenbanken für die Berichterstattung mindestens Informationen über das Rückzahlungsverhalten von Verbrauchern bei ihren laufenden Kreditverträgen einschließlich etwaiger Zahlungsrückstände enthalten sollten.

4.6.

Der EWSA begrüßt die Bemühungen der Kommission, vorvertragliche Informationen für die Verbraucher zugänglicher zu machen. Nach Meinung des EWSA sollte die geeignete Lösung jedoch nicht die Schaffung eines zusätzlichen Dokuments — der „Standardübersicht über Verbraucherkredite“ — sein, das zu einer zusätzlichen Last für Verbraucher und Kreditgeber führen kann. Verbraucher könnten sich davon auch irreleiten lassen und ihre Analyse nur auf die in dieser Übersicht enthaltenen Informationen beschränken, ohne die anderen im Formular „Europäische Standardinformationen über Verbraucherkredite“ aufgeführten Informationen zu berücksichtigen. Angesichts der Notwendigkeit, auf neue digitale Methoden zu reagieren, sollte als bessere Lösung in Betracht gezogen werden, das Verfahren zur Aufnahme (und zur Durchführung) der Geschäftsbeziehung mit dem Verbraucher zu vereinfachen, unter anderem konkret, indem man digitale Möglichkeiten zur Erfüllung der Pflicht zur Bereitstellung des Formulars „Europäische Standardinformationen über Verbraucherkredite“ schafft.

4.7.

Hinsichtlich der Ausnahme von den Bestimmungen zu Kopplungs- und Bündelungsgeschäften in Bezug auf Giro- oder Sparkonten ist es äußerst fragwürdig, ob es tatsächlich im Interesse des Verbrauchers ist, diese Ausnahme nur auf Konten zu beschränken, die nur aufgrund von Anforderungen der Kredite bestehen. Gemäß dem Text sollten Kreditgeber es Verbrauchern verbieten, die fraglichen Konten neben den Anforderungen des Kredits auch für persönliche Zwecke zu nutzen. Der EWSA stimmt zu, dass der Verbraucher nicht gezwungen werden darf, ein Konto zu eröffnen, das für die Bereitstellung/Rückzahlung des Kredits nicht erforderlich ist, aber wenn ein solches Konto eröffnet wird, sollte es vom Verbraucher auch so genutzt werden können, wie er es für angemessen hält.

4.8.

In Bezug auf die Rechte der Verbraucher: wenn die Kreditwürdigkeitsprüfung ein Profiling oder eine andere automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten beinhaltet, birgt die vorgeschlagene Lösung nach Meinung des EWSA das Risiko, dass die Fähigkeit von Kreditinstituten, Bewertungsbedingungen gemäß ihrer eigenen Risikobereitschaft zu erstellen, eingeschränkt und damit die Flexibilität des Verfahrens beeinträchtigt wird. Unserer Meinung nach sollte Artikel 18 Absatz 6 gemäß den Anforderungen der DSGVO in Gänze umformuliert werden, so dass der Verbraucher die von der DSGVO eingeräumten Rechte hat, wenn die Kreditwürdigkeitsbewertung ausschließlich automatisiert durchgeführt wird und Folgen betreffend eine Privatperson hat.

4.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die vorzeitige Rückzahlung von Krediten zu den wichtigsten Bestimmungen der Richtlinie gehört, die darauf abzielt, die Wettbewerbsfähigkeit des Marktes zu fördern und Überschuldung zu bekämpfen. Er begrüßt die allgemeinen Ziele des Vorschlags, betont jedoch, dass der Text der Verbraucherkreditrichtlinie überarbeitet werden muss, um (i) die Ausübung dieses Rechts wirklich zu erleichtern und (ii) Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden, zu denen es im Zusammenhang mit der Definition von „Gesamtkosten“ gekommen ist.

4.10.

Aus Erkenntnissen über die Ursachen von Überschuldung geht klar hervor, dass die Festlegung von Obergrenzen für Kreditkosten zur Verhinderung extremer Preisbildungspraktiken mit konkreten Vorteilen für schutzbedürftige Verbraucher einhergeht, sofern diese Obergrenzen nach sorgfältiger Analyse des Marktes und der möglichen Auswirkungen korrekt festgesetzt werden. Mit einem solchen Ansatz sollte sichergestellt werden, dass die Maßnahmen für die Verbraucher wirklich vorteilhaft sind und dass gleichzeitig negative Auswirkungen vermieden werden.

4.11.

Im Einklang mit der letzten Richtlinie zum Verbraucherschutz sieht Artikel 44 der Verbraucherkreditrichtlinie vor, dass Mitgliedstaaten wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen bei Verstößen gegen die Umsetzungsregeln der Richtlinie in ihr nationales Recht einbringen müssen. Der EWSA begrüßt solche Bestimmungen, ersucht die Kommission jedoch, in der Richtlinie anzugeben, dass Verwaltungssanktionen nicht das Recht von Verbrauchern auf Schadensersatz bzw. Rückerstattung beeinträchtigen.

Brüssel, den 21. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates (ABl. L 133 vom 22.5.2008, S. 66).

(2)  Richtlinie 2014/17/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Februar 2014 über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher und zur Änderung der Richtlinien 2008/48/EG und 2013/36/EU und der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 (ABl. L 60 vom 28.2.2014, S. 34).


ANHANG

Die folgenden Textstellen der Fachgruppenstellungnahme wurden zugunsten von im Plenum angenommenen Änderungsanträgen abgelehnt, hatten jedoch mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen erhalten.

ÄNDERUNGSANTRAG 2

von:

TEDER Reet

INT/956 — Verbraucherkreditverträge

Ziffer 4.1

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Der EWSA fordert die Kommission auf, einige der neuen Begriffsbestimmungen weitergehend zu analysieren, um die Klarheit des Texts sicherzustellen. Zum Bespiel sollte die Bestimmung des Begriffs Kreditgeber überarbeitet werden, um sicherzustellen, dass das gesamte Kreditgewerbe in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt und bei der Ausübung derselben Tätigkeit der gleichen Überwachung/Zulassungspflicht unterliegt. Ferner sollten zur Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen und des gleichen Schutzniveaus für die Verbraucher alle Kreditgeber ungeachtet ihrer Rechtsform dieselben Regelungen anwenden und denselben Pflichten einschließlich Berichtspflichten unterliegen.

Der EWSA fordert die Kommission auf, einige der neuen Begriffsbestimmungen weitergehend zu analysieren, um die Klarheit des Texts sicherzustellen. Zum Bespiel sollte die Bestimmung des Begriffs Kreditgeber überarbeitet werden, um sicherzustellen, dass das gesamte Kreditgewerbe in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt und bei der Ausübung derselben Tätigkeit der gleichen Überwachung/Zulassungspflicht unterliegt. Ferner sollten zur Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen und des gleichen Schutzniveaus für die Verbraucher alle Kreditgeber ungeachtet ihrer Rechtsform dieselben Regelungen anwenden und denselben Pflichten einschließlich Berichtspflichten unterliegen , außer bei kostenlosen Darlehen unter der Voraussetzung, dass alle Verbraucherschutzbestimmungen eingehalten werden .

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

88

Nein-Stimmen:

79

Enthaltungen:

21

KOMPROMISSVORSCHLAG ZU ÄNDERUNGSANTRAG 3

von:

PREDA Bogdan

INT/956 — Verbraucherkreditverträge

Ziffer 4.10

Stellungnahme der Fachgruppe

Kompromissvorschlag

Aus Erkenntnissen über die Ursachen von Überschuldung geht klar hervor, dass Obergrenzen für Kreditkosten mit konkreten Vorteilen für Verbraucher (insbesondere die schutzbedürftigen) einhergehen .

Aus Erkenntnissen über die Ursachen von Überschuldung geht klar hervor, dass die Festlegung von Obergrenzen für Kreditkosten zur Verhinderung extremer Preisbildungspraktiken mit konkreten Vorteilen für schutzbedürftige Verbraucher einhergeht, sofern diese Obergrenzen nach sorgfältiger Analyse des Marktes und der möglichen Auswirkungen korrekt festgesetzt werden . Mit einem solchen Ansatz sollte sichergestellt werden, dass die Maßnahmen für die Verbraucher wirklich vorteilhaft sind und dass gleichzeitig negative Auswirkungen vermieden werden.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

82

Nein-Stimmen:

79

Enthaltungen:

17

KOMPROMISSVORSCHLAG ZU ÄNDERUNGSANTRAG 4

von:

PREDA Bogdan

INT/956 — Verbraucherkreditverträge

Ziffer 1.3

Stellungnahme der Fachgruppe

Kompromissvorschlag

Aus Erkenntnissen über die Ursachen von Überschuldung geht klar hervor, dass Obergrenzen für Kreditkosten mit konkreten Vorteilen für Verbraucher (insbesondere die schutzbedürftigen) einhergehen . Ein Vorschlag, verbindliche Obergrenzen für Verbraucherkreditkosten einzuführen, muss jedoch in der Verbraucherkreditrichtlinie nach einer klaren Methodik weiter präzisiert und harmonisiert werden, um gleiche Wettbewerbsbedingungen für Kreditgeber aus verschiedenen Ländern sicherzustellen .

Aus Erkenntnissen über die Ursachen von Überschuldung geht klar hervor, dass die Festlegung von Obergrenzen für Kreditkosten zur Verhinderung extremer Preisbildungspraktiken mit konkreten Vorteilen für schutzbedürftige Verbraucher einhergeht, sofern diese Obergrenzen nach sorgfältiger Analyse des Marktes und der möglichen Auswirkungen korrekt festgesetzt werden . Nach Ansicht des EWSA sollte die Verbraucherkreditrichtlinie daher eine klare und harmonisierte Methodik vorsehen, nach der die Mitgliedstaaten solche Obergrenzen in Erwägung ziehen und anwenden können, um extreme Praktiken, die zu Überschuldung führen könnten, zu verhindern und ihnen entgegenzuwirken . Damit könnten zudem gleiche Wettbewerbsbedingungen für Kreditgeber aus verschiedenen Ländern sichergestellt werden .

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

88

Nein-Stimmen:

77

Enthaltungen:

15


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/99


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die allgemeine Produktsicherheit, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 87/357/EWG des Rates und der Richtlinie 2001/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates

(COM(2021) 346 final — 2021/0170 (COD))

(2022/C 105/15)

Berichterstatter:

Mordechaj Martin SALAMON

Befassung

Europäisches Parlament, 13.9.2021

Rat, 23.8.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 114 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

30.9.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

231/0/6

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt den Vorschlag für eine Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (im Folgenden „vorgeschlagene Verordnung“), da er die geltende Richtlinie 2001/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (1) über die allgemeine Produktsicherheit (im Folgenden „geltende Richtlinie“) aktualisiert und potenziell verbessert, insbesondere was die Herausforderungen und neuen Entwicklungen im Bereich der Märkte und Technologien angeht.

1.2.

Der EWSA stellt fest, dass viele der Lehren, die in letzten 20 Jahren aus den Erfahrungen mit der Umsetzung der geltenden Richtlinie gezogen werden konnten, in der vorgeschlagenen Rahmenregelung berücksichtigt wurden. Das gibt Anlass zur Hoffnung, dass die Verbraucher einen besseren Schutz genießen werden — vor allem dann, wenn sich Produkte als unsicher erweisen. Gleichzeitig werden Wirtschaftsakteure und Online-Marktplätze höchstwahrscheinlich von klareren und harmonisierten Vorschriften profitieren.

1.3.

Der EWSA unterstützt die vorgeschlagene Verordnung, weil darin anerkannt wird, dass im Bereich der Online-Verkäufe gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen den verschiedenen Wirtschaftsakteuren — insbesondere zwischen europäischen Herstellern/KMU und ausländischen Unternehmen — geschaffen werden müssen.

1.4.

Der EWSA stellt fest, dass die Definitionen der Begriffe „Sicherheit“ und „Produkt“ aktualisiert wurden, um dem Wandel der Märkte und Technologien Rechnung zu tragen, sodass jetzt Sicherheitsrisiken verringert werden dürften, die von vernetzten und für Hackerangriffe anfälligen Produkten, fehlenden Softwareaktualisierungen und schädlichen Chemikalien ausgehen. Um die Rechtssicherheit zu erhöhen, sollten nach Auffassung des EWSA der Begriff „sichere Produkte“ und einige der Kriterien für die Sicherheitsbewertung genauer definiert werden.

1.5.

Der EWSA unterstützt die neuen Verpflichtungen für Online-Marktplätze, hat aber erhebliche Zweifel, ob der Schutz für die Verbraucher ausreichen wird, falls die Durchsetzungsmaßnahmen weiterhin vornehmlich den nationalen Durchsetzungsbehörden und nicht den Plattformen obliegen.

1.6.

Der EWSA betont, dass ein reibungsloses Zusammenspiel mit den anderen wesentlichen Rechtsakten, die dieselben oder verwandte Themen betreffen, beispielsweise mit dem Gesetz über digitale Dienste (DSA) und dem Gesetz über digitale Märkte (DMA) sowie mit der bevorstehenden Überarbeitung der Produkthaftungsrichtlinie sichergestellt werden muss, insbesondere bezüglich der Haftungsfrage bei Online-Marktplätzen.

1.7.

Der EWSA bedauert, dass in der vorgeschlagenen Verordnung nicht klargestellt wird, dass Online-Marktplätze je nach ihrer Tätigkeit und ihrer Rolle in der (digitalen) Lieferkette Einführer oder Vertreiber von Produkten sind, und dass für sie keine ähnlichen Pflichten und Verantwortlichkeiten wie für den stationären Einzelhandel festgelegt werden. Auch sollte für mehr Klarheit hinsichtlich der Haftungsgrenzen gesorgt werden.

1.8.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Marktüberwachung auf alle Verbrauchsgüter ausgeweitet werden muss und gemeinsame, koordinierte, finanziell gut ausgestattete und bereichsübergreifende Maßnahmen in ganz Europa umfassen sollte.

1.9.

Der EWSA bedauert, dass die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichtet werden, bessere Daten über Unfälle und Verletzungen zu erheben und bereitzustellen. Ohne eine EU-Verletzungsdatenbank wird es schwierig sein, eine kosteneffiziente Umsetzung sicherzustellen und anschließend korrekte Bewertungen der vorgeschlagenen Verordnung vorzunehmen. In der vorgeschlagenen Verordnung sollten daher die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, auf der Grundlage einer gemeinsamen Methodik Daten über Verletzungen durch Verbraucherprodukte zu erheben und auszutauschen.

1.10.

Der EWSA würde Maßnahmen begrüßen, die zum Ziel haben, KMU und vor allem Kleinstunternehmen bei ihren Verpflichtungen zu unterstützen, z. B. die finanzielle Unterstützung innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Dabei sollten klare und zweckdienliche Anleitungen, Beratungen und einschlägige Schulungen angeboten werden, um zu gewährleisten, dass die KMU bei ihren Anstrengungen zur Einhaltung der Vorschriften gegenüber größeren und besser aufgestellten Unternehmen nicht benachteiligt werden.

2.   Kommissionsvorschlag

2.1.

Die vorgeschlagene Verordnung (2) steht im Einklang mit der neuen Verbraucheragenda von 2020 (3) und hat folgende Zielsetzungen:

Aktualisierung und Modernisierung des allgemeinen Rahmens für die Sicherheit von Non-Food-Produkten für Verbraucher;

Erhaltung der Rolle dieses Rahmens als Sicherheitsnetz für die Verbraucher;

Anpassung der Bestimmungen an Herausforderungen durch neue Technologien und den Online-Verkauf und

Sicherstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen.

2.2.

Der Vorschlag (4) soll die geltende Richtlinie ersetzen, aber weiterhin auf Non-Food-Verbraucherprodukte Anwendung finden, die aus einem Herstellungsprozess hervorgegangen sind. Die vorgeschlagene Verordnung knüpft zudem an die geltende Richtlinie an, indem:

vorgeschrieben wird, dass Verbraucherprodukte „sicher“ sind;

bestimmte Pflichten für Wirtschaftsakteure festgelegt werden und

darin Bestimmungen für die Entwicklung von Normen zur Unterstützung der allgemeinen Sicherheitsanforderung enthalten sind.

2.3.

Mit der vorgeschlagenen Verordnung sollen zum einen die Vorschriften, die aktuell durch Richtlinie 2001/95/EG festgelegt sind, aktualisiert werden, damit für ein Sicherheitsnetz für alle Produkte gesorgt ist; zum anderen soll mehr Kohärenz sichergestellt werden, indem die Marktüberwachungsvorschriften für Produkte, die nicht in den Anwendungsbereich der Harmonisierungsrechtsvorschriften der EU fallen („nicht harmonisierte Produkte“), an die Vorschriften angeglichen werden, die für Produkte gelten, die in den Anwendungsbereich der Harmonisierungsrechtsvorschriften der EU gemäß Verordnung (EU) 2019/1020 des Europäischen Parlaments und des Rates (5) fallen („harmonisierte Produkte“).

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission zur Überarbeitung und Modernisierung der geltenden Richtlinie als Teil der neuen Verbraucheragenda für den Zeitraum 2020-2025. Die geltende Richtlinie war ein wegweisender Rechtsakt für den Verbraucherschutz im Binnenmarkt, der vorschreibt, dass nur sichere Produkte in Verkehr gebracht werden dürfen, und der als Sicherheitsnetz für Verbraucher dient, die nicht von branchenspezifischeren Rechtsvorschriften profitieren. Durch die vorgeschlagene Verordnung bleibt diese maßgebliche Funktion erhalten.

3.2.

Angesichts der Erfahrungen mit der Umsetzung der Richtlinie und der grundlegenden Veränderungen, die seit ihrer Annahme im Jahr 2001 bei Produkten und Märkten stattgefunden haben, war eine Überarbeitung längst überfällig. Der EWSA befürwortet die Überarbeitung: Die Richtlinie war zwar ein wichtiges Instrument, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen europäischen Herstellern und KMU einerseits und ausländischen Unternehmen anderseits zu erreichen; jetzt aber müssen die Bemühungen um die Angleichung der Wettbewerbsbedingungen insbesondere im Bereich der Online-Verkäufe fortgesetzt werden (die vorgeschlagene Verordnung trägt dieser Notwendigkeit Rechnung).

3.3.

Die Merkmale von Verbraucherprodukten haben sich derart weiterentwickelt, dass die alten Definitionen der Begriffe „Sicherheit“ und „Produkt“ nicht mehr zutreffen. Die Definition von Sicherheit, die nur die Begriffe „Gesundheit“ und „körperliche Unversehrtheit“ umfasst, entspricht nicht mehr den tatsächlichen Risiken, denen die Verbraucher möglicherweise ausgesetzt sind. Der EWSA begrüßt, dass in Artikel 7 eine Reihe von Aspekten zur Bewertung der Produktsicherheit berücksichtigt wird. Er bedauert jedoch, dass in Artikel 3 Absatz 2 nicht eindeutig auf Artikel 7 verwiesen wird, obwohl dies die Rechtssicherheit erhöhen würde.

3.4.

Der EWSA begrüßt die Fokussierung auf das Konzept der „Sicherheit“ und die Berücksichtigung der „Cybersicherheit“ als Voraussetzung für die Einstufung eines Produkts als „sicher“. Um die Rechtssicherheit zu erhöhen, sollte nach Auffassung des EWSA vorgeschrieben werden, dass die Bewertung der Cybersicherheit unter allen Umständen und während der gesamten Lebensdauer des Produkts erfolgt. Im Falle gefährlicher Chemikalien in Alltagsprodukten dürften die Verbraucher mit der derzeit geltenden Richtlinie nur schwerlich geschützt werden. Der EWSA hält es für offensichtlich und unvermeidlich, dass jeder künftige Rechtsrahmen die Verbraucher auch vor Sicherheitsgefahren durch vernetzte und für Hackerangriffe anfällige Produkte, fehlende Softwareaktualisierungen und schädliche Chemikalien schützen muss, und begrüßt die diesbezüglichen Änderungen.

3.5.

Obwohl Selbstregulierungsinitiativen ergriffen wurden, um den Schutz vor unsicheren online vertriebenen Produkten zu verbessern, kommt eine aktuelle Studie (2020) (6) zum Ergebnis, dass zwei Drittel der 250 getesteten Kaufprodukte nicht den Sicherheitsvorschriften und Technikstandards der EU entsprechen und damit die Verbraucher gefährden. Dies deutet darauf hin, dass hier keine Selbstregulierung, sondern eine wirksame Regulierung erforderlich ist. Der EWSA unterstützt die Annahme einer einschlägigen Verordnung und begrüßt die neuen Verpflichtungen für Online-Marktplätze, gibt jedoch zu bedenken, dass sie möglicherweise nicht vollumfänglich geeignet sind, die Verbraucher zu schützen, da die Aufdeckung und Durchsetzung weiterhin überwiegend in die Zuständigkeit der Durchsetzungsbehörden und nicht der Plattformen fallen. Der EWSA bedauert, dass in der vorgeschlagenen Verordnung nicht klargestellt wird, dass Online-Marktplätze je nach ihrer Tätigkeit und ihrer Rolle in der (digitalen) Lieferkette Einführer (oder ggf. Händler) von Produkten sind, und dass für sie keine ähnlichen Pflichten und Verantwortlichkeiten wie für den stationären Einzelhandel festgelegt werden. Der EWSA fordert eine Klärung der Haftung der Plattformen in Fällen, in denen kein anderer Akteur in der Lieferkette gegen ein unsicheres Produkt vorgeht.

3.6.

Die Verbraucher tätigen Geschäfte zunehmend über das Internet, vermehrt über Grenzen hinweg und über immer längere und komplexere Lieferketten. Das derzeitige Marktkontrollsystem verfügt lediglich über schwache internationale und grenzüberschreitende Befugnisse sowie geringe Finanzmittel; es ist Stückwerk, das sich nur auf bestimmte Arten von Waren erstreckt. Somit besteht hier eindeutig Handlungsbedarf. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Marktüberwachung auf alle Verbrauchsgüter ausgeweitet werden muss sowie gemeinsame, koordinierte, finanziell gut ausgestattete und bereichsübergreifende Maßnahmen in ganz Europa umfassen sollte. Der EWSA begrüßt die Schaffung eines Streitbeilegungsmechanismus — und die diesbezügliche Rolle der Kommission — mit dem Ziel, zwischen den Ländern fortbestehende Unterschiede bei der Auslegung und/oder Anwendung zu beseitigen. Er unterstützt auch die Entwicklung starker weltweiter Kooperationsbeziehungen und ermuntert zur Beteiligung an internationalen Initiativen.

3.7.

Die vorgeschlagene Verordnung wird ihren Zweck, die Verbraucher zu schützen, nur dann erfüllen, wenn für ihr reibungsloses Zusammenspiel mit den anderen wichtigen Rechtsakten, die dieselben oder verwandte Themen betreffen, gesorgt wird. Insbesondere hinsichtlich der Frage der Rechenschaftspflicht verschiedener Arten von Online-Marktplätzen ist es notwendig, im Interesse des Erfolgs jede Fassung der vorgeschlagenen Verordnung mit der Richtlinie über digitale Dienste und der Produkthaftungsrichtlinie abzustimmen und letztere entsprechend anzupassen. Kohärenz sollte auch in Bezug auf den Legislativvorschlag zur künstlichen Intelligenz, die Chemikalienstrategie und den Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft sichergestellt werden. Zwar werden die Berührungspunkte in der vorgeschlagenen Verordnung eindeutig anerkannt, doch würde es der EWSA begrüßen, wenn genauer auf die Interoperabilität der verschiedenen Rechtsakte eingegangen würde, um so einen wirksamen Schutz vor Ort zu gewährleisten. Es wäre nicht hinnehmbar, wenn Lücken gelassen würden. Der EWSA fordert ferner, internationale Initiativen wie die der OECD, der Unctad und der WTO im Hinblick auf die internationale Zusammenarbeit zu berücksichtigen, und befürwortet eine diesbezügliche Führungsrolle der EU.

3.8.

Die geltende Richtlinie beruht auf dem Vorsorgeprinzip, das eine tragende Säule der vorgeschlagenen Verordnung bleibt, was der EWSA begrüßt. Dieser Grundsatz ermöglicht es, die höchsten Verbraucherschutzniveaus zu erreichen. Der EWSA hält es für entscheidend, dass das Vorsorgeprinzip verankert wird, um den Verbraucherschutz sicherzustellen und dass gleichzeitig ein flexibles Konzept geboten wird, um die vorgeschlagene Verordnung an neue Herausforderungen anpassen zu können. Daher sollten Vorsorgemaßnahmen immer dann getroffen werden, wenn eine Gefahr für die Umwelt oder die menschliche Gesundheit zwar nicht eindeutig wissenschaftlich nachgewiesen ist, aber vieles auf dem Spiel steht. Damit wird das Sicherheitsnetz der geltenden Richtlinie funktionsfähiger, wobei Lösungen bereitgestellt werden, wenn Verbraucher gefährdet sind und branchenspezifische Rechtsvorschriften Schlupflöcher aufweisen. Durch die Anwendung des Vorsorgeprinzips wird auch die Marktüberwachung vervollständigt.

4.   Besondere Bemerkungen

Der EWSA:

4.1.

unterstützt die Umwandlung der geltenden Richtlinie in eine Verordnung, da diese Entscheidung eine raschere und einheitlichere Umsetzung in der gesamten EU ermöglicht. Der Rückgriff auf eine Richtlinie hätte zwar die Anpassung der Bestimmungen an die vor Ort geltenden Rechtsvorschriften ermöglicht, würde aber auch die Befolgungskosten und die Unsicherheit für Unternehmen erhöhen, die grenzüberschreitend operieren oder für mehrere Märkte produzieren. Bisher haben zwei von fünf Unternehmen über zusätzliche Kosten infolge einer uneinheitlichen Umsetzung der geltenden Richtlinie berichtet (7);

4.2.

begrüßt den klareren und umfassenderen Anwendungsbereich der Rechtsvorschriften, insbesondere die Präzisierung und Einführung von Sekundärmärkten (Erwägungsgrund 16), die Klarstellung, dass Umweltrisiken Teil der Bewertung der Produktsicherheit sein müssen (Erwägungsgrund 11), und die Einbeziehung von Fulfilment-Dienstleistern in den Anwendungsbereich der Verordnung, was eine wirksamere Marktüberwachung ermöglicht;

4.3.

begrüßt die besonderen Verpflichtungen für Online-Marktplätze in der vorgeschlagenen Verordnung, gibt aber zu bedenken, dass Schlupflöcher geschlossen werden müssen. Die Verpflichtungen müssen genauer definiert werden. Insbesondere sollte erwogen werden, Marktplätze in den Geltungsbereich von Artikel 5 aufzunehmen und ihre Haftung auf die eines Einführers (oder ggf. Händlers) auszuweiten, um zu verhindern, dass Plattformen die vorgeschlagene Verordnung und das derzeit vorgeschlagene Gesetz über digitale Märkte (DSA) umgehen. Der EWSA empfiehlt, Online-Marktplätze auch dazu zu verpflichten, über ihre Vermittler verkaufte Produkte — so wie im DSA eingeführt — nach dem Prinzip notice and stay down (Meldung und Verhinderung des künftigen Hochladens) zu überwachen, damit die nationalen Durchsetzungsbehörden nicht mehr mit Maßnahmen nach dem Prinzip notice and take down (Meldung und Entfernung) belastet werden. Außerdem sollte klargestellt werden, ob die Verpflichtungen im Rahmen des DSA zusätzlich oder ergänzend zur vorgeschlagenen Verordnung gelten werden;

4.4.

unterstützt die strengeren Anforderungen an die Rückverfolgbarkeit, wobei die Mitgliedstaaten über die richtigen Instrumente für eine effektive Rückverfolgbarkeit verfügen müssen. Hier stärken die neuen Befugnisse der Kommission zum Erlass von Durchführungsmaßnahmen und zur Festlegung spezifischer Rückverfolgbarkeitsanforderungen potenziell auch den Verbraucherschutz;

4.5.

befürwortet die Stärkung der Rückrufverfahren, ist jedoch der Ansicht, dass die Pflicht bestehen sollte, Rückrufanzeigen immer zu veröffentlichen. In Fällen, in denen Verbraucher eine Ware gekauft und verschenkt oder auf einem Gebrauchtmarkt erworben haben, könnte ein ansonsten gut funktionierendes System der unmittelbar an die Käufer gerichteten Rückrufanzeigen versagen, weil der tatsächliche Nutzer des Produkts die direkte Rückrufanzeige nicht erhält;

4.6.

bedauert, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, bessere Daten über Unfälle und Verletzungen zu erheben und bereitzustellen, obschon eine EU-Verletzungsdatenbank eine kostengünstige Umsetzung und anschließende korrekte Bewertungen der vorgeschlagenen Verordnung erleichtern würde. Die Verwendung von RAPEX-Daten zur Bestimmung des Ausmaßes der von Verbrauchern erlittenen Verletzungen ist insofern problematisch, als es keine ausgeprägte Korrelation zwischen den im Zusammenhang mit der höchsten Zahl von Verletzungen stehenden Produktgruppen und den RAPEX-Meldungen gibt. Auf dieses Problem wird in der Hintergrundstudie für die Folgenabschätzung genauer eingegangen, deren Fazit lautet, dass RAPEX-Daten nicht einfach als Indikator für Trends bei der Sicherheit von Verbraucherprodukten herangezogen werden können (8). In der vorgeschlagenen Verordnung sollten daher die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, auf der Grundlage einer gemeinsamen Methodik Daten über Verletzungen durch Verbraucherprodukte zu erheben und auszutauschen, um eine den gesamten Binnenmarkt abdeckende repräsentative Datenbank einzurichten. Das Binnenmarktprogramm könnte eine solide finanzielle Grundlage für die europaweite Überwachung produktbedingter Verletzungen bieten. Die Verlagerung dieser Belastung auf die Wirtschaftsakteure — so wie es im Vorschlag der Fall ist — ohne eine klare gesamteuropäische Durchsetzungsstrategie dürfte sich als nicht zufriedenstellend erweisen;

4.7.

ist der Ansicht, dass die vorgeschlagene Verordnung die Festlegung von Kriterien für die Chemikaliensicherheit der unter die Bestimmungen fallenden Produkte ermöglichen sollte. In der aktuellen Richtlinie wird nicht festgelegt, was mit Blick auf Chemikalien als „sicheres“ Produkt gilt. Offen ist, ob die Verordnung in diesem Punkt mehr Klarheit schaffen wird. Beispielsweise verbietet die EU krebserregende Chemikalien in Spielzeugen, aber nicht in Kinderpflegeartikeln — trotz eines oft ähnlichen Expositionsrisikos. Das von der Kommission verfolgte Ziel einer schadstofffreien Umwelt, so wie es in der Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit formuliert und vom EWSA unterstützt wird (9), sollte im Zuge der Umsetzung der vorgeschlagenen Verordnung (10) verwirklicht werden;

4.8.

begrüßt, dass Cybersicherheitsrisiken, die sich auf die Verbrauchersicherheit auswirken, nun unter den Begriff „Sicherheit“ fallen. Dazu gehört auch die rechtzeitige Einführung des Konzepts der „Konformität während des Gebrauchs“ — da Softwareaktualisierungen das Produkt verändern, muss es im Laufe der Zeit überprüft werden. Dieser Aspekt wird zunehmend wichtiger, da immer mehr Verbraucherprodukte vernetzt und damit anfällig für Hacking und Missbrauch sind, was wiederum Sicherheitsrisiken birgt. Die Definitionen eines sicheren Produkts sollten jedoch einen eindeutigen Verweis auf solche Anforderungen und Kriterien enthalten;

4.9.

ist der Auffassung, dass die Marktüberwachung in allen Branchen so weit wie möglich auf dem gleichen Niveau erfolgen sollte. Diesbezügliche Änderungen müssen sorgfältig geprüft werden, um zu gewährleisten, dass die Durchsetzungsbehörden (in allen betreffenden Branchen) über ein angemessenes Instrumentarium verfügen und dass zudem eine enge Verknüpfung mit der Zollunion besteht. Der EWSA begrüßt zwar die Schwerpunktlegung auf eine risikobasierte Marktüberwachung, hält es aber für entscheidend, dass die Behörden auch angemessene Stichprobenkontrollen durchführen, um den Schutz zu optimieren und Schäden für die Verbraucher zu verhindern. Andernfalls werden gefährliche Produkte, von denen nicht bekannt ist, dass sie unsicher sind, erst entdeckt, nachdem sie Verbraucher geschädigt haben;

4.10.

ist der Ansicht, dass Definitionen, Begriffe und Systeme in den verschiedenen Instrumenten für Produktsicherheit kohärent gestaltet werden müssen und dass gleichzeitig je nach Produktkategorie (Spielzeuge, Kosmetika, Elektronik usw.) notwendige Variierungen möglich sein müssen;

4.11.

begrüßt, dass die Sicherheitsnormen im gesamten Normungsprozess genauer definiert wurden. Das führt dazu, dass die Normen rechtzeitig festgelegt werden und die Mitgliedstaaten Normen ablehnen können, die die Sicherheit der Verbraucher nicht gewährleisten und ihren Zweck nicht erfüllen. Um sicherzustellen, dass die Normung den Bedürfnissen der Verbraucher gerecht wird und nicht dazu dient, kleine Akteure vom Markt zu verdrängen, ist es sehr wichtig, dass die wirksame Vertretung der Verbraucher und der KMU im europäischen Normungsprozess weiterhin unterstützt wird (11);

4.12.

begrüßt, dass die in der vorgeschlagenen Verordnung festgelegten Verpflichtungen für alle Unternehmen unabhängig von ihrer Größe gelten und der Grundsatz verankert wird, dass die Sicherheit nicht „weniger strengen“ Regelungen unterliegen darf und dass jedes Verbraucherprodukt sicher sein muss. Der EWSA bedauert indes, dass die Standpunkte der KMU in der Konsultationsphase unterrepräsentiert waren, was die bereits vorhandenen Marktverzerrungen noch verschärft hat. Der EWSA stellt ferner fest, dass die Zahlen in Kapitel 3 über die finanziellen Auswirkungen der Folgenabschätzung nur Näherungswerte sind. Um künftige Verzerrungen zu vermeiden, empfiehlt der EWSA, dass die wesentlichen Leistungsindikatoren für die jährliche Berichterstattung durch die Mitgliedstaaten (gemäß Artikel 22 Absatz 1) die Auswirkungen auf KMU und Kleinstunternehmen quantifizieren sollten;

4.13.

stellt fest, dass KMU, insbesondere Kleinstunternehmen, aufgrund ihres geringeren Umsatzes und geringeren Humankapitals, das ihnen zur Erfüllung der Verpflichtungen zur Verfügung steht, von diesen Maßnahmen unverhältnismäßig stark betroffen sein könnten (12). Der EWSA begrüßt, dass im derzeitigen Rechtsrahmen einige ihrer besonderen Erfordernisse berücksichtigt werden, und zwar insbesondere durch eine Sanktionsregelung, die der Größe des Unternehmens bei der Verhängung von Strafen (Artikel 40 Absatz 2 Buchstabe h) Rechnung trägt und in der verhältnismäßige Strafen befürwortet werden, und durch ein risikobasiertes Marktüberwachungssystem, das kleinere Unternehmen nicht benachteiligt (13). Der EWSA würde jedoch Maßnahmen begrüßen, die zum Ziel haben, KMU und vor allem Kleinstunternehmen bei ihren Verpflichtungen zu unterstützen, z. B. die finanzielle Unterstützung innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Dabei sollten klare und zweckdienliche Anleitungen, Beratungen und einschlägige Schulungen angeboten werden, um zu gewährleisten, dass die KMU bei ihren Bemühungen zur Einhaltung der Vorschriften gegenüber größeren und besser aufgestellten Unternehmen nicht benachteiligt werden;

4.14.

begrüßt, dass alle Verbraucher Zugang zu Informationen über die Produktidentifizierung, die Art des Risikos und die getroffenen Maßnahmen haben werden (14), indem sie insbesondere das Safety-Gate-Portal (15) nutzen. Der EWSA weist aber darauf hin, dass dies nicht dazu führen sollte, dass sich Verbraucher zwecks Minderung ihrer Risiken vor einem Kauf entsprechend informieren müssen (im Sinne dessen, was als „die Sicherheit, die von den Verbrauchern vernünftigerweise erwartet werden kann“ (Artikel 7 Absatz 3 Buchstabe i) gedeutet werden kann). Darüber hinaus sollten Datenbanken und Meldungen sowohl für schutzbedürftige Verbraucher als auch für Verbraucher mit Behinderungen leicht zugänglich sein;

4.15.

stellt fest, dass die Hersteller gemäß Artikel 8 Absatz 11 das Safety Business Gateway nutzen müssen, um die Verbraucher unverzüglich auf Risiken für ihre Gesundheit und Sicherheit aufmerksam zu machen und die Marktüberwachungsbehörden zu informieren. Der EWSA weist erneut darauf hin, dass mit der Verordnung insbesondere sichergestellt werden sollte, dass die Verbraucher durch die Bereitstellung dieser Informationen weder direkt noch indirekt dazu verpflichtet werden, die Datenbank zu konsultieren, was sich auf die Einschätzung eines Produkts als sicher oder unsicher auswirken könnte. Darüber hinaus sollten Meldungen für schutzbedürftige Verbraucher und Verbraucher mit Behinderungen leicht zugänglich sein;

4.16.

würde es begrüßen, wenn das Safety Gate (gemäß Artikel 24 nehmen die Mitgliedstaaten Meldungen vor) und das Safety Business Gateway (gemäß Artikel 25 stellen die Wirtschaftsakteure den Durchsetzungsbehörden und Verbrauchern Informationen über die Sicherheit ihrer Produkte zur Verfügung) deutlicher voneinander abgegrenzt und unterschieden würden und geklärt würde, wie diese Portale miteinander interagieren können;

4.17.

begrüßt, dass die Verbraucher die Möglichkeit erhalten, bei den nationalen Behörden Beschwerden einzulegen (16) sowie das Safety-Gate-Portal über Risiken zu informieren (17), für die Folgemaßnahmen ergriffen werden müssen. Der EWSA fordert, angemessene Finanzmittel bereitzustellen, damit all diese Beschwerden ordnungsgemäß untersucht und so die Verbraucher wirksam geschützt werden können. Er begrüßt die Verknüpfung dieses Beschwerdeverfahrens mit der Tatsache, dass die Hersteller die eingegangenen Beschwerden prüfen (Artikel 8 Absatz 2) und Korrekturmaßnahmen ergreifen müssen, wenn sie der Auffassung sind oder Grund zu der Annahme haben, dass ein von ihnen in Verkehr gebrachtes Produkt möglicherweise nicht sicher ist (Artikel 8 Absatz 10).

