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Document 62023CJ0080

Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 28. November 2024.
Strafverfahren gegen V. S.
Vorabentscheidungsersuchen des Sofiyski gradski sad.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Richtlinie (EU) 2016/680 – Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c – Art. 8 Abs. 1 und 2 – Art. 10 – Beschuldigte Person – Polizeiliche Registrierung biometrischer und genetischer Daten – Zwangsweise Durchführung – Ziele der Verhütung und Aufdeckung von Straftaten – Auslegung des Urteils vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti (Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei) (C‑205/21, EU:C:2023:49) – Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung – Beurteilung der ‚unbedingten Erforderlichkeit‘ der Verarbeitung sensibler Daten – Rolle der zuständigen Behörden.
Rechtssache C-80/23.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:991

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

28. November 2024 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Richtlinie (EU) 2016/680 – Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c – Art. 8 Abs. 1 und 2 – Art. 10 – Beschuldigte Person – Polizeiliche Registrierung biometrischer und genetischer Daten – Zwangsweise Durchführung – Ziele der Verhütung und Aufdeckung von Straftaten – Auslegung des Urteils vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti (Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei) (C‑205/21, EU:C:2023:49) – Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung – Beurteilung der ‚unbedingten Erforderlichkeit‘ der Verarbeitung sensibler Daten – Rolle der zuständigen Behörden“

In der Rechtssache C‑80/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 14. Februar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Februar 2023, in dem Strafverfahren gegen

V. S.,

Beteiligter:

Ministerstvo na vatreshnite raboti, Glavna direktsia za borba s organiziranata prestapnost,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten Kammer I. Jarukaitis in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter D. Gratsias (Berichterstatter) und E. Regan,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: R. Stefanova-Kamisheva, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. März 2024,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der bulgarischen Regierung, vertreten durch T. Mitova und T. Tsingileva als Bevollmächtigte,

der ungarischen Regierung, vertreten durch Zs. Biró-Tóth und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Bouchagiar, C. Georgieva, H. Kranenborg und F. Wilman als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Juni 2024

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Buchst. a und Art. 10 der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates (ABl. 2016, L 119, S. 89, berichtigt in ABl. 2021, L 74, S. 36).

2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen V. S. in Bezug auf die zwangsweise Durchführung der Erhebung biometrischer und genetischer Daten von V. S. zum Zweck ihrer Registrierung.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Im 37. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680 heißt es:

„Personenbezogene Daten, die ihrem Wesen nach hinsichtlich der Grundrechte und Grundfreiheiten besonders sensibel sind, verdienen einen besonderen Schutz, da im Zusammenhang mit ihrer Verarbeitung erhebliche Risiken für die Grundrechte und Grundfreiheiten auftreten können. … Die Verarbeitung solcher Daten sollte … durch Rechtsvorschriften erlaubt sein, wenn die betroffene Person der Datenverarbeitung, die besonders stark in ihre Privatsphäre eingreift, ausdrücklich zugestimmt hat. Die Einwilligung der betroffenen Person allein sollte jedoch noch keine rechtliche Grundlage für die Verarbeitung solch sensibler personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden liefern.“

4

Art. 1 („Gegenstand und Ziele“) Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 sieht vor:

„Diese Richtlinie enthält Bestimmungen zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit.“

5

Art. 3 der Richtlinie 2016/680 bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

7.   ‚zuständige Behörde‘

a)

eine staatliche Stelle, die für die Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder die Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, zuständig ist, oder

b)

eine andere Stelle oder Einrichtung, der durch das Recht der Mitgliedstaaten die Ausübung öffentlicher Gewalt und hoheitlicher Befugnisse zur Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder zur Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, übertragen wurde;

…“

6

Art. 4 („Grundsätze in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten“) Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass personenbezogene Daten

a)

auf rechtmäßige Weise und nach Treu und Glauben verarbeitet werden,

b)

für festgelegte, eindeutige und rechtmäßige Zwecke erhoben und nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise verarbeitet werden,

c)

dem Verarbeitungszweck entsprechen, maßgeblich und in Bezug auf die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, nicht übermäßig sind,

…“

7

Art. 6 („Unterscheidung verschiedener Kategorien betroffener Personen“) der Richtlinie 2016/680 ist wie folgt gefasst:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass der Verantwortliche gegebenenfalls und so weit wie möglich zwischen den personenbezogenen Daten verschiedener Kategorien betroffener Personen klar unterscheidet, darunter:

a)

Personen, gegen die ein begründeter Verdacht besteht, dass sie eine Straftat begangen haben oder in naher Zukunft begehen werden,

…“

8

Art. 8 („Rechtmäßigkeit der Verarbeitung“) der Richtlinie 2016/680 lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die Verarbeitung nur dann rechtmäßig ist, wenn und soweit diese Verarbeitung für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich ist, die von der zuständigen Behörde zu den in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecken wahrgenommenen wird, und auf Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts der Mitgliedstaaten erfolgt.

