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Document 62021CJ0175

Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 17. November 2022.
Harman International Industries Inc. gegen AB S.A.
Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Okręgowy w Warszawie.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 34 und 36 AEUV – Freier Warenverkehr – Geistiges Eigentum – Unionsmarke – Verordnung (EU) 2017/1001 – Art. 15 – Erschöpfung des Rechts aus der Marke – Inverkehrbringen im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) – Zustimmung des Inhabers der Marke – Ort des ersten Inverkehrbringens der Waren durch den Inhaber der Marke oder mit seiner Zustimmung – Beweis – Richtlinie 2004/48/EG – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Tenor von Gerichtsentscheidungen, in dem die betreffenden Waren nicht bestimmt werden – Durchführungsschwierigkeiten – Beschränkter Rechtsbehelf bei dem für die Zwangsvollstreckung zuständigen Gericht – Fairer Prozess – Verteidigungsrechte – Grundsatz der Waffengleichheit.
Rechtssache C-175/21.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:895

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

17. November 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 34 und 36 AEUV – Freier Warenverkehr – Geistiges Eigentum – Unionsmarke – Verordnung (EU) 2017/1001 – Art. 15 – Erschöpfung des Rechts aus der Marke – Inverkehrbringen im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) – Zustimmung des Inhabers der Marke – Ort des ersten Inverkehrbringens der Waren durch den Inhaber der Marke oder mit seiner Zustimmung – Beweis – Richtlinie 2004/48/EG – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Tenor von Gerichtsentscheidungen, in dem die betreffenden Waren nicht bestimmt werden – Durchführungsschwierigkeiten – Beschränkter Rechtsbehelf bei dem für die Zwangsvollstreckung zuständigen Gericht – Fairer Prozess – Verteidigungsrechte – Grundsatz der Waffengleichheit“

In der Rechtssache C‑175/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) mit Entscheidung vom 3. Februar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 17. März 2021, in dem Verfahren

Harman International Industries Inc.

gegen

AB S.A.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter D. Gratsias, M. Ilešič (Berichterstatter), I. Jarukaitis und Z. Csehi,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Harman International Industries Inc., vertreten durch D. Piróg und J. Słupski, Adwokaci,

der AB S.A., vertreten durch K. Kucharski und K. Sum, Radcowie prawni,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch É. Gippini Fournier, S. L. Kalėda und B. Sasinowska als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Juni 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 36 Satz 2 AEUV in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über die Unionsmarke (ABl. 2017, L 154, S. 1) und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV.

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Harman International Industries Inc. mit Sitz in den Vereinigten Staaten (im Folgenden: Harman) und der AB S.A. mit Sitz in Polen über die Verletzung mehrerer Unionsmarken.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung 2017/1001

3

In Art. 9 („Rechte aus der Unionsmarke“) der Verordnung 2017/1001 heißt es:

„(1)   Mit der Eintragung einer Unionsmarke erwirbt ihr Inhaber ein ausschließliches Recht an ihr.

(2)   Der Inhaber dieser Unionsmarke hat unbeschadet der von Inhabern vor dem Zeitpunkt der Anmeldung oder dem Prioritätstag der Unionsmarke erworbenen Rechte das Recht, Dritten zu verbieten, ohne seine Zustimmung im geschäftlichen Verkehr ein Zeichen für Waren oder Dienstleistungen zu benutzen, wenn

a)

das Zeichen mit der Unionsmarke identisch ist und für Waren oder Dienstleistungen benutzt wird, die mit denjenigen identisch sind, für die die Unionsmarke eingetragen ist;

b)

das Zeichen mit der Unionsmarke identisch oder ihr ähnlich ist und für Waren oder Dienstleistungen benutzt wird, die mit denjenigen identisch oder ihnen ähnlich sind, für die die Unionsmarke eingetragen ist, und für das Publikum die Gefahr einer Verwechslung besteht, die die Gefahr einschließt, dass das Zeichen mit der Marke gedanklich in Verbindung gebracht wird;

c)

das Zeichen mit der Unionsmarke identisch oder ihr ähnlich ist, unabhängig davon, ob es für Waren oder Dienstleistungen benutzt wird, die mit denjenigen identisch sind oder denjenigen ähnlich oder nicht ähnlich sind, für die die Unionsmarke eingetragen ist, wenn diese in der Union bekannt ist und die Benutzung des Zeichens die Unterscheidungskraft oder die Wertschätzung der Unionsmarke ohne rechtfertigenden Grund in unlauterer Weise ausnutzt oder beeinträchtigt.