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Richtlinie 2001/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. Dezember 2001 über die allgemeine Produktsicherheit (ABl. L 11 vom 15.1.2002, S. 4).

(2)  Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die allgemeine Produktsicherheit, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1025/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 87/357/EWG des Rates und der Richtlinie 2001/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, 2021/0170 (COD).

(3)  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Neue Verbraucheragenda — Stärkung der Resilienz der Verbraucher/innen für eine nachhaltige Erholung (COM(2020) 696 final).

(4)  Erwägungsgrund 2 des Vorschlags.

(5)  Verordnung (EU) 2019/1020 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 über Marktüberwachung und die Konformität von Produkten sowie zur Änderung der Richtlinie 2004/42/EG und der Verordnungen (EG) Nr. 765/2008 und (EU) Nr. 305/2011 (ABl. L 169 vom 25.6.2019, S. 1).

(6)  https://www.beuc.eu/publications/beuc-x-2021-004_is_it_safe_to_shop_on_online_marketplaces.pdf, S. 15.

(7)  Vorgeschlagene Verordnung, S. 13.

(8)  https://ec.europa.eu/info/files/study-support-preparation-evaluation-gpsd-well-impact-assessment-its-revision-part-1-evaluation_en, S. 40.

(9)  ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 181.

(10)  https://webapi2016.eesc.europa.eu/v1/documents/eesc-2020-05343-00-00-ac-tra-de.docx/content.

(11)  ABl. L 316 vom 14.11.2012, S. 12, Anhang III.

(12)  Study to support the preparation of an evaluation of the General Product Safety Directive as well as of an impact assessment on its potential revision [Studie zur Unterstützung der Vorbereitung einer Bewertung der Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit sowie einer Folgenabschätzung zu ihrer möglichen Überarbeitung], S. 11 und S. 320. Siehe auch den Vorschlag für eine Verordnung (COM(2021) 346 final), S. 13.

(13)  ABl. L 316 vom 14.11.2012, S. 12, Anhang III.

(14)  Artikel 31.

(15)  Artikel 32 Absatz 1.

(16)  Artikel 31 Absatz 4.

(17)  Artikel 32 Absatz 2.


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/105


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur zeitweiligen Aussetzung der autonomen Zollsätze des Gemeinsamen Zolltarifs für Einfuhren bestimmter gewerblicher Waren auf die Kanarischen Inseln

(COM(2021) 392 final — 2021/0209 (CNS))

(2022/C 105/16)

Berichterstatter:

Tymoteusz Adam ZYCH

Befassung

Rat, 15.9.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch

Annahme in der Fachgruppe

21.9.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

101/0/2

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt den Vorschlag der Europäischen Kommission, da er für die Region von großer sozioökonomischer Bedeutung ist und die Europäische Union (EU) aufgrund ihrer Zuständigkeit im Bereich der Regulierung der Zölle über die Befugnis zu seiner Annahme verfügt.

1.2.

Zusätzlich zu den bereits unter die Verordnung (EU) Nr. 1386/2011 des Rates (1) fallenden Warenkategorien wurde der vorliegende Vorschlag um sieben neue Kategorien mit folgenden KN-Codes erweitert: 3903 19, 5603 94, 5604 10, 7326 90, 7607 20, 8441 40 und 8479 90 (Maschinen für gewerbliche Zwecke und Rohstoffe).

1.3.

Die weitere Aussetzung der Zölle auf Einfuhren gewerblicher Erzeugnisse sowie die Ausweitung der davon betroffenen Warenkategorien ist nach Ansicht des EWSA eine gute Lösung für die Wirtschaft der Kanarischen Inseln, die durch die COVID-19-Pandemie im Vergleich zu anderen EU-Regionen besonders hart getroffen wurden, vor allem in Bezug auf das BIP-Volumen.

1.4.

Die Verpflichtung zu Endverwendungskontrollen gemäß den Bestimmungen des Zollkodex der Union und seinen Durchführungsvorschriften ist in diesem Zusammenhang ein etabliertes Verfahren und führt nicht zu einem erheblichen zusätzlichen Verwaltungsaufwand für die regionalen und lokalen Behörden und Wirtschaftsbeteiligten.

1.5.

Der EWSA betont, dass sowohl die Einführung neuer als auch die Beibehaltung bereits bestehender rechtlicher Lösungen zur Unterstützung der Regionen in äußerster Randlage von wesentlicher Bedeutung für deren Wirtschaftswachstum, für die Gewährleistung des Gleichgewichts im Binnenmarkt sowie für die Schaffung von Arbeitsplätzen im lokalen Sektor ist.

1.6.

Um sicherzustellen, dass Unternehmerinnen und Unternehmer langfristige Investitionsentscheidungen treffen können, muss die vorgeschlagene Aussetzung nach Auffassung des EWSA für einen mehrjährigen Zeitraum erfolgen.

2.   Einleitung

2.1.

Die Kanarischen Inseln sind eine autonome Gemeinschaft Spaniens mit einer Gesamtfläche von etwa 7 446,95 km2. Der aus dreizehn Inseln bestehende Archipel im Atlantischen Ozean liegt rund 1 000 km von der Küste der Iberischen Halbinsel entfernt. Als abgelegenes EU-Gebiet zählen die Kanaren zur Gruppe der Regionen in äußerster Randlage und bilden zusammen mit den Ilhas Selvagens, den Kapverdischen Inseln sowie den Inselgruppen der Azoren und Madeira die biogeografische Region Makaronesien.

2.2.

Die Kanarischen Inseln haben eine Gesamtbevölkerung von derzeit 2 175 952 Einwohnern, wobei Teneriffa (904 713 Einwohner) und Gran Canaria (846 717 Einwohner) am stärksten besiedelt sind. Über 80 % der Bevölkerung leben auf diesen beiden Inseln. Diese dichte Besiedlung auf lediglich zwei der insgesamt dreizehn Inseln ist die Ursache einiger der sozioökonomischen Probleme der Region, u. a. im Zusammenhang mit der starken Einwanderung.

3.   Ziel des Kommissionsvorschlags

3.1.

Der EWSA weist darauf hin, dass für die Kanarischen Inseln als eine der EU-Regionen in äußerster Randlage auf der Grundlage von Artikel 349 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) durch die Verordnung (EU) Nr. 1386/2011 spezifische Zollmaßnahmen in Form einer zeitweiligen Aussetzung der autonomen Zollsätze des Gemeinsamen Zolltarifs für Einfuhren bestimmter gewerblicher Waren vorgesehen wurden.

3.2.

Die in der Verordnung (EU) Nr. 1386/2011 vorgesehenen Maßnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der lokalen Wirtschaftsbeteiligten und zur Gewährleistung stabilerer Beschäftigungsverhältnisse auf diesen Inseln laufen am 31. Dezember 2021 aus. Im April 2021 beantragte die spanische Regierung eine Verlängerung der Aussetzung der autonomen Zollsätze des Gemeinsamen Zolltarifs für eine Reihe von Waren. Gemäß dem Antrag sind die Einschränkungen, mit denen die Region konfrontiert ist, von struktureller und dauerhafter Natur und hängen nach wie vor mit der Isolation sowie der geringen Größe und Fragmentierung des Marktes zusammen. Diese Inseln können auch nicht in gleichem Maße von der europäischen Integration profitieren wie die Festlandregionen. Mit der vorgeschlagenen Aussetzungsregelung sollen diese Beschränkungen auf dem Markt der Kanarischen Inseln reduziert werden. Darüber hinaus hat die spanische Regierung infolge der durch die COVID-19-Pandemie verursachten Wirtschaftskrise die Aussetzung der Zollsätze des Gemeinsamen Zolltarif für sieben weitere Produktkategorien beantragt.

3.3.

Mit dem Kommissionsvorschlag soll erreicht werden, dass diese spanische Region in äußerster Randlage Unterstützung erhält und auf ihren Vorzügen aufbauen kann. So sollen Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen im lokalen Sektor ermöglicht werden. Der Kommissionsvorschlag ergänzt das Programm zur Lösung der spezifisch auf Abgelegenheit und Insellage zurückzuführenden Probleme (POSEI), durch das der Primärsektor und die Rohstofferzeugung unterstützt werden, den Europäischen Meeres- und Fischereifonds (EMFF) sowie die Finanzierung im Rahmen der zusätzlichen besonderen Mittelzuweisung aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE).

3.4.

Er entspricht der Politik der Union in anderen Bereichen, insbesondere der übergeordneten Politik in Bezug auf die Gebiete in äußerster Randlage sowie in den Bereichen internationaler Handel, Wettbewerb, natürliche Umwelt, Unternehmen, Entwicklung und Außenbeziehungen.

3.5.

Die im Vorschlag vorgesehene vorübergehende Aussetzung der Zölle ermöglicht es den Wirtschaftsakteuren, im Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2022 und dem 31. Dezember 2031 bestimmte Rohstoffe, Bauteile, Teile und Investitionsgüter zollfrei einzuführen.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1.

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagene Änderung der geltenden Verordnung des Rates und stellt fest, dass die darin festgelegten spezifischen Maßnahmen angenommen werden können, ohne die Integrität und Kohärenz der Rechtsordnung der Union (darunter auch des Binnenmarkts und der gemeinsamen Politiken) zu gefährden. Nach Ansicht des EWSA wird diese Änderung für ein besseres Gleichgewicht auf dem Binnenmarkt sorgen.

4.2.

Der EWSA hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Lage der Inselregionen wesentlich schwieriger ist als in der übrigen EU, insbesondere auf dem Festland. Die Inselregionen haben schwere und dauerhafte geografische, demografische und ökologische Nachteile zu gewärtigen, etwa die Abkoppelung vom Festland, die Begrenztheit der Landflächen, die Abhängigkeit vom See- und Luftverkehr mit entsprechend höheren Kosten, den Bevölkerungsrückgang und die schwierige Arbeitsmarktlage, die Konzentration der Produktion auf Klein- und Kleinstunternehmen, die gegenüber der Dynamik des wirtschaftlichen Wandels weniger widerstandsfähig sind als größere Unternehmen, sowie Einschränkungen bei der Nutzung der Vorteile des europäischen Binnenmarkts und der wettbewerbsorientierten Wirtschaftsbeziehungen.

4.3.

Aufgrund der begrenzten Transportmöglichkeiten und der höheren Vertriebskosten entstehen für die Unternehmen höhere Kosten bei der Warenherstellung, als dies bei einer Niederlassung auf dem Festland der Fall wäre. Dies hat direkte Auswirkungen auf ihre Wettbewerbsfähigkeit. Infolgedessen tun sich die lokalen Unternehmen schwerer, Abnehmer außerhalb der Landesgrenzen zu finden, und die Industrie muss ihre Produktion in erster Linie auf den lokalen Markt beschränken. Nach Auffassung des EWSA sollte die EU diese schwierige wirtschaftliche Lage der Inselregionen im Rahmen ihrer Zollpolitik berücksichtigen und geeignete Maßnahmen ergreifen, um deren Chancen und Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem europäischen Festland zu verbessern.

4.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass der Tourismus der wichtigste Faktor für die wirtschaftliche Stabilität vieler Inselregionen ist. Auch für die Kanarischen Inseln stellt er die wichtigste wirtschaftliche Ressource dar. 2018 betrug der Anteil des Einreisetourismus am BIP der Kanarischen Inseln 28 %, Tendenz steigend. 2017 lag die Zahl der auf die Kanarischen Inseln einreisenden Touristen knapp unter der 16 Mio.-Marke und betrug rund eine Million mehr als 2016. Im Jahr 2019 reisten 15,11 Mio. Menschen auf die Kanarischen Inseln.

4.5.

Das Aufkommen des Tourismus hat zwar zu Wirtschaftswachstum geführt, die durch den Ausbruch der COVID-19-Pandemie verursachten negativen Auswirkungen auf diesen wirtschaftlichen Eckpfeiler dürfen jedoch nicht außer Acht gelassen werden. Nach den vom spanischen statistischen Amt veröffentlichen Daten sank die Zahl der ausländischen Touristen auf den Kanarischen Inseln im Jahr 2020 um mehr als 70 % und betrug lediglich 3,78 Mio. Ebenso stark gingen die Einnahmen der Region zurück, die im vergangenen Jahr rund 4 Mrd. EUR an Tourismuseinnahmen erwirtschaftete. Der größte Einnahmenrückgang wurde auf Lanzarote, der geringste auf Teneriffa verzeichnet (-73,7 % bzw. -66,4 %). Die sinkenden Touristenzahlen auf den Kanarischen Inseln haben zu einem geschätzten Rückgang des BIP um rund 20 % im Jahr 2020 geführt. Auch im Baugewerbe und in der Industrie kam es zu einer Rezession mit einem geschätzten Rückgang um 13 % im Vergleich zu 2019. In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass die Auswirkungen der weltweiten Gesundheitskrise langfristige Folgen haben und der europäische Tourismus voraussichtlich erst 2023 wieder das Niveau von 2019 erreichen wird. (2)

4.6.

Infolge der COVID-19-Krise ist auch die Arbeitslosigkeit auf den Kanarischen beträchtlich gestiegen. Im ersten Quartal 2020 betrug sie 18,89 % und stieg im Laufe des Jahres bis auf 25,42 % an. Somit liegt sie weit über dem spanischen und dem europäischen Durchschnitt (15,5 % bzw. 7,1 % laut Eurostat-Zahlen aus dem Jahr 2021).

4.7.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Vorschlag im Einklang mit den politischen Maßnahmen der EU steht, zu deren Hauptzielen der territoriale, wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gehört und die Union im Wege einer gut gesteuerten Wirtschaftspolitik in einer Weise stärken sollen, dass die Regionen in äußerster Randlage gleiche Entwicklungschancen und gleichen Zugang zu besseren Lebensbedingungen haben. Gemäß Artikel 174 AEUV gehören Inselgebiete zu den benachteiligten Regionen, die besondere Aufmerksamkeit erfordern.

4.8.

Der EWSA weist ferner darauf hin, dass der Anstieg der Energiepreise in den letzten zwei Jahren und seine Auswirkungen auf die globalen Transportkosten zweifellos zu einem stärkeren Rückgang der Wettbewerbsfähigkeit der auf den Kanarischen Inseln angesiedelten Wirtschaftszweige beigetragen haben. Darüber hinaus kommen die Vorteile aus der 1991 eingeführten zeitweiligen Aussetzung der autonomen Zollsätze mittlerweile weniger zum Tragen. Infolgedessen ist die lokale Industrie weniger wettbewerbsfähig als ihre Konkurrenz in Spanien und den übrigen Festlandgebieten der Union. Der EWSA ist sich der geografischen und wirtschaftlichen Besonderheiten der Kanarischen Inseln bewusst und vertritt die Auffassung, dass Maßnahmen zur Abmilderung der negativen Auswirkungen der Insellage unterstützt werden sollten.

4.9.

Der EWSA ist der Ansicht, dass die vorgeschlagene Lösung erheblich dazu beitragen kann, die wirtschaftliche Stabilität in diesem Teil der EU zu erhalten. Eine Beendigung der Aussetzung hätte inflationäre Auswirkungen auf dem Markt, was für die ohnehin eher bescheidene industrielle Basis auf den Kanarischen Inseln längerfristig eine Bedrohung darstellen und die Disparitäten gegenüber dem Rest der EU weiter vergrößern würde.

4.10.

Der EWSA spricht sich zudem für die bereits mehrmals angewandte Lösung aus, durch die sichergestellt werden soll, dass die Anwendung der Zollmaßnahmen von der Endverwendung der Erzeugnisse abhängt und folglich nur die auf den Kanarischen Inseln ansässigen Marktteilnehmer davon profitieren.

4.11.

Der EWSA weist jedoch auch darauf hin, dass es zu Problemen im Handelsverkehr auf den Kanarischen Inseln oder sogar in der gesamten EU kommen kann, da der in Artikel 4 Absatz 1 des Verordnungsvorschlags verwendete Begriff „Handelsverlagerung“ nicht näher definiert wird. Bei sogenannten Handelsverlagerungen kann die Kommission ermächtigt werden, die Aussetzung der autonomen Zölle vorübergehend aufzuheben, was eine Reihe wirtschaftlicher Folgen für die Region und die lokalen Unternehmen nach sich ziehen würde. Der EWSA weist darauf hin, dass dieser Begriff sowohl in qualitativer als auch quantitativer Hinsicht präzisiert werden muss.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Verordnung (EU) Nr. 1386/2011 des Rates vom 19. Dezember 2011 zur zeitweiligen Aussetzung der autonomen Zollsätze des Gemeinsamen Zolltarifs für Einfuhren bestimmter gewerblicher Waren auf die Kanarischen Inseln (ABl. L 345 vom 29.12.2011, S. 1).

(2)  https://www.europarl.europa.eu/factsheets/de/sheet/126/tourism.


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/108


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu folgenden Vorlagen: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat: „Strategie für einen reibungslos funktionierenden und resilienten Schengen-Raum“

(COM(2021) 277 final)

und Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Einführung und Anwendung eines Evaluierungs- und Überwachungsmechanismus für die Überprüfung der Anwendung des Schengen-Besitzstands und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013

(COM(2021) 278 final — 2021/0140 (CNS))

(2022/C 105/17)

Berichterstatter:

Ionuţ SIBIAN

Befassung

Europäische Kommission, 10.8.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

6.10.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

232/1/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die Strategie der Kommission für einen reibungslos funktionierenden und resilienten Schengen-Raum.

1.2.

Der EWSA bekräftigt seine in seiner Entschließung vom 17. Februar 2016 zum Ausdruck gebrachte uneingeschränkte Unterstützung für die Grundsätze, die der Schengen-Zusammenarbeit zugrunde liegen: die uneingeschränkte Ausübung der vertraglich garantierten Grundfreiheiten in einem gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie die Notwendigkeit einer gestärkten und gemeinsam getragenen Verantwortung und Solidarität beim Management der Außengrenzen.

1.3.

Der EWSA betont, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten bei der Gestaltung und Umsetzung der EU-Politik für Grenzmanagement, Interoperabilität, Migrations- und Asylmanagement sowie polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen jederzeit an die Charta der Grundrechte gebunden sind, deren Bestimmungen sie nicht nur zu achten, sondern auch zu fördern haben.

1.4.

Der EWSA ist zutiefst besorgt angesichts von Berichten über Verletzungen der Grundrechte an den Außengrenzen der EU und fordert die Kommission und die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) auf, Berichten über Verstöße gegen die Grundrechte unverzüglich nachzugehen, entsprechende Berichte zur Kenntnis zu nehmen und für Abhilfe sowie dafür zu sorgen, dass die in der Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache festgelegten Mechanismen der Rechenschaftspflicht wirksam umgesetzt werden. Der EWSA ruft dazu auf, das Konsultationsforum für Grundrechtsfragen zu stärken und die organisierte Zivilgesellschaft über den EWSA an dem Forum zu beteiligen.

1.5.

Der EWSA bringt seine Besorgnis über die semipermanente Wiedereinführung von Grenzkontrollen an verschiedenen Binnengrenzen der Mitgliedstaaten und die negativen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen zum Ausdruck, die sich daraus für die Bürger, Unternehmen und insbesondere Grenzgänger, die Grenzregionen und die Euroregionen ergeben. Er fordert die Kommission auf, die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit dieser wieder eingeführten Grenzkontrollen regelmäßig sorgfältig zu überwachen und zu bewerten und erforderlichenfalls tätig zu werden. Er begrüßt die erklärte Absicht der Kommission, von ihren Durchsetzungsbefugnissen bereitwilliger Gebrauch zu machen, sofern Schengen-Evaluierungen dies nahelegen sollten.

1.6.

Der EWSA bringt seine Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass die Mitgliedstaaten Zypern, Rumänien, Bulgarien und Kroatien weiterhin von der vollständigen Anwendung des Schengen-Besitzstands ausgeschlossen sind. Er fordert ebenso wie die Kommission den Rat hier zu raschem und entschlossenem Handeln auf.

1.7.

Der EWSA stellt fest, dass es sich bei vielen Elementen, die Bestandteil der Strategie sind, nach wie vor um Legislativvorschläge handelt. Der EWSA weist darauf hin, dass er zu einigen dieser Vorschläge spezifische Stellungnahmen abgegeben hat, insbesondere zum neuen Migrations- und Asylpaket und zur Interoperabilität. Der EWSA ersucht die Kommission, diese Stellungnahmen gebührend zur Kenntnis zu nehmen.

1.8.

Der EWSA stellt fest, dass viele Elemente des Pakets von der rechtzeitigen Umsetzung kürzlich angenommener Rechtsvorschriften abhängen, insbesondere der Interoperabilitäts-Verordnung und der Verordnung über Frontex 2.0. Der EWSA betrachtet den Fortschritt in diesem Bereich mit Sorge und fordert die Kommission auf, etwaige Verzögerungen und Budgetüberschreitungen genau zu beobachten und wirksam dagegen vorzugehen.

1.9.

Der EWSA bewertet die Vorschläge für ein besseres Funktionieren des Schengen-Evaluierungsmechanismus, insbesondere im Hinblick auf eine schnellere Weiterverfolgung, stärkere Synergien mit dem Mechanismus für die Schwachstellenbeurteilung und eine größere sowie stärker bereichsübergreifende Aufmerksamkeit für die Menschenrechte einschließlich der geplanten Rolle der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte als positiv. Es sollte jedoch darauf geachtet werden, dass der Schengen-Evaluierungsmechanismus keine eher technischen Fragen politisiert.

1.10.

Der EWSA ist der Auffassung, dass das Schengen-Forum politische Impulse für den Erhalt und die Weiterentwicklung des Schengen-Raums geben kann, warnt jedoch davor, dass es nicht zu einer Rückkehr zur zwischenstaatlichen Vergangenheit von Schengen kommen darf, deren Funktionieren durch Intergouvernementalismus und mangelnde Transparenz beeinträchtigt wurde. Andere EU-Institutionen sowie der EWSA sollten jedoch jederzeit informiert bleiben und an dem Forum teilnehmen können.

1.11.

Der EWSA ist sich bewusst, dass die damit verbundenen Bereiche der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, einschließlich einer verbesserten Zusammenarbeit bei der Terrorismusprävention, für das Vertrauen der EU-Bürger und der Mitgliedstaaten in den Schengen-Raum von größter Bedeutung sind. Eine solche Zusammenarbeit sollte jederzeit die uneingeschränkte Achtung der Grundrechte in allen Mitgliedstaaten erfordern, einschließlich des Schutzes einer unabhängigen Justiz, damit Instrumente des gegenseitigen Vertrauens wie der Europäische Haftbefehl ordnungsgemäß funktionieren können.

1.12.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass die Zusammenarbeit mit Drittländern nicht ausschließlich auf Migrations- und Asylkontrollen ausgerichtet sein, sondern eine echte Partnerschaft darstellen sollte, die darauf abzielt, die Lage von Migranten und Flüchtlingen in Drittländern, insbesondere von Opfern des Menschenhandels, zu verbessern, an den Migrationsursachen ansetzt und eine sichere und reguläre Migration fördert.

1.13.

Wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union 2021 betont hat, ist es von entscheidender Bedeutung, dass sich die Mitgliedstaaten auf ein gemeinsames europäisches System für das Management unserer Außengrenzen und eine gemeinsame Steuerung von Migration und Asyl einigen, um Drittstaaten keine Gelegenheit zu geben, mangelnde Einheit auszunutzen.

2.   Hintergrund der Stellungnahme

2.1.

1985 schlossen mehrere Mitgliedstaaten das internationale Schengener Übereinkommen und entschieden, alle Grenzkontrollen an ihren Binnengrenzen abzuschaffen. Im Schengener Durchführungsübereinkommen von 1990 wurden die notwendigen flankierenden Maßnahmen vorgesehen, mit denen die externen Effekte, die sich aus der Aufhebung der Grenzkontrollen ergeben, ausgeglichen werden sollen.

2.2.

Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde der Schengen-Besitzstand in die Rechtsordnung der EU integriert und die besondere Position des Vereinigten Königreichs, Irlands und Dänemarks geregelt.

2.3.

Der Abschluss bilateraler Abkommen mit Norwegen, Island, der Schweiz und Liechtenstein ermöglichte die Beteiligung dieser Länder an der Schengen-Zusammenarbeit.

2.4.

Bulgarien, Rumänien und Kroatien beteiligen sich an Teilen des Schengen-Besitzstands, für die Aufhebung der Kontrollen an ihren Binnengrenzen ist jedoch ein einstimmiger Beschluss des Rates erforderlich. Der Rat hat sich bislang geweigert, diesen Beschluss zu fassen, obwohl die Kommission festgestellt hat, dass die Länder die technischen Voraussetzungen erfüllen.

2.5.

Seit der Übernahme des Schengen-Besitzstands in die Rechtsordnung der EU hat sich dieses Regelwerk allmählich weiterentwickelt, insbesondere durch die Annahme des Schengener Grenzkodex, des Visakodex und der Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache. Die Zusammenarbeit in den Bereichen Grenzen, Visa, Migration und Asyl wird durch verschiedene umfangreiche IT-Datenbanken für den Informationsaustausch (SIS, VIS, Eurodac, EES, ETIAS, TCN-ECRIS) unterstützt, die derzeit interoperabel sind.

2.6.

Obwohl die Verantwortung geteilt wird, bleiben die einzelnen Mitgliedstaaten für ihre jeweiligen Bereiche der Außengrenzen verantwortlich, was bedeutet, dass bei Mängeln beim Management der Außengrenzen in einem Mitgliedstaat mit erheblichen Auswirkungen auf den gesamten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu rechnen ist.

2.7.

In den letzten fünf Jahren steht der Schengen-Raum aufgrund der wiederholten und fortgesetzten Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen durch einige Mitgliedstaaten unter erheblichem Druck. Gründe hierfür waren die Reaktion auf die Flucht- und Migrationsbewegungen 2015 und die terroristische Bedrohung in Europa.

2.8.

Die COVID-19-Pandemie führte zu weiteren Grenzschließungen und Beschränkungen des freien Personenverkehrs.

2.9.

Als Reaktion auf die Flucht- und Migrationsbewegungen 2015 wurde Frontex, die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten, 2016 als Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache reformiert und 2019 weiter ausgebaut.

2.10.

In ihrem neuen Migrations- und Asylpaket bekräftigte die Europäische Kommission: „Das integrierte Grenzmanagement ist ein unverzichtbares politisches Instrument der EU, um […] die Integrität des Schengen-Raums zu gewährleisten.“ Zudem sei es „ein wesentlicher Bestandteil einer umfassenden Migrationspolitik“. Sie kündigte eine gesonderte Strategie für die Zukunft des Schengen-Systems an, die am 2. Juni 2021 veröffentlicht wurde.

2.11.

Mit der Strategie soll der Schengen-Raum stärker und resilienter gemacht werden. Mit Blick auf den Schengen-Raum werden die Herausforderungen der letzten Jahre zusammengetragen, einschließlich der COVID-19-Krise, und es wird ein Weg aufgezeigt, wie die Vorteile des Schengen-Raums erhalten bleiben können.

2.12.

Mit der Strategie werden folgende Ziele verfolgt:

1.

Sicherstellung eines wirksamen Managements der Außengrenzen der EU

2.

interne Stärkung des Schengen-Raums

3.

ein resilienteres Schengen-System mit besserer Governance

4.

Vollendung des Schengen-Raums

2.13.

Der neuen Strategie liegt ein Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Einführung und Anwendung eines Evaluierungs- und Überwachungsmechanismus für die Überprüfung der Anwendung des Schengen-Besitzstands und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 1053/2013 (1) bei.

2.14.

Die Kommission schlägt eine Überarbeitung des Schengener Evaluierungs- und Überwachungsmechanismus vor. Zu den Änderungen gehören die Beschleunigung des Evaluierungsverfahrens sowie ein beschleunigtes Verfahren bei Feststellung erheblicher Mängel, die den Schengen-Raum insgesamt gefährden könnten.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.   Ein modernes und wirksames Management der Außengrenzen der Union

3.1.1.

Der EWSA spricht sich für die rasche Annahme einer mehrjährigen strategischen Politik für eine integrierte europäische Grenzverwaltung im Rahmen eines integrierten Grenzschutzsystems gemäß Artikel 77 Absatz 2 Buchstabe d AEUV aus. Vor der Annahme dieser Strategie sollte der EWSA konsultiert werden (2).

3.1.2.

Der EWSA spricht sich auch weiterhin für eine handlungsfähige Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache mit eigenen Einsatzkräften aus. Die Entwicklung in diesem Bereich stimmt ihn jedoch besorgt. Er verweist insbesondere auf die jüngsten Feststellungen des Rechnungshofs der EU, wonach die Agentur ihr Mandat von 2016 nicht vollständig erfüllt hat und es bei der Umsetzung ihres Mandats für 2019 mehrere Risiken und Mängel gab (3).

3.1.3.

Der EWSA hält insbesondere Berichte über Verletzungen der Grundrechte bei von Frontex koordinierten operativen Maßnahmen und das Wissen der Agentur um diese Verletzungen für besorgniserregend. Verschiedene Medienquellen und NRO haben hierüber berichtet, sie sind auch im Bericht der Frontex-Kontrollgruppe des LIBE-Ausschusses erörtert worden. Er begrüßt die kürzlich erfolgte Ernennung eines neuen Grundrechtsbeauftragten und die laufende Einstellung von Grundrechtsbeobachterinnen und -beobachtern, betont jedoch, dass das Amt des Grundrechtsbeauftragten mit angemessenen Ressourcen ausgestattet werden muss, damit er seine Aufgaben in voller Unabhängigkeit erfüllen kann. Der EWSA fordert die Agentur auf, die in ihrer Gründungsverordnung vorgesehenen Mechanismen und Strukturen der Rechenschaftspflicht vollständig umzusetzen.

3.1.4.

Der EWSA ist besorgt darüber, dass der Schwerpunkt der Strategie auf den Verfahren für ein Screening vor der Einreise liegt, die er in seiner Stellungnahme zu dem Paket als neuartigen Beitrag betrachtete, der in Betracht gezogen werden sollte. Der EWSA warf jedoch die Frage auf, wie praktikabel ihre Umsetzung wäre, und hielt sie unter dem Aspekt der Grundrechte für unzureichend (4). Er unterstreicht die Notwendigkeit eines Mechanismus für die unabhängige Überwachung durch die Mitgliedstaaten, wie in der Screening-Verordnung vorgesehen.

3.1.5.

Der EWSA hat die Schaffung vollständig interoperabler IT-Systeme stets für einen notwendigen Schritt auf dem Weg zu einer einheitlichen und wirksamen EU-weiten Politik gehalten. Dementsprechend unterstützt er auch die weitere Digitalisierung der Visaverfahren und Reisedokumente.

3.1.6.

Der EWSA sieht in der Aussage der Kommission, dass Verzögerungen in einzelnen Mitgliedstaaten die europaweite Verwirklichung der Interoperabilität behindern könnten, einen Anlass zur Sorge. Angesichts der bisherigen Erfahrungen mit der Umsetzung des SIS II und im Lichte des aktuellen Stands der Umsetzung des Einreise-/Ausreisesystems und des Europäischen Reiseinformations- und -genehmigungssystems (5) fragt der EWSA, welche konkreten Schritte die Kommission unternimmt, um eine rechtzeitige Umsetzung der Interoperabilität im Rahmen der vorgesehenen Haushaltsmittel zu gewährleisten.

3.1.7.

Der EWSA betont, dass die weitere technologische Entwicklung und die vollständige Interoperabilität unter gebührender Achtung des Schutzes personenbezogener Daten und der Grundrechte erreicht werden müssen. In Bezug auf den Vorschlag für eine Überarbeitung von Eurodac und in Bezug auf die Nutzung von Großdatenbanken generell bekräftigt der EWSA, dass die vollständige Interoperabilität unter gebührender Achtung des Schutzes der Grundrechte erreicht werden muss. Die Maßnahmen müssen aufgrund der sensiblen Daten unbedingt notwendig und verhältnismäßig sein, insbesondere wenn es um Personen, die internationalen Schutz beantragen, und die Vertraulichkeit des Verfahrens geht. Denn personenbezogene Daten, die im Zusammenhang mit dem Grenzmanagement und der Rückkehr verarbeitet werden, fallen unter die Datenschutz-Grundverordnung und gelten nicht als operative personenbezogene Daten im Sinne der Verordnung (EU) 2018/1725 des Europäischen Parlaments und des Rates (6).

3.1.8.

Der EWSA weist darauf hin, dass bei der Zusammenarbeit mit Drittländern, insbesondere auch wenn Frontex in Drittländern tätig wird, die Grundrechte, einschließlich des Rechts auf den Schutz personenbezogener Daten, uneingeschränkt geachtet und geeignete Mechanismen der Rechenschaftspflicht vorgesehen werden müssen.

3.2.   Maßnahmen zur internen Stärkung des Schengen-Raums

3.2.1.

Der EWSA begrüßt die Aufmerksamkeit, die den Maßnahmen gewidmet wird, die zwar streng genommen keine Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands darstellen, aber mit dem Funktionieren des Schengen-Raums verbunden sind.

3.2.2.

Auf die Sicherheitsbedenken der Mitgliedstaaten wird besser mit einer intensiveren und verstärkten Zusammenarbeit zwischen den Strafverfolgungsbehörden als mit der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen eingegangen.

3.2.3.

Der EWSA betont, dass bei allen Formen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit die Grundrechte, einschließlich der Verteidigungsrechte (7) und der Rechte der Opfer (8), uneingeschränkt geachtet werden müssen. Dies bedeutet auch, dass bei Verstößen gegen die Grundrechte die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den verschiedenen Akteuren (EU und national) nicht zu einem Mangel an Rechenschaftspflicht führen darf.

3.2.4.

Der Schutz personenbezogener Daten muss unter dem jeweiligen Rechtsrahmen jederzeit geachtet werden, insbesondere wenn es sich um hochsensible personenbezogene Daten handelt, wie dies bei den Prümer Beschlüssen der Fall ist.

3.2.5.

Mit Blick auf die Nutzung künstlicher Intelligenz in der grenzüberschreitenden Polizeiarbeit verweist der EWSA auf seine Stellungnahme zu der Verordnung über künstliche Intelligenz (9).

3.2.6.

