EUROPÄISCHE KOMMISSION
Brüssel, den 18.12.2018
COM(2018) 858 final
BERICHT DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DEN RAT
über die Umsetzung der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren
1.Einleitung
1.1.Hintergrund
Die Richtlinie 2012/13/EU über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (im Folgenden die „Richtlinie“) ist das zweite Instrument, das im Rahmen des Fahrplans zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigten oder Beschuldigten in Strafverfahren angenommen wurde. Am 11. Dezember 2009 hat der Europäische Rat den Fahrplan begrüßt und ihn zum Bestandteil des Stockholmer Programms – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger gemacht.
Die erste im Rahmen des Fahrplans angenommene Maßnahme war die Richtlinie 2010/64/EU über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren. Nach der Annahme dieser ersten beiden Richtlinien sind weitere Arbeiten in Bezug auf die Verfahrensrechte durchgeführt worden. Die EU hat seitdem noch vier weitere Richtlinien angenommen, die das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand und auf Kommunikation mit Dritten während des Freiheitsentzugs; die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit bei der Verhandlung; Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder sowie Prozesskostenhilfe betreffen.
Diese sechs Richtlinien dienen dem allgemeinen Ziel, das gegenseitige Vertrauen zu stärken, indem die Anwendbarkeit des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung als Grundpfeiler des europäischen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts verbessert wird. Zu diesem Zweck werden in den Richtlinien gemeinsame Mindestnormen für die Verfahrensrechte in allen Strafverfahren festgelegt und eine konsequentere Anwendung des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vorgeschrieben.
1.2.Zweck und Hauptelemente der Richtlinie
Mithilfe der Richtlinie 2012/13/EU soll sichergestellt werden, dass das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren in der Praxis angewendet wird.
Durch die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften für das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (und in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls) soll die Richtlinie das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege stärken. Zu diesem Zweck baut sie auf den Rechten auf, die beispielsweise in den Artikeln 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union festgelegt sind, und zielt auf deren Förderung ab.
Mit der Richtlinie werden Mindestnormen festgelegt, die innerhalb der EU für alle Verdächtigen oder beschuldigten Personen ungeachtet ihres Rechtsstatus, ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrer Nationalität gelten. Sie soll dazu beitragen, Justizirrtümer zu vermeiden und die Zahl der Rechtsmittel zu verringern.
In der Richtlinie wird das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgelegt. Dieses Recht haben Personen unmittelbar ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von den zuständigen Behörden davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens.
Die Richtlinie legt das Recht auf Belehrung über die Verfahrensrechte fest, die mündlich (Artikel 3) oder, bei Freiheitsentzug bzw. bei Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, schriftlich (Artikel 4 bzw. 5) erfolgen muss, sowie das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf (Artikel 6) und das Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte (Artikel 7).
1.3.Umfang des Umsetzungsberichts
Diese Bewertung der Umsetzung der Richtlinie wurde gemäß Artikel 12 der Richtlinie durchgeführt, wonach die Kommission verpflichtet ist, dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Bericht zu übermitteln, in dem sie bewertet, inwieweit die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen getroffen haben, um dieser Richtlinie nachzukommen.
Die Beschreibung und Analyse in diesem Bericht stützen sich vorrangig auf die von den Mitgliedstaaten bereitgestellten Informationen. Diese werden ergänzt durch öffentlich verfügbare Studien der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte oder externer Interessenträger, die die Umsetzung der Richtlinien über Verfahrensrechte mithilfe aktionsbezogener Finanzhilfen aus dem Justizprogramm bewertet haben.
Im Mittelpunkt des Berichts stehen die bisherigen Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Richtlinie. Es wird bewertet, ob die Mitgliedstaaten die Richtlinie innerhalb des festgelegten Zeitrahmens umgesetzt haben und ob mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Ziele und Anforderungen der Richtlinie erfüllt werden.
2.Allgemeine Bewertung
Gemäß Artikel 11 hatten die Mitgliedstaaten die Richtlinie bis zum 2. Juni 2014 in nationales Recht umzusetzen. Mit Ablauf der Frist für die Umsetzung hatten sieben Mitgliedstaaten der Kommission noch keine Informationen zu den notwendigen Maßnahmen übermittelt: Zypern, die Tschechische Republik, Luxemburg, Malta, Slowenien, die Slowakei und Spanien. Daher beschloss die Kommission im Juli 2014, gegen diese sieben Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Artikel 258 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union Vertragsverletzungsverfahren wegen Nichtmitteilung der nationalen Umsetzungsmaßnahmen einzuleiten.
Das Hauptziel der Kommission bestand darin, sicherzustellen, dass alle Mitgliedstaaten die Anforderungen der Richtlinie in ihr innerstaatliches Recht überführen, damit die darin verankerten Rechte in der gesamten Europäischen Union geschützt werden. Die Umsetzung der Richtlinie ist eine Voraussetzung dafür, sachgemäß bewerten zu können, inwiefern die Mitgliedstaaten die für die Einhaltung der Richtlinie erforderlichen Maßnahmen ergriffen haben. Die Kommission begann mit der Bewertung, ob die nationalen Maßnahmen mit der Richtlinie in Einklang stehen, sobald ihr diese Maßnahmen von den Mitgliedstaaten mitgeteilt wurden. Jedoch wurde die Richtlinie von Luxemburg beispielsweise erst im März 2017 umgesetzt, während Rumänien seine ursprüngliche Teilmeldung erst mit Umsetzungsmaßnahmen am 12. Juli 2016 sowie am 6. Oktober 2017 abschloss. Durch diese Verzögerungen bei der Umsetzung hat sich die gesamte Bewertung verschoben. Die letzten Vertragsverletzungsverfahren wegen Nichtmitteilung konnten erst im Januar 2018 eingestellt werden. Aufgrund dieser Umständen und angesichts der Komplexität der Bewertung aller Maßnahmen, die von den 27 durch die Richtlinie gebundenen Mitgliedstaaten vor dem Hintergrund der verschiedenen nationalen Rechtssysteme mitgeteilt wurden, war es der Kommission nicht möglich, diesen Bericht früher vorzulegen.
Auch wenn sich die Wirkung der Richtlinie darauf beschränkt, Mindestvorschriften festzulegen, und daher Unterschiede im Strafprozessrecht der verschiedenen Mitgliedstaaten nach wie vor zulässig sind, erlegt sie ihnen klare Verpflichtungen auf.
Die Bewertung hat gewisse Umsetzungsprobleme in verschiedenen Mitgliedstaaten aufgezeigt, die insbesondere die Erklärung der Rechte in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf sowie das Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte betreffen. Sofern diese Abweichungen nicht beseitigt werden, könnten sie die Wirksamkeit der durch die Richtlinie festgelegten Rechte beeinträchtigen. Die Kommission wird alle geeigneten Maßnahmen ergreifen, um in der gesamten Europäischen Union die Einhaltung der Richtlinie sicherzustellen, und dazu bei Bedarf auch Vertragsverletzungsverfahren gemäß Artikel 258 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union einleiten.