(2)   Im Recht der Mitgliedstaaten, das die Verarbeitung innerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie regelt, werden zumindest die Ziele der Verarbeitung, die personenbezogenen Daten, die verarbeitet werden sollen, und die Zwecke der Verarbeitung angegeben.“

9

Art. 10 („Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten“) der Richtlinie 2016/680 bestimmt:

„Die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische oder ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbeitung von genetischen Daten, biometrischen Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung ist nur dann erlaubt, wenn sie unbedingt erforderlich ist und vorbehaltlich geeigneter Garantien für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person erfolgt und

a)

wenn sie nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten zulässig ist,

b)

der Wahrung lebenswichtiger Interessen der betroffenen oder einer anderen natürlichen Person dient oder

c)

wenn sie sich auf Daten bezieht, die die betroffene Person offensichtlich öffentlich gemacht hat.“

Bulgarisches Recht

NK

10

Nach Art. 11 Abs. 2 des Nakazatelen kodeks (Strafgesetzbuch) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: NK) ist eine Straftat vorsätzlich begangen, wenn sich der Täter einer Handlung ihrer Art bewusst war und den Eintritt des strafbaren Erfolgs beabsichtigte oder zuließ. Bei den meisten Straftaten nach dem NK handelt es sich um vorsätzliche Straftaten.

NPK

11

Art. 46 Abs. 1 und Art. 80 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: NPK) sehen vor, dass Straftaten entweder von Amts wegen – d. h. die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage – oder im Wege der Privatklage verfolgt werden. Nahezu sämtliche Straftaten nach dem NK werden von Amts wegen verfolgt.

12

Art. 219 Abs. 1 NPK sieht vor, dass, „wenn hinreichende Beweise dafür vorliegen, dass eine bestimmte Person eine von Amts wegen zu verfolgende Straftat begangen hat“, diese Person beschuldigt wird und über die Beschuldigung in Kenntnis gesetzt wird. Sie kann verschiedenen verfahrensrechtlichen Zwangsmaßnahmen unterworfen werden, gegen die sie sich durch die Abgabe von Erklärungen oder die Vorlage von Beweismitteln verteidigen kann.

13

Nach dem NPK bedürfen Ermittlungsmaßnahmen, die im Laufe des Ermittlungsverfahrens des Strafverfahrens zur Beweiserhebung durchgeführt werden und die zu einer Verletzung der Privatsphäre natürlicher Personen führen, grundsätzlich der vorherigen Bewilligung durch ein Gericht.

14

Zu diesen Ermittlungsmaßnahmen gehört u. a. die in Art. 158 NPK vorgesehene Untersuchung einer Person. Diese Untersuchung dient im Wesentlichen der Feststellung der körperlichen Merkmale der Person und kann erforderlichenfalls die Aufnahme von Lichtbildern, die Abnahme von Fingerabdrücken und die Entnahme einer Probe für ein DNA-Profil umfassen. Die Untersuchung wird mit Zustimmung der Person durchgeführt. Wenn die Person sich weigert, wird die Untersuchung unter dem Vorbehalt der vorherigen Bewilligung des Gerichts zwangsweise durchgeführt, außer in dringenden Fällen, in denen eine nachträgliche Genehmigung durch das Gericht einzuholen ist.

15

In diesem Zusammenhang wird die Strafverfahrensakte dem zuständigen Gericht vorgelegt, das das gesamte Aktenmaterial prüfen kann, um zu beurteilen, ob der Antrag auf vorherige Bewilligung oder nachträgliche Genehmigung begründet ist.

ZMVR

16

Nach Art. 6 des Zakon sa Ministerstvo na vatreshnite raboti (Gesetz über das Innenministerium) (DV Nr. 53 vom 27. Juni 2014) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZMVR) übt das Innenministerium bestimmte Haupttätigkeiten aus, darunter eine operative Untersuchungstätigkeit, eine Überwachungstätigkeit und eine Ermittlungstätigkeit in Bezug auf Straftaten sowie eine Informationstätigkeit.

17

Nach Art. 27 ZMVR werden die von der Polizei nach Art. 68 ZMVR registrierten Daten ausschließlich im Rahmen des Schutzes der nationalen Sicherheit, der Kriminalitätsbekämpfung und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung verwendet.

18

Art. 68 ZMVR ist wie folgt gefasst:

„(1)   Die Polizeibehörden nehmen eine polizeiliche Registrierung der Personen vor, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden. …

(2)   Die polizeiliche Registrierung stellt eine Kategorie der Verarbeitung personenbezogener Daten der in Abs. 1 genannten Personen dar, die unter den Voraussetzungen dieses Gesetzes erfolgt.

(3)   Für die Zwecke der polizeilichen Registrierung nehmen die Polizeibehörden Folgendes vor:

1.

Erhebung der in Art. 18 des [Zakon za balgarskite lichni dokumenti (Gesetz über die bulgarischen Identitätsdokumente)] genannten personenbezogenen Daten;

2.

