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Document 62023CC0798
Opinion of Advocate General Richard de la Tour delivered on 10 April 2025.###
Schlussanträge des Generalanwalts J. Richard de la Tour vom 10. April 2025.
Schlussanträge des Generalanwalts J. Richard de la Tour vom 10. April 2025.
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2025:265
Vorläufige Fassung
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
JEAN RICHARD DE LA TOUR
vom 10. April 2025(1)
Rechtssache C‑798/23 [Abbottly](i)
Minister for Justice
gegen
SH
(Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court [Oberstes Gericht, Irland])
„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Art. 4a Abs. 1 – Gründe für die Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls – Wendung ‚Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat‘ – Umwandlung einer zusätzlichen Strafe der polizeilichen Überwachung in eine Freiheitsstrafe “
I. Einleitung
1. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen bezieht sich auf die Auslegung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten(2) in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009(3).
2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens betreffend die Vollstreckung eines gegen SH zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe in Lettland ausgestellten Europäischen Haftbefehls in Irland.
3. Aus Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ergibt sich, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigern kann, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, es sind bestimmte in dieser Vorschrift aufgeführte Umstände erfüllt.
4. Der Supreme Court (Oberstes Gericht, Irland) fragt den Gerichtshof im Wesentlichen, ob die in der genannten Vorschrift enthaltene Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ ein Verfahren erfasst, in dem ein Gericht wegen Verstoßes gegen die Bedingungen einer zuvor verhängten zusätzlichen Strafe der polizeilichen Überwachung die Umwandlung dieser Strafe in eine Freiheitsstrafe für eine Dauer anordnen kann, die der Hälfte der Dauer der nicht verbüßten Strafe der polizeilichen Überwachung entspricht.
5. In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich darlegen, weshalb diese Frage meiner Ansicht nach zu bejahen ist.
II. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefragen
6. SH wurde im Laufe des Jahres 2014 durch die Valmieras rajona tiesa (Bezirksgericht Valmiera, Lettland) und die Jēkabpils rajona tiesa (Bezirksgericht Jēkabpils, Lettland) wegen zweier Straftaten verurteilt, was jeweils zu einer Freiheitsstrafe und der Anordnung eines Zeitraums unter polizeilicher Überwachung führte. Diese Strafen wurden am 27. Oktober 2015 zusammengefasst, was zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten und zu einer zusätzlichen Strafe der polizeilichen Überwachung über einen Zeitraum von drei Jahren führte. Nach lettischem Recht begann die Vollstreckung dieser zusätzlichen Strafe zu dem Zeitpunkt, zu dem SH die Freiheitsstrafe verbüßt hatte.
7. SH kam der im Rahmen der Anordnung der polizeilichen Überwachung vorgeschriebenen Verpflichtung, sich innerhalb von drei Arbeitstagen nach seiner Entlassung bei einer Dienststelle der Polizei zu melden, nicht nach, obwohl er zuvor darauf hingewiesen worden war, dass das Nichterscheinen zur Verhängung einer Verwaltungssanktion gegen ihn führen könne. Daher wurde SH am 11. und am 27. Mai 2020 durch die Zemgales rajona tiesa (Bezirksgericht Zemgale, Lettland) der Begehung eines Verwaltungsdelikts für schuldig befunden, weshalb ihm die Zahlung zweier Geldbußen auferlegt wurde.
8. Im Fall zweier Verurteilungen wegen Verstoßes gegen die Vorschriften der polizeilichen Überwachung innerhalb eines Jahres sieht das lettische Recht für das zuständige Gericht die Möglichkeit vor, die nicht vollstreckte zusätzliche Strafe durch einen Freiheitsentzug zu ersetzen, wobei zwei verbleibende Tage der polizeilichen Überwachung durch einen Tag Freiheitsentzug ersetzt werden. Die Strafumwandlung erfolgt somit auf der Grundlage eines festen und im Voraus festgelegten Verhältnisses.
9. Im Juni 2020 beantragte die Polizeidienststelle Jēkabpils (Lettland) bei der Zemgales rajona tiesa (Bezirksgericht Zemgale), den verbleibenden Zeitraum der polizeilichen Überwachung von SH in eine Freiheitsstrafe umzuwandeln.
10. Am 25. Juni 2020 wurde eine gerichtliche Vorladung per Einschreiben an den gemeldeten Wohnsitz von SH in Jēkabpils gesandt. Diese Vorladung wurde nicht abgeholt; sie wurde am 31. Juli 2020 zurückgesandt.
11. Am 19. August 2020 fand in Abwesenheit von SH ein Verhandlungstermin vor der Zemgales rajona tiesa (Bezirksgericht Zemgale) statt. Am selben Tag erließ dieses Gericht eine Entscheidung, mit der die Umwandlung des noch nicht vollstreckten Zeitraums der Strafe der polizeilichen Überwachung, nämlich zwei Jahre und zwei Tage, entsprechend dem in § 45 Abs. 5 des Krimināllikums (Strafgesetzbuch) (im Folgenden: lettisches Strafgesetzbuch) vorgesehenen Verhältnis in eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und einem Tag angeordnet wurde. Diese Entscheidung wurde SH übermittelt, jedoch nicht abgeholt und zurückgesandt. Gegen sie wurde seitens SH auch kein Rechtsmittel eingelegt.
12. Am 26. Februar 2021 wurde gegen SH ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung der durch die Zemgales rajona tiesa (Bezirksgericht Zemgale) am 19. August 2020 verhängten Freiheitsstrafe erlassen.
13. Mit Urteil vom 27. Juli 2022 lehnte der High Court (Hohes Gericht, Irland) die Übergabe von SH auf der Grundlage der Umsetzung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in irisches Recht ab.
14. Nachdem der High Court (Hohes Gericht) dem Minister for Justice and Equality (Ministerin für Justiz und Gleichstellung, Irland) (im Folgenden: Minister for Justice) die Möglichkeit verweigert hatte, beim Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) Berufung gegen dieses Urteil einzulegen, stellte der Minister for Justice den Antrag, beim Supreme Court (Oberstes Gericht) Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen zu dürfen, dem am 19. Januar 2023 stattgegeben wurde.
15. Das letztgenannte Gericht neigt zu der Auffassung, dass das Verfahren in Lettland, das zur Umwandlung der zusätzlichen Strafe der polizeilichen Überwachung in einen Freiheitsentzug geführt habe, dem Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Strafe gleichkomme, der, wie aus dem Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic(4), hervorgehe, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 falle. Der repressive Charakter der polizeilichen Überwachung könne nämlich mit den Bedingungen gleichgesetzt werden, die bei der Aussetzung einer Strafe zur Bewährung üblicherweise auferlegt würden.
16. Aus jenem Urteil, so das vorlegende Gericht, ergebe sich insoweit, dass der Begriff „Entscheidung“ im Sinne dieser Vorschrift eine Entscheidung über die Vollstreckung oder Anwendung einer zuvor verhängten Freiheitsstrafe wie beispielsweise den Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Strafe nicht erfasse, es sei denn, die nachfolgende Entscheidung habe eine Änderung der Art oder des Maßes der Strafe bezweckt oder bewirkt und die sie erlassende Behörde habe insoweit über ein Ermessen verfügt(5).