Gemäß den Artikeln 1 und 2 des Protokolls Nr. 22 beteiligt sich Dänemark nicht an der Annahme der Richtlinie und ist weder durch sie gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet. Daher wird Dänemark in der folgenden Bewertung nicht berücksichtigt.
Gemäß Artikel 3 des Protokolls (Nr. 21) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts haben diese Mitgliedstaaten schriftlich mitgeteilt, dass sie sich an der Annahme und Anwendung der Richtlinie beteiligen möchten.
3.Konkrete Bewertungselemente
3.1.Gegenstand (Artikel 1)
Gemäß Artikel 1 der Richtlinie enthält die Richtlinie Bestimmungen über das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen auf Belehrung über ihre Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf. Sie bezieht sich auch auf Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist.
In den meisten Mitgliedstaaten bestanden bereits Rechtsvorschriften über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung. Im Rahmen des Umsetzungsprozesses waren daher von den Mitgliedstaaten auch bereits bestehende Rechtsvorschriften zu ändern oder spezifischere Rechtsvorschriften einzuführen.
3.2.Anwendungsbereich (Artikel 2)
In Artikel 2 der Richtlinie wird der Anwendungsbereich der Richtlinie erläutert.
3.2.1.Anwendungsbereich – Artikel 2 Absatz 1
In Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie ist festgelegt, dass das Recht auf Unterrichtung und Belehrung in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ab dem Zeitpunkt gilt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, d. h. bis die Entscheidung rechtskräftig ist.
In Erwägungsgrund 19 der Richtlinie heißt es: „Die zuständigen Behörden sollten Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend ... und spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung ...“ belehren.
In den meisten Mitgliedstaaten ist weder der Zeitpunkt, zu dem Verdächtige oder beschuldigte Personen von dem Verdacht bzw. der Beschuldigung „in Kenntnis gesetzt“ werden, noch der Umstand festgelegt, dass das Recht auf Belehrung und Unterrichtung während des gesamten Strafverfahrens anwendbar ist. Dennoch lässt eine systematische Analyse der unterschiedlichen Abschnitte von Strafverfahren in den jeweiligen nationalen Rechtstexten den Schluss zu, dass viele Mitgliedstaaten die Bestimmungen der Richtlinie einhalten.
Probleme ergeben sich jedoch bei drei Mitgliedstaaten, in denen eine Belehrung oder Unterrichtung nur bei Personen vorgeschrieben ist, denen ihre Freiheit entzogen wurde. Für Personen, denen ihre Freiheit nicht entzogen wurde, gelten diese Garantien hingegen nicht.
Im Hinblick auf den personenbezogenen Anwendungsbereich haben sich in den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten gewisse Unterschiede bei den Begriffen „Verdächtige“ und „beschuldigte Personen“ gezeigt. In der überwiegenden Mehrheit der Mitgliedstaaten wird zwischen den beiden Ausdrücken unterschieden, wenn auf die Personen, gegen die das Strafverfahren läuft, Bezug genommen wird. Zwei Mitgliedstaaten allerdings verwenden in ihren Rechtssystemen lediglich den Begriff „beschuldigte Person“ und nicht den Begriff „Verdächtiger“. Eine Person gilt als beschuldigt, wenn sie wegen einer Straftat angeklagt wurde.
3.2.2.Geringfügige Zuwiderhandlungen — Artikel 2 Absatz 2
Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie legt fest, dass wenn das Recht eines Mitgliedstaats die Verhängung einer Sanktion wegen geringfügiger Zuwiderhandlungen durch eine Behörde, die kein in Strafsachen zuständiges Gericht ist, vorsieht, und gegen die Verhängung einer solchen Sanktion bei einem solchen Gericht ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann, das Recht auf Belehrung und Unterrichtung nur für das Rechtsbehelfsverfahren eingeräumt wird.
Diese Bestimmung ist für jene Mitgliedstaaten relevant, in denen die Verwaltungsbehörden, die Polizei oder für Nicht-Strafsachen zuständige Gerichte mit geringfügigen Zuwiderhandlungen befasst sind. In den übrigen Mitgliedstaaten ist diese Bestimmung nicht anwendbar, da Sanktionen hinsichtlich geringfügiger Zuwiderhandlungen von den für Strafsachen zuständigen Gerichten verhängt werden.
3.3.Recht auf Rechtsbelehrung (Artikel 3)
Artikel 3 der Richtlinie legt fest, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über die ausdrücklich im gleichen Artikel genannten Verfahrensrechte belehrt werden müssen. Diese Belehrung muss entweder mündlich oder schriftlich in einfacher und verständlicher Sprache erfolgen, wobei etwaige besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Verdächtiger oder schutzbedürftiger beschuldigter Personen zu berücksichtigen sind.
3.3.1.Belehrung über Verfahrensrechte – Artikel 3 Absatz 1
Im Einklang mit Artikel 3 Absatz 1 und in Anbetracht von Erwägungsgrund 19 der Richtlinie muss die Belehrung Verdächtiger oder beschuldigter Personen umgehend erfolgen.
Die meisten Mitgliedstaaten haben diese Bestimmung entsprechend umgesetzt. Obwohl mehrere Mitgliedstaaten die Anforderung einer „umgehenden“ Belehrung nicht ausdrücklich benennen, kann sie aus dem Umstand abgeleitet werden, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen spätestens vor der ersten Vernehmung über ihre Rechte belehrt werden. In drei Mitgliedstaaten jedoch erfolgt eine Rechtsbelehrung nur dann, wenn der Person die Freiheit entzogen wird (siehe 3.2.1).
3.3.1.1. Belehrung über das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts – Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe a
Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe a wurde in fast allen Mitgliedstaaten ordnungsgemäß umgesetzt. In drei Mitgliedstaaten jedoch wurde die Bestimmung entweder gar nicht oder nicht für Strafverfahren wegen Vergehen umgesetzt. In drei Mitgliedstaaten erfolgt eine Belehrung nur bei Verdächtigen oder beschuldigten Personen, denen die Freiheit entzogen wurde.
3.3.1.2. Belehrung über den Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung – Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe b
Während in 25 Mitgliedstaaten Vorschriften bestehen, wonach Verdächtige und beschuldigte Personen über den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung zu belehren sind, verfügen zwei Mitgliedstaaten nicht über diesbezügliche Bestimmungen. In einigen Mitgliedstaaten wurden Abweichungen festgestellt, weil in den innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht eindeutig festgelegt ist, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen auch über die Voraussetzungen für die unentgeltliche Rechtsberatung belehrt werden müssen. In einem Mitgliedstaat wird die Belehrung über den Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung nicht im Zusammenhang mit Verfahren wegen Vergehen sichergestellt. Schließlich erfolgt in drei Mitgliedstaaten eine diesbezügliche Belehrung nur bei Personen, denen die Freiheit entzogen wurde.
3.3.1.3. Belehrung über das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf — Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe c
Diese Bestimmung wurde in fast allen Mitgliedstaaten umgesetzt. In drei Mitgliedstaaten jedoch erfolgt eine Belehrung nur dann, wenn der Person die Freiheit entzogen wird.