Abnahme von Fingerabdrücken und Aufnahme von Lichtbildern;

3.

Entnahme von Proben zur Erstellung eines DNA-Profils der Personen.

(4)   Für die Vornahme der in Abs. 3 Nr. 1 angeführten Tätigkeiten bedarf es keiner Zustimmung der Person.

(5)   Die Personen sind zur Zusammenarbeit verpflichtet und dürfen die Ausübung der in Abs. 3 angeführten Tätigkeiten durch die Polizeibehörden weder behindern noch erschweren. Im Fall der Weigerung der Person werden die in Abs. 3 Nrn. 2 und 3 angeführten Tätigkeiten zwangsweise vorgenommen, mit Bewilligung des zuständigen erstinstanzlichen Gerichts, in dessen Zuständigkeit die von Amts wegen verfolgte Straftat fällt, wegen der die Person beschuldigt wird.

…“

NRISPR

19

Die Naredba za reda za izvarshvane i snemane na politseyska registratsia (Verordnung zur Regelung der Einzelheiten der Durchführung der polizeilichen Registrierung) (DV Nr. 90 vom 31. Oktober 2014) in ihrer auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: NRISPR) legt die Einzelheiten der Vornahme der in Art. 68 ZMVR vorgesehenen polizeilichen Registrierung fest.

20

Nach Art. 11 Abs. 2 NRISPR wird der Person, die polizeilich registriert werden soll, eine auszufüllende Erklärung ausgehändigt, in der sie äußern kann, ob sie den Maßnahmen des Fotografierens, der Daktyloskopie und der Entnahme einer DNA-Probe zustimmt oder nicht zustimmt. Nach Art. 11 Abs. 4 NRISPR stellt die Polizei in dem Fall, dass die Person nicht zustimmt, beim zuständigen Gericht einen Antrag auf Bewilligung der zwangsweisen Durchführung dieser Maßnahmen.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

21

Mit Beschluss vom 1. März 2021 wurde V. S. auf der Grundlage von Art. 255 und Art. 321 Abs. 2 und 3 NK zur Beschuldigten erklärt, weil sie zusammen mit drei weiteren Personen an einer kriminellen Vereinigung beteiligt gewesen sein soll, die sich – im Rahmen der Tätigkeit von zwei Handelsgesellschaften – zu Bereicherungszwecken zum Ziel setzte, in abgestimmter Weise im bulgarischen Hoheitsgebiet Straftaten bei der Feststellung und Zahlung von Mehrwertsteuerschulden zu begehen.

22

Nach Zustellung des genannten Beschlusses, mit dem sie zur Beschuldigten erklärt wurde, wurde V. S. von den Polizeibehörden, den zuständigen Behörden im Sinne von Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie 2016/680, aufgefordert, sich der polizeilichen Registrierung gemäß Art. 68 ZMVR zu unterziehen. Ihr wurde ein Erklärungsformular vorgelegt, in dem sie angab, dass sie darüber informiert worden sei, dass es eine Rechtsgrundlage für die Vornahme dieser polizeilichen Registrierung gebe, und dass sie sich weigere, sich der Erhebung der sie betreffenden daktyloskopischen und fotografischen Daten zum Zweck ihrer Registrierung sowie der Entnahme von Proben zum Zweck der Erstellung ihres DNA-Profils zu unterziehen. Die Polizeibehörden nahmen die Erhebung nicht vor und wandten sich zwecks deren zwangsweiser Durchführung an den Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien).

23

In dem an dieses Gericht gerichteten Antrag der Polizeibehörden wurde darauf hingewiesen, dass hinreichende Beweise für die Schuld der in dem betreffenden Strafverfahren verfolgten Personen, einschließlich V. S., gesammelt worden seien. In dem Antrag wurde näher ausgeführt, dass V. S. offiziell wegen einer Straftat nach Art. 321 Abs. 3 Nr. 2 NK in Verbindung mit Abs. 2 dieses Artikels verfolgt werde und dass sie es abgelehnt habe, sich der Erhebung der sie betreffenden daktyloskopischen und fotografischen Daten zum Zweck ihrer Registrierung sowie der Entnahme von Proben zur Erstellung ihres DNA-Profils zu unterziehen, wobei die Rechtsgrundlage für die Erhebung dieser Daten angegeben wurde. Schließlich wurde das genannte Gericht mit diesem Antrag ersucht, die zwangsweise Durchführung dieser Erhebung zu bewilligen. Dem Antrag waren lediglich Kopien des Beschlusses über die Beschuldigung von V. S. und des von ihr ausgefüllten Erklärungsformulars als Anlagen beigefügt.

24

Da der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) Zweifel an der Vereinbarkeit des Verfahrens der polizeilichen Registrierung mit dem Unionsrecht hatte, legte er dem Gerichtshof mit Entscheidung vom 31. März 2021 ein Vorabentscheidungsersuchen vor.