17. Im vorliegenden Fall habe der polizeiliche Überwachungszeitraum ab dem Zeitpunkt begonnen, zu dem SH die Freiheitsstrafe verbüßt habe. Es sei keine neue justizielle Entscheidung zur Änderung der Art oder des Maßes der zuvor verhängten Freiheitsstrafe ergangen, da die Dauer des Freiheitsentzugs, der verhängt werden könne, im Fall eines Verstoßes gegen die Bedingungen einer polizeilichen Überwachungsmaßnahme durch eine im lettischen Recht vorgesehene arithmetische Berechnung bestimmt werde. Die einzige Frage, die die Zemgales rajona tiesa (Bezirksgericht Zemgale) zu entscheiden gehabt habe, sei somit dahin gegangen, ob eine zusätzliche Freiheitsstrafe zu verhängen gewesen sei; die Dauer dieser Strafe habe sich von Gesetzes wegen ergeben.
18. Aus diesem Grund war das vorlegende Gericht vorläufig der Ansicht, die Übergabe dürfe nicht auf der Grundlage verweigert werden, dass der am 19. August 2020 beschlossene Freiheitsentzug keine neue Strafe dargestellt habe. Die Voraussetzungen und Parameter des Freiheitsentzugs, der sich aus den von SH begangenen Verstößen ergeben habe, seien nämlich eindeutig und bestimmbar gewesen und hätten keine neue Entscheidung oder eine Abänderung hinsichtlich der Art oder des Maßes der ursprünglichen Strafe umfasst.
19. Gleichwohl hegt das vorlegende Gericht gewisse Zweifel an dieser Lösung.
20. Es weist nämlich darauf hin, dass sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Strafe von der Strafe in der Rechtssache Ardic unterscheide. Obwohl die im Jahr 2015 verhängte Strafe die Aussicht auf eine weitere Freiheitsstrafe beinhaltet habe, sei der Rechtsmittelgegner durch das Urteil der Zemgales rajona tiesa (Bezirksgericht Zemgale) somit nicht lediglich verpflichtet worden, „die ursprünglich verhängte Freiheitsstrafe teilweise oder vollständig zu verbüßen“(6).
21. Das vorlegende Gericht stellt insoweit fest, dass die ursprünglich gegen den Rechtmittelgegner verhängte Freiheitsstrafe durch ihn verbüßt worden sei. Daher habe die durch die Zemgales rajona tiesa (Bezirksgericht Zemgale) gegen ihn verhängte Strafe wohl eine Änderung der Art oder des Maßes der zuvor verhängten Strafe umfasst, indem eine Strafe in Form einer polizeilichen Überwachungsmaßnahme in eine weitere Freiheitsstrafe umgewandelt worden sei.
22. Ferner sei der Zemgales rajona tiesa (Bezirksgericht Zemgale), so das vorlegende Gericht, in Bezug auf die Frage, ob sie eine solche Strafe gegen SH verhänge, ein Ermessen zugekommen, wenn auch nicht in Bezug auf die Dauer dieser Strafe. Demnach könne es nicht zu dem Schluss kommen, dass die Antwort auf die hinsichtlich der Auslegung und der Anwendung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 unter den Umständen des bei ihm eingelegten Rechtsmittels aufgeworfene Frage derart offenkundig sei, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bliebe.
23. Daher hat der Supreme Court (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Wenn um die Übergabe der gesuchten Person zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe ersucht wird, die gegen diese Person aufgrund eines Verstoßes gegen die Bedingungen einer zuvor gegen sie verhängten polizeilichen Überwachungsmaßnahme verhängt wurde, und wenn dem Gericht, das diese Freiheitsstrafe verhängt hat, ein Ermessen in Bezug auf die Frage zukam, ob es eine Freiheitsstrafe verhängt (im Fall einer Verurteilung jedoch kein Ermessen hinsichtlich der Dauer der Strafe bestand), ist dann das Verfahren, das zur Verhängung dieser Freiheitsstrafe führt, Teil der „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584?
2. Handelt es sich bei der unter den in der ersten Frage genannten Umständen getroffenen Entscheidung, die polizeiliche Überwachungsmaßnahme in eine Freiheitsstrafe umzuwandeln, um eine Entscheidung, mit der eine Änderung der Art und/oder des Maßes der zuvor gegen die gesuchte Person verhängten Strafe, insbesondere der Strafe der polizeilichen Überwachung, die Teil der zuvor gegen diese Person verhängten Strafe war, bezweckt oder bewirkt wurde, so dass sie unter die in Rn. 77 des Urteils Ardic genannte Ausnahme fällt?
24. Der Minister for Justice, SH, die rumänische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht und an der mündlichen Verhandlung vom 9. Januar 2025 teilgenommen.
25. Nachdem der Rechtsanwalt von SH der Kanzlei des Gerichtshofs mitgeteilt hatte, dass SH in Lettland inhaftiert sei, richtete der Gerichtshof mit Beschluss seines Präsidenten vom 26. April 2024 ein Auskunftsersuchen an das vorlegende Gericht, mit dem festgestellt werden sollte, ob eine Antwort des Gerichtshofs auf das Vorabentscheidungsersuchen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits weiterhin von Nutzen war.
26. Mit Antwort vom 10. Mai 2024 hat das vorlegende Gericht bestätigt, dass SH in Lettland inhaftiert und in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls vom 17. Februar 2021 an die lettischen Behörden übergeben worden sei, aber darauf hingewiesen, dass SH nicht in Vollstreckung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls übergeben worden sei und sich daher nicht ausschließen lasse, dass die lettischen Behörden den in Art. 27 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Mechanismus anwendeten, um die Vollstreckung der gegen SH verhängten Freiheitsstrafe zu erwirken, weshalb eine Antwort auf das Vorabentscheidungsersuchen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits weiterhin von Nutzen sei.
III. Würdigung
27. Mit seinen beiden Vorlagefragen, die meines Erachtens zusammen zu prüfen sind, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen darum, für Recht zu erkennen, ob Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Vorschrift enthaltene Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ ein Verfahren erfasst, in dem ein Gericht wegen Verstoßes gegen die Bedingungen einer zuvor verhängten zusätzlichen Strafe der polizeilichen Überwachung die Umwandlung dieser Strafe in eine Freiheitsstrafe für eine Dauer anordnen kann, die der Hälfte der Dauer der nicht verbüßten Strafe der polizeilichen Überwachung entspricht.
28. Während der Minister for Justice und die rumänische Regierung vorschlagen, diese Frage zu verneinen, indem sie im Wesentlichen eine Argumentation entwickeln, die sich auf das Urteil Ardic stützt, schlagen SH und die Kommission vor, von diesem Urteil abzuweichen und die Frage zu bejahen.