Der EWSA möchte darauf hinweisen, dass im Anhang des Vorschlags für ein Gesetz über künstliche Intelligenz (10) die Möglichkeit vorgesehen ist, KI im Migrations-, Asyl- und Grenzmanagement einzusetzen. Insbesondere die Bezugnahme auf die Verwendung von Lügendetektoren und ähnlichen Instrumenten zur Ermittlung des emotionalen Zustands einer natürlichen Person ist besorgniserregend, da es an wissenschaftlichen Nachweisen für die Zuverlässigkeit solcher Verfahren mangelt.

3.2.7.

Zu den im neuen Migrations- und Asylpaket vorgeschlagenen spezifischen Maßnahmen verweist der EWSA auf seine Stellungnahme vom 17. Dezember 2020 (11).

3.2.8.

Der EWSA stellt den zusätzlichen Nutzen einer verstärkten Nutzung von vorab übermittelten Fluggastdaten (Advance Passenger Information) in Verbindung mit Fluggastdatensätzen (Passenger Name Records) in Frage und ist der Auffassung, dass ein systematischer und massenhafter Austausch personenbezogener Daten innerhalb des Schengen-Raums, der sich automatisch auch auf EU-Bürgerinnen und -Bürger auswirken würde, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, von der Kommission nicht überzeugend begründet wird.

3.2.9.

In Bezug auf die Anwendung des Europäischen Haftbefehls und anderer Instrumente, die die Zusammenarbeit im Bereich Strafverfolgung erleichtern, wie etwa die Europäische Ermittlungsanordnung, weist der EWSA darauf hin, dass gegenseitiges Vertrauen für das reibungslose Funktionieren dieser Instrumente der gegenseitigen Anerkennung unerlässlich ist. Dies erfordert eine noch wirksamere Überwachung der Rechtsstaatlichkeit durch die EU-Organe und eine Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gemäß Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Artikel 19 Absatz 1 EUV.

3.3.   Bessere Governance

3.3.1.

Der EWSA begrüßt, dass das Schengen-Forum den Mitgliedstaaten die Möglichkeit bieten kann, politisch wichtige Fragen im Zusammenhang mit der Schengen-Zusammenarbeit zu erörtern. Andere EU-Institutionen sowie der EWSA sollten jedoch informiert bleiben und an dem Forum teilnehmen können. Das Forum und seine Maßnahmen sollten möglichst transparent sein. Das Forum sollte Zugang zu seinen Dokumenten gewähren. Die neuerliche Vorlage des Schengen-Statusberichts ist zu begrüßen, aber in dieser Hinsicht nicht ausreichend.

3.3.2.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass der Schengener Grenzkodex geändert werden sollte, um einige der Erfahrungen aus der COVID-19-Pandemie zu berücksichtigen. Er betont, dass die zu ziehenden Lehren über den Aspekt der Binnengrenzen hinausgehen und das Funktionieren des Binnenmarktes selbst betreffen. Eine solche Änderung sollte daher Teil einer umfassenderen Eignungsprüfung des europäischen Rechtsrahmens für die Freizügigkeit in einer Welt sein, in der COVID-19 wahrscheinlich auch weiterhin unseren Alltag bestimmen wird. Der EWSA teilt die Auffassung, dass ein solcher Ansatz auch Vorschriften für Reisen in die EU umfassen sollte, die derzeit nicht im Schengener Grenzkodex enthalten sind. Der EWSA erbittet sich von der Kommission eine Antwort auf die Frage, ob sie eine Änderung der Verordnung über den kleinen Grenzverkehr in Betracht zieht.

3.3.3.

Nach Ansicht des EWSA sollte die Kommission eine entschlossenere Haltung einnehmen und grenzenloses Reisen in Europa fördern. Im EU-Vertrag ist eindeutig festgeschrieben, dass die EU ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum ohne Grenzen bieten wird. Das Recht der Mitgliedstaaten, Grenzkontrollen wieder einzuführen, stellt eine Ausnahme von diesem Recht dar, die eng auszulegen ist. Sie kann nicht als hoheitliches Vorrecht angesehen werden, sondern ist vielmehr an die Regeln des Schengener Grenzkodex gebunden. Bei jeder Überarbeitung des Kodex ist der Tatsache umfassend Rechnung zu tragen, dass die Wiedereinführung von Grenzkontrollen nur in Ausnahmefällen zulässig ist.

3.3.4.

Der EWSA begrüßt die Vorschläge für ein besseres Funktionieren des Schengen-Evaluierungsmechanismus, insbesondere im Hinblick auf eine schnellere Weiterverfolgung, stärkere Synergien mit dem Mechanismus für die Schwachstellenbeurteilung und eine verstärkte Aufmerksamkeit sowie einen bereichsübergreifenden Ansatz für die Menschenrechte. Es sollte jedoch darauf geachtet werden, dass der Schengen-Evaluierungsmechanismus keine eher technischen Fragen politisiert.

3.3.5.

Der EWSA fordert die Kommission auf, ihre vertraglichen Durchsetzungsbefugnisse aktiv in Fällen zu nutzen, in denen es an der Weiterverfolgung von Mängeln hapert, die bei Schengen-Evaluierungen festgestellt wurden. Systemische Praktiken, die Grundrechtsnormen verletzen, sollten vorrangig angegangen werden. Die Kommission sollte sich vor allem nicht nur auf die Ergebnisse des Schengen-Evaluierungsmechanismus stützen, sondern auch selbst die Lage der Grundrechte aktiv überwachen.

3.4.   Vollendung des Schengen-Raums

3.4.1.

Der EWSA begrüßt den Standpunkt der Kommission hinsichtlich der Vollendung des Schengen-Raums. Er betont den Zusammenhang zwischen Freizügigkeit, Unionsbürgerschaft und dem Wegfall von Grenzkontrollen. Derzeit kommen die Bürgerinnen und Bürger Bulgariens, Kroatiens und Rumäniens nicht in den vollen Genuss ihrer vertraglichen Rechte als EU-Bürger.

3.4.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass diese Mitgliedstaaten ihre Außengrenzen bereits im Einklang mit dem Schengener Grenzkodex kontrollieren. Ihr vollständiger Beitritt würde das Funktionieren und die Sicherheit der Europäischen Union durch ihre uneingeschränkte Beteiligung an allen Großdatenbanken im Bereich Justiz und Inneres erhöhen.

3.4.3.

Der EWSA fordert die Kommission auf, einen detaillierter ausgearbeiteten Fahrplan für den vollständigen Beitritt vorzulegen, und fordert den Rat auf, rasch entsprechend zu handeln.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  COM(2021) 278 final.

(2)  Siehe Ziffer 4.8 ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 62.

(3)  Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofs, Frontex‘s support to external border management: not sufficiently effective to date, 2021.

(4)  EWSA-Stellungnahmen zu Migration, ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 15, ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 58, ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 64.

(5)  Vermerk der Europäischen Kommission Implementation of interoperability: state of play on the implementation of the Entry/Exit System and the European Travel Information and Authorisation System, Juni 2021.

(6)  Verordnung (EU) 2018/1725 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2018 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 45/2001 und des Beschlusses Nr. 1247/2002/EG (ABl. L 295 vom 21.11.2018, S. 39).

(7)  Im Einklang mit Titel VI der Charta der Grundrechte und dem einschlägigen Sekundärrecht.

(8)  Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI (ABl. L 315 vom 14.11.2012, S. 57) sowie die Rechtsvorschriften für bestimmte Kategorien von Opfern von Menschenhandel, sexueller Ausbeutung und Kinderpornografie sowie Terrorismus.

(9)  INT/940 (ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 61).

(10)  COM(2021) 206 final, S. 4 und 5.

(11)  ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 15.


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/114


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Strategischer Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021-2027 — Arbeitsschutz in einer sich wandelnden Arbeitswelt

(COM(2021) 323 final)

(2022/C 105/18)

Berichterstatter:

Carlos Manuel TRINDADE

Befassung

Kommission, 10.8.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 153 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Annahme in der Fachgruppe

6.10.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

153/25/41

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) weist darauf hin, dass der Schutz vor Gesundheits- und Sicherheitsgefahren am Arbeitsplatz (kurz: „Arbeitsschutz“) ein Schlüsselelement ist, um dauerhaft menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu erreichen. Dieser Schutz ist in den Verträgen und der Charta der Grundrechte verankert und stellt ein Recht dar, das im Grundsatz 10 der europäischen Säule sozialer Rechte festgelegt und für das Erreichen der Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung grundlegend ist (1).

1.2.

Der EWSA teilt voll und ganz die Auffassung der Kommission, dass „gesunde und sichere Arbeitsbedingungen […] eine Voraussetzung für eine gesunde und produktive Erwerbsbevölkerung [sind]. Niemand sollte arbeitsbedingte Erkrankungen oder Arbeitsunfälle erleiden. Die Sicherheit am Arbeitsplatz ist ferner sowohl für die Nachhaltigkeit als auch für die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Wirtschaft ein wichtiger Aspekt“ (2).Der EWSA stimmt ebenfalls folgender Feststellung zu: „Guter Arbeitsschutz senkt auch die Gesundheitskosten und andere gesellschaftliche Belastungen. Im Gegensatz dazu sind die Kosten eines schlechten Arbeitsschutzes für den Einzelnen, die Unternehmen und die Gesellschaft hoch“ (3).

1.3.

Der EWSA begrüßt insgesamt die strategische Vision und die im strategischen Rahmen vorgesehenen Maßnahmen (unbeschadet der in dieser Stellungnahme vorgebrachten Bemerkungen, Vorschläge und Empfehlungen):

1.3.1.

Der Ausschuss nimmt insbesondere die Ankündigung der Kommission zur Kenntnis, „sofern die Sozialpartner nicht bereit sind, untereinander zu verhandeln, Ende 2021 eine Initiative zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Menschen, die über digitale Plattformen arbeiten, […] [vorzulegen, um] […] angemessene Arbeitsbedingungen — auch in Bezug auf Gesundheit und Sicherheit — [zu gewährleisten]“ (4).

1.3.2.

Dies gilt für (i) die Vision Null arbeitsbedingte Todesfälle, (ii) die vorgesehenen Maßnahmen zur Krebsbekämpfung, (iii) die Ratifizierung des IAO-Übereinkommens gegen Gewalt und Belästigung von 2019 (Nr. 190), (iv) eine vor Ende 2021 zu ergreifende Gesetzgebungsinitiative zur Prävention und Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt und (v) das Ziel der Kommission, psychosoziale und ergonomische Risiken in der Kampagne „Gesunde Arbeitsplätze“ zu berücksichtigen.

1.3.3.

Der EWSA befürwortet insbesondere: (i) die Feststellung, dass „es […] wichtig [ist], die Lehren aus der COVID-19-Pandemie zu ziehen […] [, indem] […] Synergien zwischen Arbeitsschutz und der öffentlichen Gesundheit weiter ausgebaut werden“, und (ii) die Aufnahme von COVID-19 in die Empfehlung der Europäischen Liste der Berufskrankheiten (5).

1.3.4.

Der EWSA befürwortet insbesondere: (i) die Notwendigkeit, dass die Mitgliedstaaten Initiativen ergreifen, um „dem rückläufigen Trend bei der Zahl der Arbeitsinspektionen […] entgegenzuwirken“, (ii) die Veranstaltung eines Gipfels zum Arbeitsschutz im Jahr 2023, dessen Schwerpunkt auf den Fortschritten bei der Verwirklichung der Vision Null arbeitsbedingte Todesfälle liegen wird, (iii) die Einführung eines bereits im Aktionsplan zur Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte vorgeschlagenen neuen Indikators für tödliche Arbeitsunfälle, (iv) die Verbesserung der Tätigkeit von Arbeitsinspektoren durch Leitlinien und Schulungen auf europäischer und nationaler Ebene, (v) die Förderung der Zusammenarbeit auf europäischer und nationaler Ebene zur Gewährleistung der einheitlichen Durchsetzung der Rechtsvorschriften, (vi) unterstützende Instrumente und Anleitungen für Unternehmen, insbesondere für Kleinst- und Kleinunternehmen, zur Einhaltung der Arbeitsschutzvorschriften (6).

1.3.5.

Der EWSA befürwortet insbesondere, dass: (i) die EU, die IAO und die WHO im Bereich Daten und Kenntnisse zusammenarbeiten; (ii) die EU in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten die Schaffung eines neuen Indikators für die Sterblichkeit aufgrund von Krankheiten, die auf berufsbedingte Risikofaktoren zurückzuführen sind (als Teil der UN-Nachhaltigkeitsziele) unterstützt; (iii) die EU die Integration des Rechts auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen in den IAO-Rahmen der grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit unterstützt; (iv) die EU beabsichtigt, den Arbeitsschutz in globalen Lieferketten zu fördern; (v) die EU dafür sorgen möchte, dass Arbeitsschutznormen im Rahmen von verbindlichen Verpflichtungen zu Arbeits- und Sozialstandards angemessen berücksichtigt werden und dass die Frage der menschenwürdigen Arbeit in künftigen EU-Handelsabkommen thematisiert wird; (vi) die Kandidatenländer dabei unterstützt werden, ihren Rechtsrahmen im Bereich Arbeitsschutz an den EU-Besitzstand anzugleichen (7).

1.4.

Der EWSA schlägt der Kommission insbesondere folgende Aktionen, Maßnahmen oder Initiativen vor, die in den strategischen Rahmen der EU 2021-2027 eingebettet werden sollten:

1.4.1.

Zu Abschnitt 2.1: Der EWSA (i) empfiehlt hinsichtlich der Selbstständigen, die gemäß dem strategischen Rahmen nicht den Arbeitsschutzvorschriften unterliegen, dass zeitnah eine Untersuchung unter Beteiligung von Kommission, Fachleuten und Sozialpartnern durchgeführt wird, um die beste Lösung zu finden, die dem Grundsatz eines sicheren und gesunden Arbeitsumfelds auch für Selbstständige gerecht wird. Die einschlägigen Schlussfolgerungen sollten auf dem Arbeitsschutz-Gipfel im Jahr 2023 vorgelegt werden; (ii) schlägt in Bezug auf den Plan der Kommission für eine nichtlegislative Initiative auf EU-Ebene im Bereich der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz gerade aufgrund Relevanz der im strategischen Rahmen dargelegten Grundsätze vor, dass hierfür eine Gesetzgebungsinitiative gewählt wird.

1.4.2.

Zu Abschnitt 2.2: Der EWSA (i) fordert die Kommission auf, im künftigen europäischen Plan zur Krebsbekämpfung berufsbedingte Krebserkrankungen zu berücksichtigen und in die Richtlinie über Karzinogene und Mutagene (CMD) reproduktionstoxische Stoffe und gefährliche Arzneimittel aufzunehmen. Gleichzeitig muss die langfristige Überwachung des Gesundheitszustands der Arbeitnehmer, die krebserregenden Stoffen ausgesetzt sind, gewährleistet werden, und zwar auch, wenn die entsprechende Arbeit nicht mehr ausgeübt wird; (ii) regt an, dass die Absicht der Kommission zu „prüfen, wie die Wirksamkeit der Richtlinie über Sanktionen gegen Arbeitgeber (2009/52/EG) gestärkt werden kann“, zu einer Überarbeitung und in diesem Zuge zu einer Verschärfung der Sanktionen gegen die zuwiderhandelnden Arbeitgeber führen sollte; (iii) hält angesichts der jüngsten Lehren aus der COVID-19-Pandemie eine Gesetzgebungsinitiative zur Prävention psychosozialer Risiken für dringend erforderlich; (iv) erachtet aufgrund der bisherigen Erfahrungen und Forschungsergebnisse im Bereich der Muskel-Skelett-Erkrankungen eine einschlägige Gesetzgebungsinitiative als notwendig.

1.4.3.

Zu Abschnitt 2.3: Der EWSA empfiehlt, (i) die Empfehlung mit der Europäischen Liste der Berufskrankheiten in eine Richtlinie umzuwandeln; (ii) die Richtlinie über biologische Arbeitsstoffe unter Berücksichtigung der jüngsten Erfahrungen zu verbessern; (iii) hinsichtlich der nationalen Arbeitsaufsichtsbehörden das Ziel festzulegen, dass bis zum Ende der Geltungsdauer des strategischen Rahmens das in den IAO-Normen festgelegte Verhältnis von einem Arbeitsinspektor pro 10 000 Arbeitnehmer in den Mitgliedstaaten erreicht wird. Wird dieses Ziel während des derzeitigen strategischen Rahmens nicht erreicht, sollte die Kommission eine entsprechende Gesetzgebungsinitiative vorlegen.

1.4.4.

Zu Abschnitt 3: Der EWSA empfiehlt, die Aufgaben der Europäischen Arbeitsbehörde (ELA) angesichts der wichtigen Rolle, die sie bei der Koordinierung grenzüberschreitender Inspektionen spielt, im strategischen Rahmen ordnungsgemäß zu berücksichtigen und zu fördern.

1.5.

Der EWSA stellt fest, dass trotz einiger Verbesserungen in den letzten Jahren nach wie vor ein erheblicher Mangel an Informationen und Kenntnissen über den tatsächlichen Stand des Arbeitsschutzes in der EU und den Mitgliedstaaten besteht. Er ist überzeugt, dass dieses Wissen unerlässlich ist, um die Herausforderungen besser zu erkennen und wirksamer den Risiken vorzubeugen, geeignete Strategien festzulegen und die Umsetzung und Fortschritte auf EU-Ebene und in den einzelnen Mitgliedstaaten zu überwachen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Ziele und Maßnahmen, die sich aus dem strategischen Rahmen für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit für den Zeitraum 2021-2027 ergeben.

1.6.

Der EWSA betont, dass bei der Überarbeitung der geltenden Arbeitsschutzvorschriften der EU und der Mitgliedstaaten der ökologische, digitale, demografische und soziale Wandel der europäischen Wirtschaft, insbesondere der Arbeitswelt, berücksichtigt werden muss, um Arbeitnehmer oder Selbständige zu schützen, in diesem Fall in Einklang mit Ziffer 1.4.1 (i).

1.7.

Die Mitgliedstaaten tragen eine besondere Verantwortung für die Einhaltung der Arbeitsschutzvorschriften und die Gewährleistung gesunder und sicherer Arbeitsbedingungen für alle europäischen Arbeitnehmer, insbesondere Saisonarbeitskräfte und die am stärksten gefährdeten Gruppen wie Jugendliche, ältere Personen, Frauen, Menschen mit Behinderungen, Migranten und prekär Beschäftigte. Die Stärkung der technischen und personellen Ressourcen der Arbeitsaufsichtsbehörden, die in den letzten Jahren in vielen Mitgliedstaaten abgebaut wurden, sowie eine bessere Koordinierung, Zusammenarbeit und Schulung auf europäischer Ebene sind Schlüsselfaktoren für spürbare Verbesserungen bei der Durchsetzung der Arbeitsschutzvorschriften. Prioritär sollten die einzelnen Mitgliedstaaten Leitlinien und Unterstützung für KMU (vor allem Kleinstunternehmen) im Hinblick auf die Einhaltung der Arbeitsschutzvorschriften bereitstellen. Die Europäische Kommission ist als Hüterin der Verträge dafür verantwortlich, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitsschutzvorschriften ordnungsgemäß einhalten.

1.8.

Der EWSA empfiehlt der Kommission und den Mitgliedstaaten, bei der Aktualisierung der nationalen Arbeitsschutzstrategien den ständigen sozialen Dialog zwischen den Sozialpartnern über die Arbeitsschutzbedingungen in den einzelnen Branchen, Unternehmen und Arbeitsstätten durch entsprechende Initiativen zu fördern. Die Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter müssen unbedingt beteiligt und fortlaufend zur Risikobewertung und -prävention konsultiert werden, um sichere und gesunde Arbeitsumgebungen zu fördern, was sich unmittelbar auf die Gesundheit der Arbeitnehmer, die Produktivität der Unternehmen und die öffentlichen Gesundheitsdienste auswirken wird.

1.9.

Angesichts der Herausforderungen der Globalisierung und des Bestrebens der EU, „die Arbeitsschutzstandards weltweit anzuheben“, empfiehlt der EWSA der Kommission und den Mitgliedstaaten, eng mit der IAO und der WHO zusammenzuarbeiten, um das Recht auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen im Rahmen der von der IAO festgelegten grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit und zur Gewährleistung der Einhaltung dieser Grundsätze in den globalen Lieferketten zu fördern.

2.   Allgemeiner Hintergrund

2.1.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass „seit fast 20 Jahren […] die strategischen Rahmen für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz eine zentrale Rolle bei den Entscheidungen der nationalen Behörden und der Sozialpartner über Ziele im Arbeitsschutzbereich spielen“ (8). Der EWSA hält es jedoch für unbestreitbar, dass die Bedeutung dieser strategischen Rahmen in den nationalen Plänen zwar anerkannt wird, ihre Sichtbarkeit aber nicht ausreicht und dass die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in mehreren Mitgliedstaaten nicht genügend in die Ausarbeitung und Überwachung dieser Rahmen eingebunden werden.

2.2.

Der EWSA nimmt die Bewertung des strategischen Rahmens der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2014-2020 zur Kenntnis, bei der wichtige Aspekte ermittelt wurden wie etwa (i) die Mittelknappheit der Mitgliedstaaten, (ii) die Notwendigkeit, Berufskrankheiten, demografischen Veränderungen, psychosozialen Risiken und Muskel-Skelett-Erkrankungen mehr Aufmerksamkeit zu widmen, und (iii) die Notwendigkeit, Arbeitsaufsichtsbehörden und Unternehmen bei der Verbesserung ihrer Arbeitsschutzstandards zu unterstützen (9).

2.3.

Der EWSA stellt fest, dass die europäischen Rechtsvorschriften die Verringerung dieser Risiken ermöglicht und zur Verbesserung der Arbeitsschutznormen in sämtlichen Wirtschaftszweigen aller Mitgliedstaaten beigetragen haben. Dennoch bleiben Herausforderungen bestehen, und die COVID-19-Pandemie hat die Risiken verschärft, die eine Lösung erfordern.

2.4.

Der EWSA erkennt an, dass in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte im Bereich des Arbeitsschutzes erreicht wurden: Die Zahl tödlicher Arbeitsunfälle ist im Zeitraum von 1994 bis 2018 um etwa 70 % zurückgegangen. Obwohl zweifellos auch die Deindustrialisierung in Europa und eine bessere medizinische Versorgung dazu beigetragen haben, hat hier das Arbeitsschutzsystem der EU eine wesentliche Rolle gespielt (10).

2.5.

Der EWSA stellt fest, dass es trotz dieser Fortschritte 2018 in der EU-27 immer noch über 3 300 tödliche und 3,1 Millionen sonstige Arbeitsunfälle gab und dass über 200 000 Arbeitskräfte jedes Jahr an arbeitsbedingten Erkrankungen sterben. Dies verursacht großes menschliches Leid und deshalb ist die Aufrechterhaltung und Verbesserung der Arbeitnehmerschutznormen eine permanente Herausforderung und Notwendigkeit (11).

2.6.

Der EWSA betont, dass Arbeitsunfälle und berufsbedingte Erkrankungen in der EU jährliche Kosten in Höhe von 3,3 % des BIP (ca. 460 Mrd. EUR im Jahr 2019) verursachen und dass Schätzungen zufolge jeder Euro, der in Arbeitsschutz investiert wird, sich im Schnitt um mehr als das Doppelte für die Arbeitgeber auszahlt (12).

2.7.

Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, wie wichtig der Arbeitsschutz für die Gesundheit der Arbeitnehmer, für das Funktionieren unserer Gesellschaft und für das Fortbestehen wichtiger wirtschaftlicher Tätigkeiten ist. Der EWSA teilt die Feststellung, dass die Pandemie auch deutlich gemacht hat, dass eine zwischen dem Arbeitsschutz und den Maßnahmen für öffentliche Gesundheit abgestimmte Strategie erforderlich ist, um Synergien zwischen beiden Bereichen zu schaffen, die „für das Funktionieren unserer Gesellschaft und für das Fortbestehen wichtiger wirtschaftlicher Tätigkeiten“ von unmittelbarer Bedeutung sind (13).

3.   Der strategische Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021-2027

3.1.

Vor diesem Hintergrund legt die Kommission den neuen strategischen Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021-2027 (14) (im Folgenden: „strategischer Rahmen“) vor, der in der europäischen Säule sozialer Rechte angekündigt wurde und auf folgende drei Hauptziele ausgerichtet ist:

Antizipierung und Bewältigung des Wandels in der neuen Arbeitswelt, der durch den grünen, den digitalen und den demografischen Übergang hervorgerufen wird;

Verbesserung der Prävention von Arbeitsunfällen und arbeitsbedingten Erkrankungen;

Stärkung der Vorsorge für etwaige künftige Gesundheitskrisen.

3.2.

Der EWSA teilt die Auffassung der Europäischen Kommission, dass die Verwirklichung dieser Ziele Folgendes erfordert:

(i)

einen gut etablierten sozialen Dialog;

(ii)

mehr Forschungs- und Datenerhebungskapazitäten auf Ebene der Mitgliedstaaten und der EU;

(iii)

verstärkte Durchsetzung;

(iv)

Sensibilisierung;

(v)

stärkere Mobilisierung von Finanzmitteln.

3.3.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass der strategische Rahmen die Durchführung von 36 Maßnahmen im Geltungszeitraum vorsieht, wobei die Kommission für 17, die Mitgliedstaaten für 16 und die Sozialpartner für 3 Maßnahmen unmittelbar zuständig sein werden.

4.   Anmerkungen zum strategischen Rahmen

4.1.   Zu Abschnitt 2.1: Antizipierung und Bewältigung des Wandels

4.1.1.

Im Zuge des ökologischen und des digitalen Wandels verändert sich das Wesen von Aufgaben, Arbeitsmustern und Arbeitsplätzen, womit für die Mitgliedstaaten, Unternehmen und Arbeitnehmer große Herausforderungen verbunden sind.

4.1.2.

Die Alterung der Erwerbsbevölkerung erfordert eine Anpassung des Arbeitsumfelds und der Arbeitsaufgaben an die besonderen Bedürfnisse älterer Erwerbstätiger, um die einschlägigen Risiken zu minimieren. Der Arbeitsschutz ist dabei für eine angemessene Reaktion auf den demografischen Wandel von wesentlicher Bedeutung.

4.1.3.

Digitale Technologien können auch die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben erleichtern, auch für — ältere — Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Erwerbstätige mit Behinderung, und durch verfügbare Instrumente, Sensibilisierungskampagnen und effizientere Inspektionen zur Durchsetzung der Arbeitsschutzvorschriften beitragen.

4.1.4.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Robotisierung und der Einsatz künstlicher Intelligenz die Risiken gefährlicher Arbeit, z. B. in stark kontaminierten Bereichen wie Abwassersystemen, Mülldeponien oder Agrarflächen, auf denen Pflanzenschutzmittel ausgebracht werden, verringern können und auch neue Möglichkeiten für Arbeitnehmer und Unternehmen eröffnen. Tatsache ist aber auch, dass die neuen Technologien große Herausforderungen mit sich bringen, da die Arbeit zu unregelmäßigen Zeiten und an unterschiedlichen Orten ausgeübt wird, die Arbeitnehmer überwacht werden können und die neuen Instrumente und Maschinen durchaus risikobehaftet sind. Dies erhöht den psychischen Druck und in der Folge die Zahl psychosomatischer Erkrankungen, die geeignete Maßnahmen erfordern.

4.1.5.

Auch wenn die EU-Rechtsvorschriften im Bereich Arbeitsschutz bereits viele Risiken abdecken, die sich aus der Entwicklung der einzelnen Branchen, technischen Ausstattung und Arbeitsstätten ergeben, teilt der EWSA die Ansicht der Europäischen Kommission, dass der technische Fortschritt, die Alterung der Erwerbsbevölkerung und die Entwicklung neuer Arbeitsformen neue Gesetzgebungsvorschläge erfordern.

4.1.6.

In diesem Zusammenhang empfiehlt der EWSA der Kommission, die Rahmenrichtlinie über den Arbeitsschutz zu überarbeiten, um sie an die Gegebenheiten der Arbeitswelt und die neuen Risiken und Herausforderungen des Klimawandels (wie etwa die Arbeit bei hohen Temperaturen unter freiem Himmel), des demografischen Wandels und der Digitalisierung anzupassen.

4.1.7.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die bereits vor der Pandemie sehr hohen psychosozialen Risiken durch COVID-19 sowie die nicht geplante massive Einführung der unfreiwilligen Online-Arbeit und die damit einhergehenden besonderen Bedingungen erheblich zugenommen haben, wie etwa die sich auflösenden Grenzen zwischen Beruf und Privatleben, die ständige Konnektivität, das mangelnde soziale Miteinander und der verstärkte Einsatz von IKT.

4.2.   In Bezug auf Abschnitt 2.2: Verbesserung der Prävention arbeitsbedingter Krankheiten und Unfälle

4.2.1.

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, insbesondere dass die Verhinderung von arbeitsbedingten Todesfällen und die Stärkung der Präventionskultur in der EU nur möglich sein werden „durch: i) die eingehende Untersuchung von Unfällen und Todesfällen am Arbeitsplatz; ii) die Aufdeckung und Beseitigung der Ursachen für diese Unfälle und Todesfälle; iii) die Sensibilisierung für die Risiken im Zusammenhang mit arbeitsbedingten Unfällen, Verletzungen und Berufskrankheiten; iv) die Stärkung der Durchsetzung bestehender Vorschriften und Leitlinien.“

4.2.2.

Der EWSA hält die geschätzten 100 000 Todesfälle durch arbeitsbedingte Krebserkrankungen für nicht hinnehmbar und fordert die Mitgliedstaaten auf, die Strategie des Fahrplans zu Karzinogenen rasch umzusetzen. Es geht darum, die auf EU-Ebene beschlossenen Grenzwerte und andere Bestimmungen anzuwenden, die Exposition gegenüber 26 gefährlichen Stoffen zu begrenzen und damit die Arbeitsbedingungen für rund 40 Millionen Arbeitnehmer zu verbessern. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Liste gefährlicher Stoffe überprüft und insbesondere durch Nanomaterialien und ihre karzinogene Wirkung ergänzt werden sollte, und empfiehlt, nunmehr 50 Karzinogene aufzulisten, für die Expositionsgrenzwerte gelten.

4.2.3.

Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, die Gesundheit am Arbeitsplatz zu fördern und Forschung und Datenerhebung sowohl auf EU-Ebene als auch auf nationaler Ebene vorrangig zu stärken. Die entsprechenden Maßnahmen sollten sich insbesondere auf arbeitsbedingte Herz-Kreislauf- und Muskel-Skelett-Erkrankungen sowie psychosoziale Risiken erstrecken.

4.2.4.

Der EWSA unterstützt den Vorschlag, die Methodik für den Umgang mit gefährlichen Stoffen fortlaufend zu aktualisieren und zu ermitteln, wie die Grenzwerte im Bereich des Arbeitsschutzes effizienter festgelegt werden können. Er unterstreicht und befürwortet, dass die Behandlung gefährlicher Stoffe auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Bewertung im Einklang mit dem Grundsatz „Ein Stoff, eine Bewertung“ erfolgen sollte. Auch ist er der Auffassung, dass sich die Konsultation des dreigliedrigen Beratenden Ausschusses für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz und die enge Einbindung aller Interessenträger als erfolgreich erwiesen haben.

4.2.5.

In Bezug auf die Auffassung des Europäischen Parlaments und der Interessenträger, dass das Gesundheitspersonal, das gefährlichen Arzneimitteln und anderen Risiken ausgesetzt ist, geschützt werden muss, hält der EWSA eine Vertiefung dieser die Thematik für notwendig, und zwar nicht nur durch weitergehende Maßnahmen in Form von Schulung, Unterrichtung und Beratung, sondern auch durch verbindliche Rechtsvorschriften.

4.2.6.

Der EWAS vertritt die Ansicht, dass die Anerkennung von Vielfalt, einschließlich geschlechtsspezifischer Unterschiede und Ungleichheiten, und die Bekämpfung von Diskriminierung unter den Arbeitskräften für die Gewährleistung der Sicherheit und Gesundheit von Arbeitnehmern — insbesondere bei der Bewertung von Risiken am Arbeitsplatz — von entscheidender Bedeutung ist. Hierzu müssen Maßnahmen zur Vermeidung geschlechtsspezifischer Vorurteile unterstützt werden. In jedem Fall gilt es zu berücksichtigen, dass die Arbeitsfähigkeit durch biologische Faktoren (Stillzeit, Schwangerschaft) beeinträchtigt werden kann.

4.2.7.

Die Beschäftigungsperspektiven von Menschen mit Behinderungen müssen ebenfalls verbessert werden, u. a. durch die konkrete Gewährleistung des Arbeitsschutzes und durch Rehabilitationsmaßnahmen für Menschen, die an chronischen Krankheiten leiden oder Unfälle erlitten haben.

4.2.8.

Der Schutz besonders gefährdeter Gruppen von Arbeitnehmern muss verbessert werden. In diesem Zusammenhang sollten alle Mitgliedstaaten den Arbeitsaufsichtsbehörden und der Ratifizierung des Übereinkommens gegen Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt von 2019 besondere Aufmerksamkeit schenken. Der EWSA fordert alle Mitgliedstaaten auf, das Übereinkommen während der Laufzeit dieser Strategie zu ratifizieren.

4.3.   Zu Abschnitt 2.3: Stärkung der Vorsorge — schnelles Reagieren auf Bedrohungen

4.3.1.

Die COVID-19-Krise hat gezeigt, dass der Arbeitsschutz eine entscheidende Rolle dabei spielt, Arbeitnehmer, Unternehmen und Mitgliedstaaten zu helfen, Leben zu schützen und Risiken für das Wohlbefinden, die Geschäftskontinuität und die Nachhaltigkeit zu begegnen.

4.3.2.

Dank der Synergien zwischen Arbeitsschutz und öffentlicher Gesundheit konnte während der Krise wirkungsvoll reagiert werden — und das ist auch eine Lehre für die Zukunft. Diese Interaktion muss in allen Mitgliedstaaten verstärkt werden, damit die EU für künftige Gesundheitskrisen gewappnet ist.

4.3.3.

Der EWSA erkennt die Bedeutung der Arbeit der EU-OSHA an: Diese Agentur hat Leitfäden und Instrumente in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten und Sozialpartnern entwickelt, dank derer Unternehmen, insbesondere KMU, angemessen auf die verschiedenen Phasen der Pandemie reagieren konnten.

4.3.4.

Die Klassifizierung von SARS-CoV-2 im Rahmen der Richtlinie über organische Arbeitsstoffe hat dazu beigetragen, den Schutz des Personals in Einrichtungen zu gewährleisten, in denen direkt mit dem Virus umgegangen wird, um Impfstoffe herzustellen, zu verteilen und einzusetzen.

4.3.5.

Die Pandemie hat verdeutlicht, dass mobile Arbeitnehmer und Grenzgänger — einschließlich Saisonarbeitskräften, Migranten und prekär Beschäftigten — in höherem Maße ungesunden oder unsicheren Lebens- und Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind, wie z. B. schlechten oder überfüllten Unterkünften oder mangelnder Unterrichtung über ihre Rechte. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, ihren Arbeitsschutzverpflichtungen nachzukommen und die Maßnahmen zu verstärken, die ein Bewusstsein für die Notwendigkeit gerechter und sicherer Arbeits- und Lebensbedingungen für Saisonarbeitskräfte, mobile Arbeitnehmer und Grenzgänger schaffen sollen.

4.3.6.

Der EWSA begrüßt die Feststellung der Kommission, wonach Arbeitskräfte, die sich mit COVID-19 infiziert haben, sowie Familien, die Familienangehörige aufgrund der beruflichen Exposition gegenüber SARS-CoV-2 verloren haben, unterstützt werden müssen, und dass 25 Mitgliedstaaten bereits Schritte in diese Richtung unternommen haben, unter anderem durch die Anerkennung von COVID-19 als Berufskrankheit (15).

4.4.   Zu Abschnitt 3: Umsetzung des aktualisierten strategischen Rahmens

4.4.1.

Der EWSA unterstützt folgende Aussage der Kommission: „Die Sozialpartner sind besonders gut in der Lage, Lösungen zu finden, die den Umständen einer bestimmten Tätigkeit oder eines bestimmten Sektors Rechnung tragen“ (16).

4.4.2.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Pandemie gezeigt hat, dass Unternehmen und Arbeitsstätten auch relevante Infektionsherde sind. Deshalb sind auf die einzelne Wirtschaftseinheit entsprechend abgestimmte Arbeitsschutzmaßnahmen besonders wichtig.

4.4.3.