25

Im Einzelnen wollte dieses Gericht mit seiner dritten Frage im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 sowie die Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die vorsehen, dass das zuständige Strafgericht im Fall der Weigerung einer Person, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt wird, freiwillig an der Erhebung der sie betreffenden biometrischen und genetischen Daten für die Zwecke ihrer Registrierung mitzuwirken, verpflichtet ist, die zwangsweise Durchführung dieser Erhebung zu bewilligen, ohne befugt zu sein, zu beurteilen, ob ein begründeter Verdacht besteht, dass die betreffende Person die Straftat, derer sie beschuldigt wird, begangen hat (Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti [Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei], C‑205/21, EU:C:2023:49, Rn. 77, im Folgenden: Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I).

26

Außerdem zielte seine vierte Frage im Wesentlichen darauf ab, festzustellen, ob Art. 10 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c sowie mit Art. 8 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, für die Zwecke ihrer Registrierung vorsehen, ohne die Verpflichtung der zuständigen Behörde vorzusehen, zum einen zu bestimmen und nachzuweisen, ob bzw. dass diese Erhebung für die Erreichung der konkret verfolgten Ziele erforderlich ist, und zum anderen, ob bzw. dass diese Ziele nicht durch die Erhebung nur eines Teils der betreffenden Daten erreicht werden können (Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I, Rn. 114).

27

Infolge einer am 27. Juli 2022 in Kraft getretenen Gesetzesänderung wurde der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) aufgelöst und das Ausgangsverfahren ab diesem Zeitpunkt auf den Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien), das vorlegende Gericht, übertragen.

28

In seiner Antwort auf die dritte Frage entschied der Gerichtshof im Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I (Rn. 110 und Nr. 2 des Tenors), dass Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 sowie die Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, die vorsehen, dass das zuständige Strafgericht im Fall der Weigerung einer Person, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt wird, freiwillig an der Erhebung der sie betreffenden biometrischen und genetischen Daten für die Zwecke ihrer Registrierung mitzuwirken, verpflichtet ist, eine Maßnahme der zwangsweisen Durchführung dieser Erhebung zu bewilligen, ohne befugt zu sein, zu beurteilen, ob ein begründeter Verdacht besteht, dass die betreffende Person die Straftat, derer sie beschuldigt wird, begangen hat, sofern das nationale Recht später eine wirksame gerichtliche Kontrolle der Voraussetzungen dieser Beschuldigung, aus denen sich die Bewilligung zur Erhebung dieser Daten ergibt, gewährleistet.

29

In seiner Antwort auf die vierte Frage stellte der Gerichtshof fest, dass nationale Rechtsvorschriften, die die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen vorsehen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, grundsätzlich gegen die Anforderung in Art. 10 der Richtlinie 2016/680 verstoßen, wonach die Verarbeitung der in dieser Vorschrift genannten besonderen Kategorien von Daten „nur“ dann erlaubt ist, „wenn sie unbedingt erforderlich ist“ (Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I, Rn. 128).

30

Hinsichtlich der vom vorlegenden Gericht aus dieser Erwägung zu ziehenden Konsequenzen stellte der Gerichtshof in Rn. 133 des genannten Urteils klar, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu prüfen, ob es, um die Wirksamkeit von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 zu gewährleisten, möglich ist, die nationalen Rechtsvorschriften, die diese zwangsweise Durchführung vorsehen, unionsrechtskonform auszulegen. Das vorlegende Gericht hat insbesondere zu prüfen, ob das nationale Recht die Beurteilung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Erhebung sowohl biometrischer als auch genetischer Daten der betreffenden Person für die Zwecke ihrer Registrierung erlaubt. Dazu müsste es u. a. möglich sein, zu prüfen, ob die Art und die Schwere der Straftat, derer die betroffene Person im Ausgangsverfahren verdächtigt wird, oder andere relevante Faktoren Umstände darstellen können, die eine solche „unbedingte Erforderlichkeit“ belegen können. Außerdem müsste gewiss sein, dass nicht bereits die Erhebung von Personenstandsdaten, die ebenfalls im Rahmen der polizeilichen Registrierung vorgesehen ist, die Erreichung der verfolgten Ziele ermöglicht.

31

In Rn. 134 desselben Urteils führte der Gerichtshof aus, dass das vorlegende Gericht die volle Wirksamkeit des genannten Art. 10 sicherzustellen haben wird, indem es den Antrag der Polizeibehörden auf Bewilligung der zwangsweisen Durchführung dieser Erhebung ablehnt, sollte das nationale Recht eine solche Kontrolle der Maßnahme der Erhebung biometrischer und genetischer Daten nicht gewährleisten.

32

In Anbetracht aller in den Rn. 116 bis 134 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I angeführten Gründe entschied der Gerichtshof daher in Beantwortung der vierten Frage, dass Art. 10 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c sowie mit Art. 8 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, für die Zwecke ihrer Registrierung vorsehen, ohne die Verpflichtung der zuständigen Behörde vorzusehen, zum einen zu überprüfen und nachzuweisen, ob bzw. dass diese Erhebung für die Erreichung der konkret verfolgten Ziele unbedingt erforderlich ist, und zum anderen, ob bzw. dass diese Ziele nicht durch Maßnahmen erreicht werden können, die einen weniger schwerwiegenden Eingriff in die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person darstellen (Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I, Rn. 135 und Nr. 3 des Tenors).