29. Ich teile den von SH und der Kommission vertretenen Standpunkt.
30. Bevor ich darlege, weshalb ich der Ansicht bin, dass das Verfahren, in dem eine justizielle Entscheidung über die Umwandlung einer Strafe der polizeilichen Überwachung in eine Freiheitsstrafe ergangen ist, eine „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 darstellt, ist klarzustellen, worin diese erste Strafe besteht und unter welchen Voraussetzungen sie vom zuständigen Gericht verhängt werden kann.
31. Insoweit ist auf § 45 („Anordnung der polizeilichen Überwachung“) des lettischen Strafgesetzbuchs Bezug zu nehmen, der folgenden Wortlaut hatte(7):
„(1) Die polizeiliche Überwachung ist eine zusätzliche Strafe, die das Gericht als zwingende Maßnahme verhängen kann, um das Verhalten der aus einer Haft entlassenen Person zu überwachen und um dieser Person die von der Polizeibehörde vorgesehenen Einschränkungen aufzuerlegen. …
(2) Die polizeiliche Überwachung wird nur angeordnet, wenn in den im Besonderen Teil dieses Gesetzes vorgesehenen Fällen eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr und höchstens drei Jahren verhängt wird.
…
(4) Hat eine verurteilte Person während der Verbüßung einer zusätzlichen Strafe eine neue Straftat begangen, ersetzt das Gericht die nicht verbüßte Dauer der zusätzlichen Strafe durch einen Freiheitsentzug und legt im Einklang mit den §§ 51 und 52 dieses Gesetzes die endgültige Strafe fest.
(5) Verstößt eine Person, deren polizeiliche Überwachung durch ein Gerichtsurteil angeordnet worden ist, bösgläubig gegen die Bedingungen dieser Überwachungsmaßnahme, kann ein Gericht die nicht verbüßte Dauer einer zusätzlichen Strafe auf Antrag der Polizeibehörde durch einen Freiheitsentzug ersetzen, wobei zwei Tage der polizeilichen Überwachung durch einen Tag Freiheitsentzug ersetzt werden.
(6) Ein Verstoß gegen die Bedingungen der polizeilichen Überwachung wird bösgläubig begangen, wenn die Person innerhalb eines Zeitraums von einem Jahr zweimal wegen eines solchen Verstoßes verwaltungsrechtlich verurteilt worden ist.“
32. Im Rahmen der vorliegenden Rechtssache ist § 45 Abs. 5 des lettischen Strafgesetzbuchs von besonderer Relevanz, da er vorsieht, dass das zuständige Gericht eine polizeiliche Überwachungsmaßnahme auf Antrag der zuständigen Polizeibehörde in eine Freiheitsstrafe umwandeln kann, wenn die verurteilte Person bösgläubig gegen die Bedingungen dieser Maßnahme verstößt. Die Umwandlung erfolgt dann für die noch zu verbüßende Dauer der polizeilichen Überwachungsmaßnahme auf der Grundlage eines festen gesetzlichen Verhältnisses von einem Tag Freiheitsentzug für zwei verbleibende Tage der polizeilichen Überwachung.
33. Für den Nachweis, dass eine solche Entscheidung über die Umwandlung einer Strafe in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fällt, ist vorab darauf hinzuweisen, dass dieser Rahmenbeschluss nach ständiger Rechtsprechung darauf abzielt, durch die Einführung eines vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, beruhend auf dem hohen Maß an Vertrauen, das zwischen den Mitgliedstaaten bestehen muss(8).
34. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der nach dem sechsten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 seine erste konkrete Verwirklichung im Europäischen Haftbefehl im Sinne dieses Rahmenbeschlusses findet, stellt den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen dar. Dieser Grundsatz kommt in Art. 1 Abs. 2 des erwähnten Rahmenbeschlusses zum Ausdruck, der die Regel aufstellt, dass die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl auf der Grundlage des erwähnten Grundsatzes und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses vollstrecken müssen(9).
35. Zum einen können die vollstreckenden Justizbehörden die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls demnach nur aus den Gründen verweigern, die im Rahmenbeschluss 2002/584, wie er vom Gerichtshof ausgelegt wird, genannt sind. Zum anderen stellt die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist(10).
36. Insbesondere stellt Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 eine Ausnahme von der Regel dar, wonach die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet ist, die gesuchte Person an den Ausstellungsmitgliedstaat zu übergeben, und ist daher eng auszulegen(11).
37. Schon aus dem Wortlaut von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 geht hervor, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigern kann, wenn der Betroffene nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d genannten Voraussetzungen erfüllt sind(12).
38. Diese Vorschrift schränkt damit die Möglichkeit, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu verweigern, ein, indem sie in genauer und einheitlicher Weise aufzählt, unter welchen Voraussetzungen die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen ist, zu der der Betroffene nicht persönlich erschienen war, nicht verweigert werden dürfen(13).
39. Folglich ist die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet, einen Europäischen Haftbefehl ungeachtet der Abwesenheit des Betroffenen in der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, zu vollstrecken, wenn nachweislich einer der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a, b, c oder d des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Fälle vorliegt(14).
40. In allen in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Fällen beeinträchtigt nämlich die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls weder die Verteidigungsrechte der betreffenden Person noch ihre in Art. 47 und in Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Rechte auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren(15).
41. Bevor die vollstreckende Justizbehörde zu prüfen hat, ob einer der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a, b, c oder d des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Umstände vorliegt, muss sie jedoch ermitteln, ob sie es mit einer Situation zu tun hat, in der der Verfolgte im Sinne dieser Vorschrift nicht persönlich zu der „Verhandlung [erschienen ist], die zu der Entscheidung geführt hat“.
42. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die in der erwähnten Vorschrift enthaltene Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ als autonomer Begriff des Unionsrechts anzusehen und – unabhängig von den Wertungen in den Mitgliedstaaten – im Gebiet der Union einheitlich auszulegen(16). Diese Wendung ist so zu verstehen, dass sie sich auf das Verfahren bezieht, das zu der justiziellen Entscheidung geführt hat, durch die die Person, um deren Übergabe im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ersucht wird, rechtskräftig verurteilt wurde(17).
43. Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass die Wendung bei einem Verfahren, das mehrere Instanzen umfasst hat, die zu aufeinanderfolgenden Entscheidungen geführt haben, von denen mindestens eine in Abwesenheit ergangen ist, dasjenige Verfahren erfasst, das zur letzten dieser Entscheidungen geführt hat, sofern das betreffende Gericht rechtskräftig über die Schuld des Betroffenen entschieden und ihn zu einer Strafe wie einer freiheitsentziehenden Maßregel verurteilt hat, nachdem es die belastenden und die entlastenden Umstände in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht geprüft und dabei gegebenenfalls seine persönliche Situation berücksichtigt hat(18).
44. Der Gerichtshof hat ferner festgestellt, dass, obwohl es nichts an dem in früheren Entscheidungen enthaltenen Schuldspruch ändert, ein Verfahren, das zu einem Urteil führt, durch das zuvor verhängte Freiheitsstrafen im Wege der Bildung einer Gesamtstrafe neu bemessen werden, in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fällt, wenn es dem zuständigen Organ insoweit ein Ermessen einräumt und wenn es zu einer Entscheidung führt, durch die die Strafe endgültig festgesetzt wird(19).