Der EWSA empfiehlt der Kommission in dieser Hinsicht, im strategischen Rahmen Initiativen zur Förderung eines ständigen sozialen Dialogs zwischen den Sozialpartnern über die Arbeitsschutzbedingungen in Wirtschaftssektoren und vor allem in Unternehmen vorzusehen. Die Einbeziehung der Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter und ihre fortlaufende Konsultation zu den jeweiligen Bedingungen, in enger Abstimmung mit den Tarifverhandlungen und -verträgen, die Bewertung, die Prävention und das Management von Risiken, die Nutzung von Chancen und die Gewährleistung sicherer und gesunder Arbeitsumgebungen, all das hat unmittelbare Auswirkungen auf die Gesundheit der Arbeitnehmer, die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen sowie die Gesellschaft, insbesondere die öffentlichen Gesundheitsdienste.

4.4.4.

Der EWSA teilt die Auffassung der Kommission, dass es nur mit genauen und aktuellen Kenntnissen über die tatsächliche Situation des Arbeitsschutzes auf Ebene der EU wie der Mitgliedstaaten möglich ist, Herausforderungen zu ermitteln und Risiken vorzubeugen sowie angemessene Maßnahmen festzulegen, ihre Durchführung zu überwachen und ihre Ergebnisse zu analysieren. Auch die Kenntnisse über wissenschaftliche und technologische Innovationen und ihre ständige Berücksichtigung in der politischen Entscheidungsfindung ermöglichen eine konstante Verbesserung dieses Prozesses.

4.4.5.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass es auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten aktualisierte und der Realität entsprechende Arbeitsschutzdaten, einschließlich neuer Sozialindikatoren, geben muss, mit denen Forschungsarbeiten, Berichte, Analysen und Studien zum Arbeitsschutz in all seinen Facetten erstellt werden können (17).

4.4.6.

Der EWSA nimmt zur Kenntnis, dass „der Erfolg dieses strategischen Rahmens […] weitgehend von seiner Umsetzung auf nationaler und lokaler Ebene ab[hängt]“ (18). Dementsprechend stehen die Mitgliedstaaten stärker in der Verantwortung dafür, dass die Rechtsvorschriften eingehalten und durchgesetzt, der soziale Dialog zwischen den Sozialpartnern gefördert und diesbezügliche Hindernisse beseitigt werden. Denn zu den Grundvoraussetzungen für den Erfolg des strategischen Rahmens gehören Maßnahmen der Arbeitsaufsichtsbehörden in den Mitgliedstaaten, die Tätigkeit von Fachleuten und Fachärzten für Arbeitsmedizin und die Beteiligung der Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter im Bereich des Arbeitsschutzes.

4.4.7.

Im Hinblick auf eine erfolgreiche Umsetzung der Ziele des strategischen Rahmens weist der EWSA darauf hin, dass Unternehmen eine umfassende Verantwortung für den Arbeitsschutz aller tragen, sowohl für die in der Betriebsstätte tätigen Arbeitnehmer als für die Telearbeiter. Das kann allerdings ein Problem sein, wenn der Arbeitnehmer zu Hause oder an einem anderen Ort arbeitet, der sich der Kontrolle bzw. dem Zugang durch den Arbeitgeber entzieht.

4.4.8.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Sensibilisierung für die Risiken im Zusammenhang mit arbeitsbedingten Unfällen, Verletzungen und Erkrankungen grundlegend ist, um die Ziele des strategischen Rahmens zu erreichen, darunter vornehmlich die Vision Null arbeitsbedingte Unfälle. Tatsächlich ist die Sensibilisierung eine der wichtigsten Maßnahmen für die Umsetzung der Bestimmungen; der eigentliche Schlüssel zum Erfolg liegt aber in den bestehenden Rechtsvorschriften und — a posteriori — in der Beteiligung und Überwachung. Der EWSA ist überzeugt, dass der Schwerpunkt auf die Prävention und die Einhaltung der Arbeitsschutzrichtlinien gelegt werden muss, um die Ziele dieser Strategie zu erreichen.

4.4.9.

Der EWSA ist der Auffassung, dass diese Sensibilisierung weitgehend von der aktiven Beteiligung der Sozialpartner und aller Interessenträger abhängt. In diesem Zusammenhang hält es der EWSA für wünschenswert und empfiehlt, dass die Kommission die Rolle des Beratenden Ausschusses für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz stärker berücksichtigt.

4.4.10.

Der EWSA vertritt die Ansicht, dass die Verwirklichung dieser Ziele zwar allen beteiligten Akteuren (Mitgliedstaaten, Unternehmen, Arbeitsaufsichtsbehörden und Arbeitnehmern) obliegt, jedoch nicht jeder Akteur im gleichem Maße in der Verantwortung steht. Da Arbeitnehmer die Beteiligten sind, die die größte Vulnerabilität und gleichzeitig die geringste Macht haben, müssen sie auch am stärksten geschützt werden.

4.4.11.

Nach Auffassung des EWSA sollten deshalb Arbeitnehmer, die der Meinung sind, dass an ihrem Arbeitsplatz die Gefahr eines Unfalls oder einer schweren Erkrankung — insbesondere mit möglicher Todesfolge — besteht, diese Arbeit ablehnen können. Wenn ihr Leben in Gefahr ist, weil das Unternehmen die Arbeitsschutzvorschriften nicht einhält, sollten sie letztlich das Recht auf Vertragsbeendigung mit Schadenersatz haben.

4.4.12.

Der EWSA stellt fest, dass es nicht weniger als elf europäische Fonds und Finanzierungsmechanismen gibt, mit denen Maßnahmen in den verschiedenen Bereichen des Arbeitsschutzes finanziert werden können (19). Er betont, dass die finanzielle Unterstützung von Arbeitsschutzmaßnahmen zu den wichtigsten Instrumenten für den Erfolg des strategischen Rahmens gehört. Der Ausschuss empfiehlt der Kommission, den Mitgliedstaaten und insbesondere den Sozialpartnern detailliertere Informationen zur Verfügung zu stellen, um den Zugang zu Finanzmitteln für und die Durchführung von Arbeitsschutzprojekten zu erleichtern.

4.5.   Zu Abschnitt 4: Förderung von effektiven Arbeitsschutzstandards weltweit

4.5.1.

Der EWSA teilt die Feststellung, dass „in einer globalisierten Welt […] die Gefahren für Gesundheit und Sicherheit nicht an den Grenzen halt [machen]“ und dass das Ziel des strategischen Rahmens darin besteht, „die Arbeitsschutzstandards weltweit anzuheben“ (20).

4.5.2.

Der EWSA befürwortet ebenso wie die Kommission die Zusammenarbeit mit der IAO zur Umsetzung und Überwachung der Jahrhunderterklärung der IAO von 2019 für die Zukunft der Arbeit und unterstützt die Aufnahme des Rechts auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen in die grundlegenden Arbeitsprinzipien und -rechte der IAO.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Mitteilung der Kommission (COM(2021) 323 final).

(2)  Ebd.

(3)  Ebd.

(4)  Ebd.

(5)  Ebd.

(6)  Ebd.

(7)  Ebd.

(8)  Ebd.

(9)  Ebd.

(10)  Mitteilung der Kommission (COM(2021) 323 final).

(11)  Ebd.

(12)  Ebd.

(13)  Mitteilung der Kommission (COM(2021) 323 final).

(14)  Ebd.

(15)  Ebd.

(16)  Ebd.

(17)  Ebd.

(18)  Ebd.

(19)  Ebd.

(20)  Ebd.


ANHANG

Folgende abgelehnte Änderungsanträge erhielten mindestens ein Viertel der abgegebenen Stimmen (Art. 43 Abs. 2 der Geschäftsordnung):

ÄNDERUNGSANTRAG 1

von:

LE BRETON Marie-Pierre

MINCHEVA Mariya

PILAWSKI Lech

VADÁSZ Borbála

VERNICOS George

SOC/698 — Strategischer Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021-2027

Ziffer 4.1.5

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Auch wenn die EU-Rechtsvorschriften im Bereich Arbeitsschutz bereits viele Risiken abdecken, die sich aus der Entwicklung der einzelnen Branchen, technischen Ausstattung und Arbeitsstätten ergeben, teilt der EWSA die Ansicht der Europäischen Kommission, dass der technische Fortschritt, die Alterung der Erwerbsbevölkerung und die Entwicklung neuer Arbeitsformen neue Gesetzgebungsvorschläge erfordern.

Auch wenn die EU-Rechtsvorschriften im Bereich Arbeitsschutz bereits viele Risiken abdecken, die sich aus der Entwicklung der einzelnen Branchen, technischen Ausstattung und Arbeitsstätten ergeben, teilt der EWSA die Ansicht der Europäischen Kommission, dass der technische Fortschritt, die Alterung der Erwerbsbevölkerung und die Entwicklung neuer Arbeitsformen neue Gesetzgebungsvorschläge erfordern könnten .

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

70

Nein-Stimmen:

118

Enthaltungen:

11

ÄNDERUNGSANTRAG 2

von:

LE BRETON Marie-Pierre

MINCHEVA Mariya

PILAWSKI Lech

VADÁSZ Borbála

VERNICOS George

SOC/698 — Strategischer Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021-2027

Ziffer 4.1.6

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

In diesem Zusammenhang empfiehlt der EWSA der Kommission, die Rahmenrichtlinie über den Arbeitsschutz zu überarbeiten, um sie an die Gegebenheiten der Arbeitswelt und die neuen Risiken und Herausforderungen des Klimawandels (wie etwa die Arbeit bei hohen Temperaturen unter freiem Himmel), des demografischen Wandels und der Digitalisierung anzupassen .

In diesem Zusammenhang empfiehlt der EWSA der Kommission, die Umsetzung der Rahmenrichtlinie über den Arbeitsschutz weiterhin sehr aufmerksam zu überwachen und diese erforderlichenfalls zu überarbeiten, um sicherzustellen, dass sie auch die neuen Risiken und Herausforderungen des Klimawandels (wie etwa die Arbeit bei hohen Temperaturen unter freiem Himmel), des demografischen Wandels und der Digitalisierung abdeckt .

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

68

Nein-Stimmen:

124

Enthaltungen:

12

ÄNDERUNGSANTRAG 3

von:

LE BRETON Marie-Pierre

MINCHEVA Mariya

PILAWSKI Lech

VADÁSZ Borbála

VERNICOS George

SOC/698 — Strategischer Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021-2027

Ziffer 4.2.2

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Der EWSA hält die geschätzten 100 000  Todesfälle durch arbeitsbedingte Krebserkrankungen für nicht hinnehmbar und fordert die Mitgliedstaaten auf, die Strategie des Fahrplans zu Karzinogenen rasch umzusetzen. Es geht darum, die auf EU-Ebene beschlossenen Grenzwerte und andere Bestimmungen anzuwenden, die Exposition gegenüber 26 gefährlichen Stoffen zu begrenzen und damit die Arbeitsbedingungen für rund 40 Millionen Arbeitnehmer zu verbessern. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Liste gefährlicher Stoffe überprüft und insbesondere durch Nanomaterialien und ihre karzinogene Wirkung ergänzt werden sollte, und empfiehlt, nunmehr 50 Karzinogene aufzulisten, für die Expositionsgrenzwerte gelten.

Der EWSA hält die geschätzten 100 000  Todesfälle durch arbeitsbedingte Krebserkrankungen für nicht hinnehmbar und fordert die Mitgliedstaaten auf, die Strategie des Fahrplans zu Karzinogenen rasch umzusetzen. Es geht darum, die auf EU-Ebene beschlossenen Grenzwerte und andere Bestimmungen anzuwenden, die Exposition gegenüber 26 gefährlichen Stoffen zu begrenzen und damit die Arbeitsbedingungen für rund 40 Millionen Arbeitnehmer zu verbessern. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Liste gefährlicher Stoffe überprüft und insbesondere durch bestimmte Nanomaterialien mit nachweislich karzinogener Wirkung ergänzt werden sollte, und empfiehlt, größtmögliche Anstrengungen zu unternehmen, um die Liste der Karzinogene , für die Expositionsgrenzwerte gelten , zu erweitern .

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

68

Nein-Stimmen:

135

Enthaltungen:

6

ÄNDERUNGSANTRAG 4

von:

LE BRETON Marie-Pierre

MINCHEVA Mariya

PILAWSKI Lech

VADÁSZ Borbála

VERNICOS George

SOC/698 — Strategischer Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021-2027

Ziffer 4.2.5

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

In Bezug auf die Auffassung des Europäischen Parlaments und der Interessenträger, dass das Gesundheitspersonal, das gefährlichen Arzneimitteln und anderen Risiken ausgesetzt ist, geschützt werden muss, hält der EWSA eine Vertiefung dieser die Thematik für notwendig, und zwar nicht nur durch weitergehende Maßnahmen in Form von Schulung, Unterrichtung und Beratung, sondern auch durch verbindliche Rechtsvorschriften .

In Bezug auf die Auffassung des Europäischen Parlaments und der Interessenträger, dass das Gesundheitspersonal, das gefährlichen Arzneimitteln und anderen Risiken ausgesetzt ist, geschützt werden muss, hält der EWSA nicht nur weitergehende Maßnahmen in Form von Schulung, Unterrichtung und Beratung, sondern auch eine wirksame Umsetzung der bestehenden Rechtsvorschriften für notwendig .

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

71

Nein-Stimmen:

133

Enthaltungen:

9

ÄNDERUNGSANTRAG 5

von:

LE BRETON Marie-Pierre

MINCHEVA Mariya

PILAWSKI Lech

VADÁSZ Borbála

VERNICOS George

SOC/698 — Strategischer Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021-2027

Ziffer 4.3.5

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Die Pandemie hat verdeutlicht, dass mobile Arbeitnehmer und Grenzgänger — einschließlich Saisonarbeitskräften, Migranten und prekär Beschäftigten  — in höherem Maße ungesunden oder unsicheren Lebens- und Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind, wie z. B. schlechten oder überfüllten Unterkünften oder mangelnder Unterrichtung über ihre Rechte. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, ihren Arbeitsschutzverpflichtungen nachzukommen und die Maßnahmen zu verstärken, die ein Bewusstsein für die Notwendigkeit gerechter und sicherer Arbeits- und Lebensbedingungen für Saisonarbeitskräfte, mobile Arbeitnehmer und Grenzgänger schaffen sollen.

Die Pandemie hat verdeutlicht, dass mobile Arbeitnehmer und Grenzgänger — einschließlich Saisonarbeitskräften und Wanderarbeitnehmern in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen  — in höherem Maße ungesunden oder unsicheren Lebens- und Arbeitsbedingungen ausgesetzt sein können , wie z. B. schlechten oder überfüllten Unterkünften oder mangelnder Unterrichtung über ihre Rechte. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, ihren Arbeitsschutzverpflichtungen nachzukommen und die Maßnahmen zu verstärken, die ein Bewusstsein für die Notwendigkeit gerechter und sicherer Arbeits- und Lebensbedingungen für Saisonarbeitskräfte, mobile Arbeitnehmer und Grenzgänger schaffen sollen.

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

72

Nein-Stimmen:

125

Enthaltungen:

11

ÄNDERUNGSANTRAG 6

von:

LE BRETON Marie-Pierre

MINCHEVA Mariya

PILAWSKI Lech

VADÁSZ Borbála

VERNICOS George

SOC/698 — Strategischer Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021-2027

Ziffer 4.4.11

Streichen:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Nach Auffassung des EWSA sollten deshalb Arbeitnehmer, die der Meinung sind, dass an ihrem Arbeitsplatz die Gefahr eines Unfalls oder einer schweren Erkrankung — insbesondere mit möglicher Todesfolge — besteht, diese Arbeit ablehnen können. Wenn ihr Leben in Gefahr ist, weil das Unternehmen die Arbeitsschutzvorschriften nicht einhält, sollten sie letztlich das Recht auf Vertragsbeendigung mit Schadenersatz haben.

 

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

69

Nein-Stimmen:

135

Enthaltungen:

8

ÄNDERUNGSANTRAG 7

von:

LE BRETON Marie-Pierre

MINCHEVA Mariya

PILAWSKI Lech

VADÁSZ Borbála

VERNICOS George

SOC/698 — Strategischer Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021-2027

Ziffer 1.4.1

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Zu Abschnitt 2.1: Der EWSA (i) empfiehlt hinsichtlich der Selbstständigen, die gemäß dem strategischen Rahmen nicht den Arbeitsschutzvorschriften unterliegen, dass zeitnah eine Untersuchung unter Beteiligung von Kommission, Fachleuten und Sozialpartnern durchgeführt wird, um die beste Lösung zu finden, die dem Grundsatz eines sicheren und gesunden Arbeitsumfelds auch für Selbstständige gerecht wird. Die einschlägigen Schlussfolgerungen sollten auf dem Arbeitsschutz-Gipfel im Jahr 2023 vorgelegt werden; (ii) schlägt in Bezug auf den Plan der Kommission für eine nichtlegislative Initiative auf EU-Ebene im Bereich der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz gerade aufgrund Relevanz der im strategischen Rahmen dargelegten Grundsätze vor, dass hierfür eine Gesetzgebungsinitiative gewählt wird .

Zu Abschnitt 2.1: Der EWSA (i) empfiehlt hinsichtlich der Selbstständigen, die gemäß dem strategischen Rahmen nicht den Arbeitsschutzvorschriften unterliegen, dass zeitnah eine Untersuchung unter Beteiligung von Kommission, Fachleuten und Sozialpartnern durchgeführt wird, um die beste Lösung zu finden, die dem Grundsatz eines sicheren und gesunden Arbeitsumfelds auch für Selbstständige gerecht wird. Die einschlägigen Schlussfolgerungen sollten auf dem Arbeitsschutz-Gipfel im Jahr 2023 vorgelegt werden; (ii) begrüßt in Bezug auf den Plan der Kommission für eine nichtlegislative Initiative auf EU-Ebene im Bereich der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz den von der Kommission gewählten Ansatz .

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

66

Nein-Stimmen:

135

Enthaltungen:

8

ÄNDERUNGSANTRAG 8

von:

LE BRETON Marie-Pierre

MINCHEVA Mariya

PILAWSKI Lech

VADÁSZ Borbála

VERNICOS George

SOC/698 — Strategischer Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021-2027

Ziffer 1.4.2

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Zu Abschnitt 2.2: Der EWSA (i) fordert die Kommission auf, im künftigen europäischen Plan zur Krebsbekämpfung berufsbedingte Krebserkrankungen zu berücksichtigen und in die Richtlinie über Karzinogene und Mutagene (CMD) reproduktionstoxische Stoffe und gefährliche Arzneimittel aufzunehmen. Gleichzeitig muss die langfristige Überwachung des Gesundheitszustands der Arbeitnehmer, die krebserregenden Stoffen ausgesetzt sind, gewährleistet werden, und zwar auch, wenn die entsprechende Arbeit nicht mehr ausgeübt wird ; (ii) regt an, dass die Absicht der Kommission zu „prüfen, wie die Wirksamkeit der Richtlinie über Sanktionen gegen Arbeitgeber (2009/52/EG) gestärkt werden kann“, zu einer Überarbeitung und in diesem Zuge zu einer Verschärfung der Sanktionen gegen die zuwiderhandelnden Arbeitgeber führen sollte; (iii) hält angesichts der jüngsten Lehren aus der COVID-19-Pandemie eine Gesetzgebungsinitiative zur Prävention psychosozialer Risiken für dringend erforderlich ; (iv) erachtet aufgrund der bisherigen Erfahrungen und Forschungsergebnisse im Bereich der Muskel-Skelett-Erkrankungen eine einschlägige Gesetzgebungsinitiative als notwendig .

Zu Abschnitt 2.2: Der EWSA (i) befürwortet den im Strategischen Rahmen für den Arbeitsschutz enthaltenen Vorschlag zur Festlegung einer Prioritätenliste von reproduktionstoxischen Stoffen auf der Grundlage der Stellungnahme des Beratenden Ausschusses für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz im Hinblick auf eine Prioritätenliste für Stoffe mit Arbeitsplatzgrenzwerten und fordert die Kommission auf, im künftigen europäischen Plan zur Krebsbekämpfung berufsbedingte Krebserkrankungen zu berücksichtigen; (ii) regt an, dass die Absicht der Kommission zu „prüfen, wie die Wirksamkeit der Richtlinie über Sanktionen gegen Arbeitgeber (2009/52/EG) gestärkt werden kann“, zu einer wirksamen Um- und Durchsetzung führen sollte; (iii) befürwortet den Ansatz der Kommission, in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten und den Sozialpartnern eine nichtlegislative Initiative auf EU-Ebene zum Thema psychische Gesundheit am Arbeitsplatz vorzubereiten ; (iv) begrüßt die Absicht der Kommission, psychosoziale und ergonomische Risiken in die Kampagne für gesunde Arbeitsplätze einzubeziehen .

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

70

Nein-Stimmen:

140

Enthaltungen:

7

ÄNDERUNGSANTRAG 9

von:

LE BRETON Marie-Pierre

MINCHEVA Mariya

PILAWSKI Lech

VADÁSZ Borbála

VERNICOS George

SOC/698 Strategischer Rahmen der EU für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz 2021-2027

Ziffer 1.4.3

Ändern:

Stellungnahme der Fachgruppe

Änderung

Zu Abschnitt 2.3: Der EWSA hält es für notwendig , (i) die Empfehlung mit der Europäischen Liste der Berufskrankheiten in eine Richtlinie umzuwandeln ; (ii) die Richtlinie über biologische Arbeitsstoffe unter Berücksichtigung der jüngsten Erfahrungen zu verbessern ; (iii) hinsichtlich der nationalen Arbeitsaufsichtsbehörden das Ziel festzulegen, dass bis zum Ende der Geltungsdauer des strategischen Rahmens das in den IAO-Normen festgelegte Verhältnis von einem Arbeitsinspektor pro 10 000  Arbeitnehmer in den Mitgliedstaaten erreicht wird . Wird dieses Ziel während des derzeitigen strategischen Rahmens nicht erreicht, sollte die Kommission eine entsprechende Gesetzgebungsinitiative vorlegen.

Zu Abschnitt 2.3: Der EWSA stellt fest, dass (i) der Empfehlung mit der Europäischen Liste der Berufskrankheiten konkrete Maßnahmen in den Mitgliedstaaten folgen sollten ; (ii) die Richtlinie über biologische Arbeitsstoffe unter Berücksichtigung der jüngsten Erfahrungen verbessert wurde .

Abstimmungsergebnis:

Ja-Stimmen:

70

Nein-Stimmen:

133

Enthaltungen:

7


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/128


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zum Blended Learning für eine hochwertige und inklusive Primar- und Sekundarschulbildung eine wichtige politische Rolle bei der Konferenz zur Zukunft Europas

(COM(2021) 455 final)

(2022/C 105/19)

Hauptberichterstatterin:

Tatjana BABRAUSKIENĖ

Hauptberichterstatter:

Michael McLOUGHLIN

Befassung

Rat, 30.8.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 165 Absatz 4 und Artikel 166 Absatz 4 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

654

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

152/0/0

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die in dem vorliegenden Vorschlag getroffene Feststellung, dass „Bildung […] ein grundlegendes Menschenrecht und ein Recht des Kindes“ ist. Der EWSA begrüßt ferner, dass mit dem Vorschlag die europäische Säule sozialer Rechte und andere wichtige EU-Initiativen (1) umgesetzt werden sollen, um die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern und so eine hochwertige und inklusive Bildung im Rahmen des ökologischen und des digitalen Wandels des sozialen und wirtschaftlichen Lebens sowie des Arbeitsmarktes zu gewährleisten.

1.2.

Der EWSA fordert die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten erneut auf, „den ersten Grundsatz der europäischen Säule sozialer Rechte umzusetzen, der für alle in Europa ein Recht auf allgemeine und berufliche Bildung und lebenslanges Lernen von hoher Qualität und in inklusiver Form“ (2) vorsieht, und diesen auch anzuwenden, um die Bereitstellung digitaler Kompetenzen und Fertigkeiten durch die Förderung des gleichberechtigten Zugangs zu Blended Learning für alle sowie durch eine nachhaltige Finanzierung aus öffentlichen Mitteln in Absprache mit den Sozialpartnern und der Zivilgesellschaft zu verbessern.

1.3.

Der EWSA verweist auf seine Stellungnahme (3), in der er fordert, dass „bei der Umsetzung des Aktionsplans für digitale Bildung 2021-2027 ein wirksamer sozialer Dialog und die Konsultation der Interessenträger, die Achtung und Durchsetzung der Arbeitnehmerrechte sowie die Unterrichtung, Konsultation und Beteiligung der Arbeitnehmer an der Entwicklung digitaler und unternehmerischer Kompetenzen, insbesondere in der beruflichen Aus- und Weiterbildung, der Erwachsenenbildung und Mitarbeiterschulungen, sichergestellt werden müssen, um die Qualifikationslücken zu schließen, denen sich die Unternehmen gegenübersehen“.

1.4.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, auf den Bildungserfahrungen während der COVID-19-Krise aufzubauen und zu gewährleisten, dass Blended Learning mittels geeigneter pädagogischer Instrumente sorgfältig konzipiert und im Rahmen ausgewogener Lehrplänen praktiziert wird, damit allen Kindern ein adäquates und innovatives Lernumfeld und entsprechende Instrumente zur Verfügung gestellt werden. Die Mitgliedstaaten müssen die Einführung von Blended Learning sicherstellen, um die Qualität und Inklusion der Bildung, insbesondere von bedürftigen Kindern, zu fördern. Auch wenn der Blended-Learning-Ansatz sich weiter verbreitet und mehr Aufmerksamkeit erhält, bedarf es noch weiterer Forschungsarbeiten, insbesondere was die Benachteiligung im Bildungsbereich sowie die Primar- und unteren Sekundarschulklassen angeht.

1.5.

Der EWSA hält es zur Gewährleistung einer größeren Selbständigkeit der Schülerinnen und Schüler in ihren Lernprozessen für wichtig, dass Blended Learning allen und nicht nur den Einwohnern ländlicher Gebiete ohne Zugang zu schulischen Einrichtungen bzw. nicht nur im tertiären Bildungsbereich zur Verfügung steht, wo sich die Lernenden selbständig Wissen aneignen müssen.

1.6.

Der EWSA weist darauf hin, dass bei außerschulischem, projektbezogenem Lernen die Gesundheit und Sicherheit der Lernenden sowie insbesondere derer gewährleistet sein muss, die eine berufliche Aus- oder Weiterbildung absolvieren. Der während der COVID-19-Krise eingeführte langfristige Fernunterricht hat sich negativ auf das geistige und körperliche Wohlbefinden der Lernenden und Lehrkräfte sowie auf die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler ausgewirkt. Der EWSA begrüßt die in dem Vorschlag erhobene Forderung, dass qualifizierte Fachleute für den Bereich psychische Gesundheit das Wohlbefinden der Lernenden und Lehrkräfte effektiv unterstützen müssen.

1.7.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, dafür zu sorgen, dass Blended Learning — im Anschluss an einen wirksamen Dialog mit den einschlägigen Sozialpartnern und Interessenträgern im Bildungsbereich — in ihren Bildungsstrategien so berücksichtigt wird, dass es hochwertiges und inklusives Lernen fördert, den Zugang zu einem guten Lehr- und Lernumfeld sowie die erforderlichen Instrumente und Hilfe für Lehrkräfte gewährleistet und ausnahmslos allen Lernenden zugutekommt.

1.8.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten ferner auf, sicherzustellen, dass Blended Learning weder den sozialen Wert der Bildung noch die Relevanz des Präsenzunterrichts in den Bildungsprogrammen beeinträchtigt. Die Erfahrungen mit dem dringend benötigten Online-Unterricht und -Lernen während der COVID-19-Pandemie haben verdeutlicht, dass der Präsenzunterricht sowie die kontinuierlichen Interaktionen und Feedbacks zwischen Lehrkräften und Lernenden unersetzlich für eine hochwertige und inklusive Bildung sind. Für die Lernenden sind die Beziehungen zu den Lehrkräften ein Schlüsselfaktor ihrer Motivation und ihres Lernprozesses, die nicht durch Blended Learning untergraben werden dürfen.

1.9.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten auf, dafür zu sorgen, dass bei der Entwicklung individueller Bildungspläne dem Bedarf der Lernenden an Unterstützungstechnologie Rechnung getragen wird. Darüber hinaus müssen Lehrkräfte hierbei nach Ansicht des EWSA von entsprechendem Personal angemessen unterstützt werden, mit diesen Technologien vertraut sein und sie wirksam nutzen können, um den Bedürfnissen von Lernenden mit Behinderungen gerecht zu werden.

1.10.

Der EWSA betont die zentrale Rolle der Lehrkräfte beim Blended Learning. Personalaustausch, Kooperationsprojekte und individualisierter Unterricht sind möglich, wenn dafür ausreichend Arbeitszeit der Lehrkräfte eingeplant wird und wenn die Schulleitung dies unterstützt. Es ist sehr wichtig, eine Blended-Learning-Gemeinschaft zu fördern, um den Wert von Lehr- und Ausbildungstechnologien zu fördern.

1.11.

Darüber hinaus sollte Blended Learning nach Ansicht des EWSA zur Umsetzung der Schlussfolgerungen des Rates zu europäischen Lehrkräften und Ausbildern für die Zukunft beitragen, um die Inklusion und Qualität der Bildung zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang fordert der EWSA die Mitgliedstaaten auf, die Lehrkräfte bei ihren Vorbereitungen für die Unterstützung von Lernenden bei hochwertigem Blended Learning wirksam zu unterstützen, indem sie die berufliche Erstausbildung und Weiterbildung verbessern und aktualisieren und die Bedürfnisse von Lehrkräften und Lernenden dabei stärker berücksichtigen.

1.12.

Der EWSA begrüßt die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Förderung der IT-Kompetenz von Lehrkräften, wie z. B. Kurse zur digitalen Weiterbildung, Programme und Instrumente für Lehrkräfte sowie die Entwicklung und Verbreitung von Lernmodulen und -ressourcen im Internet und vor Ort. Darüber hinaus sollte mit dem Vorschlag auch das Recht der Lehrkräfte auf eine dem neuesten Stand entsprechende und zugängliche kontinuierliche berufliche Weiterbildung untermauert werden; dies sollte im Rahmen des sozialen Dialogs und der Tarifverhandlungen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene unter sinnvoller Einbeziehung der Sozialpartner im Bildungsbereich anerkannt werden.

1.13.

Der EWSA gibt zu bedenken, dass offene Online-Lehrveranstaltungen (MOOCs) nicht unbedingt interaktiv oder pädagogisch wertvoll sind. Daher fordert er die Kommission auf, auf der Plattform School Education Gateway eine vielfältigere Bildungsförderung für Lehrkräfte, Ausbilder, Schulleiter und Lehrerausbilder bereitzustellen, die zu einer Zertifizierung führt. Die für den Einsatz im Blended Learning mit Unterstützung der Kommission entwickelten technischen Ressourcen und Materialien müssen zuverlässig und nutzerfreundlich sein sowie in alle Amtssprachen der EU übersetzt und von allen Interessenträgern im Lernprozess einstimmig akzeptiert werden. Der EWSA empfiehlt, dass im Rahmen der Projekte der europäischen Erasmus-Lehrkräfteakademien auch dazu aufgefordert wird, gemeinsame, akkreditierte Lehrerausbildungsprogramme zur Verbesserung der Pädagogik im Blended Learning zu entwickeln. Die Rolle von Micro-Credentials sollte im Zusammenhang mit Blended Learning ebenfalls beleuchtet werden.

1.14.

Der EWSA begrüßt, dass der Schwerpunkt des Vorschlags auf dem Wohlbefinden und der Attraktivität des Lehrerberufs liegt, und schlägt den Mitgliedstaaten vor, mehr Lehrkräfte zu beschäftigen, um das Wohlergehen des Lehrpersonals zu fördern. Der EWSA stellt fest, dass sich der erhebliche Mangel an Lehrkräften und die unattraktiven Arbeitsbedingungen und Gehälter (4) nachteilig auf die Unterrichtsqualität auswirken. Dies kann die Entwicklung hochwertiger und inklusiver Blended-Learning-Systeme beeinträchtigen.

1.15.

Der EWSA merkt an, dass die Kombination von Präsenz- und Fernunterricht kreative und innovative Lehrkräfte (5) mit guten pädagogischen Fähigkeiten voraussetzt. Blended Learning muss auf jeden Fall so gestaltet werden, dass der Arbeitsbelastung und der Arbeitszeit der Lehrkräfte Rechnung getragen sowie gute Arbeitsbedingungen und ein unterstützendes Arbeitsumfeld für diese gewährleistet werden.

1.16.

Der EWSA empfiehlt, eine demokratische Schulleitung sicherzustellen, im Rahmen derer Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte ihren eigenen Lern- und Lehrprozess wirklich selbständig steuern. Der EWSA weist erneut darauf hin, wie wichtig es ist, demokratische Verwaltungsstrukturen in der allgemeinen und beruflichen Bildung sicherzustellen und diese zu stärken, wozu auch eine sinnvolle Konsultation der organisierten Zivilgesellschaft gehören sollte (6).

1.17.

Der EWSA stellt fest, dass Blended Learning außerhalb eines formalen Bildungssystems, z. B. informelles und nichtformales Lernen, anerkannt und in diesem Zusammenhang die Empfehlung des Rates vom 20. Dezember 2012 zur Validierung nichtformalen und informellen Lernens wirksam umgesetzt werden muss. Das informelle und nichtformale Lernen spielt nämlich eine wichtige Rolle, wenn es um die Förderung des Erwerbs wesentlicher sozialer, kommunikationsbezogener und kognitiver Kompetenzen geht, wie unter anderem Kreativität, aktive Bürgerschaft und Kompetenzen für das Arbeitsleben. Die Teilnahme an Validierungsverfahren muss für alle Menschen zugänglich sein und durch nachhaltige öffentliche Investitionen unterstützt werden.

1.18.

Der EWSA weist darauf hin, dass ein gut entwickeltes Blended Learning durch nachhaltige öffentliche Investitionen unterstützt und im Rahmen des Europäischen Semesters sowie mit Hilfe zusätzlicher EU-Mittel, etwa aus der Aufbau- und Resilienzfazilität, Erasmus+ und ESF+, herausgestellt werden muss. Die Unterstützung des Zugangs zu hochwertigen Online-Lernprogrammen ist für alle Lernenden von entscheidender Bedeutung. Es sind mehr Investitionen erforderlich, um insbesondere einen hochwertigen Fernunterricht für Lernende in der beruflichen Aus- und Weiterbildung sowie deren Zugang zu Instrumenten und Simulatoren zu gewährleisten, die ihnen ein selbständiges praktisches Lernen in einem sicheren Umfeld ermöglichen. Überdies sollten Gemeinschaftszentren für lebenslanges Lernen (7) und Bibliotheken zur Verfügung gestellt werden.

1.19.

Der EWSA stellt fest, dass die immer weiter verbreitete Nutzung digitaler Werkzeuge im Rahmen des Blended Learning zunehmend die Datensicherheit von Lernenden und Lehrkräften sowie die Rechte des geistigen Eigentums von Lehrkräften gefährdet. Daher sollten die Kommission und die Mitgliedstaaten in Absprache mit den Sozialpartnern und Interessenträgern im Bildungsbereich nachhaltige öffentliche Mittel bereitstellen und einen geeigneten Rechtsrahmen schaffen, um den Datenschutz und die Rechte des geistigen Eigentums im Bildungswesen zu wahren. Der EWSA sieht mit Sorge, dass in der Empfehlung damit gerechnet wird, dass „keine zusätzlichen Mittel benötigt werden“, um die in dem Vorschlag enthaltenen Pläne umzusetzen. Die Bereitstellung von Fördermitteln wäre eine Möglichkeit, um die Zusammenarbeit in Bereichen zu stärken, in denen die EU keine starke Kompetenz besitzt. Gefördert werden könnten etwa die Kosten für das Hosting, die Wartung und die Ausrüstung für die Integration einer Plattform, das Hosting der Lehrmittel, die Datensicherheit sowie die Ausstattung von Lehrkräften und Schülern. Werden keine entsprechenden Ressourcen bereitgestellt, geht dies vor allem zu Lasten der Schülerinnen und Schüler mit dem größten Unterstützungsbedarf.

1.20.