33

Im Anschluss an die Verkündung dieses Urteils fragt sich das vorlegende Gericht, welche Konsequenzen es im Hinblick auf die Entscheidung über den Antrag der Polizeibehörden auf zwangsweise Durchführung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Erhebung personenbezogener Daten aus der Antwort des Gerichtshofs auf die vierte Frage zu ziehen hat, insbesondere in Anbetracht der in Rn. 30 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Erwägungen.

34

Zum einen könne es die in dieser Randnummer genannten Prüfungen nicht auf der Grundlage der Dokumente vornehmen, die ihm von diesen Behörden übermittelt worden seien, d. h. des Beschlusses über die Beschuldigung von V. S. sowie des Erklärungsformulars, mit dem V. S. die Erhebung ihrer – in Rn. 23 des vorliegenden Urteils erwähnten – biometrischen und genetischen Daten abgelehnt habe. Dazu müsse es über die gesamte Verfahrensakte verfügen, was voraussetzen würde, dass es nicht die Spezialvorschrift, die im Rahmen des Verfahrens der polizeilichen Registrierung in Art. 68 Abs. 5 Satz 2 ZMVR vorgesehen sei, sondern die allgemeinen Vorschriften des NPK über die Erteilung einer vorherigen gerichtlichen Bewilligung zur Durchführung von Ermittlungshandlungen, die die Privatsphäre natürlicher Personen verletzen, insbesondere Art. 158 NPK, anwende.

35

Zum anderen weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Gerichtshof in den Rn. 100 und 101 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I entschieden habe, dass es nicht gegen Art. 47 der Charta verstoße, dass ein mit einem Antrag auf Bewilligung der zwangsweisen Durchführung der Erhebung biometrischer und genetischer Daten einer beschuldigten Person befasstes Gericht nicht über das Aktenmaterial verfüge, das zu dieser Beschuldigung geführt habe, und daher nicht in der Lage sei, diese Beweise zu würdigen.

36

Diese Erwägung beruhe jedoch auf der falschen Prämisse, dass die vom Gericht vorgenommene Würdigung der Beweise, die die Beschuldigung in der vorgerichtlichen Phase des Strafverfahrens rechtfertigten, den Ablauf der strafrechtlichen Ermittlungen, in denen diese Daten erhoben würden, behindern könne.

37

Insbesondere habe der bulgarische Gesetzgeber im Rahmen des Verfahrens nach Art. 158 NPK die Ausübung einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle sowie die Übermittlung der Verfahrensakten der Rechtssache an das Gericht vorgesehen, dies sei jedoch im Rahmen der polizeilichen Registrierung nicht der Fall. Die Gründe für diese unterschiedliche rechtliche Regelung seien zum einen, dass die Erhebung der Daten im Rahmen dieser Registrierung von der Polizei und nicht von der Staatsanwaltschaft beantragt werde, und zum anderen, dass die genannte Erhebung nur zum Zweck einer eventuellen künftigen Verwendung der betreffenden Daten, sollte sich die Notwendigkeit ergeben, erfolge. Hingegen habe das Fehlen einer solchen wirksamen gerichtlichen Kontrolle in einer derartigen Situation weder zum Ziel, das Ermittlungsgeheimnis zu wahren, noch, künftige Ermittlungsmaßnahmen im Rahmen des in Rede stehenden Strafverfahrens nicht zu behindern.

38

Unter diesen Umständen ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass es vor der Anforderung der Strafverfahrensakte von den zuständigen Behörden vom Gerichtshof die Bestätigung benötige, dass ein solches Ansinnen nicht im Widerspruch zu den Rn. 100 und 101 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I stehe, oder im Gegenteil den Hinweis, dass die in Rn. 133 dieses Urteils genannten Prüfungen allein auf der Grundlage des Beschlusses über die förmliche Beschuldigung der betreffenden Person und ihrer Weigerung, ihre biometrischen und genetischen Daten erheben zu lassen, durchzuführen seien.

39

Für den Fall, dass der Gerichtshof eine solche Bestätigung abgeben sollte, ist das vorlegende Gericht außerdem der Ansicht, dass es, wenn es über die Strafverfahrensakten verfüge, prüfen müsse, ob die Eröffnung des Ermittlungsverfahrens begründet sei.