(3)   Sind die Voraussetzungen des Absatzes 2 erfüllt, so kann insbesondere verboten werden,

b)

unter dem Zeichen Waren anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu den genannten Zwecken zu besitzen oder unter dem Zeichen Dienstleistungen anzubieten oder zu erbringen;

c)

Waren unter dem Zeichen einzuführen oder auszuführen;

…“

4

Art. 15 („Erschöpfung des Rechts aus der Unionsmarke“) der Verordnung 2017/1001 sieht in Abs. 1 vor:

„Eine Unionsmarke gewährt ihrem Inhaber nicht das Recht, die Benutzung der Marke für Waren zu untersagen, die unter dieser Marke von ihm oder mit seiner Zustimmung im Europäischen Wirtschaftsraum in den Verkehr gebracht worden sind.“

5

Art. 129 („Anwendbares Recht“) der Verordnung 2017/1001 bestimmt:

„(1)   Die Unionsmarkengerichte wenden die Vorschriften dieser Verordnung an.

(2)   In allen Markenfragen, die nicht durch diese Verordnung erfasst werden, wendet das betreffende Unionsmarkengericht das geltende nationale Recht an.

(3)   Soweit in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, wendet das Unionsmarkengericht die Verfahrensvorschriften an, die in dem Mitgliedstaat, in dem es seinen Sitz hat, auf gleichartige Verfahren betreffend nationale Marken anwendbar sind.“

Richtlinie 2004/48/EG

6

Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (ABl. 2004, L 157, S. 45, berichtigt in ABl. 2004, L 195, S. 16) bestimmt:

„Diese Richtlinie betrifft die Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe, die erforderlich sind, um die Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums sicherzustellen. Im Sinne dieser Richtlinie umfasst der Begriff ‚Rechte des geistigen Eigentums‘ auch die gewerblichen Schutzrechte.“

7

Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2004/48 sieht in Abs. 1 vor:

„Unbeschadet etwaiger Instrumente in den Rechtsvorschriften der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten, die für die Rechtsinhaber günstiger sind, finden die in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe gemäß Artikel 3 auf jede Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums, die im Gemeinschaftsrecht und/oder im innerstaatlichen Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehen sind, Anwendung.“

8

Kapitel II („Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe“) der Richtlinie 2004/48 enthält u. a. deren Art. 3 („Allgemeine Verpflichtung“), der in Abs. 2 bestimmt:

„Diese Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe müssen darüber hinaus wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein und so angewendet werden, dass die Einrichtung von Schranken für den rechtmäßigen Handel vermieden wird und die Gewähr gegen ihren Missbrauch gegeben ist.“

Polnisches Recht

9

Art. 325 der Ustawa – Kodeks postępowania cywilnego (Gesetz über die Zivilprozessordnung) vom 17. November 1964 in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Zivilprozessordnung) bestimmt:

„Der Tenor des Urteils enthält die Bezeichnung des Gerichts, der Richter, des Protokollführers und, wenn er sich an der Rechtssache beteiligt hat, des Staatsanwalts, den Termin und den Ort der mündlichen Verhandlung und der Verkündung des Urteils, die Bezeichnung der Parteien und den Gegenstand der Rechtssache sowie die Entscheidung des Gerichts über die Anträge der Parteien.“

10

Nach Art. 758 der Zivilprozessordnung sind für die Zwangsvollstreckung die Sądy Rejonowe (Rayongerichte, Polen) und die diesen Gerichten zugeordneten Gerichtsvollzieher zuständig.

11

Art. 767 der Zivilprozessordnung sieht vor:

„§ 1.   Sofern im Gesetz nichts anderes bestimmt ist, kann gegen die Handlungen des Gerichtsvollziehers beim Sąd Rejonowy (Rayongericht) Erinnerung eingelegt werden. Das gilt auch für die Unterlassung einer Handlung durch den Gerichtsvollzieher. Die Erinnerung wird von dem Gericht geprüft, in dessen Bezirk der Gerichtsvollzieher seinen Amtssitz hat.

§ 2.   Die Erinnerung kann von einer Partei oder einer anderen Person eingelegt werden, deren Rechte durch die Handlung oder Unterlassung des Gerichtsvollziehers verletzt oder gefährdet worden sind.