45. Dagegen stellt eine Entscheidung über die Vollstreckung oder Anwendung einer zuvor verhängten Freiheitsstrafe, wie der Gerichtshof in seinem Urteil Ardic hervorgehoben hat, keine „Entscheidung“ im Sinne dieses Art. 4a Abs. 1 dar, es sei denn, dass sie die Feststellung der Schuld berührt oder eine Änderung der Art oder des Maßes dieser Strafe bezweckt oder bewirkt und die sie erlassende Behörde insoweit über ein Ermessen verfügt hat(20).
46. Folglich fällt eine Entscheidung, mit der die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe widerrufen wird, weil der Betroffene gegen eine objektive Voraussetzung für die Aussetzung verstoßen hat, etwa durch die Begehung einer weiteren Straftat während der Bewährungszeit, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1, da sowohl die Art als auch das Maß der Strafe unverändert bleiben(21).
47. Zudem hat der Gerichtshof klargestellt, dass es, da die mit der Entscheidung über einen solchen Widerruf betraute Behörde keine inhaltliche Prüfung des Sachverhalts, der zu der strafrechtlichen Verurteilung geführt hat, vorzunehmen hat, irrelevant ist, dass sie über ein Ermessen verfügt, es sei denn, sie ist befugt, das Maß oder die Art der in der Entscheidung, mit der die gesuchte Person rechtskräftig verurteilt wurde, verhängten Freiheitsstrafe zu ändern(22).
48. Daher hat der Gerichtshof eine enge Auslegung der Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 gewählt. Er hat festgestellt, dass eine solche Auslegung dieser Bestimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte(23) im Einklang steht. Nach dessen Rechtsprechung fallen nämlich zum einen Verfahren betreffend die Modalitäten der Strafvollstreckung nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten(24), und zum anderen können Maßnahmen, die ein Gericht nach der rechtskräftigen Verhängung einer Strafe oder während ihrer Vollstreckung trifft, nur dann als „Strafen“ im Sinne der EMRK angesehen werden, wenn sie zu einer Neufestlegung oder einer Änderung des Umfangs der ursprünglich verhängten Strafe führen können(25).
49. Sowohl der Minister for Justice als auch die rumänische Regierung haben die Auffassung vertreten, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation mit der Situation gleichzusetzen sei, um die in der Rechtssache geht, in der das Urteil Ardic ergangen ist. Die Wahl eines anderen Ansatzes laufe darauf hinaus, der Form Vorrang vor dem Inhalt einzuräumen, da die Entscheidung, die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zu widerrufen, und die Entscheidung, eine polizeiliche Überwachungsmaßnahme in eine Freiheitsstrafe umzuwandeln, die gleiche Wirkung hätten.
50. Ich bin nicht dieser Meinung. Wie SH und die Kommission vertrete ich nämlich die Ansicht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation von derjenigen zu unterscheiden ist, die zu jenem Urteil geführt hat, und zwar aus folgenden Gründen.
51. Als Erstes sollten Argumente, die für eine entsprechende Ausweitung der engen Auslegung sprechen, die der Gerichtshof in Bezug auf Maßnahmen vorgenommen hat, die zwar bestimmte vergleichbare Wirkungen haben, aber unterschiedlicher Natur sind, mit Vorsicht behandelt werden, wenn es um den Schutz eines Grundrechts wie des Rechts auf ein faires Verfahren geht.
52. Es erscheint mir nämlich wichtig, zu betonen, dass die vorzunehmende enge Auslegung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht über die Tatsache hinwegtäuschen darf, dass das Recht des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung ein wesentliches Element des Anspruchs auf rechtliches Gehör darstellt und allgemeiner betrachtet von entscheidender Bedeutung für die Beachtung des in Art. 47 Abs. 2 und 3 und in Art. 48 der Charta verankerten Rechts auf ein faires Strafverfahren ist(26).
53. Hierzu hat der EGMR, worauf der Gerichtshof hingewiesen hat, entschieden, dass es eine eklatante Rechtsverweigerung darstellt, wenn eine Person, von der nicht erwiesen ist, dass sie auf ihr Recht verzichtet hatte, persönlich zu erscheinen und sich zu verteidigen, oder dass sie die Absicht hatte, sich dem Zugriff der Justiz zu entziehen, in Abwesenheit verurteilt wird, ohne dass sie die Möglichkeit hat, im Anschluss an die Gewährung rechtlichen Gehörs zur tatsächlichen und rechtlichen Begründetheit der gegen sie erhobenen Anschuldigung ein neues Urteil zu erwirken(27).
54. Zudem hat der Gerichtshof zur Entstehungsgeschichte und zu den Zielen von Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 bereits festgestellt, dass diese Bestimmung darauf abzielt, ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten und es der vollstreckenden Behörde zu ermöglichen, den Betroffenen trotz seiner Abwesenheit bei der Verhandlung, die zu seiner Verurteilung geführt hat, unter uneingeschränkter Achtung seiner Verteidigungsrechte zu übergeben. Insbesondere wurde dieser Art. 4a, wie aus Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2009/299 im Licht seiner Erwägungsgründe 1, 4, 8 und 15 ausdrücklich hervorgeht, in den Rahmenbeschluss 2002/584 eingefügt, um das Recht des Angeklagten zu schützen, persönlich zu dem gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren zu erscheinen, und zugleich die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern(28). Wie vom Gerichtshof festgestellt worden ist, hat der Unionsgesetzgeber daher entschieden, diesem Recht besondere Bedeutung beizumessen(29).
55. Die Wirksamkeit des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls darf somit die Notwendigkeit, die Verfahrensrechte von Personen zu stärken, gegen die ein Strafverfahren läuft, nicht in den Hintergrund drängen.
56. In diesem Zusammenhang ist Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Einklang mit Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie Art. 48 der Charta auszulegen und anzuwenden, die nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte(30) Art. 6 EMRK entsprechen. Der Gerichtshof hat daher darauf zu achten, dass seine Auslegung von Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie von Art. 48 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das nicht hinter dem durch Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den EGMR garantierten Niveau zurückbleibt(31).
57. Eine justizielle Entscheidung, mit der der Betroffene verurteilt wird, fällt im Gegensatz zu Fragen betreffend die Modalitäten der Vollstreckung oder Anwendung einer Strafe unter den strafrechtlichen Teil von Art. 6 EMRK(32).
58. Insoweit hat der EGMR entschieden, dass die Garantien des Art. 6 EMRK nicht nur für den Schuldspruch, sondern auch für die Strafzumessung gelten. So impliziert ein faires Verfahren das Recht des Betroffenen, an den Diskussionen teilzunehmen, die bedeutende Konsequenzen für die Höhe der gegen ihn zu verhängenden Strafe haben können(33).
59. Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung ist zu prüfen, ob eine Entscheidung, die auf den ersten Blick als sich auf die Vollstreckung oder Anwendung einer Strafe beziehend angesehen werden könnte, nicht in Wirklichkeit einer Entscheidung gleichzustellen ist, die einen Schuldspruch oder die Strafzumessung beinhaltet; in diesem Fall müssten die Garantien von Art. 6 EMRK angewandt werden.