Der EWSA fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, sich mit der steigenden Zahl von Bildungsanbietern und dem Ausbau des EdTech-Sektors zu befassen, der durch die Umsetzung von Blended Learning in Bildungsprogrammen zunehmend begünstigt wird. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten dazu auf, nationale Regelungen zu treffen und darin auch die Möglichkeit vorzusehen, zum Schutz des öffentlichen Gutes, das Bildung darstellt, öffentliche Plattformen für das Online-Lehren und -Lernen einzurichten. Darüber hinaus sollten in sinnvoller Konsultation mit den Sozialpartnern und Interessenträgern im Bildungsbereich sowie unter uneingeschränkter Achtung der beruflichen Autonomie von Lehrkräften und Bildungspersonal, der akademischen Freiheit und der Autonomie der Bildungseinrichtungen öffentliche Plattformen geschaffen werden, ohne dabei Druck auf die Lehrkräfte oder das Bildungspersonal in Bezug auf das von ihnen verwendete Lehrmaterial und pädagogische Methoden auszuüben.

1.21.

Angesichts der Bedeutung des gesamten Bereichs des Blended Learning schlägt der EWSA vor, für diese Empfehlung eine differenzierte Messung und Datenerhebung je nach Alter der Kinder und Jugendlichen zu entwickeln und dabei ihre unterschiedlichen Entwicklungsbedürfnisse zu berücksichtigen; auf diese Weise sollten auch Informationen über entsprechende Parameter zu Benachteiligungen wie Mobbing und Schulabbruch gesammelt werden können. Die genauen Messungen können in Zusammenarbeit mit den relevanten Partnern entwickelt werden. Ebenso muss es eine klare Berichterstattung und Überwachung der Umsetzung der Empfehlung geben.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Gegenstand der vorliegenden Stellungnahme ist der Vorschlag für eine Verordnung des Rates zum Blended Learning für eine hochwertige und inklusive Primar- und Sekundarschulbildung. In dieser Stellungnahme wird außerdem ein Schwerpunkt auf die berufliche Erstausbildung auf Sekundarniveau gelegt. In der vorgeschlagenen Empfehlung wird weder eine reduzierte Präsenz der Lehrkräfte beim Lernen befürwortet, noch dazu ermutigt, mehr Stunden vor dem Bildschirm zu verbringen. Der EWSA begrüßt die Einbeziehung junger Menschen, die im gesamten Prozess beibehalten und fortgesetzt werden sollte.

2.2.

In einer Studie der Europäischen Kommission (8) heißt es, dass Blended Learning als ein hybrider Ansatz verstanden wird, bei dem Lernen in der Schule mit Fernunterricht, einschließlich Online-Lernen, kombiniert wird. Blended Learning ist ein flexibles Modell, mit dem die Fortschritte in einem Projekt oder Studium unterstützt werden können, ohne dass Lehrkräfte und Lernende sich jederzeit in demselben physischen Raum aufhalten müssen.

2.3.

Während das schulbasierte Lernen die sozialen Fähigkeiten, das Wohlbefinden, das Zugehörigkeitsgefühl der Lernenden, ein Gemeinschaftsgefühl und eine bessere persönliche Interaktion zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern sowie unter diesen steigert, kann gut organisiertes Blended Learning diese dabei unterstützen, selbständigere, individualisiertere und selbstgesteuerte Lernprozesse zu erreichen (9). Für das Lernen im Bereich Kunst mit Hilfe von Videomaterialien könnte dies sehr vielversprechend sein.

2.4.

Obwohl in dem Vorschlag Blended Learning als hybrider Ansatz beschrieben und dessen Flexibilität und Potenzial zur Förderung selbständigen Lernens betont wird, muss genauer geklärt werden, welche Rolle die Lehrkräfte und Ausbilder bei der Umsetzung des Blended Learning spielen. In diesem Zusammenhang muss dafür gesorgt werden, dass Blended Learning in Lehrplänen mit einem ganzheitlichen Schulkonzept umgesetzt wird, wobei die Bedürfnisse der Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler und ihrer Familien zu berücksichtigen sind. Außerdem ist es notwendig, dass Blended Learning während der Schulzeit erfolgt und nicht zu einer untragbaren Überlastung der Lehrkräfte oder zu einer zusätzlichen Belastung für die Familien der Schülerinnen und Schüler führt.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Durch die COVID-19-Krise wurden Schülerinnen und Schüler von Primar-, Sekundar- und Berufsschulen zu selbständigerem Lernen gezwungen. Schulen und Lehrkräfte mussten sich — meist ohne angemessene Vorbereitung — auf Online- und Fernunterricht im Notfallmodus einstellen und digitale Nachrichten, E-Mails, Online-Videochats und andere Möglichkeiten zur digitalen Kontaktaufnahme mit den Kindern nutzen, um auch in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen und -sperren einen angemessenen Unterricht zu ermöglichen. Dies war auch für Kinder mit Behinderungen, die bei der Interaktion über digitale Medien stärker benachteiligt sind, eine große Herausforderung. Regierungen, Fernsehsender, Sozialpartner, Anbieter von allgemeiner und beruflicher Bildung, Nichtregierungsorganisationen und Einzelpersonen haben die Lehrkräfte bei der Einrichtung virtueller Klassenzimmer und Kooperationsplattformen äußerst schnell unterstützt, doch es bleibt noch eine ganze Menge mehr zu tun.

3.2.

Angesichts der enormen Auswirkungen der COVID-19-Krise auf junge Menschen und das Bildungssystem müssen wir auch in Bezug auf das Tempo der Veränderungen behutsam vorgehen. Die Vorbereitung auf die Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts braucht Zeit, und viele junge Menschen müssen sich an die Rückkehr zu „normalen Verhältnissen“ gewöhnen: Allzu große Veränderungen in zu kurzer Zeit können destabilisierend wirken. Kinder und Jugendliche haben die Hauptlast der COVID-19-Krise getragen. Ihre Bildung, Sozialisierung, wirtschaftlichen Aussichten und psychische Gesundheit haben während der Pandemie besonders schwer gelitten. Vorrang für den kommenden Zeitraum sollte die Normalisierung haben, und dabei sollte ein besonderer Schwerpunkt auf Wohlbefinden, psychische Gesundheit und formales Lernen gelegt werden.

3.3.

Der EWSA fragt sich besorgt, ob Schülerinnen und Schüler der Primar- und auch der unteren Sekundarschulklassen überhaupt mit Blended Learning umgehen können, da diese Altersgruppen häufig nicht über die notwendigen Kompetenzen verfügen, um in einem Blended-Learning-Umfeld aktiv zu lernen. In der Regel mangelt es ihnen an Selbststeuerung, kollaborativen Fähigkeiten, IKT-Kompetenzen, Wissensaufbau, Fähigkeiten zur Selbstbewertung und einigen anderen sogenannten Kompetenzen des 21. Jahrhunderts. Diese sind für ein erfolgreiches Lernen in einem gemischten Umfeld erforderlich; fehlt es den Lernenden an diesen Kompetenzen, dann stellt dies ein hochwertiges Blended Learning ernsthaft in Frage. Grundsätzliche muss mit dem probeweisen Übergang zu Blended Learning bei älteren und nicht jüngeren Schülern begonnen werden.

3.4.

Der EWSA weist darauf hin, dass Lernende in beruflicher Aus- und Weiterbildung während der COVID-19-Pandemie die meisten praktischen Lernerfahrungen in der Lehrlingsausbildung versäumt haben. Der mangelnde Zugang zu Breitband- und IT-Instrumenten, die unzureichende Interaktion zwischen Lehrkräften und Lernenden und der Mangel an geeigneten Lernumgebungen haben zu mehr Schulabbrüchen geführt, insbesondere bei Mädchen und sozioökonomisch benachteiligten Kindern. Blended Learning muss daher sorgfältig konzipiert und eingesetzt werden, damit allen Kindern ein inklusives Lernumfeld und adäquate Instrumente geboten werden. Der Schwerpunkt der Empfehlung liegt weitgehend auf der Primar- und Sekundarschulbildung sowie auf der beruflichen Erstausbildung auf Sekundarniveau. Dabei wäre es durchaus sinnvoll, auch das Potenzial von Blended Learning im Bereich der Lehrlingsausbildung zu beleuchten.

3.5.

In dem Vorschlag sind u. a. Maßnahmen in direkter Reaktion auf die Krise vorgesehen, „wobei dem körperlichen und geistigen Wohlergehen der Lernenden und ihrer Familien Vorrang eingeräumt wird“, sowie eine „Förderung der Entwicklung digitaler Kompetenzen von Lernenden und Familien“. In diesem Zusammenhang weist der EWSA darauf hin, wie wichtig es ist, im gesamten Bildungssystem für Wohlergehen und eine Stärkung der digitalen Kompetenzen zu sorgen, auch und insbesondere bei den Lehrkräften, Ausbildern und Schulleitern.

3.6.

Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten unterstützende Orientierungsmaterialien, Handbücher und andere konkrete Hilfsmittel zu entwickeln, die auf Nachweisen, Peer-Learning-Aktivitäten und bewährten Verfahren beruhen. Damit werden die identifizierten Lücken bei der Unterstützung der Entwicklung eines Blended-Learning-Ansatzes auf Schul- und Systemebene geschlossen. Auch die Sozialpartner und andere relevante Interessenträger sollten hierbei mitwirken. Jeder Übergang, jeder Wandel und jede Anpassung der Bildungssysteme muss mit äußerster Vorsicht erfolgen. Wir müssen absolut sicher sein, dass solche Veränderungen die Bildungsbenachteiligung und den Schulabbruch — wohl die größten Herausforderungen für unser Bildungssystem — in keiner Weise verschärfen.

3.7.

Nach Ansicht des EWSA hat Blended Learning das Potenzial, sowohl Lehre als auch Lernen vollständig zu verändern. In dem Vorschlag werden zwar die Möglichkeiten hervorgehoben, „die sich aus den Blended-Learning-Modellen ergeben, einschließlich der Verbesserung der Qualität und der Inklusivität der allgemeinen und beruflichen Bildung sowie der umfassenden Kompetenzentwicklung und des Wohlbefindens der Lernenden“, doch sollten nach Ansicht des EWSA die Grenzen bei der Umsetzung von Blended Learning sorgsam geprüft werden. Dies ist besonders in ländlichen und armen Gebieten wichtig, wo es keine Infrastruktur (Zugang zu Breitband- und IT-Instrumenten) und kein unterstützendes Umfeld (häusliche Umgebung, finanzieller Hintergrund usw.) gibt, die ein hochwertiges Blended Learning für die Lernenden gewährleisten. Die Anbindung an leistungsfähige und zuverlässige Netzwerke ist von entscheidender Bedeutung, insbesondere wenn die gesamte Familie für ihre Tätigkeiten einen Internet-Anschluss benötigt. Darüber hinaus verfügen nicht alle Schülerinnen und Schüler über ausreichende digitale Kompetenzen, Selbstdisziplin oder Autonomie, um dem Unterricht selbständig zu folgen und Aufgaben ohne persönliche Interaktion mit Lehrkräften zu erledigen. Generell hängt erfolgreiches Blended Learning — insbesondere bei jüngeren Schülerinnen und Schülern — in hohem Maße von der Betreuung und Unterstützung durch ihre Eltern ab. Dies birgt die Gefahr, Ungleichheiten bei ihren Lernergebnissen zu schaffen bzw. diese weiter zu vergrößern und könnte zu einem Anstieg der Schulabbrecherquote führen, da nicht alle Eltern in der Lage sind, diese Aufgabe effektiv wahrzunehmen, bzw. nicht die Zeit dafür haben.

3.8.

Obwohl die Bildungssysteme in den letzten Jahren zunehmend privatisiert wurden, sollte Blended Learning in Bildungsprogrammen so umgesetzt werden, dass Rechenschaftspflicht und Transparenz bei der Verwaltung der öffentlichen Bildungssysteme vor dem Einfluss privater und kommerzieller Interessen und Akteure geschützt werden. Bildung als öffentliches Gut darf nicht durch Blended Learning untergraben werden.

3.9.

Vor der COVID-19-Pandemie sahen sich Lehrkräfte der Herausforderung einer aufgrund verschiedener sozioökonomischer Belastungen wachsenden Lernlücke zwischen den Schülerinnen und Schülern gegenüber. Weitere Faktoren sind Rassismus, Segregation, ein allgemeiner Rückgang der Aufwärtsmobilität und ein Abschwung der Weltwirtschaft. Generell wurden etwa Hausaufgaben zunehmend wichtiger, was die Leistungslücken noch vergrößert hat. Isolation und Selbststudium haben zudem schädliche psychologische Auswirkungen. Für viele Lernende, insbesondere aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen, ist die persönliche Interaktion mit Lehrkräften und Gleichaltrigen eine wichtige Bereicherung und trägt zur Verringerung von Lernlücken bei. Die anhaltende COVID-19-Pandemie hat diese Lernlücken, auch bei den digitalen Kompetenzen, noch verschärft, wobei mehr Lernende Gefahr laufen, Lernverluste zu erleiden.

3.10.

Der EWSA weist darauf hin, dass die Erstausbildung und die kontinuierliche berufliche Weiterbildung von Lehrkräften nicht ausreichen, um diesen die erforderlichen Kompetenzen zu vermitteln, darunter auch digitale Kompetenzen, pädagogische Methoden und Unterrichtsmaterialien, um im Rahmen von Blended Learning zu unterrichten. Dies gilt insbesondere für die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit besonderen Bedürfnissen, in einem multikulturellen Umfeld und mit benachteiligten Lernenden, was noch problematischer ist, da dies gerade jene Gruppen von Lernenden trifft, die in der derzeitigen Situation zusätzliche Unterstützung benötigen. Das Europäische Behindertenforum fordert einen gleichberechtigten Zugang zu Bildungsangeboten für Arbeitnehmer und Studierende mit Behinderungen sowie die Bereitstellung von Maßnahmen wie Gebärdendolmetschen, Live-Untertitelung und an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen angepasste Arbeit.

3.11.

Die im Vorschlag genannten Selbstbewertungsinstrumente wie das künftige SELFIE-Tool für Lehrkräfte können die Umsetzung von Blended Learning unterstützen. Der EWSA weist jedoch auf die Gefahr hin, dass es mit diesen Instrumenten zu einem Benchmarking von Bildungseinrichtungen im Hinblick auf die Erstellung von Schulranglisten und -ligen sowie zu Wettbewerben zwischen den einzelnen Schulen kommen könnte. Bei der Umsetzung von Blended Learning müssen die Besonderheiten der Bildungseinrichtungen und die Prioritäten für den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) berücksichtigt werden, die der Zustimmung von Lehrkräften, Ausbildern und Schulleitern unterliegen sollten.

3.12.

Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen muss im Einklang mit Artikel 12 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes stärker auf einer echten laufenden Beteiligung der Betroffenen beruhen. Abgesehen von einer Konsultation wird den Ansichten von Kindern in der Empfehlung keine große Bedeutung beigemessen. Diese Lücke sollte geschlossen werden. Momentan konzipieren viele Mitgliedstaaten Modelle bewährter Verfahren, und die EU entwickelt ihre eigene Kinderrechtsstrategie. Diese Art von Veränderung sollte sich letztendlich in der Schulverwaltung und -bewertung niederschlagen.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  COM(2020) 625 final; COM(2020) 624 final; ABl. C 66 vom 26.2.2021, S. 1; ABl. C 221 vom 10.6.2021, S. 3.

(2)  ABl. C 56 vom 16.2.2021, S. 1.

(3)  ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 27.

(4)  EC: Teachers in Europe Careers, Development and Well-being, 2021.

(5)  EC: Blended learning in school education — guidelines for the start of the academic year 2020/21.

(6)  ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 27.

(7)  Downes, P. (2011). Multi/Interdisciplinary Teams for Early School Leaving Prevention: Developing a European Strategy Informed by International Evidence and Research. Europäische Kommission, NESET (Netzwerk von Experten für soziale Aspekte der allgemeinen und beruflichen Bildung), Generaldirektion Bildung und Kultur, Brüssel.

(8)  Blended learning in school education — guidelines for the start of the academic year 2020/21, Europäische Kommission.

(9)  Ebda.


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/134


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen für einen nachhaltigen Luftverkehr

(COM(2021) 561 final — 2021/0205 (COD))

(2022/C 105/20)

Berichterstatter:

Thomas KROPP

Befassung

Europäisches Parlament, 13.9.2021

Rat der Europäischen Union, 14.9.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 100 Absatz 2 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.10.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

231/0/9

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) bekräftigt, dass der Luftverkehrsmarkt der EU für den Handel und den Tourismus in der Europäischen Union sowie für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft von entscheidender Bedeutung ist (1). Da der Luftverkehr jedoch zu den Sektoren mit dem am stärksten zunehmenden CO2-Ausstoß gehört, unterstützt der EWSA die Rechtsetzungsinitiativen der EU zur Eindämmung der Auswirkungen des Luftverkehrs auf die Umwelt

Mitteilung der Europäischen Kommission zum europäischen Grünen Deal (COM(2019) 640 final) (2);

1.2.

Mit ihrem Paket „Fit für 55“ will die Kommission die EU auf Kurs bringen, damit sie ihr ehrgeiziges Ziel einer Verringerung der Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 % gegenüber dem Stand von 1990 erreichen kann. Dazu soll die EU-Politik an die ehrgeizigen politischen Aufgabenstellungen des Grünen Deals und des EU-Klimagesetzes angepasst werden. Der EWSA unterstützt dieses außerordentlich ehrgeizige politische Vorhaben, das mehrere Legislativvorschläge umfasst, die den Luftverkehr betreffen. Besonders relevant ist dabei die geplante Förderung nachhaltiger Flugkraftstoffe (sustainable aviation fuels, SAF). Die Kommission hat zwar bewertet, inwieweit dieser Vorschlag und andere einschlägige Vorschläge ineinandergreifen, doch sollte sie darüber hinaus auch die kumulativen finanziellen Auswirkungen aller einschlägigen Regulierungsmaßnahmen berücksichtigen.

1.3.

Im Rahmen der Rechtsetzungsinitiativen zur Beschleunigung der Emissionssenkungen auf Netto-Null ist der ReFuelEU-Aviation-Vorschlag für den Luftverkehr von zentraler Bedeutung. Im Gegensatz zu anderen Branchen ist die Luftfahrt auf Energie aus fossilen Brennstoffen angewiesen. Um das Wachstum des Luftverkehrssektors bei gleichzeitiger Senkung seines CO2-Ausstoßes zu ermöglichen, hat der Verordnungsvorschlag „ReFuelEU Aviation“ zum Ziel, die Produktion, den Vertrieb und den Markthochlauf von SAF voranzubringen und dazu die Treibstofflieferanten zu verpflichten, an allen Flughäfen der EU dem angebotenen Turbinenkraftstoff nach und nach mehr SAF beizumischen, und die Fluggesellschaften zu verpflichten, Treibstoff mit einem schrittweise steigenden SAF-Anteil zu tanken.

Nach Meinung des EWSA, der die Förderung eines nachhaltigen Luftverkehrs unterstützt, geht der Vorschlag der Kommission in die richtige Richtung. Indes würde er einige Änderungen vorschlagen, um seine wirksame Umsetzung ohne Wettbewerbsverzerrungen sicherzustellen.

1.4.

Der EWSA begrüßt die Initiative der Kommission, das Wachstum eines SAF-Marktes zu beschleunigen. Unter der Voraussetzung, dass sie in ausreichenden Mengen hergestellt und allen Fluggesellschaften zur Verfügung stehen würden, könnten SAF tatsächlich erheblich zur Senkung der CO2-Emissionen des Luftverkehrs beitragen. Es ist jedoch nicht klar, ob mit dem von der Kommission verfolgten Ansatz Wettbewerbsverzerrungen verhindert würden.

1.5.

Die Luftfahrt ist ein internationaler Dienstleistungssektor. Zwei Märkte mit unterschiedlicher Marktdynamik sind hier relevant: der europäische Binnenmarkt bzw. EWR und der internationalen Regelungen unterliegende Weltmarkt. Der EWSA hält es für notwendig, diesen Unterschied in dem Verordnungsvorschlag klar herauszustellen, und fordert die Kommission auf, innerhalb des EWR weiterhin gleiche Wettbewerbsbedingungen sicherzustellen und sich dezidiert für auf internationaler Ebene anwendbare Nachhaltigkeitsstandards einzusetzen.

1.6.

Die vorgeschlagene Verordnung wird für alle Flüge aller EU-Luftfahrtunternehmen gelten, unabhängig davon, ob sie Strecken im EWR oder internationale Strecken bedienen. Für nicht in der EU ansässige Netzwerkfluggesellschaften gilt sie nur für die von EU-Flughäfen startenden Flüge. Alle anderen internationalen Dienste der Luftfahrtunternehmen aus Drittländern wären nicht von der verpflichtenden Mindestbetankung mit SAF-Blends betroffen. Der zu erwartende Preisunterschied zwischen herkömmlichen Flugtreibstoffen und SAF-Blends könnte deshalb Drittlands-Luftfahrtunternehmen einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. In einer Zeit, in der der gesamte internationale Luftverkehrssektor noch mit den Folgen der schlimmsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg zu kämpfen hat, sollten die zusätzlichen Kosten nicht allein den EU-Fluggesellschaften aufgebürdet werden. Wenn die Mehrkosten auf die Fluggäste umgelegt werden, würden außerdem von Drittlands-Fluggesellschaften durchgeführte, weniger umweltfreundliche Flüge für Fluggäste aus der EU attraktiver.

1.7.

Der EWSA empfiehlt, vor der praktischen Umsetzung dieser Verordnung eine Pilotphase einzuplanen, während der die EWR-internen Vorschriften zur Eindämmung der Umweltauswirkungen des Luftverkehrs vereinheitlicht werden könnten und die Kommission sich um eine enge Koordinierung der EU-Maßnahmen mit ähnlichen internationalen Initiativen zur Förderung von SAF bemühen würde. Sobald genügend SAF produziert wird und Luftfahrtunternehmen aus der EU und aus Drittländern zur Verfügung steht, würde diese Verordnung in vollem Umfang angewandt werden und auch Nicht-EU-Luftfahrtunternehmen, die von EU-Flughäfen abfliegen, Verpflichtungen auferlegen. Ein solcher stufenweiser Ansatz würde die mit der Pionierrolle einhergehenden Risiken begrenzen, die Gefahr der Verlagerung von CO2-Emissionen senken, einen kosteneffizienten Umsetzungsprozess ermöglichen und allen Interessenträgern, einschließlich der Hersteller von SAF, Planungssicherheit bieten. Außerdem wäre er einem stimmigen Biokraftstoffkonzept förderlich.

1.8.

Auf internationalen Langstreckenflügen wird erheblich mehr CO2 ausgestoßen als auf Mittel- und Kurzstreckenflügen innerhalb des EWR (3), weshalb sich die Kommission nach Meinung des EWSA nachdrücklicher mit den Möglichkeiten einer Koordinierung von Regulierungsmaßnahmen auf internationaler Ebene befassen sollte. Diesbezügliche Maßnahmen Dritter werden zusammen mit bereits vereinbarten Kompensationssystemen wie CORSIA (4) weitere Impulse für die Produktion, den Vertrieb und den Markthochlauf von SAF auf internationaler Ebene geben, wodurch die Nachfrage nach SAF rascher steigen und die Gefahr einer Verlagerung von CO2-Emissionen sinken wird (5).

Der EWSA teilt die Einschätzung der Kommission, dass die Schaffung eines SAF-Marktes ihre Zeit brauchen wird. Er fordert die Kommission auf, einen realistischen und umfassenden Fahrplan für die schrittweise Ausweitung der Nutzung von SAF aufzustellen, um allen Interessenträgern, einschließlich den SAF-Herstellern, Planungssicherheit und dem politischen Überwachungsprozess Orientierung zu geben.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Es wird ein umfassender und wirksamer Regulierungsansatz zur Förderung des Wachstums einer nachhaltigen Luftfahrt benötigt.

2.1.1.

Der Verordnungsvorschlag „ReFuelEU Aviation“ greift mit mehreren anderen Rechtsetzungsvorschlägen des Pakets „Fit für 55“ ineinander, die allesamt die Eindämmung der Umweltauswirkungen des Luftverkehrs zum Ziel haben (6). Bei der Bewertung der Wirkung und Durchführbarkeit des ReFuelEU-Aviation-Vorschlags muss daher dem Zusammenspiel der relevanten Vorschläge und ihren kumulativen Auswirkungen auf den Luftverkehrsmarkt Rechnung getragen werden.

2.1.2.

Nach einer Änderung der Energiebesteuerungsrichtlinie würde eine Mindeststeuer für Flüge innerhalb der EU eingeführt; nachhaltige Flugkraftstoffe würden nicht besteuert, während der Mindeststeuersatz für Treibstoff über einen Zeitraum von zehn Jahren schrittweise bis auf 10,75 EUR/Gigajoule steigen würde. Erklärtes Ziel dieses Vorschlags ist es, eine gesteigerte SAF-Nutzung anzuregen und die Fluggesellschaften dazu zu bewegen, effizientere und umweltfreundlichere Luftfahrzeuge einzusetzen und mögliche Einnahmeverluste von 32 % zu vermeiden. Wenn einzelne Mitgliedstaaten über diese Mindeststeuer hinausgehen, würden diese zusätzlichen nationalen CO2-Abgaben erhebliche Mehrkosten für die Fluggesellschaften bedeuten, wenn nicht genügend SAF produziert wird. Die Verfügbarkeit von SAF muss als wesentlicher Faktor bedacht werden, da sonst die Vorschriften eine Strafwirkung entfalten, anstatt mehr Anreize für die Produktion und Nutzung von SAF zu schaffen.

2.1.3.

Tatsächlich ist fraglich, ob zusätzliche Steuern einen Anreiz für die Umstellung von fossilen Brennstoffen auf SAF bieten können, wenn nicht genügend SAF zur Verfügung steht.

2.1.4.

In Ermangelung sinnvoller Antidumping-Bestimmungen lassen die Marktbedingungen es derzeit zu, dass miteinander konkurrierende Luftfahrtunternehmen Flugtickets zu Preisen anbieten, die unter den Grenzkosten liegen und nicht einmal die Flughafen- und Flugsicherungsentgelte decken. Eine weitere Steuer würde diese Niedrigpreise nicht weiter beeinflussen und daher auch keinen Anreiz für die Verwendung von SAF als Wettbewerbsvorteil bieten; eine solche EU-weite Mindeststeuer würde den Fluggesellschaften lediglich die finanziellen Mittel rauben, die sie für Investitionen in effizientere Flugzeuge benötigen. Zudem können die Einnahmen aus diesen zusätzlichen Steuern definitionsgemäß nicht für vorab festgelegte (umweltrelevante) Ziele verwendet werden, sondern fließen in die Kassen der Mitgliedstaaten. Sie könnten also nicht in die Ausweitung des Angebots investiert werden, um die steigende Luftverkehrsnachfrage zu decken.

2.1.5.

Nach Auffassung des EWSA ist daher eine differenziertere Analyse der Marktdynamik nötig, wobei insbesondere zu prüfen ist, ob als zusätzliche Regulierungsmaßnahme gezielte Antidumpingvorschriften erforderlich sind, die ein Mindestpreisniveau zur Deckung exogener Kosten vorschreiben (7).

Die Kommission schlägt ferner vor, als weitere Maßnahme im Rahmen des Pakets „Fit für 55“ die EHS-Regeln für den Luftverkehr zu überarbeiten. Das EHS erfasste früher etwa 40 % der Gesamtemissionen in der EU; in der überarbeiteten Fassung wurde dieser Anteil durch die Einbeziehung weiterer Sektoren wie des Seeverkehrs erhöht. Die Emissionsreduktionsverpflichtung für vom EHS erfasste Sektoren bis 2030 wurde zudem von 40 % auf 61 % im Vergleich zum Stand von 2005 erhöht, während die kostenlosen Zertifikate im Luftverkehr zwischen 2023 und 2025 schrittweise abgeschafft werden sollen.

2.1.6.

Der Emissionshandel ist ein marktbasierter Mechanismus mit dem Ziel der Emissionssenkung, der durch eine weitere Feinabstimmung der verwendeten Parameter gestärkt werden kann. Bei der Bewertung der Auswirkungen von derartigen Maßnahmen auf die Marktdynamik muss allerdings bedacht werden, dass der schrittweise Abbau kostenloser Emissionsrechte eine weitere finanzielle Bürde zusätzlich zu der Mehrkostenbelastung durch die bereits geplante EU-weite Mindeststeuer bedeuten würde. Die Energiebesteuerungsrichtlinie, die EHS-Richtlinie und die ReFuelEU-Aviation-Verordnung erfordern überdies jeweils die Bereitstellung von Daten über die Betankung mit und den Verbrauch von Flugturbinenkraftstoff sowie die Beimischung von SAF. Es sollte geprüft werden, wie die Bestimmungen betreffend Datenerhebung, Berichterstattung und Überprüfung vereinfacht werden können, um unnötigen Aufwand zu vermeiden und die praktische Durchführung des Verfahrens zu erleichtern.

Mithilfe der vorgeschlagenen Verordnung über die Infrastruktur für alternative Kraftstoffe soll der Aufbau der erforderlichen Infrastruktur an Flughäfen sichergestellt werden, damit an allen Flughäfen in der EU SAF bereitgestellt werden können. Es ist selbstredend wichtig, die logistischen Voraussetzungen für die Bereitstellung von SAF zu schaffen, doch gibt es auch bei dieser Verordnung Klärungsbedarf, denn ihrem derzeitigen Wortlaut zufolge könnten die Fahrzeuge, die die Flugzeuge mit SAF betanken, nicht für den „grünen“ Einsatzzweck geeignet sein (8). Ohne derartige Klarstellungen lässt sich nur schwer beurteilen, inwieweit an Flughäfen weitere Kosten entstehen könnten, die möglicherweise an die Fluggesellschaften weitergegeben würden.

2.2.

Der Verordnungsvorschlag „ReFuelEU Aviation“ ist maßgebend wichtig für die Sicherstellung einer nachhaltigen Zukunft des Luftverkehrs, darf aber keine wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen auf den Luftverkehrsmarkt haben.

2.2.1.

Die Kommission weiß, dass die Produktion und Verbreitung von SAF im industriellen Maßstab und ein vernünftiger Ausbau umfangreiche Investitionen und einen erheblichen Zeitaufwand erfordern. Da ihre Zuständigkeit von Rechts wegen auf den Luftverkehr innerhalb der EU und in der Praxis auf den Luftverkehr innerhalb des EWR beschränkt ist, schlägt sie zwei Maßnahmen vor, um Verzerrungen des internationalen Wettbewerbs möglichst gering zu halten: die Betankung sämtlicher von EU-Flughäfen startenden Flüge mit SAF-Blends, unabhängig vom Zielflughafen, und eine verpflichtende Mindestbetankung mit Flugturbinenkraftstoff an EU-Flughäfen. Die erste Maßnahme nimmt die Treibstofflieferanten ins Visier und bedeutet keine Benachteiligung von Fluggesellschaften. Es ist jedoch fraglich, ob die zweite Maßnahme praktisch umsetzbar ist und Marktverzerrungen wirksam verhindern kann.

2.2.2.

In Artikel 7 werden alle Fluggesellschaften verpflichtet, Daten über u. a. die Betankung mit Flugkraftstoff auf einem gegebenen EU-Flughafen bereitzustellen und Auskunft über die von den Flugkraftstoffanbietern bezogene Gesamtmenge nachhaltigen Flugkraftstoffs zu erteilen. Im Einklang mit den Berichterstattungspflichten im Rahmen des EU-EHS geben die Fluggesellschaften gegenwärtig bereits Auskunft über die Betankung mit und den Verbrauch von Flugkraftstoff, allerdings nur bei Flügen innerhalb der EU (9). Durch die vorgeschlagene Verordnung sollen die Berichtspflichten auf von EU-Flughäfen startende Flüge in Drittländer ausgeweitet werden. Damit werden aber auch Fluggesellschaften aus Drittländern, die diese Strecken bedienen, in die Datenmeldepflichten einbezogen. Es herrscht internationaler Konsens über die Einbeziehung von Fluggesellschaften aus anderen Staaten in Datenmeldepflichten, damit nationale Behörden die Einhaltung der Vorschriften überwachen können. Deshalb dürfte diese Berichtspflicht nicht auf internationale Ablehnung stoßen.

2.2.3.

In Artikel 5 werden (alle) Fluggesellschaften indes verpflichtet, an einem gegebenen EU-Flughafen im Lauf eines Jahres mindestens 90 % ihres jährlichen Flugturbinenkraftstoffbedarfs zu tanken. Damit soll Tankering unterbunden werden. Die Kommission versteht Tankering im Sinne der Mitnahme von Flugzeugtreibstoff über den Bedarf für den Hinflug hinaus, um eine eventuell teurere Betankung am Zielflughafen zu vermeiden (10). Nun aber liegen die Drehkreuze einiger nicht in der EU ansässiger Netzwerkfluggesellschaften in der Nachbarschaft des EWR (etwa London, Doha, Dubai, Istanbul) einen Kurzstreckenflug von einem beliebigen EWR-Flughafen entfernt. Die Langstreckenziele können dann nach Betankung an dem Drittlands-Drehkreuz angeflogen werden, ohne Tankering. Der über den Flugticketpreis auf die Fluggäste umgelegte Anteil der SAF-bedingten Mehrkosten könnte diese veranlassen, für ihr Langstreckenziel eine Streckenführung über ein (preisgünstigeres) Drittlands-Drehkreuz zu wählen (11). In Artikel 5 werden indes nicht die systemisch bedingten Wettbewerbsnachteile für EU-Drehkreuze und damit für EU-Netzwerkfluggesellschaften berücksichtigt.

2.2.4.

Da die Drehkreuze in der Nachbarschaft der EU über Kurzstreckenflüge erreicht werden, betrifft die Kraftstoffbetankung jener von EU-Flughäfen startenden Flugzeuge nur einen geringen Teil des gesamten internationalen Flugbetriebs der Nicht-EU-Luftfahrtunternehmen. Mit steigender SAF-Beimischung wird auch die Preisschere zwischen SAF-Blends und herkömmlichen Flugtreibstoffen aufgehen und den Wettbewerbsvorteil von Flügen über Drittlands-Drehkreuze erhöhen. Dies wird den Fluggästen noch mehr Anreiz geben, Streckenführungen zu wählen, auf denen kein SAF getankt werden muss, was dem erklärten Ziel dieses Verordnungsvorschlags unmittelbar zuwiderlaufen würde, den Markthochlauf von SAF zu fördern und so die CO2-Emissionen auch bei Abflügen aus der EU zu senken.

2.2.5.

In Anbetracht dieser Überlegungen empfiehlt der EWSA eine stufenweise Umsetzung der vorgeschlagenen Verordnung. Während einer Pilotphase sollten vor allem bestehende Berichtspflichten und Abgaben auf CO2-Emissionen auf EU- und nationaler Ebene vereinheitlicht werden. Derzeit bestehen diverse einschlägige Regelungen nebeneinander und bilden die Grundlage für die Berechnung des Umfangs der Emissionszertifikate und der Kompensationsmaßnahmen sowie der zu entrichtenden nationalen Abgaben auf CO2 oder Kerosin. Diese Regelungen bestehen jedoch unabhängig voneinander, sodass Interessenträger und Verwaltungen parallele Verwaltungsverfahren durchlaufen müssen. In ihrer aktuellen Fassung würde die vorgeschlagene Verordnung als weitere Anforderung die Bereitstellung von noch mehr Daten über den auf sämtlichen Flughäfen vertankten Flugkraftstoff vorschreiben, einschließlich des Kaufs nachhaltiger Flugkraftstoffe und der Gesamtmenge der in der EU bezogenen Flugkraftstoffe; auch die EASA und Eurocontrol wären demnach verpflichtet, die relevanten (nicht notwendigerweise aber andere) Daten in Jahresberichten zusammenzufassen.

2.2.6.

Es wäre ratsam, zunächst durch die Vereinfachung der Berichterstattungs-, Überprüfungs- und Überwachungsmechanismen im Rahmen der für EU-Luftverkehrsunternehmen geltenden Vorschriften für Transparenz zu sorgen, unnötigen Mehraufwand zu verringern und somit ein kohärentes, wirksames und effizientes Maßnahmenbündel einzuführen, das auch die verschiedenen nationalen Initiativen einbeziehen und in einem harmonisierten Rahmen aufgehen könnte. In dieser Pilotphase würden die von den EU-Luftfahrtunternehmen bereitgestellten Daten Auskunft darüber geben, welche Menge an SAF (allein) EU-Luftfahrtunternehmen für EWR-interne Flüge vertanken. Dies erscheint angesichts der notwendigen Zeit für den Ausbau der SAF-Produktion realistisch. Diese Flüge innerhalb des europäischen Luftverkehrsbinnenmarkts sollten zunächst keine Fluggäste umfassen, deren Reiseziel außerhalb der EU liegt.