…“

12

Art. 840 § 1 der Zivilprozessordnung sieht vor:

„Der Schuldner kann im Wege der Klage die vollständige oder teilweise Aufhebung oder die Beschränkung der Vollstreckbarkeit des Vollstreckungstitels beantragen, wenn

1) er die Umstände bestreitet, auf die die Erteilung der Vollstreckungsklausel gestützt wurde, insbesondere wenn er das Bestehen einer Verpflichtung in Abrede stellt, die mit einem Vollstreckungstitel festgestellt wurde, bei dem es sich nicht um eine gerichtliche Entscheidung handelt, oder wenn er die Übertragung einer Verpflichtung bestreitet, obwohl die Übertragung durch eine förmliche Urkunde bestätigt wird;

2) nach dem Erlass eines Vollstreckungstitels ein Umstand eingetreten ist, der zum Erlöschen der Verbindlichkeit oder dazu geführt hat, dass sie nicht vollstreckt werden kann; handelt es sich bei dem Titel um eine gerichtliche Entscheidung, kann der Schuldner seine Klage auch auf Umstände, die nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung eingetreten sind, auf die Einwendung der Erbringung der Leistung, wenn die Geltendmachung dieser Einwendung in der betreffenden Rechtssache von Gesetzes wegen unzulässig war, sowie auf die Einwendung der Aufrechnung stützen. …“

13

Art. 843 § 3 der Zivilprozessordnung sieht vor:

„In der Klageschrift hat der Kläger alle Einwendungen darzulegen, die in diesem Stadium vorgebracht werden können; andernfalls verliert er das Recht, sich im weiteren Verfahren auf sie zu berufen.“

14

Art. 1050 der Zivilprozessordnung bestimmt:

„§ 1.   Hat der Schuldner eine Handlung vorzunehmen, die nicht von einer anderen Person an seiner Stelle vorgenommen werden kann und deren Vornahme ausschließlich von seinem Willen abhängt, so setzt das Gericht, in dessen Bezirk die Handlung vorzunehmen ist, auf Antrag des Gläubigers und nach Anhörung der Parteien dem Schuldner eine Frist zur Vornahme der Handlung, unter Androhung eines Zwangsgelds für den Fall, dass er sie nicht innerhalb der gesetzten Frist vornimmt.

§ 3.   Ist die dem Schuldner gesetzte Frist für die Vornahme einer Handlung abgelaufen, ohne dass der Schuldner sie vorgenommen hat, verhängt das Gericht auf Antrag des Gläubigers ein Zwangsgeld gegen den Schuldner und setzt gleichzeitig eine neue Frist für die Vornahme der Handlung unter Androhung eines erhöhten Zwangsgelds fest.“

15

Art. 1051 § 1 der Zivilprozessordnung sieht vor:

„Ist der Schuldner verpflichtet, eine bestimmte Handlung zu unterlassen oder Handlungen des Gläubigers nicht zu behindern, so hat das Gericht, in dessen Bezirk der Schuldner seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist, den Schuldner auf Antrag des Gläubigers zur Zahlung eines Zwangsgelds zu verurteilen, nachdem es die Parteien angehört und festgestellt hat, dass der Schuldner seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist. Das Gericht geht in gleicher Weise vor, wenn der Gläubiger einen neuen Antrag stellt.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

16

Harman stellt audiovisuelle Geräte her, u. a. Lautsprecher, Kopfhörer und Audiosysteme. Sie hat mit einem Händler einen Vertrag über den Verkauf ihrer mit den Unionsmarken JBL und HARMAN, deren Inhaberin sie ist, versehenen Waren in Polen getroffen.

17

AB vertreibt auf dem polnischen Markt Waren von Harman, die sie bei einem anderen Lieferanten als dem Vertragshändler von Harman für diesen Markt kauft.

18

Harman erhob beim Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen), dem vorlegenden Gericht, Klage auf Unterlassung der Verletzung ihrer Rechte aus ihren Marken mit dem Antrag, es AB generell zu untersagen, Lautsprecher und Kopfhörer sowie ihre Verpackungen, die mit diesen Marken gekennzeichnet sind und nicht zuvor von Harman oder mit ihrer Zustimmungen im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) in den Verkehr gebracht wurden, einzuführen oder in den Verkehr zu bringen, zu importieren, anzubieten, zu bewerben und zu den oben genannten Zwecken zu lagern. Ferner beantragte Harman, AB zu verpflichten, diese Waren und ihre Verpackungen vom Markt zu nehmen und zu vernichten.