3.3.1.4. Belehrung über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen – Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe d
Die meisten Mitgliedstaaten sind dieser Bestimmung nachgekommen. In einigen wenigen Mitgliedstaaten ergeben sich jedoch Probleme der Nichtübereinstimmung, weil das Recht auf Belehrung über Dolmetschleistungen und Übersetzungen nicht eindeutig geregelt ist. In zwei Mitgliedstaaten sehen die innerstaatlichen Rechtsvorschriften weder das Recht auf Übersetzungen noch das Recht auf Belehrung darüber vor.
3.3.1.5. Belehrung über das Recht auf Aussageverweigerung – Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe e
Diese Bestimmung wurde von allen Mitgliedstaaten bis auf einen ordnungsgemäß umgesetzt. Viele Mitgliedstaaten haben diese Bestimmung ausführlicher umgesetzt, indem beispielsweise ergänzt wurde, dass das Recht auf Aussageverweigerung das Recht auf Äußerungen zum Tatvorwurf, das Aussagerecht oder das Recht auf (Nicht-)Beantwortung von Fragen einschließt.
3.3.2.Rechtsbelehrung in einfacher und verständlicher Sprache und unter Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen – Artikel 3 Absatz 2
Die meisten Mitgliedstaaten haben diese Bestimmung umgesetzt, aber auf unterschiedliche Weise. Einige Mitgliedstaaten verweisen allgemein auf schutzbedürftige Personen, ohne konkrete Kategorien zu benennen oder den Begriff der Schutzbedürftigkeit zu definieren. Mehrere andere Mitgliedstaaten führen konkrete Kategorien von schutzbedürftigen Personen auf, darunter
·Personen mit Hör- oder Sprachbehinderung,
·Personen mit Sehbehinderung,
·Personen mit geistiger Behinderung,
·Personen mit Lernbehinderungen,
·Personen mit psychischen Störungen,
·Personen, die über 75 Jahre alt sind,
·Schwangere,
·alleinerziehende Eltern mit minderjährigen Kindern und
·Personen, die Opfer von Folter, Vergewaltigung oder sonstigen schweren Formen psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalt sind.
Einige Mitgliedstaaten jedoch sehen keine Sonderbehandlung für schutzbedürftige Personen vor und kommen damit der Richtlinie nicht im vollen Umfang nach. In einem Mitgliedstaat müssen die Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen nur im Falle ihrer Festnahme berücksichtigt werden. In einigen wenigen Rechtssystemen ist nicht eindeutig geregelt, wer in welchen Situationen geschützt ist.
Elf Mitgliedstaaten haben die Anforderung, die Rechtsbelehrung in einfacher und verständlicher Sprache zu erteilen, explizit in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften umgesetzt. 14 Mitgliedstaaten erfüllen jedoch nicht die Anforderung, die einschlägigen Informationen in einer für die betreffende Person verständlichen Sprache bereitzustellen, bzw. legen nicht fest, dass die Rechtsbelehrung in einfacher und verständlicher Sprache erfolgen muss.
3.4.Erklärung der Rechte bei Festnahme (Artikel 4)
Gemäß Artikel 4 der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Personen bei Freiheitsentzug umgehend eine Erklärung der Rechte mit Informationen zu den in der Richtlinie aufgeführten zusätzlichen speziellen Rechten erhalten. Der Anhang der Richtlinie enthält Musterbeispiele für (I) Personen, die festgenommen oder inhaftiert wurden, sowie (II) Personen, die auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls festgenommen wurden.
3.4.1.Bereitstellung einer Erklärung der Rechte – Artikel 4 Absatz 1
Gemäß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, umgehend eine schriftliche Erklärung der Rechte erhalten. Sie müssen Gelegenheit erhalten, die Erklärung der Rechte zu lesen, und müssen diese Erklärung während der Dauer des Freiheitsentzugs in ihrem Besitz führen dürfen.
In fast allen Mitgliedstaaten bestehen nationale Vorschriften, die eine Erklärung der Rechte vorsehen. Während einige Mitgliedstaaten wörtlich auf die Erklärung der Rechte Bezug nehmen, verwenden andere abweichende Begrifflichkeiten wie „Erklärung“, „schriftliche Unterrichtung, Mitteilung oder Bekanntgabe“ bzw. „Merkblatt“. Doch trotz der unterschiedlichen Benennungen erfüllen alle Dokumente, die in den jeweiligen einzelstaatlichen Rechtsvorschriften genannt werden, die Rolle einer Erklärung der Rechte im Sinne der Richtlinie.
In dem innerstaatlichen Recht eines Mitgliedstaats ist keine Erklärung der Rechte in diesem Sinne vorgesehen. Zwar wird auf eine schriftliche Erklärung der Rechte Bezug genommen, aber diese hat ausschließlich informativen Charakter. Die Erklärung wird einer Person übergeben, wenn sie formell angeklagt wird, und zusammen mit einer Anklageanordnung und einem Vernehmungsprotokoll zur Unterzeichnung vorgelegt. Auch wenn in diesem Dokument einige Rechte der beschuldigten Person erwähnt werden, stimmt es nicht mit der in der Richtlinie vorgesehenen Auflistung überein.
In einem anderen Mitgliedstaat gibt es ebenfalls keine einheitliche Erklärung der Rechte. Die Gerichten und Polizeibehörden verwenden unterschiedliche Vorlagen, bei denen unklar ist, ob sie alle Rechte nach Maßgabe der Richtlinie abdecken. Darüber hinaus ist nicht sichergestellt, dass die Person die Erklärung behalten darf.
Die meisten Mitgliedstaaten haben die Anforderung, wonach die Erklärung der Rechte „umgehend“ bereitzustellen ist, umgesetzt, wobei sie jedoch unterschiedliche Formulierungen in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften verwenden. Allerdings enthalten die innerstaatlichen Rechtsvorschriften einiger Mitgliedstaaten entweder keine Festlegungen dazu, wann die Erklärung bereitzustellen ist, oder sehen für die Behörden je nach Art des Verfahrens unterschiedliche Verpflichtungen vor.
Nicht alle Mitgliedstaaten haben die Anforderung, dass Verdächtige und beschuldigte Personen die Gelegenheit erhalten müssen, die Erklärung der Rechte zu lesen und in ihrem Besitz zu führen, ausdrücklich umgesetzt. Ein Mitgliedstaat lässt zudem eine Ausnahme von der Pflicht zur schriftlichen Unterrichtung der Person (selbst zu einem späteren Zeitpunkt) in Fällen zu, in denen die schriftliche Unterrichtung vernünftigerweise nicht erfolgen kann und die mündliche Unterrichtung als ausreichend erachtet wird.
3.4.2.Inhalt der schriftlichen Erklärung der Rechte – Artikel 4 Absatz 2
In Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie sind die Rechte aufgeführt, die in der Erklärung der Rechte zusätzlich zu den Informationen gemäß Artikel 3 der Richtlinie enthalten sein müssen, im Einzelnen:
a)das Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte;
b)das Recht auf Unterrichtung der Konsularbehörden und einer Person;
c)das Recht auf Zugang zu dringender medizinischer Versorgung; und
d)wie viele Stunden oder Tage der Freiheitsentzug bei Verdächtigen oder beschuldigten Personen bis zur Vorführung vor einer Justizbehörde höchstens andauern darf.