2.2.7.

Die vorgeschlagene Pilotphase würde die vollständige Umsetzung der Verordnung nicht notwendigerweise hinauszögern, da ihr Zweck darin besteht, die Berichterstattungs- und Überprüfungsverfahren für EU-interne Daten zu straffen, um sicherzustellen, dass die für den Luftverkehr geplanten Maßnahmen des Pakets „Fit für 55“ nicht zu unnötigem Verwaltungsaufwand führen. Darüber hinaus würde sie Transparenz in Bezug auf die kumulativen finanziellen Auswirkungen der Maßnahmen auf den europäischen Luftverkehrssektor schaffen. Ungeachtet der Pilotphase könnte die Kommission die Verfahren an die außerhalb des EWR angewandten Verfahren anpassen.

2.2.8.

Die Anwendung dieser Verordnung auf von EU-Flughäfen startende internationale Flüge sollte davon abhängig gemacht werden, ob genügend SAF zur Verfügung steht, um die gestiegene Nachfrage zu bedienen. Ein bewährter EWR-Mechanismus zur Förderung des Markthochlaufs nachhaltiger Flugkraftstoffe könnte dann international als Benchmark, Modell und Standard dienen. Durch eine gestaffelte Ausweitung des vorgeschlagenen Systems kann zudem eine Wiederholung des Konflikts vermieden werden, in den die Kommission über die Einbeziehung von Flügen aus der EU in Drittstaaten ins EU-EHS geraten war. Entscheidend ist, dass die Kommission auf EWR-Ebene praktisch anwendbare Regulierungsinstrumente entwickelt und auf globaler Ebene einen harmonisierten Ansatz aushandelt.

2.2.9.

Bei der Koordinierung der Schritte zur Entwicklung eines fortschrittlichen und zweckmäßigen internationalen Rahmens sollte und muss auch CORSIA einbezogen werden. Solange für die Maßnahmen innerhalb des EWR und für die Umsetzung von CORSIA unterschiedliche Etappenziele festgelegt und verfolgt werden, kann CORSIA im Konsens weiterentwickelt werden, ohne dass daraus weitere Komplikationen für das EWR-System erwachsen.

2.3.

Für die Umsetzung sämtlicher unterbreiteten Vorschläge muss ein umfassender, übersichtlicher und verbindlicher Fahrplan aufgestellt werden. Auch müssen die Etappenziele kontrolliert werden.

2.3.1.

Die EWR-weit für alle Branchen, insbesondere den Luftverkehr, politisch vereinbarten Klimaziele sind außerordentlich ehrgeizig und laut dem jüngsten Bericht des Weltklimarats überfällig. Allerdings müssen infolge der von der Kommission beschriebenen und oben kurz zusammengefassten Besonderheiten des Luftverkehrs Anreize geschaffen werden, um auf einem aktuell eher unbedeutenden (SAF-)Markt die Nachfrage und das Angebot zu fördern, ohne die internationale Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Luftfahrtsektors oder die Sicherheit der europäischen Arbeitsplätze zu beeinträchtigen. Um diese branchenspezifischen Herausforderungen zu meistern, müssen wirksame Maßnahmen in klar abgestuften Schritten umgesetzt werden, sodass es für die Interessenträger machbar ist, ihre jeweiligen Produkte und Verfahren entsprechend anzupassen.

2.3.2.

Welches Ergebnis das laufende Legislativverfahren haben wird, ist gegenwärtig natürlich noch nicht abzusehen. Der EWSA fordert alle EU-Organe auf, sich für die Wahrung und sogar Verbesserung des wirksamen Zusammenspiels der vorgeschlagenen Maßnahmen einzusetzen und sich auf einen Fahrplan für ihre Umsetzung zu einigen.

2.3.3.

Ein solcher Fahrplan wird auch die Koordinierung bereits bestehender nationaler Maßnahmen umfassen. Einige Mitgliedstaaten haben nach Anhörung der Interessenträger bereits Fahrpläne aufgestellt (12).

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung des Vorschlags ist es, dass wesentliche Planungsfehler bei der SAF-Beimischungspflicht ausgeräumt werden. Die Kommission hat acht strategische Ansätze entworfen, die sich in folgenden Punkten unterscheiden: die Partei, der die Verpflichtung auferlegt wird (Lieferant und/oder Fluggesellschaft), die geografische Reichweite (nur Strecken innerhalb des EWR oder auch zwischen dem EWR und Drittländern), Submandate für künftige hoch entwickelte SAF-Produkte (insbesondere erneuerbare Kraftstoffe nicht biogenen Ursprungs), das Ziel (SAF-Menge/Treibhausgasminderung) und schließlich die logistischen Erfordernisse (umfasst die Option bspw. ein „Book&Claim“-System, das es durch die Trennung von Zertifikat und Rohstoff unnötig macht, auf jedem Flughafen physische SAF vorzuhalten, um sicherzustellen, dass bei jeder Betankung SAF beigemischt wird).

3.2.

Der EWSA unterstützt den Ansatz der Kommission, fortschrittliche Biokraftstoffe und E-Kerosin in die Vorgaben einzubeziehen. Die vorgeschlagene EU-Beimischungspflicht würde nationale Beimischungspflichten ablösen, die teilweise Kraftstoffe auf Pflanzenbasis einbeziehen. Da die Produktion von Biokraftstoffen neben dem Luftverkehr auch für viele andere Sektoren außerordentlich wichtig ist, muss unbedingt sichergestellt werden, dass diese Produktion immer nachhaltig ist.

3.3.

Der Kommissionsvorschlag sieht eine SAF-Beimischungsquote von 5 % bis 2023 vor, die sich aus 4,3 % Biokraftstoff und 0,7 % E-Kerosin zusammensetzen soll. Die Kommission sollte das Verhältnis zwischen fortschrittlichen Biokraftstoffen und E-Kerosin überprüfen. Moderne Biokraftstoffe werden aus Abfällen und Reststoffen hergestellt, d. h., aufgrund begrenzter Ressourcen ist eine ehrgeizige Nutzung nur eingeschränkt möglich. E-Kerosin hingegen könnte Kraftstoff mit unerheblichen CO2-Emissionen liefern, sofern es aus erneuerbarem (Öko-)Strom und aus der Luft gewonnenem CO2 hergestellt wird. Nach Ansicht des EWSA könnten weitere sekundäre Rechtsvorschriften die Einführung fortschrittlicher Produktionsprozesse beschleunigen und die Erreichung ehrgeizigerer mittel- und langfristiger Ziele für SAF-Blends fördern.

3.4.

Angesichts seines Potenzials empfiehlt der EWSA eine stärkere Einbeziehung von E-Kerosin. Es wäre durchaus realistisch, das Mindestziel auf 0,7 % im Jahr 2027 und auf 5 % im Jahr 2030 anzuheben. Nach Ansicht des EWSA unterschätzt die Kommission die Dynamik des E-Kerosinmarktes. In Entwicklungsländern in Südamerika und Afrika können Anlagen für die Herstellung und Speicherung von E-Fuels gebaut werden. Von dort aus können die E-Fuels dann in Länder transportiert werden, die SAF und E-Fuels benötigen. Und mit dem zunehmenden Ausbau werden E-Fuels für diese Länder immer erschwinglicher. Der derzeitige Wortlaut der Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED III) bietet jedoch keine ausreichende Planungssicherheit für Investitionen in neue Technologien. In Anbetracht der maßgebenden Bedeutung dieser Energiequelle muss, wie bereits erläutert, ein klarer politischer Fahrplan aufgestellt werden.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 99; ABl. C 389 vom 21.10.2016, S. 86.

(2)  Strategie für nachhaltige und intelligente Mobilität, https://ec.europa.eu/transport/themes/mobilitystrategy_en;

Einbeziehung des Luftverkehrs in die Richtlinie über das EU-EHS (COM(2021) 552 final);

Erneuerbare-Energien-Richtlinie (COM(2021) 557 final);

Richtlinie über den Aufbau einer Infrastruktur für alternative Kraftstoffe (COM(2021) 560 final).

.

(3)  Die Hälfte der CO2-Emissionen werden durch nur 6 % der Flüge verursacht: durch die Langstreckenflüge; „Data Snapshot on CO2 emissions and flight distance“, EUROCONTROL.

(4)  Das System zur Verrechnung und Reduzierung von Kohlenstoffdioxid für die internationale Luftfahrt (CORSIA) ist ein globales System marktbasierter Maßnahmen, um die durch internationale Flüge im Vergleich zu 2020 verursachten CO2-Mehremissionen auszugleichen. Es wird seit dem 1. Januar 2021 auf freiwilliger Basis bis 2026 angewandt; 81 Staaten (einschließlich aller EU-Mitgliedstaaten), auf die 77 % des internationalen Luftverkehrs entfallen, nehmen freiwillig daran teil.

(5)  Mehrere Länder, u. a. das Vereinigte Königreich und die USA, planen ebenfalls Maßnahmen zur Förderung der SAF und zur Verringerung der CO2-Emissionen (siehe die Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen, SWD(2021) 633 final).

(6)  SWD(2021) 633 final, Abschnitt 7.2.

(7)  Jeder regulatorische Eingriff in Marktmechanismen untergräbt die Liberalisierung des Luftverkehrsmarktes. Indes ist die Liberalisierung kein Dogma und stößt an ihre Grenzen, wenn sie die Verwirklichung der im Grünen Deal festgelegten Klimaziele verhindert. Deshalb bedarf es einer detaillierten und differenzierten Analyse der Auswirkungen solcher Markteingriffe in einem liberalisierten Regulierungsrahmen. Dies ist umso wichtiger, wenn verschiedene Regulierungsinitiativen ineinandergreifen und womöglich kumulative finanzielle Auswirkungen für die Interessenträger haben.

(8)  Siehe EWSA-Stellungnahme „EU-Taxonomie für nachhaltige Investitionen — Klimawandel“, verabschiedet am 22.9.2021 ECO/549 (ABl. C 517 vom 22.12.2021, S. 72).

(9)  Die ursprüngliche Absicht, die Anwendbarkeit des EU-EHS auf Flüge von und nach EU-Flughäfen auszuweiten, wurde infolge des Einspruchs von Nicht-EU-Staaten fallengelassen, die geltend machten, dass ihre Fluggesellschaften nicht rechtmäßig einer steuerähnlichen EU-Regelung unterworfen werden können.

(10)  Begründung (1. Gründe und Ziele des Vorschlags), S. 1.

(11)  Beispiel: Der Flugpreis für die Strecke Stuttgart–Wien–Kuala Lumpur würde durch die vorgeschriebene Betankung mit dem teureren SAF-Treibstoffmix für sowohl den Kurzstreckenflug Stuttgart–Wien als auch für den Langstreckenflug Wien–Kuala Lumpur steigen. Die Streckenführung Stuttgart–Istanbul–Kuala Lumpur würde die Betankung mit dem SAF-Treibstoffmix jedoch nur für den Kurzstreckenflug Stuttgart–Istanbul erfordern.

In diesem Fall könnte es für die Fluggesellschaft, die die Strecke Istanbul–Stuttgart betreibt, tatsächlich finanziell vorteilhaft sein, in Istanbul genügend Treibstoff zu tanken, um ein Auftanken für den Rückflug von Stuttgart nach Istanbul zu umgehen und SAF-Blends vollkommen zu vermeiden. Das aber wird durch Artikel 5 verhindert.

(12)  Z. B.: Roadmap für Power-to-Liquid-Flugkraftstoffe (PtL-Roadmap), Deutschland, 2021, https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Anlage/LF/ptl-roadmap.pdf?__blob=publicationFile.


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/140


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/87/EG hinsichtlich der Mitteilung über die im Rahmen eines globalen marktbasierten Mechanismus zu leistende Kompensation durch Luftfahrzeugbetreiber mit Sitz in der Union

(COM(2021) 567 final — 2021/0204 (COD))

(2022/C 105/21)

Berichterstatter:

Thomas KROPP

Befassung

Rat der Europäischen Union, 14.9.2021

Europäisches Parlament, 13.9.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 192 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Annahme in der Fachgruppe

7.10.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

238/0/5

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) stellt fest, dass die CO2-Emissionen der Luftfahrt im Jahr 2020 wegen der COVID-19-Pandemie um 64 % im Vergleich zu 2019 zurückgegangen sind (1). Nach einer Prognose der Europäischen Organisation für Flugsicherung (Eurocontrol), die dem Vorschlag der Kommission zugrunde liegt, dürfte das Verkehrsaufkommen frühestens 2024 wieder das Niveau von 2019 erreichen (2).

1.2.

Der Rat der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO) der Vereinten Nationen beschloss im Juli 2020, dass die Emissionen des Jahres 2019 als Referenzwert für die Berechnung der Kompensation (3) durch Luftfahrzeugbetreiber für die Jahre 2021-2022 herangezogen werden sollten.

1.3.

Die Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (4) soll dahingehend geändert werden, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, im Jahr 2022 Kompensationen für 2021 zu melden, wie in internationalen Regelungen vorgesehen, auch wenn der Emissionsanstieg 2021 im Vergleich zu 2019 vernachlässigbar, wenn nicht sogar gleich null sein dürfte.

1.4.

Der EWSA unterstützt deshalb den Vorschlag der Kommission (5) zur Änderung der Richtlinie 2003/87/EG in Bezug auf die Mitteilung der Kompensation im Jahr 2021. Die Änderung sollte unverzüglich angenommen werden, um Rechtssicherheit zu schaffen. (6)

1.5.

Der EWSA empfiehlt, eine Verlängerung der geänderten Referenzwerte zu erwägen, bis die durchschnittlichen Passagierzahlen wieder auf dem Niveau von 2019 liegen, zumindest für 2022 und 2023, denn dies sind die Jahre, in denen sich nach jetzigem Ermessen der Markt erholen dürfte. Andernfalls wären Luftfahrzeugbetreiber verpflichtet, ihre Emissionen auszugleichen, obwohl sie weniger fliegen und weniger Emissionen als im Referenzjahr verursachen.

1.6.

Das System zur Verrechnung und Reduzierung von Kohlenstoffdioxid für die internationale Luftfahrt (Carbon Offsetting and Reduction Scheme for International Aviation, CORSIA) ist Teil eines Maßnahmenpakets zur Minderung der Umweltauswirkungen des Luftverkehrs. Der EWSA fordert die Kommission auf, zu prüfen, inwieweit alle für den Luftverkehr relevanten Legislativvorschläge des im Rahmen des Grünen Deals vorgelegten Pakets „Fit für 55“ ineinandergreifen, um ihre kumulativen finanziellen Auswirkungen beurteilen zu können, und die entsprechenden Verfahren aufeinander abzustimmen.

1.7.

2016 einigten sich die ICAO-Mitgliedstaaten (einschließlich der EU-Mitgliedstaaten) auf die Einführung des CORSIA-Systems als Klimaschutzinstrument in der internationalen Luftfahrt. Der EWSA begrüßt globale Maßnahmen für globale Wirtschaftssektoren. Er fordert die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten deshalb auf, das CORSIA-System weiterhin uneingeschränkt zu unterstützen und mitzutragen.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

2016 verabschiedete die Internationale Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO) CORSIA, um die Frage der CO2-Emissionen des Luftverkehrs anzugehen. Die Normen und Verfahren zur Umsetzung dieser Regelung wurden als Anhang zum Abkommen von Chicago angenommen, das alle ICAO-Mitgliedstaaten seit Januar 2019 anwenden müssen.

2.2.

Ein Kompensationssystem verringert nicht die Emissionen der Branche. Die Fluggesellschaften können jedoch den Anstieg der Luftverkehrsemissionen durch Maßnahmen in anderen Sektoren kompensieren, sodass die Menge der CO2-Emissionen netto gleich bleibt. Eine grundlegende Voraussetzung dafür ist, dass die an anderer Stelle bewirkte Emissionsverringerung dauerhaft ist und keine ungewollten Emissionssteigerungen auslöst.

2.3.

Die Bedeutung des CORSIA-Systems kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn es ist ein international auf Ebene der Vereinten Nationen vereinbarter Mechanismus. Alle ICAO-Unterzeichnerstaaten müssen dafür sorgen, dass ihre Luftfahrtunternehmen ihre Emissionen jährlich melden; für internationale Flüge begann die Überwachung am 1. Januar 2019. Die Fluggesellschaften sind demzufolge verpflichtet, Datenbanken für den auf jedem Flug verwendeten Kraftstoff einzurichten, anhand derer die CO2-Emissionen nach einer von mehreren zugelassenen Messmethoden für den Kraftstoffverbrauch berechnet werden können. Die ICAO-Mitgliedstaaten haben jedoch vereinbart, das CORSIA-System in unterschiedlichen Stufen umzusetzen; von 2021 bis 2026 werden nur Flüge zwischen Staaten, die sich freiwillig zur Teilnahme an dieser ersten Phase bereiterklärt haben, kompensiert (7). Ab 2027 werden alle internationalen Flüge unter die Regelung fallen, mit der sehr geringfügigen Ausnahme einiger Entwicklungsländer. Inlandsflüge gehören in den Zuständigkeitsbereich einer anderen VN-Einrichtung, nämlich des UNFCCC (8), und fallen unter das Übereinkommen von Paris.

2.4.

Aufgrund der beispiellosen COVID-19-Krise und des drastischen Rückgangs des Verkehrsaufkommens und somit der CO2-Emissionen im Jahr 2020 und der darauf folgenden langwierigen Erholung ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich ein Kompensationsbedarf für die Jahre 2021-2023 ergibt. Dies könnte zur Unsicherheit darüber führen, ob die Meldepflichten weiterhin sinnvoll sind. Mit dem vorliegenden Vorschlag werden die EU-Mitgliedstaaten rechtlich verpflichtet, den in der EU ansässigen Luftfahrtunternehmen bis zum 30. November 2022 die Kompensationszahlen für die Emissionen des Jahres 2021 mitzuteilen, selbst wenn diese Null betragen. Dies würde sowohl für die Luftfahrtunternehmen der EU als auch für die Mitgliedstaaten Rechtssicherheit schaffen.

2.5.

Es wird davon ausgegangen, dass das CORSIA-System zwischen 2021 und 2035 eine Minderung von etwa 2,5 Mrd. Tonnen CO2 bewirken wird, was einem Jahresdurchschnitt von 165 Mio. Tonnen CO2 entspricht (9). Da CORSIA aber die Emissionen des Luftverkehrs nicht verringert, ändert es eigentlich nichts am tatsächlichen CO2-Niveau der Luftfahrt. CORSIA muss deshalb im Verbund mit anderen Instrumenten gesehen werden, die tatsächlich eine Wirkung auf die Höhe der CO2-Emissionen dieses Wirtschaftssektors haben (10). Diesem Ziel dienen drei weitere Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Fit-für-55-Paket (11): die Einführung einer Kerosinsteuer nur auf EU-Ebene, die Einführung einer Beimischungsverpflichtung für nachhaltige Flugkraftstoffe (Sustainable Aviation Fuels, SAF) (12) und Änderungen am EU-Emissionshandelssystem (EU-EHS).

2.6.

Zwar richten sich sowohl das CORSIA-System als auch das EHS auf CO2 -Emissionen, doch ist ihre Wirkungsweise unterschiedlich. Das EU-EHS dient der Verringerung der zulässigen Gesamtemissionen, indem es Fluggesellschaften verpflichtet, Zertifikate für ihre jeweiligen eigenen Emissionen zu erwerben. Das CORSIA-System verpflichtet die Fluggesellschaften hingegen, Gutschriften als Ausgleich für das kollektive Emissionswachstum ihrer Branche zu erwerben, sodass für jede vom Luftverkehr emittierte Tonne Kohlendioxid Emissionen in einem anderen Sektor vermieden oder verringert werden. Das EHS gilt für den Luftverkehr innerhalb der EU. Dies schließt allerdings Fluggäste ein, die lediglich einen Zubringerflug von einem EU-Flughafen zu einem EU-Drehkreuz nehmen, um zu einem internationalen Zielort weiterzufliegen; in solchen Fällen würden die CO2-Emissionen aller Teile ihrer Reisestrecke, die über einen EU-Flughafen gehen, bepreist werden. Diese Fluggäste könnten dasselbe Fernziel auch über ein nahe bei der EU gelegenes Drehkreuz anfliegen, z. B. über London, Istanbul, Dubai, Doha oder Moskau, dann würden die CO2-Emissionen aus dem Langstreckenflug, der von einem Drehkreuz außerhalb der EU abgeht, jedoch nicht vom EU-EHS erfasst werden. Mit solchen Fällen einer Verlagerung der CO2-Emissionen („carbon leakage“) wird man sich befassen müssen.

2.7.

Der Vorschlag „ReFuelEU Aviation“ könnte ebenfalls zu Wettbewerbsverzerrungen führen, weil die Verwendung eines Flugkraftstoffs mit SAF-Beimischung (nur) an allen EU-Flughäfen, nicht aber an Drehkreuzen außerhalb der EU obligatorisch wäre. Nachhaltige Flugkraftstoffe verursachen zwar geringere CO2-Emissionen, sind aber deutlich teurer in der Herstellung als herkömmlicher Flugkraftstoff. Ohne eine öffentliche Finanzierung nachhaltiger Flugkraftstoffe würden die Mehrkosten für die SAF letztlich an die Passagiere weitergegeben werden. Dadurch würden internationale Flüge von einem EU-Drehkreuz für sie teurer als der Flug zu demselben Zielort von einem Drehkreuz außerhalb der EU. Derartig signifikante Verzerrungen des internationalen Wettbewerbs sollten vermieden werden, denn letztlich gefährden sie die politisch, wirtschaftlich und vor allem ökologisch wünschenswerte Verringerung der CO2-Emissionen.

2.8.

Die Besteuerung von Kerosin hätte nur einen Markteffekt, wenn sie die Erzeugung nachhaltiger Flugkraftstoffe stimuliert; das ist aber nicht unbedingt der Fall.

2.9.

Der EWSA empfiehlt der Kommission, einen umfassenden Überblick über alle marktbasierten Maßnahmen und ihre beabsichtigte Wirkung auf den Luftverkehrsmarkt zu erstellen.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  https://ec.europa.eu/clima/news/emissions-trading-greenhouse-gas-emissions-reduced-2020_de.

(2)  https://www.eurocontrol.int/publication/eurocontrol-five-year-forecast-2020-2024.

(3)  Bei der Kompensation schafft ein Unternehmen oder ein Einzelner einen Ausgleich für seine Emissionen durch die Finanzierung von emissionsmindernden Maßnahmen an anderer Stelle. Auf Märkten, auf denen eine Kompensation vorgeschrieben ist, werden zertifizierte Emissionsreduktionsgutschriften für Ausgleichsmaßnahmen im Rahmen von Projekten zur Emissionsverringerung vergeben. Diese Gutschriften können zwischen Unternehmen und staatlichen Stellen gehandelt werden, um internationalen Übereinkommen nachzukommen, in denen die CO2-Menge, die von einer Einrichtung oder Organisation emittiert werden darf, begrenzt wird.

(4)  Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Union und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates (ABl. L 275 vom 25.10.2003, S. 32).

(5)  Gegenstand dieser Stellungnahme: COM(2021) 567 final — 2021/0204 (COD).

(6)  Der EWSA folgt der Begründung in Erwägungsgrund 9 des Vorschlags COM(2021) 567 final — 2021/0204 (COD).

(7)  Ab 2021 gilt die Regelung in mindestens 88 Staaten, die 77 % des internationalen Luftverkehrs ausmachen, einschließlich aller EU-Mitgliedstaaten.

(8)  United Nations Framework Convention on Climate Change (Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen). Das Kyoto-Protokoll, das 1997 unterzeichnet wurde und von 2005 bis 2020 galt, war die erste Umsetzung von Maßnahmen im Rahmen des UNFCCC. Das Kyoto-Protokoll wurde durch das Übereinkommen von Paris ersetzt, das 2016 in Kraft trat. Das VN-Klimaübereinkommen wurde von 197 Staaten unterzeichnet; die Fortschritte bei der Umsetzung seiner Beschlüsse werden von der Konferenz der Vertragsparteien (COP) überwacht, die jährlich zusammentritt.

(9)  Informationsblatt der IATA zu CORSIA, 12. Mai 2019.

(10)  Wie die Aufnahme der Luftfahrt in das EU-EHS (Richtlinie 2003/87/EG) und der Vorschlag „RefuelEU Aviation“ (COM(2021) 561 final — 2021/0205 (COD)).

(11)  Das von der Kommission geschnürte Paket „Fit für 55“ umfasst mehrere zusammenhängende Legislativvorschläge, die die Europäische Union in die Lage versetzen würden, das Ziel einer 55 %igen Netto-Verringerung der Treibhausgasemissionen Europas, auf das sich der Rat der EU 2020 geeinigt hatte und das im Europäischen Klimagesetz festgeschrieben ist, zu erreichen. Die Vorschläge dieses Pakets haben auch Folgen für den europäischen Verkehrs- und Tourismussektor. Ohne wirksame Anreize würden die Vorschläge nicht zu einer nachhaltigen Tourismus- und Verkehrspolitik der EU führen. Im Gegenteil: Die vorgeschlagenen Maßnahmen könnten zu erheblichen Kostensteigerungen für EU-Unternehmen (sowohl große als auch kleine) führen, ihre Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Verkehrs- und Tourismusunternehmen mit Sitz in Drittländern an den EU-Grenzen beeinträchtigen und somit Arbeitsplätze in der EU in diesen Branchen gefährden. In hohem Maße vom Tourismus abhängige EU-Regionen wären davon besonders stark betroffen. Ein zukunftsorientierter, nachhaltiger Ansatz, wie von der Kommission vorgeschlagen, muss ergänzende Maßnahmen umfassen, die jedoch zusammen als Katalysator für die Erzielung von Klimaneutralität wirken müssen. Ihre kumulativen finanziellen Folgen für den europäischen Verkehrs- und Tourismussektor müssen deshalb bedacht werden, um Planungssicherheit für Investitionen in neue Arbeitsplätze zu schaffen.

(12)  Entwurf einer Stellungnahme des EWSA, Dossier TEN/744 (siehe Seite 136 dieses Amtsblatts).


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/143


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Auf dem Weg zu einem gesunden Planeten für alle — EU-Aktionsplan: „Schadstofffreiheit von Luft, Wasser und Boden“

(COM(2021) 400 final)

(2022/C 105/22)

Berichterstatterin:

Maria NIKOLOPOULOU

Befassung

Europäische Kommission, 31.5.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Annahme in der Fachgruppe

4.10.2021

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

105/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) unterstützt den Aktionsplan der Kommission, mit dem die verschiedenen Arten von Umweltverschmutzung ganzheitlich angegangen sowie die Verpflichtungen des Übereinkommens von Paris und die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG) erfüllt werden sollen. Im Sinne eines wirklich ehrgeizigen Aktionsplans müssen die Ziele vollständig mit den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Einklang stehen, und es sollten von Anfang an — d. h. jetzt — ehrgeizigere Ziele gesteckt werden.

1.2.

Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, mit der Erhebung von Daten zu beginnen, um bald Legislativvorschläge für die Bereiche vorlegen zu können, in denen es noch keine Rechtsvorschriften gibt. Dies betrifft bspw. Lichtverschmutzung und Belastung durch Vibrationen.

1.3.

Der EWSA begrüßt die Schaffung der neuen Null-Schadstoff-Plattform der Interessenträger für eine raschere Dekontaminierung der Umwelt und möchte mittels der Europäischen Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft (1) oder auf anderen Wegen zusammenarbeiten.

1.4.

Der EWSA bedauert, dass die Beseitigung von durch Umweltverschmutzung verursachten Schäden und der Ausgleich dafür in der Null-Schadstoff-Hierarchie weniger berücksichtigt werden. Es müssen Maßnahmen vorgesehen werden, wenn die Verursacher von Umweltverschmutzungen nicht ermittelt werden oder diese nicht für den Schaden aufkommen können.

1.5.

Der EWSA empfiehlt, bezüglich der Bewertung der Feinstaubquellen das Oxidationspotenzial und ultrafeine Partikel in die Rechtsvorschriften und die Überwachung von Feinstaub aufzunehmen.

1.6.

Zwecks Bekämpfung der Meeresverschmutzung müssen alle Häfen über ein modernes Abfallsammel- und -bewirtschaftungssystem verfügen. Darüber hinaus sollte die EU kontinuierlich die Entnahme von Abfällen aus dem Meer fördern, um sowohl die Dekontaminierung zu unterstützen als auch eine Nebentätigkeit für die Fischerei sicherzustellen.

1.7.

Ein Teil der Kunststoffabfälle im Meer stammt aus Binnengewässern. Um die Sauberkeit unserer europäischen Flüsse zu garantieren, müssen sich die betroffenen Länder koordinieren.

1.8.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Abfallbewirtschaftung harmonisiert werden muss und die Abfälle dort bewirtschaftet und verwertet werden sollten, wo sie anfallen oder wo adäquate Recyclinganlagen vorhanden sind, um negative Auswirkungen in Drittländern zu vermeiden.

1.9.

Obwohl die Ziele auf EU-Ebene festgelegt werden, empfiehlt der EWSA, pro Land Mindestschwellen vorzusehen. Damit soll sichergestellt werden, dass alle Mitgliedstaaten trotz unterschiedlichem Tempo angemessene Fortschritte machen.

1.10.

Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten und die Kommission auf, den Übergang zu erneuerbaren Energiequellen zu beschleunigen, die so wichtig dafür sind, dass den Unternehmen die Dekarbonisierung ihrer Produktion gelingt.

1.11.

Der EWSA begrüßt die bürgerwissenschaftliche Strategie der Kommission, mit der das Engagement der Menschen aktiviert und ihr Bewusstsein für Umweltverschmutzung, Gesundheit und Wohlbefinden geschärft werden soll.

2.   Der Vorschlag der Kommission

2.1.

Der EU-Aktionsplan „Schadstofffreiheit von Luft, Wasser und Boden“ ist einer der letzten Ecksteine des Grünen Deals. Das Kernziel besteht darin, die Verschmutzung bis 2050 auf ein für die menschliche Gesundheit und die Umwelt nicht schädliches Niveau zu senken. Die Kommission wird alle laufenden Maßnahmen zu den verschiedenen Schadstoffzielen integrieren und zusammenführen.

2.2.

Gemäß den EU-Rechtsvorschriften, den Zielen des Grünen Deals sowie in Synergie mit anderen Initiativen soll die EU bis 2030 Folgendes erreichen:

Eine Reduzierung der gesundheitlichen Auswirkungen (vorzeitige Todesfälle) der Luftverschmutzung um mehr als 55 %;

eine Reduzierung des Anteils der durch Verkehrslärm chronisch beeinträchtigten Menschen um 30 %;

eine Reduzierung der Anzahl der Ökosysteme in der EU, in denen die biologische Vielfalt durch Luftverschmutzung bedroht ist, um 25 %;

eine Senkung der Nährstoffverluste, des Einsatzes und der Risiken chemischer Pestizide, des Einsatzes gefährlicherer Pestizide sowie des Verkaufs von für Nutztiere und für die Aquakultur bestimmten Antibiotika um 50 %;

eine Reduzierung von Kunststoffabfällen im Meer um 50 % und eine Reduzierung des in die Umwelt freigesetzten Mikroplastiks um 30 %;

eine erhebliche Senkung des gesamten Abfallaufkommens und eine Reduzierung von Siedlungsabfällen um 50 %.

2.3.

Mit den für 2022 und 2024 vorgesehenen Berichten zum Null-Schadstoff-Überwachungs- und Prospektivrahmen soll die Umsetzung der für 2030 gesteckten Ziele bewertet werden. Sie dienen als Maßstab für die Entscheidung, welche Maßnahmen ergriffen oder verstärkt werden müssen, um den Erfolg der Ziele für 2030 sicherzustellen. Anschließend werden die nächsten Schritte zur Erreichung des Null-Schadstoff-Ziels bis 2050 skizziert.

2.4.

Die Kommission wird gemeinsam mit dem Europäischen Ausschuss der Regionen die Null-Schadstoff-Plattform der Interessenträger lancieren.

2.5.

Die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie wird bis 2023 überarbeitet, um Kunststoff- und andere Abfälle, Unterwasserlärm und sonstige Verunreinigungen zu verringern.

2.6.

Die Überprüfung der Richtlinie über die Behandlung von kommunalem Abwasser sowie der Klärschlammrichtlinie wird zu ehrgeizigeren Zielen bei der Beseitigung von Nährstoffen aus dem Abwasser und bei der für die Wiederverwendung erforderlichen Wasseraufbereitung und Klärschlammbehandlung beitragen.

Die Verordnung über die Verbringung von Abfällen wird mit dem Ziel überprüft, Abfallausfuhren besser zu überwachen, eine nachhaltige Behandlung von Abfällen sicherzustellen und Ausfuhren mit schädlichen Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit in Drittländer einzuschränken.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Wie im Aktionsplan dargelegt, ist der Kampf gegen die Umweltverschmutzung auch ein Kampf für Gerechtigkeit. Denn die schädlichsten Gesundheitsauswirkungen haben die am stärksten benachteiligten Gruppen zu tragen wie Kinder, ältere Menschen oder Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, Menschen mit Behinderungen sowie Menschen, die unter schlechteren sozioökonomischen Bedingungen leben (2). Mit beinahe 92 % aller umweltbedingten Todesfälle tragen weltweit die Länder mit mittlerem oder niedrigem Einkommen die Hauptlast der durch Umweltverschmutzung verursachten Krankheiten (3).

3.2.

Der EWSA unterstützt den Aktionsplan und die entsprechenden Leitinitiativen der Kommission, mit denen die verschiedenen Arten von Umweltverschmutzung ganzheitlich angegangen sowie die Verpflichtungen des Übereinkommens von Paris und die SDG erfüllt werden sollen. Im Sinne eines wirklich ehrgeizigen Plans müssen die Ziele vollständig auf die Empfehlungen der WHO abgestimmt sein.

3.3.

Der EWSA stimmt dem Ansatz zu, die in den verschiedenen Bereichen bestehenden Rechtsvorschriften zu stärken und dort, wo sie nicht erfolgreich umgesetzt wurden, z. B. bei der Luft- und Wasserqualität, anzupassen. Der EWSA bekräftigt, dass die Umweltpolitik der EU gezeigt hat, dass die unzureichende, fragmentierte und uneinheitliche Umsetzung der europäischen Umweltvorschriften in vielen Mitgliedstaaten ein ernstes Problem darstellt (4). Zudem ist es nicht so, dass nicht bekannt wäre, was zu tun ist. Vielmehr mangelt es an der Umsetzung bekannter, oft längst beschlossener Maßnahmen, und am politischen Willen (5).

3.4.

Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, mit der Erhebung von Daten zu beginnen, um bald Legislativvorschläge für die Bereiche vorlegen zu können, in denen es noch keine Rechtsvorschriften gibt. Dies betrifft bspw. Lichtverschmutzung und Belastung durch Vibrationen.

3.5.

Inwieweit die Ziele erreicht werden, soll anhand der Ergebnisse des Überwachungs- und Prospektivrahmens 2024 evaluiert werden. Das wird der Ausgangspunkt für die Debatte darüber sein, wie ehrgeizig die Ziele sind, und um gegebenenfalls Ziele und Rechtsvorschriften gründlicher zu überarbeiten. Der EWSA befürchtet, dass dies angesichts der wenigen für das Erreichen der Ziele für 2030 verbleibenden Zeit zu lang dauert, und ist der Ansicht, dass von Anfang an, d. h. jetzt, ehrgeizigere Ziele gesteckt werden sollten.

3.6.

Die für 2030 festgelegten Ziele zur Verringerung der Luftverschmutzung beruhen auf zu weit zurückliegenden Bezugsjahren, die zudem je nach Ziel voneinander abweichen, da sie auf unterschiedlichen Daten und Rechtsvorschriften basieren. Auch wenn langfristige kumulative Daten Prognosen erleichtern, sollte nach Ansicht des EWSA für die Bewertung der Fortschritte bei den Zielvorgaben für alle Ziele vom selben Bezugszeitpunkt ausgegangen werden, um tatsächlich feststellen zu können, inwieweit die Ziele erreicht wurden.

3.7.

Günstige Rahmenbedingungen sollten Unternehmen und KMU dabei helfen, die Rechtsvorschriften zur Verminderung der Umweltverschmutzung umzusetzen und gleichzeitig den Verwaltungsaufwand auf ein Minimum zu beschränken. Zudem wird ein international harmonisierter Regelungsrahmen benötigt, da die Umweltverschmutzung nicht an den Grenzen der EU haltmacht.