40

Unter diesen Umständen hat der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Wird das Erfordernis der Prüfung der „unbedingten Erforderlichkeit“ nach Art. 10 der Richtlinie 2016/680 in der Auslegung durch den Gerichtshof in Rn. 133 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I erfüllt, wenn sie allein auf der Grundlage des Beschlusses über die förmliche Beschuldigung der Person und auf der Grundlage ihrer schriftlichen Weigerung, ihre biometrischen und genetischen Daten erheben zu lassen, durchgeführt wird, oder ist es erforderlich, dass dem Gericht das gesamte Aktenmaterial vorliegt, das ihm nach dem nationalen Recht bei einem Antrag auf Bewilligung der Durchführung von Ermittlungshandlungen, die die Rechtssphäre natürlicher Personen verletzen, zur Verfügung gestellt wird, wenn dieser Antrag in einer Strafsache gestellt wird?

2.

Falls die erste Frage bejaht wird: Kann das Gericht, nachdem ihm die Verfahrensakte zur Verfügung gestellt wurde, im Rahmen der Beurteilung der „unbedingten Erforderlichkeit“ gemäß Art. 10 in Verbindung mit Art. 6 Buchst. a der Richtlinie 2016/680 auch prüfen, ob der begründete Verdacht besteht, dass die beschuldigte Person die in der Beschuldigung bezeichnete Straftat begangen hat?

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

41

Die Europäische Kommission hält das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig. Insoweit ist sie der Meinung, der Gerichtshof habe im Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I dem vorlegenden Gericht die Auslegung des Unionsrechts an die Hand gegeben, von der die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits abhänge. Im Übrigen beruhten die Vorlagefragen auf einem falschen Verständnis dieses Urteils. Zum einen habe sich der Gerichtshof nämlich in Rn. 133 dieses Urteils nicht zu der Prüfung geäußert, die das nationale Gericht vorzunehmen habe, bevor es eine Maßnahme zur Erhebung biometrischer und genetischer Daten bewillige, und habe daher dem vorlegenden Gericht keine spezifische Prüfung im Zusammenhang mit dieser Erhebung auferlegt. Zum anderen habe das vorlegende Gericht zu Unrecht aus den Rn. 100 und 101 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I abgeleitet, dass der Gerichtshof die in Art. 68 Abs. 5 ZMVR vorgesehene beschränkte gerichtliche Prüfung als mit dem Unionsrecht vereinbar angesehen habe, und es habe aufgrund dessen den Schluss gezogen, dass zwischen diesen Randnummern und Rn. 133 dieses Urteils ein Widerspruch bestehe.

42

Erstens ist es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth, C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Die Zurückweisung des Vorabentscheidungsersuchens eines nationalen Gerichts ist folglich nur möglich, wenn offensichtlich ist, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth, C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Zweitens ist ebenfalls darauf zu verweisen, dass die Bindungswirkung eines im Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteils nicht ausschließt, dass das nationale Gericht, an das dieses Urteil gerichtet ist, eine erneute Anrufung des Gerichtshofs vor der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits für erforderlich hält. Eine solche Vorlage ist u. a. dann gerechtfertigt, wenn das nationale Gericht beim Verständnis oder bei der Anwendung des Urteils Schwierigkeiten hat, wenn es dem Gerichtshof eine neue Rechtsfrage stellt oder wenn es ihm neue Gesichtspunkte unterbreitet, die ihn dazu veranlassen könnten, eine bereits gestellte Frage abweichend zu beantworten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. März 2003, Kaba, C‑466/00, EU:C:2003:127, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 9. März 2023, Pro Rauchfrei II, C‑356/22, EU:C:2023:174, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45

Im vorliegenden Fall ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof mit seinen Fragen um nähere Ausführungen zu dem Erfordernis der gerichtlichen Prüfung der „unbedingten Erforderlichkeit“ der Erhebung biometrischer und genetischer Daten im Sinne von Art. 10 der Richtlinie 2016/680; dieses Erfordernis wurde nach Ansicht des vorlegenden Gerichts in Rn. 133 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I aufgestellt, um über den Antrag der bulgarischen Polizeibehörden auf zwangsweise Durchführung der Erhebung dieser Datenkategorien zu entscheiden, der gerade den Vorlagefragen zugrunde liegt, die der Gerichtshof in diesem Urteil beantwortet hat. Daraus folgt, dass die gestellten Fragen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ausgangsverfahren stehen und für die vom vorlegenden Gericht zu treffende Entscheidung erheblich sind.

46

Das Vorbringen der Kommission, das vorlegende Gericht habe die Rn. 100, 101 und 133 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I falsch ausgelegt, betrifft in Wirklichkeit die inhaltliche Prüfung der vorgelegten Fragen und kann daher seinem Wesen nach nicht dazu führen, dass die Fragen als unzulässig anzusehen wären (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Oktober 2022, Proximus [Öffentliche elektronische Teilnehmerverzeichnisse], C‑129/21, EU:C:2022:833, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47

Somit ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

48

Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zweckdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Außerdem kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (Urteil vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsiaNatsionalna politsia pri MVR – Sofia, C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49

Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof, wie sich aus den Rn. 29 bis 32 des vorliegenden Urteils ergibt, in den Rn. 116 bis 135 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I die Frage geprüft, ob das Unionsrecht nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die keine Verpflichtung für die zuständigen Behörden vorsehen, die „unbedingte Erforderlichkeit“ zu überprüfen und nachzuweisen, sowohl biometrische als auch genetische Daten der betroffenen Person zum Zweck ihrer Registrierung zu erheben.