60. Als Zweites ist festzustellen, dass die in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehende Entscheidung eine zusätzliche Strafe betrifft und im Unterschied zu der Entscheidung in der Rechtssache, in der das Urteil Ardic ergangen ist, keine Entscheidung über die Vollstreckung oder Anwendung einer zuvor verhängten Freiheitsstrafe darstellt. Daher ist die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation nicht die einer Modalität der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, die es der verurteilten Person unter verpflichtender Einhaltung bestimmter Bedingungen ermöglicht, eine solche Strafe außerhalb der Haftanstalt zu verbüßen.
61. Als Drittes fügt sich das Verfahren, in dem das zuständige Gericht gemäß § 45 Abs. 5 des lettischen Strafgesetzbuchs von der Polizeibehörde angerufen wird, in die Phase der Vollstreckung der zusätzlichen Strafe der polizeilichen Überwachung ein, wobei diese Phase nach Verbüßung der Freiheitsstrafe beginnt.
62. In besagtem Verfahren hat das zuständige Gericht zu entscheiden, ob die nicht verbüßte Dauer der Strafe der polizeilichen Überwachung aufgrund eines Verstoßes der verurteilten Person gegen die Bedingungen dieser Strafe durch eine Freiheitsstrafe ersetzt werden soll, wobei für zwei verbleibende Tage der polizeilichen Überwachung ein Tag Freiheitsentzug angesetzt wird.
63. Im Gegensatz zu der Schlussfolgerung, zu der der Gerichtshof in seinem Urteil Ardicgelangt ist, kann sich eine solche Entscheidung meiner Meinung nach nicht in einer Entscheidung über die Vollstreckung oder Anwendung der Strafe der polizeilichen Überwachung erschöpfen, die andernfalls nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fiele.
64. Ein Verfahren, in dem das zuständige Gericht beschließen kann, eine polizeiliche Überwachungsmaßnahme durch eine Freiheitsstrafe zu ersetzen, kommt nämlich der Verhängung einer neuen Strafe gleich, die sich ihrer Art nach von der ursprünglich festgelegten Strafe unterscheidet.
65. Dieses Gericht kann eine neue Strafe verhängen, wenn es der Ansicht ist, dass der Verstoß der verurteilten Person gegen die Bedingungen der polizeilichen Überwachungsmaßnahme das rechtfertigt. Die gegebenenfalls verhängte Freiheitsstrafe bezweckt somit nicht die Ahndung der ursprünglichen Straftat, die zur Anordnung der polizeilichen Überwachungsmaßnahme als zusätzliche Strafe geführt hat, sondern der spezifischen Verstöße gegen die Bedingungen der Überwachungsmaßnahme. Das genannte Gericht muss mithin nach einer Prüfung der Situation der verurteilten Person entscheiden, ob diese Verstöße es gegebenenfalls rechtfertigen, dass eine einfache polizeiliche Überwachung in einen Freiheitsentzug umgewandelt wird.
66. Daher ist die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entscheidung über die Umwandlung einer Strafe nach meiner Einschätzung eher der Kategorie der einen Schuldspruch oder die Strafzumessung beinhaltenden Entscheidungen als der Kategorie der Entscheidungen über die Modalitäten der Vollstreckung einer Strafe zuzuordnen. Eine solche Entscheidung dürfte somit in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fallen.
67. Demnach ist meines Erachtens davon auszugehen, dass ein Verfahren, in dem sich das zuständige Gericht dazu veranlasst gesehen hat, eine polizeiliche Überwachungsmaßnahme nach § 45 Abs. 5 des lettischen Strafgesetzbuchs in eine Freiheitsstrafe umzuwandeln, einem Verfahren gleichzustellen ist, das zu der justiziellen Entscheidung geführt hat, durch die die Person, um deren Übergabe im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ersucht wird, rechtskräftig verurteilt wurde(34). Folglich stellt die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 auf ein Verfahren wie dasjenige ab, in dem die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entscheidung über die Strafumwandlung ergangen ist.
68. Zwar kann, worauf der EGMR mehrfach hingewiesen hat, in der Praxis nicht immer sauber zwischen einer Maßnahme, die eine Strafe darstellt, und einer Maßnahme betreffend die Vollstreckung oder Anwendung einer Strafe getrennt werden(35). Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation verdeutlicht das sehr gut, da, wie ich bereits erwähnt habe, die Entscheidung des zuständigen Gerichts in der Phase der Vollstreckung der zusätzlichen Strafe der polizeilichen Überwachung erfolgt.
69. Abgesehen davon ist, selbst wenn man die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entscheidung über die Strafumwandlung aufgrund ihres hybriden Charakters als Modalität der Vollstreckung der polizeilichen Überwachungsmaßnahme begreift, zum einen festzustellen, dass sie eine Änderung des Wesens dieser Maßnahme bewirkt, und zum anderen, dass das sie erlassende Gericht bei der Entscheidung über die Änderung über ein Ermessen verfügt hat. In Anwendung der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann bei Vorliegen dieser beiden Voraussetzungen davon ausgegangen werden, dass die vollstreckende Justizbehörde es mit einer „Entscheidung“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zu tun hat(36). Die vorstehende Feststellung verstärkt meiner Meinung nach den Gedanken, dass jedenfalls eine entsprechende Anwendung der Schlussfolgerung, zu der der Gerichtshof in seinem Urteil Ardicgelangt ist, ausgeschlossen sein dürfte.
70. Auch wenn ein Verstoß gegen bestimmte Auflagen sowohl in der in jenem Urteil in Rede stehenden Situation als auch in derjenigen des Ausgangsverfahrens zu einer erneuten Inhaftierung führt, bestehen zwischen diesen beiden Situationen mehrere Unterschiede.
71. So muss in der Situation, um die es in der Rechtssache geht, in der das Urteil Ardic ergangen ist, aufgrund des Widerrufs der Aussetzung die ursprünglich verhängte Freiheitsstrafe vollstreckt werden(37), wobei die Strafe sowohl in Bezug auf ihre Art als auch in Bezug auf ihr Maß unverändert bleibt(38). Dieser Widerruf reaktiviert somit eine Strafe, die zum Zeitpunkt der Verurteilung endgültig festgesetzt wurde, auch wenn sie anschließend unter Auflagen ausgesetzt war(39). Im Gegensatz dazu führt der Verstoß gegen die Bedingungen der zusätzlichen Strafe der polizeilichen Überwachung in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Situation zur Verhängung einer neuen Freiheitsstrafe, die an die Stelle der ursprünglich verhängten zusätzlichen Strafe tritt, falls das zuständige Gericht einen entsprechenden Beschluss fasst. Mithin wird nicht die ursprüngliche Freiheitsstrafe, die vollständig verbüßt worden ist, reaktiviert. Grundlage für den Freiheitsentzug ist nicht die ursprüngliche Straftat, sondern der wiederholte Verstoß gegen die Auflagen der polizeilichen Überwachung, wobei dieser Verstoß nach lettischem Recht ein Verwaltungsdelikt darstellt.