3.4.2.1. Belehrung über das Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte –Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe a
Die Mehrzahl der Mitgliedstaaten hat diese Bestimmung in angemessener Weise umgesetzt. Einige Mitgliedstaaten verwenden für das Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte eine allgemeine Formulierung, beispielsweise das Recht, die Unterlagen zu einem Verfahren zu konsultieren oder zu prüfen, das Recht auf Zugang zu Beweismitteln oder gerichtlichen Schriftstücken, zu den Unterlagen des Strafverfahrens oder den während der strafrechtlichen Untersuchung gesammelten Informationen.
In acht Mitgliedstaaten ergeben sich jedoch gewisse Fragen. In dem Mitgliedstaat, in dem keine Erklärung der Rechte vorgesehen ist (siehe 3.4.1), bestehen keine Vorschriften zu dem Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte. Vier Mitgliedstaaten schreiben den Zugang zu wesentlichen Unterlagen im Zusammenhang mit der Festnahme und Inhaftierung vor, jedoch nicht die Einsicht in die Verfahrensakte allgemein. Schließlich ist bei einem Mitgliedstaat für bestimmte Arten von Strafverfahren nicht eindeutig feststellbar, ob die Unterrichtung über das Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte in der Erklärung der Rechte enthalten ist.
3.4.2.2. Belehrung über das Recht auf Unterrichtung der Konsularbehörden und einer Person – Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe b
Diese Bestimmung wurde von einer großen Mehrheit der Mitgliedstaaten ordnungsgemäß umgesetzt. In wenigen Mitgliedstaaten bestanden einige Probleme bezüglich der Übereinstimmung mit der Richtlinie, weil beispielsweise Beschränkungen dahin gehend auferlegt wurden, dass ausschließlich Familienangehörige oder dass ein Verwandter, die Bildungseinrichtung oder der Arbeitgeber kontaktiert werden dürfen. In einem Mitgliedstaat ist das Recht auf Unterrichtung der Konsularbehörden nicht in der Erklärung der Rechte enthalten.
3.4.2.3. Belehrung über das Recht auf Zugang zu dringender medizinischer Versorgung –Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe c
Diese Bestimmung wurde in fast allen Mitgliedstaaten (bis auf einen) umgesetzt. In einem Mitgliedstaat ist das Recht auf medizinische Versorgung zwar vorgesehen, wird aber in der Erklärung der Rechte an sich nicht erwähnt.
3.4.2.4.Belehrung darüber, wie viele Stunden oder Tage der Freiheitsentzug bei Verdächtigen oder beschuldigten Personen bis zur Vorführung vor eine Justizbehörde höchstens andauern darf – Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe d
Eine große Mehrheit der Mitgliedstaaten hat diese Bestimmung in angemessener Weise umgesetzt. Allerdings unterscheiden sich die innerstaatlichen Rechtsvorschriften in den einzelnen Ländern ein wenig, da durch die Richtlinie nicht festgelegt wird, wie lange der Freiheitsentzug einer Person bis zur Vorführung vor eine Justizbehörde höchstens andauern darf.
Probleme ergeben sich bei fünf Mitgliedstaaten daraus, dass Angaben zu den entsprechenden Zeiträumen in den nationalen Erklärungen der Rechte fehlen. In einem Mitgliedstaat sind diesbezügliche Informationen in der an inhaftierte Personen ausgegebenen Erklärung der Rechte enthalten, während die Erklärung der Rechte für festgenommene Personen keine Angaben zu der Höchstdauer enthält.
3.4.3.Grundlegende Informationen über die Möglichkeit, die Festnahme anzufechten und einen Antrag auf vorläufige Haftentlassung zu stellen – Artikel 4 Absatz 3
Gemäß Artikel 4 Absatz 3 der Richtlinie muss die Erklärung der Rechte grundlegende Informationen über jedwede im innerstaatlichen Recht vorgesehene Möglichkeit enthalten, die Rechtmäßigkeit der Festnahme anzufechten, eine Haftprüfung zu erwirken oder einen Antrag auf vorläufige Haftentlassung zu stellen.
Die Mehrzahl der Mitgliedstaaten hat diese Bestimmung in angemessener Weise umgesetzt. In fünf Mitgliedstaaten jedoch wird durch die innerstaatlichen Vorschriften nicht sichergestellt, dass die Erklärung der Rechte grundlegende Informationen über die Möglichkeit enthält, die Rechtmäßigkeit der Festnahme anzufechten, eine Haftprüfung zu erwirken oder einen Antrag auf vorläufige Haftentlassung zu stellen. In einem Mitgliedstaat, in dem es keine eigentliche Erklärung der Rechte gibt (siehe 3.4.1), werden Verdächtige oder beschuldigte Personen hierüber nicht belehrt.
3.4.4.Art und Weise der Abfassung der Erklärung der Rechte – Musterbeispiel –Artikel 4 Absatz 4
Gemäß Artikel 4 Absatz 4 der Richtlinie muss die Erklärung der Rechte in einfacher und verständlicher Sprache abgefasst werden. Darüber hinaus enthält Anhang I der Richtlinie ein Musterbeispiel einer Erklärung der Rechte.
In den meisten Mitgliedstaaten ist festgelegt, dass eine Erklärung der Rechte in einfacher und verständlicher Sprache abzufassen ist. Zwölf Mitgliedstaaten schreiben dies in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften ausdrücklich vor, bei acht Mitgliedstaaten könnte es aus dem tatsächlichen Inhalt der Mustererklärung der Rechte geschlossen werden.
In fünf Mitgliedstaaten jedoch wird durch die innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht festgelegt, dass schriftliche Informationen in einfacher und verständlicher Sprache bereitzustellen sind, und da ein nationales Musterbeispiel fehlte, konnte die Erfüllung dieser Anforderung nicht festgestellt werden. In einem Mitgliedstaat, in dem es keine eigentliche Erklärung der Rechte gibt (siehe 3.4.1), wird diese Anforderung nicht erfüllt.
3.4.5.Sprache der Erklärung der Rechte – Artikel 4 Absatz 5
Gemäß Artikel 4 Absatz 5 der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen die schriftliche Erklärung der Rechte in einer Sprache erhalten, die sie verstehen. Ist die Erklärung der Rechte nicht in der entsprechenden Sprache verfügbar, so müssen Verdächtige oder beschuldigte Personen in einer Sprache, die sie verstehen, mündlich über ihre Rechte belehrt werden. Anschließend muss ihnen ohne unnötige Verzögerung eine Erklärung der Rechte in einer Sprache, die sie verstehen, ausgehändigt werden.
Dreizehn Mitgliedstaaten haben diese Bestimmung ordnungsgemäß umgesetzt. Drei Mitgliedstaaten haben sie nicht umgesetzt. Einige andere haben diesen Artikel insofern nicht vollständig umgesetzt, als sie zum Beispiel nicht sicherstellen, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen mündliche Informationen in einer für sie verständlichen Sprache erteilt werden, wenn die Erklärung der Rechte nicht in der richtigen Sprache vorliegt, und dass anschließend eine Übersetzung der Erklärung der Rechte bereitgestellt wird. Darüber hinaus schreiben einige Mitgliedstaaten nicht vor, dass eine Übersetzung der Erklärung der Rechte ohne unnötige Verzögerung bereitzustellen ist. In einem Mitgliedstaat schließlich müssen Informationen nur dann mündlich bereitgestellt werden, wenn die Person nicht lesen oder schreiben kann, nicht aber in Fällen, in denen die Informationen in der betreffenden Sprache nicht vorliegen.