50

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie 2016/680 den Begriff „zuständige Behörde“, zu dem die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Polizeibehörden gehören, definiert als eine staatliche Stelle, die für die Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder die Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, zuständig ist, sowie als eine andere Stelle oder Einrichtung, der durch das Recht der Mitgliedstaaten die Ausübung öffentlicher Gewalt und hoheitlicher Befugnisse zu diesen Zwecken übertragen wurde.

51

Da der Gerichtshof außerdem in Rn. 135 und in Nr. 3 des Tenors des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I zur Beantwortung der vierten Frage in der Rechtssache, die diesem Urteil zugrunde lag, auf die Auslegung von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c sowie mit Art. 8 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie Bezug genommen hat, ist davon auszugehen, dass sich die vorliegende Frage auch auf alle diese Bestimmungen bezieht.

52

Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 10 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c sowie mit Art. 8 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass dann, wenn nationale Rechtsvorschriften die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, für die Zwecke ihrer Registrierung vorsehen, ohne die Verpflichtung der zuständigen Behörde im Sinne von Art. 3 Nr. 7 der genannten Richtlinie vorzusehen, die unbedingte Erforderlichkeit dieser Erhebung gemäß Art. 10 dieser Richtlinie zu überprüfen und nachzuweisen, die Einhaltung dieser Verpflichtung durch das von dieser zuständigen Behörde zum Zweck der zwangsweisen Durchführung der genannten Erhebung angerufene Gericht sichergestellt werden kann, indem es gegebenenfalls die Übermittlung der Strafverfahrensakten verlangt.

53

Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 10 der Richtlinie 2016/680 eine spezifische Bestimmung darstellt, die die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten, insbesondere biometrischer und genetischer Daten, regelt. Diese Bestimmung soll insofern einen erhöhten Schutz der betroffenen Person gewährleisten, als bei den fraglichen Daten aufgrund ihrer besonderen Sensibilität und des Kontexts, in dem sie verarbeitet werden, erhebliche Risiken für die Grundrechte und Grundfreiheiten, wie etwa die in Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten, auftreten können, wie sich aus dem 37. Erwägungsgrund der genannten Richtlinie ergibt (Urteile Registrierung biometrischer und genetischer Daten I, Rn. 116, sowie vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsiaNatsionalna politsia pri MVR – Sofia, C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 47).

54

Hierzu ist, wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 10 der Richtlinie ergibt, die Einschränkung, dass die Verarbeitung sensibler Daten „nur dann erlaubt [ist], wenn sie unbedingt erforderlich ist“, dahin auszulegen, dass sie verschärfte Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung solcher Daten festlegt, verglichen mit denjenigen, die sich aus Art. 4 Abs. 1 Buchst. b und c sowie aus Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 ergeben, in denen lediglich von der „Erforderlichkeit“ einer allgemein in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallenden Verarbeitung von Daten die Rede ist (vgl. in diesem Sinne Urteile Registrierung biometrischer und genetischer Daten I, Rn. 117, sowie vom 4. Oktober 2024, Bezirkshauptmannschaft Landeck [Versuchter Zugang zu auf einem Mobiltelefon gespeicherten personenbezogenen Daten], C‑548/21, EU:C:2024:830, Rn. 107).

55

So hat der Gerichtshof im Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I entschieden, dass nationale Rechtsvorschriften, die die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen vorsehen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, ohne die Verpflichtung der zuständigen Behörde vorzusehen, die „unbedingte Erforderlichkeit“ dieser Erhebung gemäß der ihr nach Art. 10 der Richtlinie 2016/680 obliegenden Verpflichtung zu überprüfen und nachzuweisen, grundsätzlich nicht mit diesem Art. 10 vereinbar sind, da solche Rechtsvorschriften unterschiedslos und allgemein zur Erhebung biometrischer und genetischer Daten der meisten beschuldigten Personen führen können (vgl. in diesem Sinne Urteil Registrierung biometrischer und genetischer Daten I, Rn. 128, 129 und 135).

56

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof jedoch in Rn. 133 des Urteils Registrierung biometrischer und genetischer Daten I ausgeführt, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, u. a. zu prüfen, ob das nationale Recht, um die Wirksamkeit von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 zu gewährleisten, unionsrechtskonform ausgelegt werden kann. Damit hat der Gerichtshof das vorlegende Gericht folglich aufgefordert, zu klären, ob das nationale Recht es den zuständigen Behörden im Sinne von Art. 3 Nr. 7 dieser Richtlinie erlaubt, die „unbedingte Erforderlichkeit“ zu beurteilen, sowohl biometrische als auch genetische Daten der betroffenen Person zum Zweck ihrer Registrierung zu erheben. Damit hat der Gerichtshof das vorlegende Gericht daran erinnern wollen, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ihm u. a. auferlegt, sein nationales Recht so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. April 2023, M. D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich beschränkte sich diese Randnummer auf den Hinweis an das vorlegende Gericht, dass es zu prüfen hat, ob das nationale Recht dahin ausgelegt werden kann, dass die für diese Datenverarbeitung zuständigen Behörden in der Lage sind, die ihnen nach diesem Art. 10 obliegende Prüfung vorzunehmen.