19

Zu ihrer Verteidigung führt AB den Grundsatz der Erschöpfung des Rechts aus der Marke an und beruft sich im Wesentlichen auf die von ihrem Lieferanten erhaltene Zusicherung, dass die Einfuhr der fraglichen Waren auf den polnischen Markt die Marken von Harman nicht verletze, da diese Waren von Harman oder mit ihrer Zustimmung im EWR in den Verkehr gebracht worden seien.

20

Das vorlegende Gericht führt aus, dass die von Harman verwendeten Warenkennzeichnungssysteme nicht immer ausreichten, um den Bestimmungsmarkt jeder ihrer Waren festzustellen. Um mit Sicherheit zu klären, ob eine bestimmte Ware für den EWR-Markt bestimmt sei, müsse auf eine Datenbank von Harman zurückgegriffen werden.

21

Nach Ansicht dieses Gerichts könnte sich AB theoretisch an ihren Lieferanten wenden, um Informationen über die Identität der in der Vertriebskette vorgelagerten Wirtschaftsteilnehmer zu erhalten. Da die Lieferanten jedoch – um keine Verkäufe zu verlieren – normalerweise nicht bereit seien, ihre Bezugsquellen offenzulegen, sei es wenig wahrscheinlich, dass es AB gelinge, derartige Informationen zu erhalten.

22

Die polnischen Gerichte verfolgten indessen die Praxis, sich im Tenor ihrer Entscheidungen, mit denen einer Klage wegen Verletzung einer Unionsmarke stattgegeben werde, auf „Waren, die nicht zuvor vom Kläger (Inhaber der Unionsmarke) oder mit seiner Zustimmung im EWR in den Verkehr gebracht wurden“, zu beziehen. Diese Formulierung erlaube es im Stadium des Zwangsvollstreckungsverfahrens nicht, die Waren, auf die sich dieses Verfahren beziehe, gegenüber den Waren abzugrenzen, die unter die Ausnahme der Erschöpfung des Rechts aus der Marke fielen. Somit unterscheide sich der Tenor dieser Entscheidungen in Wirklichkeit nicht von der allgemeinen Verpflichtung, die sich bereits aus den Bestimmungen des Gesetzes ergebe.

23

Aufgrund dieser gerichtlichen Praxis sei der Beklagte eines Verletzungsverfahrens nicht in der Lage, einer die Verletzung feststellenden Entscheidung freiwillig nachzukommen, und setze sich dem Risiko einer Sanktion auf der Grundlage der Art. 1050 und 1051 der Zivilprozessordnung aus. Außerdem führe diese Praxis meistens zur Beschlagnahme aller Waren einschließlich derjenigen, die ohne jede Verletzung des ausschließlichen Rechts aus der Marke vertrieben würden.

24

Ferner stoße der Beklagte eines Verletzungsverfahrens, wie sich u. a. aus den Art. 767, 840 und 843 der Zivilprozessordnung ergebe, im Rahmen von Sicherungs- und Zwangsvollstreckungsverfahren auf mehrere rechtliche Hindernisse, wenn es darum gehe, sich den angeordneten Maßnahmen mit Erfolg widersetzen zu können, und verfüge nur über begrenzte Verfahrensgarantien.

25

Erstens sei nach Art. 767 der Zivilprozessordnung eine Erinnerung gegen eine Handlung eines Gerichtsvollziehers nur möglich, wenn der Gerichtsvollzieher die für das Zwangsvollstreckungsverfahren geltenden Verfahrensvorschriften nicht eingehalten habe. Mit einer solchen Erinnerung lasse sich daher nicht feststellen, ob eine mit einer Marke versehene Ware vom Inhaber der betreffenden Marke oder mit seiner Zustimmung im EWR in den Verkehr gebracht worden sei.

26

Zweitens verfüge der Beklagte eines Verletzungsverfahrens nicht über die Möglichkeit, auf der Grundlage von Art. 840 der Zivilprozessordnung eine Vollstreckungsabwehrklage zu erheben, da eine derartige Klage nicht dazu dienen könne, den Inhalt der gerichtlichen Entscheidung zu klären, die den Vollstreckungstitel darstelle.