3.5.Erklärung der Rechte in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (Artikel 5)
Nach Artikel 5 der Richtlinie müssen Personen, die zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden, eine Erklärung der Rechte erhalten, in der ihre Rechte gemäß dem jeweiligen Gesetz, mit dem der Rahmenbeschluss 2002/584/JI umgesetzt wird, aufgeführt sind. Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie sieht vor, dass die Unterrichtung unverzüglich erfolgen muss, während in Absatz 2 festgelegt ist, dass die Erklärung der Rechte in einfacher und verständlicher Sprache abgefasst werden muss, und auf das Musterbeispiel der Erklärung in Anhang II verwiesen wird.
3.5.1.Bereitstellung der Erklärung der Rechte in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls – Artikel 5 Absatz 1
Die Mehrzahl der Mitgliedstaaten hat diese Bestimmung in angemessener Weise umgesetzt. Mehrere Mitgliedstaaten nehmen auf die Erklärung der Rechte wörtlich Bezug, während andere abweichende Begrifflichkeiten wie „Erklärung“, „schriftliche Unterrichtung“, „schriftliche Mitteilung“, „schriftliche Bekanntgabe“ oder „Merkblatt“ verwenden.
Die Anforderung, die Erklärung „unverzüglich“ bereitzustellen (in einigen Fällen mit anderen Worten ausgedrückt, etwa „unmittelbar“, „ohne unnötige Verzögerung“, „zum Zeitpunkt der Bekanntgabe“, „bei Erhalt“, „so bald wie möglich“ oder „so bald wie praktisch möglich“), wurde von den meisten Mitgliedstaaten umgesetzt. Drei Mitgliedstaaten erfüllen diese Anforderung jedoch nicht.
In mehreren Mitgliedstaaten bestehen keine gesonderten Bestimmungen zu der Verpflichtung, Verdächtige und beschuldigte Personen über ihre Rechte in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu belehren. Im Falle einer „Brückenbestimmung“ gelten die Vorschriften für Strafverfahren auch für Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls. Dies gibt Anlass zu Bedenken, da der Inhalt der Erklärung der Rechte nach Artikel 4 der Richtlinie von der in Artikel 5 vorgesehenen Erklärung abweicht.
Schließlich schreibt ein Mitgliedstaat für Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls keine Erklärung der Rechte vor. In zwei weiteren Mitgliedstaaten ist nicht eindeutig festgelegt, ob die maßgeblichen Informationen schriftlich bereitgestellt werden müssen.
3.5.2.Art und Weise der Abfassung der Erklärung der Rechte – Musterbeispiel –Artikel 5 Absatz 2
Gemäß Artikel 5 Absatz 2 der Richtlinie muss die Erklärung der Rechte in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in einfacher und verständlicher Sprache abgefasst werden. Darüber hinaus enthält Anhang II der Richtlinie ein Musterbeispiel einer Erklärung der Rechte.
Die meisten Mitgliedstaaten sehen eine Erklärung der Rechte vor, die in einfacher und verständlicher Sprache abzufassen ist. Elf Mitgliedstaaten haben diese Anforderung ausdrücklich in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften niedergelegt, bei sechs Mitgliedstaaten könnte es aus dem tatsächlichen Inhalt der Mustererklärung der Rechte geschlossen werden.
Bei den übrigen Mitgliedstaaten jedoch wird durch die innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht sichergestellt, dass die schriftliche Belehrung in einfacher und verständlicher Sprache erfolgt. Da ein nationales Musterbeispiel fehlt, konnte nicht festgestellt werden, ob diese Anforderung erfüllt wird.
3.6.Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf (Artikel 6)
Nach Artikel 6 der Richtlinie besteht die Verpflichtung, Verdächtige und beschuldigte Personen über den Tatvorwurf und diesbezügliche Änderungen zu unterrichten.
3.6.1.Umgehende und detaillierte Unterrichtung über die strafbare Handlung – Artikel 6 Absatz 1
Gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung muss umgehend und so detailliert erfolgen, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte sichergestellt werden.
Alle Mitgliedstaaten bis auf zwei sind der Verpflichtung nachgekommen, eine umgehende Unterrichtung über den Tatvorwurf vorzusehen. Viele Mitgliedstaaten haben eine andere Formulierung gewählt, etwa „so bald wie möglich“, „unverzüglich“, „ohne unnötige Verzögerung“, „im kürzestmöglichen Zeitraum“ oder „dringend“, sehen die Unterrichtung im Allgemeinen aber dennoch spätestens vor der ersten Befragung vor.
Umfang und Inhalt der Unterrichtung unterscheiden sich je nach innerstaatlichem Recht. Einige Mitgliedstaaten haben ausführlichere Vorschriften eingeführt und gehen bei der Unterrichtung von Verdächtigen oder beschuldigten Personen über die Anforderungen der Richtlinie hinaus.
3.6.2.Unterrichtung über die Gründe für die Festnahme oder Inhaftierung und über die strafbare Handlung – Artikel 6 Absatz 2
Gemäß Artikel 6 Absatz 2 der Richtlinie haben Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, das Recht, über die Gründe für ihre Festnahme oder Inhaftierung, einschließlich über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, unterrichtet zu werden.
Die meisten Mitgliedstaaten schreiben vor, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen bei Freiheitsentzug über die Gründe für ihre Festnahme oder Inhaftierung unterrichtet werden müssen. In zwei Mitgliedstaaten jedoch ist dieses Recht nur für inhaftierte Personen, nicht aber für festgenommene Personen ausdrücklich vorgesehen. In einem Mitgliedstaat werden Personen erst dann über die Gründe für ihre Festnahme oder Inhaftierung unterrichtet, wenn sie an die Strafvollzugseinrichtungen übergeben werden. In einem anderen Mitgliedstaat schließlich ist im innerstaatlichen Recht zwar festgelegt, dass die festgenommene oder inhaftierte Person über die Sachlage unterrichtet werden sollte, nicht aber, dass die Gründe für die Festnahme oder Inhaftierung angegeben werden müssen.
3.6.3.Unterrichtung über den Tatvorwurf: die Art und die rechtliche Beurteilung der Straftat sowie die Art der Beteiligung – Artikel 6 Absatz 3
Gemäß Artikel 6 Absatz 3 der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden. Diese Unterrichtung muss spätestens dann erfolgen, wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird.