3.8.

Nach Auffassung des EWSA ist die Zusammenarbeit zwischen Branchen für den Übergang unabdingbar. Daher begrüßt er die Schaffung der neuen Null-Schadstoff-Plattform der Interessenträger und möchte mittels der Europäischen Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft oder auf anderen Wegen zusammenarbeiten. Außerdem empfiehlt er, eine enge Zusammenarbeit mit Drittländern aufzubauen und Räume für die Zusammenarbeit zwischen der Zivilgesellschaft der verschiedenen Regionen zu schaffen, da Umweltverschmutzung nicht an Grenzen haltmacht.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Die Unterstützung der EU für Innovation, Investitionen und Forschung im Bereich neuer Ausrüstungen und Technologien ist für alle Unternehmen und zur Schaffung neuer hochwertiger Arbeitsplätze wichtig. Investiert werden muss allerdings in Natur und biologische Vielfalt (Wiederherstellung von Ökosystemen und regenerative Landwirtschaft), in Wohlstand (nachhaltige Infrastruktur und erneuerbare Energiequellen/Energiewende, Gebäude und umweltfreundliche/öffentliche Mobilität) und in die Menschen (Bildung und Überwindung der digitalen Kluft/FuE, Steuerreformen zur Schaffung fairerer und gerechterer Möglichkeiten in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Umwelt).

4.2.

Der EWSA bedauert, dass die Beseitigung von durch Umweltverschmutzung verursachten Schäden und der Ausgleich dafür in der Null-Schadstoff-Hierarchie weniger berücksichtigt werden. Das Verursacherprinzip hat sich nicht als sehr wirksam erwiesen, wie die immer noch hohe Zahl kontaminierter Standorte in der EU zeigt. Es müssen Maßnahmen vorgesehen werden, wenn die Verursacher von Umweltverschmutzungen nicht ermittelt werden oder diese nicht für den Schaden aufkommen können.

4.3.

Bezüglich der Luftverschmutzung möchte der EWSA die Kommission auf die Feinstaubproblematik aufmerksam machen, die für Millionen vorzeitiger Todesfälle weltweit verantwortlich ist. Bei der Bewertung der toxikologischen Wirkungen von Feinstaubpartikeln auf die menschliche Gesundheit sollte ein standardisierter Messwert festgelegt werden, der nicht nur der Massenkonzentration, sondern auch der Größe und der chemischen Zusammensetzung der Partikel Rechnung trägt. Die Bewertung der Quellen von Feinstaubpartikeln, ihres Oxidationspotenzials und ultrafeiner Partikel ist wichtig, da davon deren Gefährlichkeit abhängt. Dies sollte in die Rechtsvorschriften aufgenommen und bei der Überwachung der Feinstaubkontamination berücksichtigt werden.

4.4.

Die Wassergesetzgebung soll angepasst werden, um chemische Schadstoffe und Mikroplastik zu verringern. Kunststoffabfälle sind äußerst besorgniserregend, da sie sich nur schwer beseitigen lassen und andere Schadstoffe adsorbieren. Zudem werden die starke chemische Wirkung und die toxikologischen Auswirkungen ihrer Zusatzstoffe und des bei ihrer Zersetzung entstehenden Nanoplastiks nicht berücksichtigt (6). Die OECD-Länder sind für einen erheblichen Teil der in anderen Ländern anfallenden Kunststoffabfälle verantwortlich. Daher müssen Lösungen für die grenzüberschreitende Verschmutzung gefunden werden. Es sollte ein neuer spezifischer globaler Grenzwert für Kunststoffabfälle festgelegt werden. Vorbeugung ist ebenfalls wichtig: die Hersteller müssen durch entsprechende Anreize zu Ökodesign angehalten werden. Industrie und Umweltwissenschaft müssen zusammenarbeiten, um praktikable Lösungen zu erforschen.

4.5.

Insbesondere im Agrarsektor ist es wichtig, in die Innovation von Technologien und Betriebsmodellen zu investieren, die die Wiederverwendung von Wasser erleichtern und seine Qualität verbessern. Ebenso wichtig sind Lösungen zur Reduzierung des (z. B. durch die Beregnung mit Gülle- und Jauchelösungen, den Einsatz von Pestiziden und die Freisetzung von Nitraten entstehenden) ökologischen Fußabdrucks. Die Weiterbildung der entsprechenden Akteure und ihre Schulung in neuen Technologien und digitalen Lösungen werden deren Anwendung und die Einhaltung der Wasserstandards erleichtern.

4.6.

Der Umgang mit den Abfällen aus Fischereitätigkeiten und insbesondere den Fischnetzen sollte sorgfältig geregelt werden. Da sich Kunststoffabfälle im Meer nach dem Zufallsprinzip bewegen, müssen internationale Regeln angewandt oder zumindest Kunststoffherstellung und -verbrauch nach Ländern aufgeschlüsselt werden, sodass die großen Verschmutzer auch mehr bezahlen müssen. NGO und einige Länder haben gezeigt, dass es Instrumente und Menschen gibt, die in der Lage sind, Meeresmüll zu entfernen, und dass die erforderlichen Hafenstrukturen für dessen Lagerung und Recycling geschaffen werden können (7). Es mangelt jedoch noch an der Umsetzung, da die Fischer für die Sammlung und Sortierung von Abfällen keine wirtschaftlichen Vorteile erhalten und kleine Häfen noch nicht für diese Tätigkeit gerüstet sind. Alle Häfen, auch die kleinsten unter ihnen, müssen mit modernen Auffangeinrichtungen ausgerüstet werden, die eine transparente Behandlung der Abfälle ermöglichen (8). Die EU sollte solche Maßnahmen kontinuierlich fördern, sowohl um die Dekontaminierung zu unterstützen, als auch um eine Nebentätigkeit für die Fischerei sicherzustellen (9).

4.7.

80 % der in den Meeren vorhandenen Abfälle gelangen über Binnengewässer (Seen und Flüsse) dorthin (10). Es ist wirksamer, das Problem an der Quelle zu managen und zu überwachen. Die Sauberkeit unserer europäischen Flüsse bedarf einer länderübergreifenden Koordinierung. In den betreffenden Ländern gibt es jedoch sehr unterschiedliche Rechtssysteme und in unterschiedlichem Maße Verpflichtungen der Regierungs- und Verwaltungsebenen in Bezug auf die Bewirtschaftung von Flusseinzugsgebieten.

4.8.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Berücksichtigung chemischer Gemische ein wichtiger Schritt bei der Risikobewertung von Chemikalien ist. Forschung und Entwicklung sind von entscheidender Bedeutung für Fortschritte bezüglich Kenntnissen, Bewertung und Management der Gemische (11).

4.9.

Um die EU auf das Null-Schadstoff-Ziel auszurichten, sind Anreize zur Erleichterung des Wandels, Kompetenzen in Bezug auf neue Technologien und digitale Lösungen, technische Hilfe, gesellschaftliche Bildung und die Harmonisierung und Umsetzung von Leitfäden für bewährte Verfahren für Produktion und Verbrauch erforderlich. Unternehmen benötigen ausreichend erneuerbare Energie zu erschwinglichen Preisen und kohlenstoffarme oder -freie gasförmige Kraftstoffe, um ihre Herstellungsverfahren zu dekarbonisieren. Der EWSA fordert die Mitgliedstaaten und die Kommission auf, den Übergang zu erneuerbaren Energiequellen zu beschleunigen.

4.10.

Bei der Überarbeitung der Industrieemissionsrichtlinie wird insgesamt ein hohes Umweltschutzniveau gewährleistet. Die Anwendung der besten verfügbaren Techniken, die keine übermäßigen Kosten verursachen, wäre für KMU geeigneter. Die Richtlinie über Industrieemissionen sollte für die gesamte Wertschöpfungskette gelten, einschließlich der Beschaffung von Rohstoffen außerhalb der EU. Die Einhaltung muss für Industrieemissionen rechtsverbindlich sein, und es bedarf einer standardisierten und zuverlässigen Überwachungsmethodik, mit der die Vergleichbarkeit realistischer Daten sichergestellt wird, sowie einer einheitlichen Bewertung, die für gleiche Bedingungen für die gesamte EU-Wirtschaft sorgt.

4.11.

Der EWSA sieht in der Kompetenzagenda ein Schlüsselelement für die Entwicklung des Arbeitsmarktes, mit dem die Ausbildung der Fachkräfte auf Klima-, Umwelt- und Gesundheitsbewusstsein ausgerichtet wird. Zudem begrüßt er die verbesserte Ausbildung in Gesundheits- und Sozialberufen zur Bewältigung von Umweltrisiken. Diese Strategie wird es Unternehmern, Unternehmen, KMU, Selbstständigen und allen Arbeitnehmern erleichtern, sich anzupassen, und den Verlust von Arbeitsplätzen so gering wie möglich zu halten.

4.12.

Städte und Regionen stehen bei der Umsetzung der Programme zur Bekämpfung der Umweltverschmutzung an vorderster Front. Ob es gelingt, die Agenda umzusetzen, hängt von den Anstrengungen der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften ab. Es ist unabdingbar, die Anforderungen und Maßnahmen in allen Regionen zu harmonisieren und sicherzustellen, dass die Umsetzung und die letztendlich erreichten Ziele unabhängig von politischen Veränderungen konstant gehalten werden. Obwohl die Ziele auf EU-Ebene festgelegt werden, empfiehlt der EWSA, pro Land Mindestschwellen vorzusehen. Damit soll sichergestellt werden, dass alle Mitgliedstaaten trotz unterschiedlichem Tempo angemessene Fortschritte machen.

4.13.

Es ist wichtig, die Abfallbewirtschaftung zu harmonisieren, da die Abfalltrennung und -behandlung zwischen den einzelnen Regionen der EU und auf der lokalen Ebene der einzelnen Länder uneinheitlich geregelt ist, was die Wirksamkeit der Kontrolle und Vermeidung von Umweltverschmutzung verringert. Die Ausfuhr von Abfällen, die nicht den EU-Normen entsprechen, sollte unabhängig von den Regulierungsmaßnahmen des Ziellandes verboten werden. Zudem sollten Abfälle in der EU dort bewirtschaftet und verwertet werden, wo sie anfallen oder wo adäquate Recyclinganlagen vorhanden sind, um Auswirkungen auf Drittländer zu vermeiden, sofern sie nicht als Rohstoff für eine umweltfreundliche und nachhaltige Produktion dienen.

4.14.

Die Kommission wird einen integrierten Null-Schadstoff-Überwachungs- und Prospektivrahmen zur Bewertung der gesundheitlichen, ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen erarbeiten. Die Überwachung des Zustands der Flüsse sollte ebenfalls einbezogen werden. Die Daten sollten mit standardisierten Methoden erhoben werden und transparent, zuverlässig, rückverfolgbar sowie für alle zugänglich sein. Die Datenbank sollte die Quellen der wichtigsten Institutionen, die mit der Kommission in Verbindung stehen, sowie aller anerkannten Einrichtungen, die zur Überwachung der Verschmutzung und ihrer Auswirkungen beitragen wollen, enthalten.

4.15.

Der EWSA begrüßt die bürgerwissenschaftliche Strategie der Kommission, mit der das Engagement der Menschen aktiviert und ihr Bewusstsein für Umweltverschmutzung, Gesundheit und Wohlbefinden geschärft werden soll. So werden die Menschen in die Lage versetzt, die Situation in Bezug auf Umweltverschmutzung zu verfolgen und die von ihnen erhobenen Daten für die Entscheidungsfindung beizusteuern. Damit die Strategie ein Erfolg wird, muss die Arbeit von Behörden, NGO, Gemeinschaften und Wissenschaft koordiniert werden.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Europäische Plattform der Interessenträger für die Kreislaufwirtschaft.

(2)  EUA-Bericht Nr. 22/2018: Unequal exposure and unequal impacts (Ungleiche Exposition und ungleiche Auswirkungen).

(3)  UNEP/EA.4/3 (2018): Umsetzungsplan Towards a Pollution-Free Planet (Auf dem Weg zu einem Planeten ohne Umweltverschmutzung).

(4)  ABl. C 110 vom 22.3.2019, S. 33.

(5)  ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 76.

(6)  Siehe Sendra et al., 2020.

(7)  Richtlinie (EU) 2019/883 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über Hafenauffangeinrichtungen für die Entladung von Abfällen von Schiffen, zur Änderung der Richtlinie 2010/65/EU und zur Aufhebung der Richtlinie 2000/59/EG (ABl. L 151 vom 7.6.2019, S. 116).

(8)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 207.

(9)  Can fishers help cleaning the sea from plastic waste? (Können Fischer dazu beitragen, das Meer von Kunststoffabfällen zu reinigen?), ETF.

(10)  Umweltprogramm der Vereinten Nationen, Marine plastic debris and microplastics (Kunststoffabfälle und Mikroplastik im Meer), 2016.

(11)  ABl. C 286 vom 16.7.2021, S. 181.


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/148


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des europäischen Parlaments und des Rates über einheitliche Verfahren für die Kontrolle von Gefahrguttransporten auf der Straße

(COM(2021) 483 final — 2021/0275 (COD))

(2022/C 105/23)

Befassung

Europäisches Parlament, 13.9.2021

Rat der Europäischen Union, 24.9.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 91 und 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

219/0/1

Da der Ausschuss dem Vorschlag vorbehaltlos zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 564. Plenartagung am 20./21. Oktober 2021 (Sitzung vom 20. Oktober) mit 219 Stimmen bei 1 Enthaltung, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/149


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1286/2014 durch Verlängerung der Übergangsregelung für Verwaltungsgesellschaften, Investmentgesellschaften und Personen, die über Anteile von Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) und Nicht-OGAW beraten oder diese verkaufen

(COM(2021) 397 final — 2021/0215 (COD))

(2022/C 105/24)

Befassung

Rat der Europäischen Union, 29.7.2021

Europäisches Parlament, 13.9.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 114 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

216/0/7

Da der Ausschuss dem Vorschlag zustimmt und keine Bemerkungen zu dieser Thematik vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 564. Plenartagung am 20./21. Oktober 2021 (Sitzung vom 20. Oktober) mit 216 Stimmen bei 7 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/150


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2009/65/EG im Hinblick auf die Verwendung von Basisinformationsblättern durch Verwaltungsgesellschaften von Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW)

(COM(2021) 399 final — 2021/0219 (COD))

(2022/C 105/25)

Befassung

Rat der Europäischen Union, 1.9.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 53 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Verabschiedung auf der Plenartagung

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

218/0/11

Da der Ausschuss dem Vorschlag zustimmt und keine Bemerkungen zu dieser Thematik vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 564. Plenartagung am 20./21. Oktober 2021 (Sitzung vom 20. Oktober) mit 218 Stimmen bei 11 Enthaltungen, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/151


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Erhaltungs- und Bewirtschaftungsmaßnahmen für die Erhaltung von Südlichem Blauflossenthun

(COM(2021) 424 final — 2021/0242 (COD))

(2022/C 105/26)

Befassung

Europäisches Parlament, 13.9.2021

Rat, 30.8.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umwelt

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

221/0/1

Da der Ausschuss dem Vorschlag zustimmt und keine Bemerkungen dazu vorzubringen hat, beschloss er auf seiner 564. Plenartagung am 20./21. Oktober 2021 (Sitzung vom 20. Oktober) mit 221 Stimmen bei 1 Enthaltung, eine befürwortende Stellungnahme zu diesem Vorschlag abzugeben.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/152


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, die Europäische Zentralbank, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, den Ausschuss der Regionen und die Europäische Investitionsbank: Jährliche Strategie für nachhaltiges Wachstum 2021

(COM(2020) 575 final)

(ergänzende Stellungnahme)

(2022/C 105/27)

Berichterstatter:

Gonçalo LOBO XAVIER

Beschluss des Präsidiums

26.4.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 1 der Geschäftsordnung und Artikel 29 Buchstabe a der Durchführungsbestimmungen zur Geschäftsordnung

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

5.10.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

168/0/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist weiterhin darüber besorgt, dass in den meisten Mitgliedstaaten zu wenig Klarheit über die Governance-Systeme der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne und die Aufteilung der Zuständigkeiten für deren Umsetzung zwischen der zentralen, regionalen und lokalen Ebene herrscht. Ebenso wenig besteht ausreichend Klarheit über geeignete Mechanismen zur Beteiligung der Organisationen der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner an der Umsetzung, Überwachung und Anpassung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne. Darauf wurde in der Entschließung (1) des EWSA vom Februar hingewiesen, und die Lage hat sich trotz der Bemühungen der Kommission nicht verändert. Der EWSA fordert nachdrücklich mehr Kontrolle bei diesen für die Erholung der Union entscheidenden Aspekten.

1.2.

Er weist darauf hin, dass die Fortschritte bei der Umsetzung der Aufbau- und Resilienzpläne gemessen werden müssen. Es werden verlässliche Überwachungsindikatoren benötigt, da sie als Kompass für die weitere Entwicklung und Erholung dienen werden. Die Mitgliedstaaten müssen angemessen auf diese Herausforderung reagieren; es erfordert Mut, den Bürgerinnen und Bürgern die künftigen enormen Schwierigkeiten bewusst zu machen.

1.3.

Der EWSA ist fest davon überzeugt, dass der nächste Semesterzyklus für die Union ein entscheidendes Instrument bei der Umsetzung der Aufbau- und Resilienzfazilität sein wird. In den nationalen Plänen gibt es zwei Arten von Instrumenten: Die Mitgliedstaaten können grundlegende strukturelle Veränderungen einerseits durch einen doppelten Übergang und andererseits durch Investitionen und Reformen für die Bürgerinnen und Bürger vornehmen, die unmittelbar unter der Krise leiden (Familien, Arbeitnehmer, Unternehmer usw.). Nach Ansicht des EWSA müssen beide Optionen berücksichtigt werden. Sie erfordern unterschiedliche Instrumente, die zuweilen nicht gleichzeitig eingesetzt werden können. Die Erholung ist wichtig, um die Resilienz des Wirtschaftssystems zu erreichen.

1.4.

Die COVID-19-Krise hat einige der gefährlichsten Schwachpunkte Europas zutage treten lassen: die fehlende Koordinierung der Industriepolitik und die Abhängigkeit von anderen Wirtschaftsgebieten bei vielen Waren und Dienstleistungen. Dem EWSA ist bewusst, dass eine Veränderung von Gewohnheiten und Politik schwierig ist und die Wirkung einer neuen Politik erst in einigen Jahren tatsächlich spürbar wird. Die Zeit drängt jedoch, wenn sich die Union verändern und erholen will. Der Anstieg der Rohstoffpreise (und die Verteilungsschwierigkeiten), der Mangel an Halbleitern und die hohen Energiepreise zeigen ebenfalls die Abhängigkeit der Union von kritischen Gütern. Der EWSA fordert, dass alle Mitgliedstaaten konkrete Maßnahmen für Investitionen in Bildung, Infrastrukturen und die Industriepolitik ergreifen, mit denen die Beschäftigung erhöht und die Bürgerinnen und Bürger ermutigt werden, die europäische Industrie zu stärken.

1.5.

Der EWSA unterstützt Investitionen in hochwertige Bildung, lebenslanges Lernen und FuE, die von entscheidender Bedeutung sind, um die von NextGenerationEU geförderten wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen voranzutreiben und zu ergänzen. Investitionen zur Stärkung der Gesundheitssysteme und der Gesundheitspolitik von Gesellschaften, die von der COVID-19-Pandemie hart betroffen waren, sind äußerst wichtig. Sie müssen mit einer wirklich robusten Industriepolitik verknüpft werden, mit der die Entwicklung und Produktion von Waren und Dienstleistungen in Europa gefördert werden kann, um eine vollständige Abhängigkeit von anderen Wirtschaftsgebieten zu verhindern.

1.6.

Nach Ansicht des EWSA ist die Zeit für eine grundlegende und tiefreichende Reform des Pakts gekommen. Es bedarf einer ausdrücklichen Empfehlung für das neue überarbeitete Semester und eines neuen Pakts, der verbindliche Verfahren und Bestimmungen für die Konsultation der Organisationen der Zivilgesellschaft und der lokalen Gebietskörperschaften vorsieht. Hier muss gehandelt werden. Es ist an der Zeit, verbindliche Regeln für die Einbeziehung in allen Phasen, von der Vorbereitung bis zur Umsetzung, festzulegen, um künftig strukturelle Probleme zu vermeiden.

1.7.

Nach Ansicht des EWSA zeigt eine kurze Analyse der wichtigsten Prioritäten der Aufbau- und Resilienzpläne, dass der Schwerpunkt klar auf den Zielen des Grünen Deals liegt. Für den EWSA ist dies natürlich wichtig, doch es bestehen Bedenken hinsichtlich der Umsetzung und Wirkung einiger Maßnahmen, die nicht hinreichend fundiert erscheinen. Die Bürger, Arbeitnehmer und Unternehmen müssen bei der Bewältigung dieses Übergangs unterstützt werden, und die Ziele müssen eindeutig und sinnvoll festgelegt werden, um eine Situation zu vermeiden, in der es eine beeindruckende politische Rhetorik gibt, die praktische Umsetzung jedoch unzureichend ist und mit erheblichen Nebeneffekten „unter der Oberfläche“ einhergeht.

1.8.

Der EWSA macht er darauf aufmerksam, dass eines der wertvollsten Ergebnisse des Europäischen Semesters über die Jahre hinweg außer Acht gelassen wurde. Die länderspezifischen Empfehlungen bieten eine Chance für Verbesserungen und beruhen auf einheitlichen Daten. Die Mitgliedstaaten sollten ihre Haltung gegenüber diesem Instrument neu überdenken, insbesondere nach der COVID-19-Krise und angesichts der Chancen, die die Aufbau- und Resilienzfazilität zur Umsetzung von Strukturreformen (in den Bereichen Bildung, Steuerpolitik, Arbeitsmarkt und Sozialschutz gemäß der Säule sozialer Rechte und den Empfehlungen des Gipfels von Porto) bietet, die für die meisten Mitgliedstaaten von wesentlicher Bedeutung sind. Der EWSA empfiehlt den Mitgliedstaaten nachdrücklich eine Änderung ihres Standpunkts, und zivilgesellschaftliche Organisationen sollten in diesem Prozess sehr aktiv sein und ihn genau überwachen.

1.9.

Der EWSA verweist ferner auf die Absorptionskapazität einiger Mitgliedstaaten für Finanzmittel und erinnert an ihre „Erfolgsbilanz“. Die Hälfte der Strukturfonds des mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) 2014-2020 war bis Ende 2020 nicht in Anspruch genommen worden und sollte in den kommenden Jahren ausgegeben werden. Auf der Grundlage ihrer Erfahrungen und der ihr vorliegenden Daten sollte die Kommission entsprechende Warnungen an die Mitgliedstaaten aussenden und ihnen auf diese Weise helfen, die Mittel besser zu verteilen und dabei den Zeitplan nicht aus dem Auge zu verlieren. Es ist sehr wichtig, die Mitgliedstaaten darauf hinzuweisen, dass ihre politischen Entscheidungen den Erholungsprozess nicht untergraben dürfen und dass Maßnahmen ergriffen werden müssen, um zu verhindern, dass Probleme im System auftreten. Dazu gehört nicht nur die Vermeidung von Bürokratie, sondern auch die richtige politische Unterstützung für eine höhere Effizienz.

1.10.

Der EWSA ist der Ansicht, dass durch die unvermeidliche Digitalisierung, insbesondere im Zusammenhang mit öffentlichen Dienstleistungen im Gesundheits- oder Sozialbereich, eine Reihe von Arbeitsplätzen wegfallen wird. Die Digitalisierung könnte auch älteren Bürgerinnen und Bürgern, die sich weniger gut darauf einstellen können, Probleme bereiten. Der EWSA weist darauf hin, dass Programme entwickelt werden müssen, die die Bürger wirklich unterstützen und den Übergang erleichtern können. Die Mitgliedstaaten müssen Investitionsmittel für die Umschulung der von diesem Wandel betroffenen Menschen bereitstellen. Es bedarf sowohl politischen Mutes, um dieser Herausforderung zu begegnen, als auch einer guten Kommunikation mit den Bürgern über die politischen Maßnahmen und Ziele.

1.11.

Der EWSA begrüßt die Initiative für einen „Aufbau- und Resilienzanzeiger“. Er ist der Auffassung, dass dies ein sehr wichtiges Instrument sein wird, um den Investitionsprozess anzukurbeln und Mechanismen zu schaffen, die für die Union von entscheidender Bedeutung sein könnten. Der EWSA unterstützt auch den vorgeschlagenen Zeitplan, der eine Annahme durch die Kommission bis Ende September vorsieht (2). Der EWSA besteht jedoch darauf, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen an diesem Prozess beteiligt werden. Dabei geht es nicht um Sichtbarkeit. Es handelt sich vielmehr um eine Frage der Wachsamkeit, und der EWSA weist auch darauf hin, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen mit den nötigen Mitteln ausgestattet und auf diese Herausforderung vorbereitet werden müssen. Es hat keinen Zweck, die zivilgesellschaftlichen Organisationen zum Handeln aufzufordern, wenn sie nicht vorbereitet sind oder nicht über die dafür erforderlichen Mittel verfügen. Für sie ist dies eine enorme Verantwortung und gleichzeitig eine große Chance.

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1.

Der EWSA begrüßt die Veröffentlichung der Mitteilung der Kommission zur wirtschaftspolitischen Koordinierung im Jahr 2021: Überwindung von COVID-19, Unterstützung der Erholung und Modernisierung unserer Wirtschaft (3). Die Welt befindet sich in einer großen Krise, die alle Aufbaupläne und -strategien zu untergraben scheint. Die Resilienz und die Stärke Europas sind jedoch oberstes Gebot, wenn die Union aufrechterhalten werden soll.

2.2.

Die Europäische Union hat beispiellose Maßnahmen ergriffen, um die COVID-19-Pandemie zu bekämpfen, die Auswirkungen der Krise abzufedern und unsere Wirtschaft auf einen robusten, nachhaltigen und inklusiven Wachstumspfad zu führen. Die Wirksamkeit der gesundheitspolitischen Maßnahmen ist jedoch weiterhin nicht sicher, da die Krise das Vertrauen der Bürger, das für die wirtschaftliche und soziale Erholung wesentlich ist, erheblich untergraben hat. Das Ziel, eine Impfquote der europäischen Bevölkerung von über 70 % zu erreichen, wird sich beträchtlich auf das Vertrauen der Menschen auswirken; der EWSA begrüßt, dass sich die Mitgliedstaaten abstimmen, um dieses Ziel zu erreichen. Der EWSA weist ferner darauf hin, dass den Bürgern die Bedeutung dieser Fortschritte deutlich gemacht werden muss. Gleichwohl ist nach wie vor Vorsicht geboten, da diese Maßnahmen möglicherweise nicht ausreichen, um die Gesundheitskrise vollständig zu beenden.

2.3.

Die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, nationale Aufbau- und Resilienzpläne vorzulegen, hat entscheidende Bedeutung und muss Vorrang erhalten. Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass die Organisationen der Zivilgesellschaft eine wesentliche Rolle bei der Umsetzung und Überwachung dieser Pläne spielen können. Dies muss allen Mitgliedstaaten klar sein. In den Worten der Entschließung des EWSA ausgedrückt: „Der EWSA ist der Auffassung, dass alle Reformen im Rahmen des Umstrukturierungsprozesses auf den Grundsätzen der EU beruhen müssen: Schutz der Menschenrechte und der sozialen Rechte, der demokratischen Werte und der Rechtsstaatlichkeit. Die Investitionen im Rahmen der Aufbau- und Resilienzfazilität müssen darauf abzielen, das volle Potenzial des Binnenmarkts zu erschließen, die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit der EU zu stärken, die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen zu verwirklichen, eine Kreislaufwirtschaft zu schaffen, bis spätestens 2050 Klimaneutralität in der EU zu erreichen, Innovationen und Modernisierungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu fördern und die wirksame Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte sicherzustellen, um den sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten, Armut zu beseitigen und Ungleichheiten zu verringern“ (4).

2.4.

NextGenerationEU mit seinen 750 Mrd. EUR (wovon bereits 500 Mrd. EUR zugewiesen wurden) ist für die EU ein zentrales Instrument, um Investitionen und die Erholung zu fördern und so gestärkt und widerstandsfähiger aus der aktuellen Krise hervorzugehen.

2.5.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Aktionsplan zur europäischen Säule sozialer Rechte konkrete Maßnahmen zur Stärkung der sozialen Dimension in allen Politikbereichen der Union enthält und dazu beitragen wird, eine inklusive Erholung zu gewährleisten.

2.6.

Der EWSA bekräftigt ferner seinen Standpunkt, dass ökologische Nachhaltigkeit, Produktivität, gerechte und ausgewogene Verteilung und makroökonomische Stabilität die Leitprinzipien der EU-Wirtschaftsagenda bleiben. Trotz aller Herausforderungen ist der Grüne Deal weiterhin eine langfristige Priorität, und Europa muss die Chance nutzen, in dieser Frage eine führende Rolle zu spielen.

2.7.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass eine wirksame politische Koordinierung im Rahmen des Europäischen Semesters nach wie vor von entscheidender Bedeutung ist, um die Wirtschaft in der EU nach der Pandemie auf einen stärkeren nachhaltigen und inklusiven Wachstumskurs zu führen. Dies wurde vom EWSA in den vergangenen Monaten festgestellt und hat weiterhin vorrangige Bedeutung.

2.8.

Insgesamt gesehen ist die Beteiligung der organisierten Zivilgesellschaft nach Ansicht des EWSA in den Mitgliedstaaten nach wie vor gering. Ihre Organisationen wurden informiert und in vielen Fällen gehört, doch hat dies kaum zu greifbaren Ergebnissen geführt. In den meisten Mitgliedstaaten gab es — mit wenigen Ausnahmen — keine wirksamen Konsultationen, die zu nennenswerten Änderungen an den ursprünglichen Regierungsvorschlägen geführt hätten.

3.   Besondere Bemerkungen

3.1.

Dank der auf EU- und nationaler Ebene ergriffenen Maßnahmen konnten die Auswirkungen der Pandemie auf die europäischen Arbeitsmärkte in Grenzen gehalten werden. Innerhalb der Union gibt es jedoch weiterhin unterschiedliche Standpunkte und Gegebenheiten. Nach Ansicht des EWSA müssen differenzierte Ansätze verfolgt werden, um die Erholung der Mitgliedstaaten sicherzustellen, die stärker als andere unter der Krise leiden.

3.2.

Der EWSA teilt die Auffassung, dass die Wirtschaftspolitik während der Jahre 2021 und 2022 weiterhin die Stützung der Konjunktur zum Ziel haben muss. Die Mitgliedstaaten führen einen enormen Kampf, der noch lange nicht ausgefochten ist. Die Union muss sich durchsetzen und erkennen, dass die Aufbaupläne Zeit brauchen, um Wirkung zu zeigen, und dass Resilienz nötig ist, um Ergebnisse zu erzielen. Der EWSA fordert nachdrücklich kurz- und mittelfristige Strategien, um die negativen Krisenfolgen in geeigneter Weise zu bewältigen und starkes, nachhaltiges und andauerndes Wachstum zu realisieren.

3.3.

Unter den europäischen Bürgern ist eine interessante Tendenz zu einer stärkeren Spartätigkeit zu beobachten. Dieser Trend sollte auch genutzt werden, um eine Mischung aus privaten und öffentlichen Investitionen zu fördern, mit der ein wichtiger Beitrag zur wirtschaftlichen und sozialen Erholung geleistet werden kann. Der EWSA fordert in diesem Zusammenhang konkrete Maßnahmen und ist der Ansicht, dass die Kommission die Mitgliedstaaten auffordern sollte, eine robuste Haushaltspolitik zu verfolgen. Es bedarf kreativer Strategien, um diese Ersparnisse in intelligente Investitionen zu lenken. Dies ist eine gemeinsame Verantwortung der Regierungen, Interessenträger und Finanzinstitute.

3.4.

Der EWSA beabsichtigt, mit der aktiven Unterstützung und Arbeit der Gruppe Europäisches Semester (GES) in den nächsten Monaten wieder eine Entschließung zu erarbeiten, in die die Beiträge der 27 dreiköpfigen GES-Delegationen einfließen sollen, die zu diesem Zweck eingerichtet wurden. Ziel ist es, die Beteiligung der Zivilgesellschaft am Umsetzungsprozess zu verfolgen und die politischen Inhalte aus Sicht der Zivilgesellschaft zu analysieren. Bislang wurde nur eine geringfügige Verbesserung verzeichnet, vor allem in Bezug auf formelle Informationssitzungen, wobei jedoch nur sehr begrenzte Möglichkeiten bestehen, Einfluss auf die Pläne zu nehmen.

3.5.

Über die Aussicht, dass die Regierungen die Mittel für die Ankurbelung von Investitionen verwenden, äußern sich die Organisationen der Zivilgesellschaft optimistischer als über die Aussicht, dass die Mittel für die Einleitung wachstumsfördernder Reformen genutzt werden. Viele Mitglieder sind der Ansicht, dass es den Aufbau- und Resilienzplänen ihrer Länder an Ehrgeiz und Engagement für Reformen fehlt. Andere wiederum kritisieren den Mangel an zusätzlichen Investitionen über die bereits vor der COVID-19-Krise geplanten hinaus.

3.6.

Europa wurde von der COVID-19-Krise schwer getroffen, die einige gefährliche Schwächen der EU aufdeckte: die fehlende Koordinierung der Industriepolitik und die Abhängigkeit von anderen Wirtschaftsgebieten bei vielen Waren und Dienstleistungen. Dieser Tatsache muss auf koordinierte Weise Rechnung getragen werden, um die Erholung zu erleichtern. Es bedarf mehr denn je einer angemessenen Industriepolitik, und jetzt ist es an der Zeit, zu handeln. Der Anstieg der Rohstoffpreise zeigt ebenfalls die Abhängigkeit der Union von kritischen Gütern. Der EWSA fordert, dass alle Mitgliedstaaten konkrete Maßnahmen für Investitionen in Bildung, Infrastrukturen und die Industriepolitik ergreifen, mit denen die Beschäftigung erhöht und die Bürgerinnen und Bürger ermutigt werden, die europäische Industrie zu stärken.

3.7.

Eine große Mehrheit der zivilgesellschaftlichen Organisationen (71 %) ist der Ansicht, dass ihre Beteiligung an der Gestaltung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne ihrer Länder recht unzureichend bis extrem eingeschränkt war.

3.8.

Der EWSA ist der Auffassung, dass der Digitalisierungsprozess für die Ankurbelung von Wirtschaft und Gesellschaft grundlegend ist. Die Mitgliedstaaten müssen jedoch Programme entwickeln und Ressourcen bereitstellen, um diesbezügliche Hindernisse zu beseitigen, insbesondere mit Blick auf Bevölkerungsgruppen wie ältere Menschen und Geringqualifizierte. Deshalb müssen vorrangig wirkungsvolle IT-Programme im Sinne einer für alle Bürger nutzbringenden Software entwickelt werden. Digitalisierung ja, aber nicht um jeden Preis.

3.9.

Der EWSA begrüßt nachdrücklich die Kommissionsinitiative für einen „Aufbau- und Resilienzanzeiger“. Dies ist ein wichtiger Schritt, um die Umsetzung der nationalen Reformpläne zu überwachen. Der EWSA hält dies für eine Gelegenheit, den Investitionsprozess anzukurbeln und Mechanismen zu schaffen, die für die Union von entscheidender Bedeutung sein könnten. Auch hier können zivilgesellschaftliche Organisationen eine entscheidende Rolle spielen, sie sind zur Zusammenarbeit bereit.

4.   Die Aufbaupläne und die verschiedenen Ansätze

4.1.

Was den bestehenden Rahmen anbelangt, so ist der EWSA der Auffassung, dass Maßnahmen im Hinblick auf das nachhaltige und inklusive Wachstum und die Haushaltssalden der Mitgliedstaaten Vorrang haben müssen. Es steht außer Frage, dass eine Anpassung an eine neue Phase stattfinden muss, sobald die gesundheitlichen Gefahren aufgrund der COVID-19-Pandemie bewältigt sind. Es sollte eine Alternative zu einem übermäßigen Ungleichgewicht als einziger Perspektive nach dem enormen Anstieg von Schulden und Defiziten in den Mitgliedstaaten geben. Der EWSA ist der Auffassung, dass dies der Zeitpunkt für eine radikale und tiefgreifende Reform des haushaltspolitischen Steuerungsrahmens ist, und warnt nachdrücklich vor einer Rückkehr zu den „alten“ Haushaltsregeln. Wir brauchen eine nachdrückliche Empfehlung für das neue überarbeitete Semester und einen neuen Pakt, der verbindliche Verfahren und Bestimmungen für die Konsultation der Organisationen der Zivilgesellschaft und der lokalen Gebietskörperschaften vorsieht; hier muss gehandelt werden. Es ist an der Zeit, verbindliche Regeln für die Einbeziehung in allen Phasen — von der Vorbereitung bis zur Umsetzung — festzulegen. Die Mitgliedstaaten sollten neue Ziele für den Defizitabbau mit Schwerpunkt auf Wachstum und auch auf Governance prüfen.