72. Die ursprünglich verhängte zusätzliche Strafe ändert dann unbestreitbar ihren Charakter. Insbesondere erscheint es mir wichtig, zu betonen, dass die Umwandlung einer polizeilichen Überwachungsmaßnahme in eine Freiheitsstrafe dazu führt, dass eine Maßnahme, deren Zweck in erster Linie präventiv zu sein scheint(40), in eine Maßnahme mit repressiver Zielsetzung umgewandelt wird. Die polizeiliche Überwachung nach der Entlassung aus dem Gefängnis verfolgt nämlich keinen solchen Zweck, sondern soll der Gefahr eines Rückfalls vorbeugen und die Wiedereingliederung der entlassenen Person fördern, indem sichergestellt wird, dass sie sich korrekt verhält.
73. Der EGMR hat insoweit bereits festgestellt, dass eine besondere polizeiliche Überwachungsmaßnahme „nicht mit einer Strafe verglichen werden kann, da sie darauf abzielt, die Begehung von Straftaten zu verhindern; das diesbezügliche Verfahren betrifft somit nicht die ‚Begründetheit‘ einer ‚strafrechtlichen Anklage‘“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK(41).
74. Darüber hinaus hat der EGMR in Bezug auf eine Maßnahme der behördlichen Überwachung einer Person im Zusammenhang mit einer strafrechtlichen Verurteilung und im Anschluss daran entschieden, dass eine solche Maßnahme keine „Strafe“ im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EMRK darstelle, da das Hauptziel dieser Maßnahme darin bestehe, einem Rückfall vorzubeugen, was ihr eher einen präventiven als einen repressiven Charakter verleihe(42).
75. Ich möchte hinzufügen, dass, obwohl eine polizeiliche Überwachungsmaßnahme nach lettischem Recht als „zusätzliche Strafe“ eingestuft wird, dies keineswegs ausschließt, dass sie als Maßregel der Sicherung verstanden werden kann. Der EGMR hat insoweit bereits darauf hingewiesen, dass „dieselbe Art von Maßnahme in einem Staat als zusätzliche Strafe und in einem anderen als Maßregel der Sicherung eingestuft werden kann“(43).
76. Außerdem ist hervorzuheben, dass das zuständige Gericht im vorliegenden Fall – im Rahmen eines anderen Gerichtsverfahrens als dem, das zur ursprünglichen Verurteilung geführt hat – über ein Ermessen hinsichtlich der möglichen Umwandlung der polizeilichen Überwachungsmaßnahme in eine Freiheitsstrafe verfügt. Im Unterschied zu der Rechtssache, in der das Urteil Ardic ergangen ist, in dem die Befugnis, über die die Justizbehörde hinsichtlich des Widerrufs der Aussetzung verfügte, nicht die Zumessung der Strafe, sondern deren Vollstreckung betraf(44), bezieht sich das Ermessen des zuständigen Gerichts in der vorliegenden Rechtssache auf die Frage, ob der Verstoß gegen die Auflagen der polizeilichen Überwachungsmaßnahme schwerwiegend genug ist, um die Umwandlung dieser Maßnahme in einen Freiheitsentzug zu rechtfertigen. Das ist gleichbedeutend mit der Frage, ob eine neue Strafe anderer Art verhängt werden soll. Dieses Ermessen kann es dem zuständigen Gericht insbesondere ermöglichen, die Situation oder die Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen oder aber Umstände zu berücksichtigen, mit denen sich erklären lässt, weshalb der Betroffene den Auflagen der polizeilichen Überwachungsmaßnahme nicht nachgekommen ist(45).
77. Die Möglichkeit zur Strafumwandlung ist zwar gesetzlich vorgesehen, wobei das Gesetz auch das Maß der Freiheitsstrafe, die das zuständige Gericht verhängen kann, auf der Grundlage eines festen gesetzlichen Verhältnisses von einem Tag Freiheitsentzug für zwei verbleibende Tage polizeilicher Überwachung festlegt. Gleichwohl verfügt dieses Gericht über ein Ermessen hinsichtlich der eigentlichen Entscheidung über die Umwandlung.
78. Ich weise – immer noch unter dem Aspekt des Ermessens des zuständigen Gerichts – darauf hin, dass die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584, wie der Gerichtshof in seinem Urteil Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Verurteilung in Abwesenheit) entschieden hat, ein Urteil erfasst, mit dem eine Gesamtstrafe verhängt wird, da das Verfahren, in dem dieses Urteil ergangen ist, dem Gericht ein Ermessen bei der Festlegung der Höhe dieser Gesamtstrafe einräumt(46). Wie SH in der mündlichen Verhandlung zu Recht hervorgehoben hat, wäre es paradox, eine andere Lösung zu wählen, wenn sich das Ermessen des zuständigen Gerichts wie in der vorliegenden Rechtssache auf das Wesen der Strafe bezieht, die der Betroffene im Anschluss an das in Rede stehende Verfahren zu verbüßen haben wird, nämlich entweder die Aufrechterhaltung der polizeilichen Überwachung für die noch zu verbüßende Dauer oder die Umwandlung dieser Überwachung in eine neue Freiheitsstrafe auf der Grundlage des gesetzlich festgelegten Strafmaßes.
79. Ein letztes Element unterscheidet die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation von derjenigen in der Rechtssache, in der das Urteil Ardic ergangen ist. In der letztgenannten Rechtssache stellt die ursprüngliche Verurteilung nämlich das vollstreckbare Urteil dar, das dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt. Daher beinhaltet der Widerruf der Aussetzung keine neue Entscheidung über die Strafzumessung, die die Grundlage des Europäischen Haftbefehls darstellen würde(47). Etwas anderes gilt für die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation, in der die neue Entscheidung, mit der anstelle der polizeilichen Überwachungsmaßnahme eine Freiheitsstrafe verhängt wurde, die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls bedingt hat und dessen Grundlage darstellt(48).
80. Nach alledem vertrete ich die Auffassung, dass eine justizielle Entscheidung, sobald sie sich nicht auf die Vollstreckung oder Anwendung einer zuvor verhängten Strafe beschränkt, sondern die Art oder das Maß dieser Strafe ändert, wobei das zuständige Gericht insoweit über ein Ermessen verfügt hat, in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 einzubeziehen ist, damit die vollstreckende Justizbehörde prüfen kann, ob gegebenenfalls einer der in den Buchst. a, b, c oder d dieser Bestimmung genannten Umstände vorliegt. Im vorliegenden Fall ist die „Verhandlung, die [im Sinne dieses Art. 4a Abs. 1] zu der Entscheidung geführt hat“, mit der die Freiheitsstrafe verhängt worden ist, mithin die Verhandlung, auf die die Entscheidung über die Strafumwandlung vom 19. August 2020 ergangen ist.