Die Mehrzahl der Mitgliedstaaten hat diese Bestimmung ordnungsgemäß umgesetzt. In mehreren Mitgliedstaaten bestehen Abweichungen bezüglich des Zeitpunkts, zu dem die Unterrichtung über den Tatvorwurf erfolgt. In sechs Mitgliedstaaten wird die Anklageschrift zunächst von der Staatsanwaltschaft an das Gericht übermittelt und erst anschließend an die beschuldigte Person. In einem Mitgliedstaat ist es möglich, dass die beschuldigte Person über den Tatvorwurf erst kurz vor der Anklageerhebung vor Gericht unterrichtet wird. In zwei Mitgliedstaaten ist nicht klar, ob der beschuldigten Person die Entscheidung spätestens dann übermittelt wird, wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird. In einem Mitgliedstaat schließlich erfolgt eine ausführliche Unterrichtung über den Tatvorwurf spätestens bei der Hauptanhörung zu dem Verfahren oder der Rechtssache vor Gericht.
Die Auslegung der Formulierung „spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird“ war Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens des Gerichtshofs. Der Gerichtshof stellte fest, dass „Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen [ist], dass er dem nicht entgegensteht, dass der Verteidigung erst nach Einreichung der Anklageschrift bei Gericht detaillierte Informationen über den Tatvorwurf erteilt werden, aber bevor das Gericht mit der inhaltlichen Prüfung des Tatvorwurfs beginnt und bevor die Verhandlung vor ihm aufgenommen wird, oder sogar nach Beginn der Verhandlung, aber vor dem Eintritt in die abschließende Beratung, falls die erteilten Informationen später geändert werden, vorausgesetzt, dass das Gericht alles Erforderliche unternimmt, um die Verteidigungsrechte und die Fairness des Verfahrens zu wahren.“
In einigen wenigen Mitgliedstaaten ergeben sich Fragen im Hinblick auf den Inhalt der erteilten Informationen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht festlegen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen ausführlich über den Tatvorwurf unterrichtet werden müssen, und keine Festlegungen zur Art und rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie zur Art der Beteiligung der beschuldigten Person enthalten. In den innerstaatlichen Rechtsvorschriften einiger Mitgliedstaaten bestehen weiterhin allgemeine Unklarheiten dahin gehend, wie ausführlich die über Entscheidungen zu erteilenden Informationen sein müssen.
Schließlich war die Frage, wie Personen ohne festen Wohnsitz oder Aufenthaltsort in dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu unterrichten sind, Gegenstand von zwei Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof.
3.6.4.Erteilung geänderter Informationen – Artikel 6 Absatz 4
Gemäß Artikel 6 Absatz 4 der Richtlinie müssen Verdächtigen oder beschuldigten Personen Änderungen der Informationen über den Tatvorwurf umgehend mitgeteilt werden, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.
Die Mehrzahl der Mitgliedstaaten hat diese Bestimmung ordnungsgemäß umgesetzt, aber in fünf Mitgliedstaaten konnten keine Umsetzungsmaßnahmen festgestellt werden. In mehreren anderen Mitgliedstaaten ergeben sich Bedenken daraus, dass nur bestimmte Änderungen mitgeteilt werden müssen (z. B. Änderungen bei der rechtlichen Beurteilung) oder dass kein Zeitpunkt für die Erteilung der Informationen festgelegt ist.
3.7.Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte (Artikel 7)
Artikel 7 der Richtlinie enthält Vorschriften zur Einsicht in die Verfahrensakte.
3.7.1.Recht auf Einsicht in Unterlagen, die für die Anfechtung der Festnahme oder Inhaftierung wesentlich sind – Artikel 7 Absatz 1
Gemäß Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie müssen in Fällen, in denen eine Person in irgendeinem Stadium des Strafverfahrens festgenommen und inhaftiert wird, die Unterlagen zu dem gegenständlichen Fall, die sich im Besitz der zuständigen Behörden befinden und für eine wirksame Anfechtung der Festnahme oder Inhaftierung gemäß dem innerstaatlichen Recht wesentlich sind, den festgenommenen Personen oder ihren Rechtsanwälten zur Verfügung gestellt werden.
Die Bewertung der einzelstaatlichen Umsetzungsmaßnahmen zeigt, dass in verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedliche Auffassungen über den Begriff „wesentliche Unterlagen“ und den Umfang der Einsicht allgemein herrschen.
Nur wenige Mitgliedstaaten legen das Kriterium der Wesentlichkeit von Unterlagen fest. Ein Mitgliedstaat führt eine Liste der wesentlichen Unterlagen auf, ein anderer definiert und benennt sie explizit. In zwei weiteren Rechtssystemen wird ebenfalls eine Definition angegeben, aber die Entscheidung in der Angelegenheit obliegt dem Verwahrungsbeamten oder dem Gericht. In den übrigen Mitgliedstaaten wird nicht definiert, welche Unterlagen als wesentlich gelten.
Darüber hinaus ist es in einigen Mitgliedstaaten zulässig, die Einsicht in wesentliche Unterlagen zu verweigern. In mehreren Mitgliedstaaten erstrecken sich die bezüglich der Einsicht in die Verfahrensakte bestehenden Beschränkungen (siehe unten, 3.7.2, zu Artikel 7 Absatz 2 sowie 3.7.4 zu Artikel 7 Absatz 4) auch auf Unterlagen, die für eine Anfechtung der Festnahme oder Inhaftierung wesentlich sind. Die fallverantwortlichen Behörden können die Einsicht in wesentliche Unterlagen verweigern, wenn dadurch die grundlegenden Rechte oder Interessen anderer Personen verletzt oder andere Ermittlungen ernsthaft gefährdet werden könnten. Im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist nicht ausgeschlossen, dass Teile der Verfahrensakte unter Verschluss gehalten werden, um zu verhindern, dass Verdächtige Beweismaterial manipulieren und den Verfahrensablauf behindern. Eine solche Verweigerung der Einsicht darf jedoch nicht stattfinden, wenn dies eine wesentliche Beschränkung der Verteidigungsrechte zur Folge hätte. In einigen Fällen wird auf das Vorliegen von „Ausgleichsfaktoren“ hingewiesen, die dafür sorgen sollten, dass die Person oder ihr Rechtsbeistand die Inhaftierung wirksam anfechten können.
Andere Fragestellungen, die sich aus dieser Bestimmung ergeben, betreffen den Zeitpunkt der Einsicht in die wesentlichen Unterlagen. Während in Artikel 7 Absatz 1 von „irgendeinem Stadium des Strafverfahrens“ die Rede ist, wird in einigen Mitgliedstaaten Einsicht in wesentliche Unterlagen erst nach den ersten Vernehmungen oder sogar erst nach Abschluss der Voruntersuchung gewährt. In einem Mitgliedstaat können festgenommene Personen, die sich in Polizeigewahrsam befinden, nicht alle wesentlichen Unterlagen einsehen.
3.7.2.Recht auf Einsicht in alle Beweismittel – Artikel 7 Absatz 2
Gemäß Artikel 7 Absatz 2 der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder ihren Rechtsanwälten Einsicht in zumindest alle im Besitz der zuständigen Behörden befindlichen Beweismittel gewährt wird, um ein faires Verfahren zu gewährleisten und ihre Verteidigung vorzubereiten.
Die Mehrzahl der Mitgliedstaaten hat diese Bestimmung vollständig umgesetzt. Probleme ergeben sich jedoch in Fällen, in denen Einsicht in die Verfahrensakte zwar gewährt wird, aber die Fallakte nicht alle Beweismittel enthält. In manchen Fällen wird für Beweismittel, die nicht in der Verfahrensakte enthalten sind, keine Einsicht oder Einsicht erst während der Verhandlung gewährt.