57

Daraus folgt, wie der Generalanwalt insbesondere in den Nrn. 24 und 55 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, dass entgegen der Annahme, auf der die Fragen des vorlegenden Gerichts beruhen, ein angerufenes Gericht, das über eine solche Verarbeitung personenbezogener Daten zu befinden hat, nicht anstelle der zuständigen Behörde die Einhaltung der dieser Behörde nach Art. 10 obliegenden Verpflichtung gewährleisten kann, wenn die zuständige Behörde nach nationalem Recht nicht verpflichtet ist, die „unbedingte Erforderlichkeit“ der Verarbeitung, die sie vorgenommen hat oder vorzunehmen beabsichtigt, zu beurteilen.

58

Somit ist festzustellen, dass die Auslegung des nationalen Rechts, mit der das vorlegende Gericht selbst die „unbedingte Erforderlichkeit“ der Erhebung der biometrischen und genetischen Daten der betroffenen Person zu beurteilen beabsichtigt, nicht geeignet ist, die Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften wie der in Rn. 57 des vorliegenden Urteils genannten mit dem Unionsrecht zu gewährleisten, da sie den Umstand, dass nach diesen Rechtsvorschriften keine Verpflichtung der zuständigen Behörden besteht, die „unbedingte Erforderlichkeit“ einer solchen Erhebung zu überprüfen und nachzuweisen, jedenfalls nicht auszugleichen vermag.

59

Diese Schlussfolgerung wird im Übrigen dadurch bestätigt, dass das Vorabentscheidungsersuchen, wie sich aus den Rn. 18, 20, 22 und 23 des vorliegenden Urteils ergibt, nationale Rechtsvorschriften betrifft, die vorsehen, dass die zwangsweise Durchführung der Erhebung biometrischer und genetischer Daten der Personen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, auf Antrag der zuständigen Behörden vom zuständigen Gericht bewilligt wird, wenn die betreffende Person nicht mit der Erhebung einverstanden ist. Dagegen ist, wie die bulgarische Regierung in der mündlichen Verhandlung auf eine Frage des Gerichtshofs bestätigt hat, eine solche gerichtliche Bewilligung nicht erforderlich, wenn die betroffene Person ihr zugestimmt hat, so dass die zuständigen Behörden die genannte Erhebung allein auf der Grundlage dieser Zustimmung vornehmen können.

60

Folglich ist das zuständige Gericht in einer solchen Situation naturgemäß nicht in der Lage, den Rechtsschutz der betroffenen Personen, die eine solche Zustimmung abgegeben haben, zu gewährleisten, insbesondere was die Prüfung betrifft, ob die zuständigen Behörden das Erfordernis der unbedingten Erforderlichkeit, wie es von der in den Rn. 53 bis 55 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ausgelegt wird, eingehalten haben.

61

Aus alledem folgt, dass auf die erste Frage zu antworten ist, dass Art. 10 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c sowie mit Art. 8 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass dann, wenn nationale Rechtsvorschriften die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, für die Zwecke ihrer Registrierung vorsehen, ohne die Verpflichtung der zuständigen Behörde im Sinne von Art. 3 Nr. 7 der genannten Richtlinie vorzusehen, die unbedingte Erforderlichkeit dieser Erhebung gemäß Art. 10 dieser Richtlinie zu überprüfen und nachzuweisen, die Einhaltung dieser Verpflichtung nicht durch das von dieser zuständigen Behörde zum Zweck der zwangsweisen Durchführung der Erhebung angerufene Gericht sichergestellt werden kann, da es Sache der zuständigen Behörde ist, die nach Art. 10 erforderliche Beurteilung vorzunehmen.

Zur zweiten Frage

62

In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage braucht die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.

Kosten

63

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 10 der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. a bis c sowie mit Art. 8 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie

 

ist dahin auszulegen, dass

 

dann, wenn nationale Rechtsvorschriften die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, für die Zwecke ihrer Registrierung vorsehen, ohne die Verpflichtung der zuständigen Behörde im Sinne von Art. 3 Nr. 7 der genannten Richtlinie vorzusehen, die unbedingte Erforderlichkeit dieser Erhebung gemäß Art. 10 dieser Richtlinie zu überprüfen und nachzuweisen, die Einhaltung dieser Verpflichtung nicht durch das von dieser zuständigen Behörde zum Zweck der zwangsweisen Durchführung der Erhebung angerufene Gericht sichergestellt werden kann, da es Sache der zuständigen Behörde ist, die nach Art. 10 erforderliche Beurteilung vorzunehmen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Bulgarisch.

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