4.2.

Es ist unbedingt notwendig, den haushalts- und wirtschaftspolitischen Rahmen zu modernisieren, einen wohlstandsorientierten Kurs zu verfolgen und eine goldene Regel umzusetzen. Die Kommission prüft nun die Ausgabenseite, aber auch — sehr zu Recht — die Einnahmenseite. Der EWSA empfiehlt, den Schwerpunkt von der Besteuerung des Faktors Arbeit auf Umweltsteuern zu verlagern, gleichzeitig aber auch einen regressiven Ansatz zu verfolgen und Haushalte mit niedrigem Einkommen nicht zu belasten. Der EWSA fordert auch die Bekämpfung von aggressiver Steuerplanung und Steuerbetrug, da dies die wirtschaftliche und fiskalische Erholung der Mitgliedstaaten und der EU insgesamt untergraben könnte. Hier bedarf es eines intelligenten Ansatzes und einer stärkeren Konvergenz in der Union, um Fortschritte zu erzielen. Die Geld- und Fiskalpolitik, ggf. mit progressiven Umweltsteuern und stufenweisen Steuersenkungen muss ebenfalls eine Option sein. Es liegt auf der Hand, dass der Steuerwettbewerb mit Drittländern anstatt innerhalb der EU etwas bewirken kann.

4.3.

Der EWSA betont, dass zusätzlich zur Pandemie auch noch ein Druck auf die Rohstoffpreise besteht. Diese Frage muss äußerst umsichtig behandelt werden. Der EWSA glaubt an einen fairen Wettbewerb und hält gleiche Ausgangsbedingungen für unbedingt erforderlich, weist jedoch darauf hin, dass die Lage ernst wird und großer Schaden für die gesamte Union droht. Die Rohstoffpreise sind in den letzten Monaten zwischen 30 % und 120 % gestiegen, und der Druck hält an.

4.4.

Die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne machen deutlich, dass zwischen den Mitgliedstaaten unterschiedliche Standpunkte im Hinblick auf die Erholung der einzelnen Volkswirtschaften und der sozialen Lage bestehen. Dies zeigt auch die Ungleichheiten in den Mitgliedstaaten. Der EWSA fordert eine stärkere Koordinierung von Maßnahmen, mit denen die Union gestärkt werden kann. Die Mitgliedstaaten müssen zusammenarbeiten, und bewährte Verfahrensweisen sollten weitergegeben werden, um Fehlentscheidungen zu vermeiden. Branchen wie u. a. der Tourismus und die verarbeitende Industrie haben am stärksten gelitten; sie wieder auf ein höheres Niveau zu heben, sollte Vorrang haben. Dies wird große Bedeutung für die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Anpassung der Arbeitskräfte an die tatsächlichen Bedürfnisse der Wirtschaft und die Beteiligung der zivilgesellschaftlichen Organisationen am Umsetzungsprozess haben.

4.5.

Der EWSA ist besorgt darüber, dass die länderspezifischen Empfehlungen der Kommission bislang von einigen Mitgliedstaaten weitgehend ignoriert wurden. Ob sie künftig ihre Haltung ändern werden, darf stark bezweifelt werden. Darüber hinaus sind die Absorptionskapazität bestimmter Mitgliedstaaten und die transformative Wirkung von Investitionen im Rahmen der Fazilität zu hinterfragen und somit Zweifel an ihrer potenziellen Effizienz und Wirksamkeit angebracht. Der EWSA betont, dass daher eine genaue Überwachung erforderlich ist.

4.6.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Umsetzung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne nicht einfach nur ein „Abhaken“ sein darf, sondern im ursprünglichen Geist dieses Instruments erfolgen muss: Die Rolle der Organisationen der Zivilgesellschaft sollte anerkannt werden, und Konsultationen sollten in öffentlichen Foren und nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden.

4.7.

Die COVID-19-Krise hat die seit Langem bestehenden Ungleichheiten in unseren Gesellschaften deutlich gemacht und verschärft, und die schwächsten Bevölkerungsgruppen wurden häufig am stärksten getroffen. Die höchste Inzidenz von COVID-19-Infektionen ist bei den am stärksten von Armut betroffenen Personen zu verzeichnen, und verschiedene Teile der Gesellschaft sind häufig besonders stark den Auswirkungen der Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise ausgesetzt. Der Beschäftigungsrückgang infolge der Krise war bei Geringqualifizierten und/oder jungen Menschen am stärksten. Darüber hinaus kam es für viele zu erheblichen Beeinträchtigungen im Bildungsbereich. Die Gefahr von Ungleichheiten in Bezug auf geringer qualifizierte Gruppen von Bürgern hat sich enorm verschärft.

5.   Der Binnenmarkt als Motor der europäischen Lebensweise

5.1.

Die COVID-19-Krise war in allen Mitgliedstaaten spürbar, sie hatte jedoch unterschiedliche Folgen. Durch ein abgestimmtes Vorgehen bei der Impfung konnte die Union sehr gute Ergebnisse erzielen. Das Ziel, eine Impfquote von 70 % der EU-Bevölkerung zu erreichen, war eine enorme Aufgabe, die die EU hervorragend gemeistert hat. Trotz einiger Probleme (die bei einem derartigen Vorhaben zu erwarten waren) ist dies als Erfolg zu werten und war ein gutes Beispiel für das „Projekt des Friedens“, das die Union seit ihren Anfängen darstellt.

5.2.

Der Binnenmarkt und seine Integration müssen mehr denn je Vorrang haben, und politische Streitigkeiten sollten vermieden werden. Die den Binnenmarkt gefährdende politische Rhetorik in einigen Mitgliedstaaten wurde durch die Fakten widerlegt: Nur mit einer starken Union und einem abgestimmten Vorgehen konnten die Aufbau- und Resilienzpläne in so kurzer Zeit ausgehandelt und aufgestellt werden. Kommunikation ist wichtig, um die europäischen Werte zu fördern, und der Binnenmarkt ist Teil des Prozesses. Alle europäischen Bürgerinnen und Bürger sollten vom Binnenmarkt profitieren, damit sie auf Europas Fähigkeit zur Bewältigung der Krise stolz sein können — trotz aller Rückschläge bei der Herausforderung, in koordinierter Weise auf die Krise zu reagieren.

5.3.

Dem EWSA ist bewusst, dass die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die gesundheitliche Lage unterschiedliche Ansätze gewählt haben; er unterstreicht jedoch auch, dass Koordinierung und bewährte Verfahrensweisen nach dem Impfprozess stärker gefördert werden sollten. Die Union muss ihre Stärken nutzen — insbesondere die Freizügigkeit und den freien Waren- und Kapitalverkehr. Der EWSA möchte diese Freiheiten unterstützen, ohne die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten zu gefährden; dies ist nur durch eine Koordinierung des Binnenmarktes möglich. Die Mitgliedstaaten haben mehrmals in der Geschichte gezeigt, dass dies möglich ist. Die Zeit für eine angemessene Reaktion ist nun gekommen.

5.4.

Der EWSA setzt sich ein für den Binnenmarkt und seine Chancen in Verbindung mit einer starken sozialen Marktwirtschaft, die von zentraler Bedeutung sowie ein Kennzeichen der Union ist. Dies ist eine Errungenschaft, die verteidigt werden muss.

6.   Die Organisationen der Zivilgesellschaft und die Aufbaupläne

6.1.

Der EWSA betont, dass die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen für die wirtschaftliche Erholung von entscheidender Bedeutung ist, zumal die Soforthilfemaßnahmen zugegebenermaßen sowohl auf nationaler als auch auf EU-Ebene dauerhaften Charakter bekommen könnten.

6.2.

Die Organisationen der Zivilgesellschaft unterstützen hochwertige Investitionen in Bildung, lebenslanges Lernen und FuE. Sie sind von entscheidender Bedeutung, um die von NextGenerationEU geförderten wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen voranzutreiben und zu ergänzen. Dies gilt auch für Investitionen zur Stärkung der Gesundheitssysteme und der Gesundheitspolitik der von der COVID-19-Pandemie stark betroffenen Gesellschaften. Die Organisationen vor Ort haben mehr denn je die Fähigkeit und die Pflicht, Möglichkeiten zur Bewältigung der wirklichen Herausforderungen aufzuzeigen und vorzuschlagen, und die Mitgliedstaaten müssen den Mut haben, sie in den Entscheidungsfindungsprozess einzubeziehen. Der EWSA vertritt diesen Ansatz insbesondere aufgrund der Erfahrungen und des Wissens, die jahrzehntelang mit sehr guten Ergebnissen zu unterschiedlichen Themen erworben wurden.

6.3.

Die Stimme der zivilgesellschaftlichen Organisationen ist in Krisenzeiten wichtiger denn je, nicht nur wegen der Erfahrungen dieser Organisationen, sondern vor allem, weil sie einen direkten Kontakt zur Realität haben, der für die Überwachung und Umsetzung wirksamer Maßnahmen äußerst wichtig ist.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft in die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne — was funktioniert und was nicht? (ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 1).

(2)  Aufbau- und Resilienzanzeiger — gemeinsame Indikatoren und Einzelheiten, Entwurf eines Rechtsakts: Aufbau- und Resilienzanzeiger — gemeinsame Indikatoren und Einzelheiten.

(3)  COM(2021) 500 final vom 2.6.2021, Wirtschaftspolitische Koordinierung im Jahr 2021: Überwindung von COVID-19, Unterstützung der Erholung und Modernisierung unserer Wirtschaft.

(4)  Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft in die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne — was funktioniert und was nicht? (ABl. C 155 vom 30.4.2021, S. 1).


4.3.2022   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 105/158


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der Empfehlung für eine Empfehlung des Rates zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets

(COM(2020) 746 final)

(ergänzende Stellungnahme)

(2022/C 105/28)

Berichterstatterin:

Kristi SÕBER

Beschluss des Plenums

26.4.2021

Rechtsgrundlage

Artikel 32 Absatz 1 der Geschäftsordnung und Artikel 29 Buchstabe a der Durchführungsbestimmungen zur Geschäftsordnung

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt

Annahme in der Fachgruppe

5.10.2021

Verabschiedung im Plenum

20.10.2021

Plenartagung Nr.

564

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

166/2/1

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist sich der Tatsache bewusst, dass die Pandemie noch nicht vorüber ist. Ihre wirtschaftlichen Auswirkungen werden noch auf Jahre zu spüren sein und einen spezifischen, breiten Politikansatz zur Soforthilfe erfordern. Der EWSA begrüßt die jüngste Prognose der Europäischen Kommission, wonach sich die Volkswirtschaften der EU und des Euroraums ab 2021 zunehmend beleben werden (was erste Daten bestätigen), insbesondere dank der wiederanziehenden Investitionstätigkeit, die durch die Nutzung von NextGenerationEU (NGEU) und insbesondere die Aufbau- und Resilienzfazilität, stark unterstützt wird.

1.2.

Gleichzeitig stellt der EWSA fest, dass sich die EU in der schwierigsten Phase der wirtschaftlichen Integration Europas befindet, was sich sowohl im privaten Verbrauch und den Investitionen, als auch im Außenhandel niederschlägt. Diese kritische Lage kann nur durch Ausgaben der öffentlichen Hand entschärft werden.

1.3.

In dieser besonderen und einzigartigen Situation musste ein Paket neuartiger wirtschaftspolitischer Soforthilfemaßnahmen zur Bewältigung der Krise geschnürt werden. Der EWSA begrüßt die rasche Reaktion der EU und der Mitgliedstaaten sowie die Tatsache, dass der grüne und digitale Wandel zu einem zentralen Bestandteil der Aufbaubemühungen und der dafür angelegten Strategie geworden ist.

1.4.

Insbesondere in der ersten Jahreshälfte 2020 trugen die Investitionsinitiativen zur Bewältigung der Coronavirus-Krise vor allem durch die Stabilisierung der Märkte, der Arbeitsplätze und der persönlichen Einkommen dazu bei, die sehr schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu mildern. Auf diesen ersten Schritt folgte NGEU als robuster und überaus innovativer fiskalpolitischer Beitrag zur unmittelbaren Bewältigung der Pandemiefolgen. Der EWSA begrüßt beide Initiativen ausdrücklich als eine schnelle und flexible Antwort auf die Pandemie.

1.5.

Der EWSA ist sich der heterogenen Positionen und der unterschiedlichen Auswirkungen der Pandemie bewusst, die die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten vergrößert haben. Der EWSA fordert, den aufgetretenen Divergenzen im Euroraum Rechnung zu tragen. Er plädiert für eine umsichtige Reaktion auf die deutlich schlechtere Haushaltslage. Der EWSA begrüßt die Flexibilität innerhalb eines gemeinsamen Rahmens für maßgeschneiderte einzelstaatliche wirtschaftspolitische Maßnahmen und Konjunkturprogramme. Dies kommt den spezifischen Bedürfnissen der Mitgliedstaaten entgegen. Diese Flexibilität wird auch für die Umsetzung der Aufbau- und Resilienzprogramme empfohlen.

1.6.

Der EWSA unterstreicht die Notwendigkeit eines neuen Gleichgewichts zwischen Geld- und Fiskalpolitik. Es gilt, die festgestellten makroökonomischen Ungleichgewichte in der kommenden Planungsperiode zu beseitigen. Der EWSA ist sich des signifikanten Anstiegs der Schuldenstandsquoten im letzten Jahr bewusst. Nachdem sich die wirtschaftliche Erholung durchgesetzt hat, müssen bei der Senkung der Schuldenquote soziale Ungerechtigkeiten und übermäßige negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt vermieden werden.

1.7.

Der EWSA geht auch davon aus, dass die Erholung nach der COVID-19-Krise mit umfassenden strukturpolitischen Maßnahmen (1) einhergehen wird, die im Wesentlichen im Einklang mit dem Grünen Deal der EU stehen werden. In diesem Zusammenhang spricht sich der EWSA dafür aus, den Erholungsprozess mit der Haushaltskonsolidierung und der umweltgerechten Haushaltsplanung zu verbinden.

1.8.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass sich die Lehren aus der Pandemie in den allgemeinen Bemühungen widerspiegeln sollten, langfristig zu einer wirtschaftlich wirksamen, sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen Entwicklung der EU und des Euro-Währungsgebiets beizutragen.

1.9.

Der EWSA begrüßt, dass sich die Banken und der Finanzsektor in einer guten Verfassung befinden. Dadurch hat sich die schwierige Lage leichter überwinden lassen, im Gegensatz zur vorausgegangenen Krise in den Jahren 2009-2011, in der die Banken und der Finanzsektor ein Auslöser der anschließenden Rezession waren.

1.10.

Der EWSA fordert, die Integrität des Binnenmarkts zu wahren und ihn vor jedweder Fragmentierung zu schützen, denn er ist das Fundament, das die künftige positive Entwicklung der Volkswirtschaften der EU und des Euroraums tragen wird. Diese Integrität sollte durch geeignete Fortschritte beim Aufbau der Banken- und Kapitalmarktunion weiter konsolidiert werden.

1.11.

Der EWSA geht auch davon aus, dass einige wichtige Lehren aus der vorherigen Krise gezogen und nun zur Sicherung der makroökonomischen Stabilität herangezogen werden. Er fordert die zuständigen EU-Organe auf, die wirtschaftspolitische Steuerung der EU zu verbessern und dafür zu sorgen, dass die kontinuierlichen Reformbemühungen den Lehren aus der Pandemie Rechnung tragen.

2.   Hintergrund und Kontext

Aktuelle makroökonomische Entwicklung und Aussichten

2.1.

Trotz des jähen und tiefen Wirtschaftseinbruchs infolge der Pandemie ging das BIP 2020 letztendlich doch weniger dramatisch zurück als ursprünglich befürchtet. Der Rückgang war größer als in der letzten Wirtschaftskrise (2020 schrumpfte die Wirtschaft des Euroraums im Vergleich zum Vorjahr um 6,5 %, verglichen mit 4,5 % im Jahr 2009. Die Wirtschaft in der EU schrumpfte 2020 verglichen mit dem Vorjahr um 6,0 %, gegenüber 4,3 % im Jahr 2009. Sowohl für die EU als auch für die Volkswirtschaften im Euroraum wird 2021 ein Wachstum von 4,8 % prognostiziert). Wir durchlaufen eine außergewöhnliche wirtschaftliche Situation, die durch die schlechteste Wirtschaftsleistung Europas seit dem Zweiten Weltkrieg gekennzeichnet ist.

2.2.

Im Jahr 2020 gingen sowohl der private Verbrauch als auch die privaten Investitionen erheblich zurück (beide jeweils um 7,4 % gegenüber dem Vorjahr), und auch der Außenhandel wurde stark beeinträchtigt. Nur die Staatsausgaben stiegen 2020 im Vergleich zum Vorjahr leicht an (1,3 %). Die Sofortmaßnahmen haben bisher die massiven Arbeitsplatz- und Einkommensverluste verhindern können, zu denen es infolge der Krise von 2008 gekommen war. Angesichts des erheblichen Rückgangs der Wirtschaftstätigkeit ist allerdings festzustellen, dass auch die Produktivität gelitten hat.

2.3.

Das Jahr 2021 gilt gemeinhin als Jahr der Erholung (vor allem dank der Investitionen, die laut Prognose der Europäischen Kommission um bis zu 6,2 % zulegen werden). Aufgrund der Pandemiefolgen und der Verhaltensänderungen der Wirtschaftsakteure dominiert aber nach wie vor die Unsicherheit.

Soforthilfe durch ein Paket wirtschaftspolitischer Notfallmaßnahmen

2.4.

Pandemiebedingt musste erneut ein Paket wirtschaftspolitischer Notfallmaßnahmen aufgelegt werden, um mit sofortiger Wirkung, aber auch mittelfristig auf den Schock reagieren zu können. Das Hauptziel der Maßnahmen besteht darin, den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie zu begegnen, sie zu bewältigen und abzuschwächen und Europa auf dem Pfad der Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit zu halten.

2.5.

Ein weiterer Kernbestandteil der mittel- und längerfristigen Reaktion auf die Pandemie sowie der Aufbau-, Wiederaufbau- und Resilienzbemühungen (3R-Strategie) ist der doppelte Übergang (grüner und digitaler Wandel), dessen Schwerpunkt auf sozialen Aspekten, der Achtung der Rechtsstaatlichkeit und den Grundwerten der EU liegt. Darüber hinaus fordert der EWSA stärkere Anstrengungen gegen die Ungleichheit und zur Bewältigung der Krisenfolgen, insbesondere für die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen.

Geldpolitik

2.6.

Die EZB setzt ihre stark expansive Politik als gezielte Reaktion auf die Pandemie fort. Unlängst kündigte die EZB an, zwar am Kurs der günstigen Finanzierungsbedingungen festzuhalten, allerdings bei gegenüber den beiden Vorquartalen etwas verlangsamten Nettoankäufen von Vermögenswerten über das Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP).

Haushaltspolitischer Kurs und Haushaltskonsolidierung

2.7.

Die Investitionsinitiativen zur Bewältigung der Coronavirus-Krise (CRII und CRII+), mit denen kohäsionspolitische Mittel umgelenkt und umgeschichtet wurden, trugen erheblich dazu bei, die negativen Folgen zu kompensieren und auszugleichen, die Märkte zu stabilisieren sowie Arbeitsplätze und persönliche Einkommen zu schützen.

2.8.

Das innovativste Instrument, das in direkter Reaktion auf die COVID-19-Pandemie konzipiert und entwickelt wurde und derzeit umgesetzt wird, ist zweifellos das NGEU-Programm. Seine Hauptaufgabe besteht darin, die negativen Auswirkungen der Pandemie abzumildern.

2.9.

Der sehr expansive finanzpolitische Kurs infolge des NGEU wurde dadurch unterstützt, dass die allgemeine Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspakts ausnahmsweise und vorübergehend aktiviert wurde.

2.10.

Zusammen mit den einzelstaatlichen Maßnahmen war das finanzpolitische Engagement jedoch kostspielig und hat zu einer Verschlechterung der haushaltspolitischen Indikatoren geführt.

2.11.

Bei der Reduzierung der Schuldenquote müssen soziale Ungerechtigkeiten und übermäßige negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt vermieden werden. Für die Verbesserung der finanzpolitischen Indikatoren ist eine integrative und nachhaltige Wachstumsstrategie entscheidend.

Strukturelle und regulatorische Maßnahmen

2.12.

Die COVID-19-Pandemie hat schwere strukturelle Mängel in der Funktionsweise der europäischen Volkswirtschaften und Gesellschaften offenbart. Eine der Lehren aus der COVID-19-Pandemie ist demnach, dass wir uns nicht nur in einem neuen Normalzustand einrichten müssen, sondern auch Maßnahmen umzusetzen sind, die unsere Wirtschaft und Gesellschaft widerstandsfähiger (also weniger fragil und anfällig) machen. Dazu gehören nicht nur Meilensteine für einen sozial gerechten doppelten Übergang, effizientere und stärker vernetzte Gesundheitssysteme sowie die Versorgung mit medizinischen Dienstleistungen in ganz Europa, sondern auch die Verteidigung eines wettbewerbsfähigeren Euroraums innerhalb und außerhalb Europas, einschließlich strategischer Investitionen zur Unterstützung der europäischen Industrie und zur Stärkung der Position der EU auf der Weltbühne.

2.13.

In der ersten Phase der Pandemie wurde der Binnenmarkt stark beeinträchtigt. Das ging so weit, dass traditionelle Handelsströme zwischen und sogar innerhalb der EU-Mitgliedstaaten aufgrund der strengen Maßnahmen unterbrochen wurden. Die Situation wurde durch das Eingreifen der Europäischen Kommission gelöst, die grüne Korridore eingerichtet hat.

Finanzintermediation

2.14.

Dank der neuen Verordnungen und Vorschriften, die nach der letzten Krise angenommen wurden, hat sich der Banken- und Finanzsektor der EU und des Euroraums nun als robust und widerstandsfähig erwiesen. Heute steht die Branche in Bezug auf ihre Kapitalausstattung und die Gesundheit ihrer Portfolios besser da. Risiken könnte es aber im Zusammenhang mit der Solvenz ihrer Kunden geben, die zu mehr notleidenden Krediten führen könnte.

Steuerung

2.15.

Die derzeitige Krise hat uns daran erinnert, dass der Rahmen für die wirtschaftspolitische Steuerung der EU lückenhaft ist. Mit der Aufbau- und Resilienzfazilität hat sich der Charakter des Europäischen Semesters grundlegend gewandelt. Da die Auszahlungen nunmehr an die Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen geknüpft sind, sind diese Empfehlungen politisch verbindlicher geworden. Die Zivilgesellschaft sollte stärker in das Europäische Semester einbezogen werden. Das Partnerschaftsprinzip, das in der Kohäsionspolitik lange Tradition hat, sollte als Vorbild für ein wirksames Instrument zur Einbeziehung der Zivilgesellschaft dienen.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1.

Wie sich die Erholung gestalten wird, hängt nach Auffassung des EWSA stark von der Intensität der Pandemie und vom Erfolg der Impfkampagnen sowie von strukturellen Aspekten (z. B. der Leistung der am stärksten oder vollständig betroffenen Branchen wie etwa Tourismus, Gastgewerbe, Verkehr, Kultur und Freizeit und ihrem Gewicht in der Wirtschaft) ab. Die potenzielle Flexibilität der Fiskalpolitik, die Spielraum für Ausgleichsmaßnahmen gewähren muss, sowie die Wirksamkeit der Maßnahmen sind auch von zentraler Bedeutung.

3.2.

Der EWSA bedauert, dass die wirtschaftliche Schockwelle, die von der Pandemie ausgelöst wurde, die Ungleichheit der Volkswirtschaften im Euroraum in puncto Wirtschaftsleistung, Fiskalindikatoren, Inflation und Zahlungsbilanz noch weiter vergrößert hat. Dies könnte die wirtschaftliche und soziale Situation sowie die Wettbewerbsfähigkeit bestimmter Volkswirtschaften und des Euro-Währungsraums insgesamt stark beeinflussen und zu internen und externen Ungleichgewichten führen.

3.3.

Der EWSA begrüßt die allumfassende und flexible Reaktion der wichtigsten wirtschaftspolitischen Akteure der EU auf die Pandemie — der Europäischen Zentralbank (mit Ankaufprogrammen und Leitzinsen), des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM — mit seinen makroökonomischen Stabilitätshilfeinstrumenten) und der Kommission (mit ihrer sehr innovativen NGEU-Initiative, ergänzt durch Notfallmaßnahmen wie CRII(+), SURE, die Flexibilität bei den Haushalts- und Beihilfevorschriften und den Vorschriften für den Finanzsektor sowie andere außergewöhnliche Maßnahmen, die den Mitgliedstaaten die erforderliche Flexibilität zur Krisenbewältigung verliehen haben).

3.4.

Nach Auffassung des EWSA hängt viel davon ab, dass die wirtschaftspolitischen Sofortmaßnahmen ihre Wirkung entfalten. Im Wesentlichen soll ein allgemeiner, koordinierter Ausgleich zwischen geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen hergestellt werden. Über die entsprechenden Reformen (u. a. Maßnahmen für saubere Energie, Digitalisierung, Innovation und Kreislaufwirtschaft) muss eine nachhaltige Erholung unterstützt werden. Die Auswirkungen von NGEU und dessen Wechselwirkung mit anderen wirtschaftspolitischen Maßnahmen sind wichtig, insbesondere in Ländern, die umfangreiche Mittel erhalten.

3.5.

Der EWSA begrüßt, dass das Sofortmaßnahmenpaket auch einige Grenzen enthält, um mittel- und längerfristig negative Auswirkungen auf die Preisstabilität und die Indikatoren für die Haushaltsdisziplin infolge der derzeit expansiven Maßnahmen zu vermeiden. Insbesondere die künftige Entwicklung der öffentlichen Finanzen ist mit hohen Risiken behaftet. Diesbezüglich fordert der EWSA eine faire und nachhaltige Steuerpolitik, in deren Rahmen unter anderem der Steuerbetrug und die aggressive Steuerplanung zurückgedrängt werden müssen.

3.6.

Der EWSA erwartet vom NGEU nicht nur, dass es den Volkswirtschaften des Euroraums und der EU die Rückkehr zum Vor-Pandemie-Niveau ermöglicht, sondern verbindet mit ihm auch die Hoffnung auf wichtige strukturelle Maßnahmen. Vor allem soll es einen grünen und digitalen Wandel geben, bei dem die Beschäftigung und soziale Erwägungen gebührend berücksichtigt werden. In Bezug auf das NGEU stellt der EWSA anerkennend fest, dass es der EU gelungen ist, in kürzester Zeit einen derart weitreichenden Schritt zu unternehmen. Allerdings mahnt er auch an, bei etwaigen Schwachpunkten nachzubessern, etwa bei der unzureichenden Konsultation der Zivilgesellschaft bei der Ausarbeitung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne.

3.7.

Der EWSA sieht in SURE ein weiteres innovatives Instrument, das als direkte Reaktion auf die Pandemie konzipiert und umgesetzt wurde und die Regierungen in ihren Bemühungen um den Schutz von Arbeitsplätzen und persönlichen Einkommen unterstützen soll.

3.8.

Der EWSA empfiehlt, bei künftigen Haushaltskonsolidierungen eine umweltfreundliche Haushaltsplanung und eine Unterstützung für öffentliche grüne Investitionen vorzusehen (2), um zum Grünen Deal der EU und zu einem solideren Haushalt in der EU beizutragen. Der EWSA ist sich der erheblichen negativen Auswirkungen der derzeitigen Krise auf die öffentlichen Finanzen im vollen Umfang bewusst.

3.9.

Der EWSA rät zwar von einer vorzeitigen Rücknahme der allgemeinen Ausweichklausel ab (3), doch muss der Blick vor allem auf die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen gerichtet werden, sobald sich das eindeutige Ende der Pandemie abzeichnet und die Erholung gut in Gang gekommen ist. Dann sollten die finanzpolitischen Maßnahmen und Instrumente neu ausgerichtet werden, um mittel- und längerfristig zu einer umsichtigen Haushaltspolitik zu gelangen. Der EWSA begrüßt, dass die Kommission beschlossen hat, im Herbst 2021 die Überprüfung des europäischen Rahmens für die wirtschaftspolitische Steuerung wiederaufzunehmen. Die Haushaltsregeln sollten erst nach ihrer Überarbeitung vollständig angewandt werden. Anstelle einer „Rückkehr“ empfiehlt der EWSA daher eine „Wende“ hin zu einem überarbeiteten wirtschaftspolitischen Steuerungsrahmen (4). Für den EWSA ist klar, dass jeder künftige finanzpolitische Rahmen mittels der Einführung einer goldenen Regel für öffentliche Investitionen investitionsfreundlich sein muss, allerdings ohne die mittelfristige Haushalts- und Finanzstabilität zu gefährden; er muss das Wachstum fördern und die Mitgliedstaaten befähigen, in Zeiten eines Konjunkturabschwungs eine antizyklische Politik zu verfolgen.

3.10.

Der EWSA spricht sich dafür aus, die Systeme der öffentlichen Einnahmen zu reformieren, sodass sie effizienter und gerechter werden. Der Faktor Arbeit und die produktiven Investitionen sollten weniger besteuert werden, die Umweltbelastung hingegen stärker; externe Effekte sollten ebenfalls stärker eingepreist werden. Außerdem müsste mittels einer wirkungsvolleren und verbesserten Anreizstruktur etwas gegen die Steuervermeidung unternommen werden.

3.11.

Der EWSA stellt mit Zufriedenheit fest, dass die Banken und die Finanzbranche in der EU und im Euroraum im Vergleich zur vorangegangenen Krise viel besser aufgestellt, weniger krisenanfällig und viel robuster sind. Gleichzeitig warnt der EWSA davor, dass einige Solvenzrisiken, die sich aus Einnahmeverlusten der Kunden der Branche ergeben könnten, unterschätzt werden. Sie könnten zu mehr faulen Krediten in den Bankbilanzen führen. Der EWSA begrüßt, dass sich die Banken im Euroraum als stabil erwiesen haben und bislang nicht wesentlich von der Krise betroffen sind.

3.12.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts auch bedeutet, dass die Volkswirtschaften des Euro-Währungsgebiets und der EU insgesamt widerstandsfähiger und effizienter werden. Der Ausschuss hält es zudem für besonders wichtig, den Binnenmarkt zu vollenden, um Verkrustungen im Wirtschaftsgefüge aufzubrechen und dessen Schwachstellen auszubessern.

3.13.

Der EWSA begrüßt die spezifischen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die im vergangenen Jahr als unmittelbare Reaktion auf die Pandemie aufgeboten und zur Anpassung an die sich wandelnde Situation kontinuierlich nachjustiert wurden. Der EWSA hält die Maßnahmen der EU zur Abwendung etwaiger negativer Langzeitfolgen für die Wirtschaftsleistung des Euro-Raums, die EU und die Arbeitsmärkte der EU für wirksam. Sie könnten helfen, die Vertiefung der wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zu verhindern. Gleichzeitig ist es von entscheidender Bedeutung, diese erheblichen Ungleichgewichte anzugehen, um die großen makroökonomischen Risiken, einschließlich der Risiken zunehmender Ungleichheiten, wirksam abzudecken.

3.14.

Der EWSA ist der festen Überzeugung, dass funktionierende Gesundheits-, Sozialschutz- und Notfallsysteme für eine dauerhaft tragfähige wirtschaftliche Entwicklung entscheidend sind. Die Pandemie hat diese Verbindung offenbart und verstärkt, was sich folglich auch in der Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte widerspiegeln sollte.

3.15.

Der EWSA empfiehlt nachdrücklich, die Wirtschafts- und Währungsunion zu vollenden. Dazu gehören auch die Anpassung des Europäischen Semesters an das NextGenerationEU-Programm, die Vollendung der Banken- und Kapitalmarktunion sowie die Überarbeitung des Rahmens für die wirtschaftspolitische Steuerung. Es sollte geprüft werden, ob die Ausgestaltung von NextGenerationEU auch ein Beispiel dafür sein könnte, wie in Zukunft gemeinsame EU-Finanzmittel mobilisiert und genutzt werden könnten.

3.16.

Der EWSA weist darauf hin, dass das wichtigste Maßnahmenpaket zur Bewältigung der negativen Auswirkungen der Pandemie in der ersten Jahreshälfte 2020 geschnürt wurde, also kurz bevor die gravierendsten Auswirkungen der Pandemie in den meisten Mitgliedstaaten spürbar wurden. Daher könnte eine Bewertung der Relevanz und Angemessenheit der ergriffenen Maßnahmen in Betracht gezogen werden. Nur durch Planung können wir antizipieren — mit ihrer Hilfe kann kontinuierlich auf die neue Realität infolge der Pandemie reagiert werden, die längst noch nicht überwunden ist und gerade deshalb den ständigen Vorausblick erfordert.

4.   Besondere Bemerkungen

4.1.

Der EWSA begrüßt die von der Kommission vorgelegten sieben Leitinitiativen, die als Richtschnur für die praktische Umsetzung der Aufbau- und Resilienzfazilität in den einzelnen Mitgliedstaaten dienen sollen. Es ist sehr wichtig, dass diese Initiativen mit den Herausforderungen und Prioritäten in Einklang stehen, die in der Empfehlung des Rates zur Wirtschaftspolitik des Euro-Währungsgebiets für die Erholung nach der COVID-19-Krise ermittelt wurden.

4.2.

Der EWSA erkennt die große unterstützende Wirkung an, die der paneuropäische Garantiefonds der Europäischen Investitionsbank beim Schutz und der Förderung des Unternehmenssektors im Euro-Währungsgebiet und in der EU insgesamt entfaltet hat.

4.3.

Im Hinblick auf die wirtschaftliche Erholung schlägt der EWSA vor, den Schwerpunkt auf Wirtschaftswachstum und soziale Gerechtigkeit zu legen, denn dadurch werden höhere Einkommen und ein höheres BIP möglich. Ein tragfähiger finanzpolitischer Kurs zur Verringerung der Belastung künftiger Generationen und zur Begrenzung des mit höheren Zinssätzen oder einer geringeren Produktion verbundenen Risikos erfordert eine dynamische Belebung der Wirtschaft durch: a) Stärkung der öffentlichen Investitionen und b) Reformen, die den Übergang zu einer grünen und digitalen Wirtschaft erleichtern.

4.4.

Der EWSA geht auch davon aus, dass einige wichtige Schlüsse aus der vorangegangenen Krise gezogen und zur Unterstützung der makroökonomischen Stabilität genutzt wurden. Er ist der festen Überzeugung, dass die kontinuierlichen Reformbemühungen den Lehren aus der Pandemie Rechnung tragen sollten. Der Schwerpunkt sollte dabei auf der Verringerung des Verwaltungsaufwands für Unternehmen dank der Digitalisierung der Behörden, der KMU und der Unternehmen im Allgemeinen sowie der elektronischen Identifizierung und einer effizienteren Justiz liegen.

Brüssel, den 20. Oktober 2021

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Die EZB lieferte in ihrer Veröffentlichungsreihe „ECB Occasional Paper Series“ in der Ausgabe vom [22.] Juni 2018 Structural Policies in the Euro-area“ eine Definition der strukturellen Wirtschaftpolitik. Darunter versteht sie wirtschaftspolitische Maßnahmen für die Arbeits-, Produkt- und Finanzmärkte zur Verbesserung der institutionellen und regulatorischen Rahmenbedingungen. Dahinter steht das Ziel, die Voraussetzungen für ein langfristiges Wachstum zu verbessern und erwünschte Verteilungseffekte zu gewährleisten.

(2)  Diskussionspapier, Elva Bova (2021): „Green Budgeting Practices in the EU: A First Review“.

(3)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 227.

(4)  ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 227 und Initiativstellungnahme des EWSA Neugestaltung des haushaltspolitischen Rahmens der EU für einen nachhaltigen Aufschwung und einen gerechten Übergang (ECO/553). Siehe Seite 10 dieses Amtsblatts.