Wie bereits erwähnt (siehe 3.7.1) erhält in einem Mitgliedstaat nur der Rechtsanwalt vollständige Einsicht in die Verfahrensakte. Verdächtige oder beschuldigte Personen, die nicht von einem Rechtsanwalt vertreten werden, können nicht die vollständige Akte einsehen, sondern nur ausgewählte Unterlagen.
Schließlich ergeben sich Bedenken auch daraus, dass bestimmte Mitgliedstaaten weit gefasste Ausnahmeregelungen für das Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte anwenden (siehe 3.7.4.).
3.7.3.Rechtzeitiger Zugang zu allen Beweismitteln – Artikel 7 Absatz 3
Gemäß Artikel 7 Absatz 3 der Richtlinie muss der Zugang zu den Beweismitteln unbeschadet des Absatzes 1 so rechtzeitig gewährt werden, dass die Verteidigungsrechte wirksam wahrgenommen werden können, spätestens aber bei Einreichung der Anklageschrift bei Gericht. Gelangen weitere Beweismittel in den Besitz der zuständigen Behörden, so muss Zugang so rechtzeitig gewährt werden, dass diese Beweismittel geprüft werden können.
Die Mehrzahl der Mitgliedstaaten hat die Bestimmung ordnungsgemäß umgesetzt.
Allerdings besteht in den einzelstaatlichen Rechtssystemen weiterhin eine Reihe von Unterschieden. In einem Mitgliedstaat ist keine Frist für den Zugang zur Verfahrensakte festgelegt, in einigen anderen wird Einsicht erst gewährt, nachdem die Voruntersuchung abgeschlossen und die Anklageschrift angenommen oder bekannt gegeben wurde. In diesem Zusammenhang stellte der Gerichtshof in der bereits erwähnten Rechtssache Kolev fest, dass „Art. 7 Abs. 3 dieser Richtlinie ... dahin auszulegen [ist], dass das nationale Gericht sich vergewissern muss, dass die Verteidigung tatsächlich die Möglichkeit zur Einsicht in die Verfahrensakte erhält, wobei diese Akteneinsicht gegebenenfalls nach Einreichung der Anklageschrift bei Gericht erfolgen kann, aber bevor das Gericht mit der inhaltlichen Prüfung des Tatvorwurfs beginnt und bevor die Verhandlung vor ihm aufgenommen wird, oder sogar nach Beginn der Verhandlung, aber vor dem Eintritt in die abschließende Beratung, falls im gerichtlichen Verfahren neue Beweise zu den Akten genommen werden, vorausgesetzt, dass das Gericht alles Erforderliche unternimmt, um die Verteidigungsrechte und die Fairness des Verfahrens zu wahren“.
Ferner wird in einem anderen Mitgliedstaat der Zugang im Stadium vor der Verhandlung nur gewährt, wenn dies aufgrund der Sachlage des Einzelfalls im Interesse der Rechtspflege ist, wie es in der entsprechenden Regelung heißt. Schließlich bestehen in zwei einzelstaatlichen Rechtssystemen keine eindeutigen Festlegungen zum Zugang zu Beweismitteln und die Frage, wann und in welchem Umfang Einsicht in die Akte gewährt wird, bleibt offen.
3.7.4.Ausnahmen vom Recht auf Zugang zu allen Beweismitteln aufgrund einer Entscheidung, die von einer Justizbehörde getroffen wird oder einer richterlichen Prüfung unterliegt – Artikel 7 Absatz 4
Gemäß Artikel 7 Absatz 4 der Richtlinie kann abweichend von den Absätzen 2 und 3, sofern das Recht auf ein faires Verfahren dadurch nicht beeinträchtigt wird, die Einsicht in bestimmte Unterlagen verweigert werden, wenn diese Einsicht das Leben oder die Grundrechte einer anderen Person ernsthaft gefährden könnte oder wenn dies zum Schutz eines wichtigen öffentlichen Interesses unbedingt erforderlich ist, wie beispielsweise in Fällen, in denen laufende Ermittlungen gefährdet werden könnten oder in denen die nationale Sicherheit der Mitgliedstaaten, in denen das Verfahren stattfindet, ernsthaft beeinträchtigt werden könnte. Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass im Einklang mit den Verfahren des innerstaatlichen Rechts die Entscheidung, die Einsicht in bestimmte Unterlagen gemäß diesem Absatz zu verweigern, von einer Justizbehörde getroffen wird oder zumindest einer richterlichen Prüfung unterliegt. Die Ausnahme gemäß Artikel 7 Absatz 4 ist anwendbar, sofern das Recht auf ein faires Verfahren dadurch nicht beeinträchtigt wird.
Die Bewertung der nationalen Umsetzungsmaßnahmen zeigt, dass Artikel 7 Absatz 4 zu den Bestimmungen zählt, bei denen die größten Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bestehen. Während zehn Mitgliedstaaten eine Verweigerung der Einsicht aus den in der Richtlinie genannten Gründen zulassen, wenden andere einen weniger restriktiven Ansatz an.
Was die Verweigerung der Akteneinsicht anbelangt, wenn diese Einsicht das Leben oder die Grundrechte einer Person ernsthaft gefährden könnte, schreiben manche Mitgliedstaaten als Bedingung eine „ernste Gefahr für das Leben, die Gesundheit, die physische Unversehrtheit oder die Freiheit einer Person“ oder „ein Risiko für Personen und eine schwerwiegende Verletzung ihrer Privatsphäre“ vor. In anderen Rechtssystemen dagegen muss die „Gefährdung“ bzw. das „Risiko“ nicht schwerwiegend sein. Einige Mitgliedstaaten sehen vor, dass „private Interessen oder die Interessen anderer Personen“ geltend gemacht werden können.
In mehreren Mitgliedstaaten kann die Einsicht aufgrund der „Gefahr der Druckausübung auf Opfer oder der Bedrohung von Opfern, Zeugen oder anderen am Verfahren beteiligten Personen“ beschränkt werden.
Was die Verweigerung der Akteneinsicht anbelangt, wenn dies zum Schutz eines wichtigen öffentlichen Interesses erforderlich ist, beziehen sich nur wenige Mitgliedstaaten ausdrücklich auf ein „wichtiges“ öffentliches Interesse, während die Mehrheit allgemeiner von einem „öffentlichen Interesse“ oder einem „Interesse der Gesellschaft“ spricht. In einigen Mitgliedstaaten gelten Gründe der „nationalen Sicherheit“ als Begründung für eine Verweigerung, in einem Rechtssystem daneben auch Gründe der „Verteidigung“.
Viele Mitgliedstaaten verweigern die Einsicht auch dann, wenn dadurch eine laufende Ermittlung beeinträchtigt werden könnte. In den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften ist von einer allgemeinen Beeinträchtigung, Gefährdung oder Schädigung der betreffenden Ermittlung selbst die Rede. In einigen Rechtssystemen können sich diese Gründe auch auf andere Ermittlungen beziehen. Es werden auch allgemeinere Formulierungen wie „schwerwiegende Gründe“ verwendet, ohne diese weiter zu erläutern.