81. Demnach muss der Betroffene in dem Verfahrensstadium, das eine Entscheidung über die etwaige Umwandlung einer polizeilichen Überwachungsmaßnahme in eine Freiheitsstrafe zum Gegenstand hat, in der Lage sein, seine Verteidigungsrechte uneingeschränkt auszuüben, um seinen Standpunkt wirksam darzulegen und so die endgültige Entscheidung, durch die ihm möglicherweise seine persönliche Freiheit entzogen wird, zu beeinflussen(49). Insbesondere muss er die tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die das zuständige Gericht dazu veranlassen könnten, gegen eine solche Strafumwandlung zu entscheiden, geltend machen können.
82. Auf den Umstand, dass eine Entscheidung über die Umwandlung einer Strafe gemäß § 45 Abs. 5 und 6 des lettischen Strafgesetzbuchs bereits bei Verhängung der zusätzlichen Strafe der polizeilichen Überwachung vorhersehbar ist, wenn gegen die Bedingungen dieser Strafe verstoßen wird, kommt es für die Einstufung als „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 meines Erachtens nicht an. Eine solche Vorhersehbarkeit steht nämlich im Einklang mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen. Es ist das Merkmal jeder auf einer gesetzlichen Grundlage beruhenden Strafe, dass sie im Falle der Begehung einer Straftat vorhersehbar ist. Die Person, die zu einer solchen Strafe verurteilt werden könnte, muss jedoch die Möglichkeit haben, die Entscheidung des Gerichts zu beeinflussen, indem sie persönlich zu ihrer Verhandlung erscheint.
83. Für eine solche Einstufung muss das Verfahren betreffend die Strafumwandlung zu einem Freiheitsentzug führen können, der trotz Vorhersehbarkeit im Falle eines Verstoßes gegen die Bedingungen der polizeilichen Überwachungsmaßnahme als solcher nicht Teil der ursprünglichen Verurteilung war und somit eine neue Verurteilung erfordert, die an die Stelle der ersten tritt.
IV. Ergebnis
84. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Supreme Court (Oberstes Gericht, Irland) wie folgt zu beantworten:
Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist im Licht der Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
dahin auszulegen, dass
die in dieser Vorschrift enthaltene Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ ein Verfahren erfasst, in dem ein Gericht wegen Verstoßes gegen die Bedingungen einer zuvor verhängten zusätzlichen Strafe der polizeilichen Überwachung die Umwandlung dieser Strafe in eine Freiheitsstrafe für eine Dauer anordnen kann, die der Hälfte der Dauer der nicht verbüßten Strafe der polizeilichen Überwachung entspricht.
1 Originalsprache: Französisch.
i Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.
2 ABl. 2002, L 190, S. 1.
3 ABl. 2009, L 81, S. 24, im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584.
4 C‑571/17 PPU, im Folgenden: Urteil Ardic, EU:C:2017:1026.
5 Vgl. Urteil Ardic (Rn. 77).
6 Vgl. Urteil Ardic (Rn. 80).
7 Dieser Paragraf ist durch ein Gesetz vom 8. Juli 2011, das gemäß den Übergangsbestimmungen dieses Gesetzes am 1. Januar 2015 in Kraft getreten ist, aufgehoben worden. Die Strafe der polizeilichen Überwachung ist durch die Strafe der Bewährungsaufsicht ersetzt worden.
8 Vgl. u. a. Urteil vom 21. Dezember 2023, GN (Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls) (C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
9 Vgl. u. a. Urteile vom 21. Dezember 2023, GN (Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls) (C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 21. Dezember 2023, G. K. u. a. (Europäische Staatsanwaltschaft) (C‑281/22, EU:C:2023:1018, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
10 Vgl. u. a. Urteile vom 21. Dezember 2023, GN (Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls) (C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 21. Dezember 2023, Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Verurteilung in Abwesenheit) (C‑396/22, im Folgenden: Urteil Generalstaatsanwaltschaft Berlin [Verurteilung in Abwesenheit], EU:C:2023:1029, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
11 Vgl. Urteil vom 23. März 2023, Minister for Justice and Equality (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) (C‑514/21 und C‑515/21, im Folgenden: Urteil Minister for Justice and Equality [Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung], EU:C:2023:235, Rn. 55), sowie Beschluss vom 20. September 2024, Anacco (C‑504/24 PPU, im Folgenden: Beschluss Anacco, EU:C:2024:779, Rn. 42).
12 Vgl. u. a. Urteil Minister for Justice and Equality (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) (Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung) sowie Beschluss Anacco (Rn. 43).
13 Vgl. u. a. Urteile Minister for Justice and Equality (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) (Rn. 49 und 71 sowie die dort angeführte Rechtsprechung) und Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Verurteilung in Abwesenheit) (Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung) sowie Beschluss Anacco (Rn. 44).
14 Vgl. u. a. Urteile vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg (C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 41) und Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Verurteilung in Abwesenheit) (Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung) sowie Beschluss Anacco (Rn. 45).
15 Vgl. u. a. Urteil Minister for Justice and Equality (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) (Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Gerichtshof hat festgestellt, dass mit dem Erlass des Rahmenbeschlusses 2009/299, durch den Art. 4a Abs. 1 in den Rahmenbeschluss 2002/584 eingefügt wurde, die Schwierigkeiten bei der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, bei der die betroffene Person nicht anwesend war, beseitigt werden sollen, die sich daraus ergeben, dass in den Mitgliedstaaten Unterschiede im Grundrechtsschutz bestehen. Zu diesem Zweck wird in diesem Rahmenbeschluss eine Harmonisierung der Voraussetzungen für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls bei einer Verurteilung in Abwesenheit bewirkt, die den Konsens widerspiegelt, zu dem alle Mitgliedstaaten gemeinsam in Bezug auf die Tragweite gelangt sind, die nach dem Unionsrecht den Verfahrensrechten der in Abwesenheit verurteilten Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, zuzumessen ist: vgl. u. a. Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 62), sowie Beschluss Anacco (Rn. 58).
16 Vgl. u. a. Urteil Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Verurteilung in Abwesenheit) (Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung) und Urteil vom 21. Dezember 2023, Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Verurteilung in Abwesenheit) (C‑397/22, im Folgenden: Urteil LM, EU:C:2023:1030, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
17 Vgl. u. a. Urteile Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Verurteilung in Abwesenheit) (Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung) und LM (Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
18 Vgl. u. a. Urteil Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Verurteilung in Abwesenheit) (Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
19 Vgl. u. a. Urteil Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Verurteilung in Abwesenheit) (Rn. 29 und 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
20 Vgl. Urteil Ardic (Rn. 77 und 88). Vgl. auch Urteil Minister for Justice and Equality (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) (Rn. 53).
21 Vgl. u. a. Urteil Minister for Justice and Equality (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) (Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). In diesem Urteil hat der Gerichtshof klargestellt, dass in einem Fall, in dem die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wegen einer erneuten strafrechtlichen Verurteilung widerrufen und zur Vollstreckung dieser Strafe ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt wird, die in Abwesenheit erfolgte erneute strafrechtliche Verurteilung eine „Entscheidung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt. Bei der Entscheidung, die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zu widerrufen, ist dies nicht der Fall (Rn. 68).
22 Vgl. u. a. Urteil Minister for Justice and Equality (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) (Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
23 Im Folgenden: EGMR.
24 Unterzeichnet am 4. November 1950 in Rom, im Folgenden: EMRK.
25 Vgl. Urteil Minister for Justice and Equality (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) (Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung des EGMR).
26 Vgl. u. a. Urteil Minister for Justice and Equality (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) (Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Vgl. Urteil Minister for Justice and Equality (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) (Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung des EGMR).
28 Vgl. u. a. Urteil Minister for Justice and Equality (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) (Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung) sowie Beschluss Anacco (Rn. 48).
29 Vgl. Urteil Minister for Justice and Equality (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) (Rn. 64).
30 ABl. 2007, C 303, S. 17.
31 Vgl. u. a. Urteil Minister for Justice and Equality (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) (Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung) sowie Beschluss Anacco (Rn. 56).
32 Vgl. u. a. Urteil Minister for Justice and Equality (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) (Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung)
33 Vgl. Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek (C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung des EGMR).
34 Vgl. u. a. Urteile Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Verurteilung in Abwesenheit) (Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung) sowie LM (Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Vgl. u. a. Urteil des EGMR vom 10. November 2022, Kupinskyy/Ukraine (CE:ECHR:2022:1110JUD000508418, § 49 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ich verweise auch auf das Urteil vom 3. April 2025, Alchaster II (C‑743/24, EU:C:2025:230), in dem der Gerichtshof in Bezug auf Änderungen der für die vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen geltenden Regelung, die nach der mutmaßlichen Begehung der Straftat, wegen der die Person verfolgt wird, vorgenommen wurden, und zur Auslegung von Art. 49 Abs. 1 Satz 2 der Charta darauf hingewiesen hat, dass, um festzustellen, ob eine während der Vollstreckung einer Strafe getroffene Maßnahme lediglich die Art der Vollstreckung der Strafe betrifft oder vielmehr Auswirkungen auf ihren Umfang hat, in jedem Einzelfall geprüft werden muss, was die verhängte oder verwirkte „Strafe“ nach dem zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden innerstaatlichen Recht tatsächlich beinhaltete, oder, mit anderen Worten, welcher Art sie war (Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Vgl. u. a. Urteile Ardic (Rn. 77) und Minister for Justice and Equality (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) (Rn. 53).
37 Vgl. Urteil Ardic, in dem der Gerichtshof darauf hingewiesen hat, dass Beschlüsse, die Aussetzung zu widerrufen, lediglich bewirken, dass der Betroffene allenfalls die Restdauer der ursprünglich gegen ihn verhängten Strafe verbüßen muss. Wenn die Aussetzung insgesamt widerrufen wird, entfaltet die Verurteilung wieder ihre ganze Wirkung und ergibt sich die Bestimmung des noch zu vollstreckenden Strafmaßes aus einer reinen Rechenoperation, wobei die Zahl der bereits im Gefängnis verbrachten Tage einfach von der Gesamtstrafe, wie sie mit der rechtskräftigen Verurteilung verhängt wurde, abgezogen wird (Rn. 81).
38 Vgl. Urteil Ardic (Rn. 82).
39 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1013, Nr. 71). In dieser Situation ist daher bereits eine Freiheitsstrafe verhängt und anschließend für die verbleibende Zeit zur Bewährung ausgesetzt worden, so dass der Widerruf der Aussetzung lediglich eine zuvor verhängte Freiheitsstrafe wiederherstellt.
40 Diese präventive Dimension der polizeilichen Überwachung ist in der mündlichen Verhandlung sowohl von SH als auch von der Kommission hervorgehoben worden.
41 Vgl. Urteil des EGMR vom 22. Februar 1994, Raimondo/Italien (CE:ECHR:1994:0222JUD001295487, § 43). Vgl. auch Urteil des EGMR vom 23. Februar 2017, De Tommaso/Italien (CE:ECHR:2017:0223JUD004339509, § 143).
42 Vgl. Urteil des EGMR vom 19. Januar 2021, Timofeyev und Postupkin/Russland (CE:ECHR:2021:0119JUD004543114, §§ 70 bis 82).
43 Vgl. Urteile des EGMR vom 17. Dezember 2009, M./Deutschland (CE:ECHR:2009:1217JUD001935904, § 74), sowie vom 19. Januar 2021, Timofeyev und Postupkin/Russland (CE:ECHR:2021:0119JUD004543114, § 75). Wie der EGMR in diesen beiden Urteilen festgestellt hat, wird „beispielsweise die Überwachung des Verhaltens einer Person nach ihrer Freilassung in den Art. 131-36-1 ff. des französischen Strafgesetzbuchs als zusätzliche Strafe und in den Art. 215 und 228 des italienischen Strafgesetzbuchs als Maßregel der Sicherung betrachtet“.
44 Vgl. Urteil Ardic, in dem der Gerichtshof darauf hingewiesen hat, dass das zuständige Gericht nur festzustellen hatte, ob der Umstand, dass die verurteilte Person den Auflagen, mit denen die Aussetzung von Freiheitsstrafen einherging, nicht nachgekommen ist, es rechtfertige, die verurteilte Person tatsächlich dazu zu verpflichten, die ursprünglich verhängten Freiheitsstrafen, deren Vollstreckung anschließend teilweise ausgesetzt worden war, teilweise oder vollständig zu verbüßen. Demnach verfügte dieses Gericht insoweit zwar über einen Ermessensspielraum, doch betraf dieses Ermessen nicht die Höhe oder die Art der gegen den Betroffenen verhängten Strafen, sondern nur die Frage, ob die Aussetzungen zu widerrufen waren oder gegebenenfalls unter Erteilung weiterer Auflagen fortbestehen konnten (Rn. 80).
45 Vgl. entsprechend Urteil Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Verurteilung in Abwesenheit) (Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch – zu Art. 6 EMRK – Urteil des EGMR vom 28. November 2013, Aleksandr Dementyev/Russland (CE:ECHR:2013:1128JUD004309505, § 26), und – zu Art. 7 EMRK – Urteil des EGMR vom 19. Januar 2021, Timofeyev und Postupkin/Russland (CE:ECHR:2021:0119JUD004543114, § 79).
46 Vgl. Rn. 33 und 34 dieses Urteils.
47 Vgl. Urteil Ardic, in dem der Gerichtshof hervorgehoben hat, dass die in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, in Rede stehenden Beschlüsse, die Aussetzung der Vollstreckung zuvor verhängter Freiheitsstrafen zu widerrufen, weder die Art noch das Maß der Freiheitsstrafen berührt haben, die mit den zuvor ergangenen rechtskräftigen Verurteilungen des Betroffenen verhängt wurden, die die Grundlage des Europäischen Haftbefehls darstellen, um dessen Vollstreckung in den Niederlanden die deutschen Behörden ersuchten (Rn. 78).
48 Vgl. Urteil Minister for Justice and Equality (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) (Rn. 67).
49 Vgl. u. a. Urteil LM (Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Gerichtshof hat klargestellt, dass der Ausgang dieses Verfahrens insoweit unerheblich ist.