Schließlich wird die Anforderung, dass die Entscheidung zur Einsichtverweigerung in Unterlagen von einer Justizbehörde zu treffen ist oder zumindest einer richterlichen Prüfung unterliegen muss, von fast allen Mitgliedstaaten eingehalten. Einige wenige Mitgliedstaaten sehen im Stadium der polizeilichen Ermittlung keine richterliche Prüfung vor. In diesen Fällen werden Rechtsbehelfe durch den Staatsanwalt oder Oberstaatsanwalt geprüft.
3.7.5.Unentgeltliche Einsicht in die Unterlagen – Artikel 7 Absatz 5
Gemäß Artikel 7 Absatz 5 der Richtlinie muss die Einsichtnahme in die Verfahrensakte unentgeltlich gewährt werden.
Die meisten Mitgliedstaaten haben diese Anforderung ordnungsgemäß umgesetzt. In einigen wenigen Mitgliedstaaten jedoch wurden Probleme der Nichtübereinstimmung festgestellt, die häufig die Kosten für die Vervielfältigung der Akte betrafen.
3.8.Aufzeichnung und Rechtsbehelfe (Artikel 8)
Gemäß Artikel 8 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, jegliche Belehrung oder Unterrichtung der Verdächtigen oder beschuldigten Personen aufzuzeichnen. Durch den Artikel wird auch sichergestellt, dass das Versäumnis oder die Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie anfechtbar ist.
3.8.1.Aufzeichnungspflicht – Artikel 8 Absatz 1
Gemäß Artikel 8 Absatz 1 der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass eine Belehrung oder Unterrichtung der Verdächtigen oder beschuldigten Personen, die gemäß den Artikeln 3 bis 6 der Richtlinie erfolgt, gemäß dem Verfahren für Aufzeichnungen nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats schriftlich festgehalten wird.
Die Mehrzahl der Mitgliedstaaten hat diese Bestimmung im Einklang mit der Richtlinie umgesetzt. Im Rahmen der Aufzeichnungen wird in der Regel Folgendes festgehalten: der Sachverhalt der Belehrung über die in Artikel 3 der Richtlinie aufgeführten Rechte, die Bereitstellung der Erklärung der Rechte in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls sowie der Sachverhalt und der Umfang der Unterrichtung über den Tatvorwurf. In einigen Mitgliedstaaten bestehen allgemeine Bestimmungen zur Aufzeichnungspflicht, in anderen sind besondere Klauseln festgelegt und in wieder anderen gelten sowohl allgemeine als auch spezifischere innerstaatliche Bestimmungen.
Probleme der Übereinstimmung ergeben sich in bestimmten Mitgliedstaaten daraus, dass die innerstaatlichen Bestimmungen nicht spezifisch oder präzise genug sind. In bestimmten Mitgliedstaaten besteht bei bestimmten Arten oder in bestimmten Stadien von Strafverfahren keine Aufzeichnungspflicht.
3.8.2. Verfahren zur Anfechtung des Versäumnisses oder der Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung durch die zuständigen Behörden – Artikel 8 Absatz 2
Gemäß Artikel 8 Absatz 2 der Richtlinie muss sichergestellt werden, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten.
Im Wesentlichen haben die Mitgliedstaaten diese Bestimmung ordnungsgemäß umgesetzt. In den meisten Mitgliedstaaten besteht ein allgemeines Recht, die Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung oder entsprechende Unterlassungen durch die zuständigen Behörden anzufechten. Dies schließt auch das Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie ein. In anderen Mitgliedstaaten bestehen spezielle Vorschriften im Hinblick auf das Recht, derartige Versäumnisse oder Unterlassungen anzufechten.
In einigen wenigen Mitgliedstaaten ergeben sich jedoch Probleme. Dazu gehören beispielsweise Fälle, in denen das Recht auf Anfechtung einer unterlassenen Belehrung oder Unterrichtung nicht in innerstaatliches Recht umgesetzt wurde oder in denen sich das Recht auf Anfechtung eines etwaigen Versäumnisses oder einer etwaigen Verweigerung der Belehrung oder Unterrichtung durch die zuständigen Behörden nur auf bestimmte Rechte oder bestimmte Arten von Verfahren bezieht, während andere ausgeschlossen sind.
3.9.Schulung (Artikel 9)
Gemäß Artikel 9 der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten diejenigen, die für die Weiterbildung von an Strafverfahren beteiligten Richtern, Staatsanwälten, Polizeibeamten und Justizbediensteten zuständig sind, auffordern, geeignete Schulungen im Hinblick auf die Ziele dieser Richtlinie anzubieten.
Insgesamt betrachtet wurde diese Bestimmung von der Mehrzahl der Mitgliedstaaten nicht ausdrücklich umgesetzt. Allerdings sehen ihre innerstaatlichen Rechtsrahmen in der Regel Maßnahmen des nicht zwingenden Rechts vor, mit denen Schulungsprogramme für Justizbedienstete umgesetzt werden.
4.Schlussfolgerungen
Mit der Einführung der Richtlinie sollte die Anwendung des Rechts von Verdächtigen oder beschuldigten Personen auf Belehrung oder Unterrichtung in Strafverfahren sichergestellt werden. Durch die Festlegung gemeinsamer europäischer Mindestnormen wirkt sich die Richtlinie erheblich auf den Schutz von Verdächtigen oder beschuldigten Personen in den Mitgliedstaaten aus, indem sie eine konsequentere Durchsetzung der Rechte und Garantien ermöglicht, die in den Artikeln 47 und 48 der Charta der Grundrechte sowie in Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention festgelegt sind. Auf diese Weise trägt die Richtlinie zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei, wie in dem Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigten oder Beschuldigten in Strafverfahren festgelegt ist. Insgesamt betrachtet hat die Richtlinie einen EU-Mehrwert erbracht, indem sie den Schutz von an Strafverfahren beteiligten Bürgern verbessert hat, insbesondere in einigen Mitgliedstaaten, in denen das Recht auf Belehrung oder Unterrichtung (einschließlich des Rechts auf Einsicht in die Verfahrensakte) zuvor entweder nicht bestand oder nicht ausführlich geregelt war.
In welchem Maße sich die Richtlinie auf die einzelnen Mitgliedstaaten auswirkt, unterscheidet sich abhängig von den jeweiligen innerstaatlichen Strafrechtssystemen. Die Bewertung macht deutlich, dass im Zusammenhang mit wesentlichen Bestimmungen der Richtlinie in einigen Mitgliedstaaten weiterhin Schwierigkeiten bestehen. Dies betrifft insbesondere die Erklärung der Rechte in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf sowie das Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte.
Die Bewertung zeigt weiterhin, dass die Richtlinie derzeit nicht überarbeitet werden muss, aber ihre Anwendung in der Praxis noch weiter verbessert werden kann. Die Kommission wird die Einhaltung der Richtlinie durch die Mitgliedstaaten auch weiterhin überprüfen und alle geeigneten Maßnahmen ergreifen, um die Erfüllung ihrer Bestimmungen in der ganzen Europäischen Union sicherzustellen.