27

Drittens könne nach einer in der polnischen Lehre vorherrschenden Auffassung das für die Zwangsvollstreckung zuständige Gericht zwar die Parteien anhören, aber nach Art. 1051 der Zivilprozessordnung keine Beweiserhebung vornehmen, um festzustellen, ob der Beklagte des Verletzungsverfahrens im Einklang mit dem Inhalt des Vollstreckungstitels gehandelt habe.

28

Viertens müsse der Schuldner nach Art. 843 § 3 der Zivilprozessordnung, wenn er im Vollstreckungsverfahren eine Klage erhebe, alle Einwendungen darlegen, die er vorbringen könne; andernfalls verliere er das Recht, sich im weiteren Verfahren auf sie zu berufen.

29

Daher bestehe, so das vorlegende Gericht, die Gefahr, dass der gerichtliche Schutz des freien Warenverkehrs durch diese gerichtliche Praxis bei der Formulierung des Tenors der Entscheidungen, mit denen die Verletzung festgestellt werde, beschränkt werde.

30

Unter diesen Umständen hat der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 36 Satz 2 AEUV in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001 und mit Art. 19 Abs. 1 [Unterabs.] 2 EUV dahin auszulegen, dass er einer Praxis der nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten entgegensteht, nach der die Gerichte

bei der Prüfung von Ansprüchen eines Markeninhabers auf Untersagung der Einfuhr, des Inverkehrbringens, des Anbietens, der Bewerbung von Waren unter einer Unionsmarke bzw. auf Anordnung der Rücknahme solcher Waren vom Markt oder ihrer Vernichtung,

bei der Entscheidung im Sicherungsverfahren über die Pfändung von Waren unter Unionsmarken

in ihren Entscheidungen auf „Gegenstände, die nicht vom Inhaber einer Unionsmarke bzw. mit dessen Zustimmung im [EWR] in Verkehr gebracht worden sind“, abstellen und hierdurch die Bestimmung der Gegenstände unter einer Unionsmarke, die von diesen urteilsgegenständlichen Ge- und Verboten betroffen sind (d. h. die Bestimmung, welche Gegenstände nicht vom Markeninhaber bzw. mit seiner Zustimmung im EWR in den Verkehr gebracht wurden), angesichts der allgemeinen Formulierung der Entscheidung dem Vollstreckungsorgan überlassen wird, das sich bei der Vollstreckung der Entscheidung auf die Erklärungen des Markeninhabers bzw. auf die von ihm zur Verfügung gestellten Instrumente (darunter IT‑Instrumente und Datenbanken) stützt, während die Zulässigkeit der Anfechtung von solchen Entscheidungen der Vollstreckungsbehörde vor dem erkennenden Gericht aufgrund der Natur der dem Beklagten im Sicherungs- bzw. Vollstreckungsverfahren zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe ausgeschlossen bzw. beschränkt ist?

Zur Vorlagefrage

31

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Außerdem kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (Urteil vom 8. September 2022, RTL Television, C‑716/20, EU:C:2022:643, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Was die in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vorgesehene Verpflichtung der Mitgliedstaaten betrifft, einen wirksamen Rechtsschutz in einem vom Unionsrecht erfassten Bereich zu gewährleisten, ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf allein auf der Grundlage von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) geltend gemacht werden kann, ohne dass dessen Inhalt durch andere Bestimmungen des Unionsrechts oder durch Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts der Mitgliedstaaten konkretisiert werden müsste. Dabei setzt die Anerkennung dieses Rechts in einem bestimmten Einzelfall nach Art. 47 Abs. 1 der Charta voraus, dass sich die Person, die es geltend macht, auf durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten beruft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 54 und 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2004/48 nach ihrem Art. 1 alle Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe betrifft, die erforderlich sind, um die Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums sicherzustellen, und dass diese Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe nach ihrem Art. 2 Abs. 1 auf jede Verletzung dieser im Unionsrecht und/oder im innerstaatlichen Recht des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehenen Rechte Anwendung findet.

34

Nach Art. 129 Abs. 3 der Verordnung 2017/1001 wendet ein Unionsmarkengericht die Verfahrensvorschriften an, die in dem Mitgliedstaat, in dem es seinen Sitz hat, auf gleichartige Verfahren betreffend nationale Marken anwendbar sind. Daraus folgt, dass die Verfahrensgarantien, über die ein Beklagter eines Verletzungsverfahrens im Stadium der Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung verfügt, auch anhand der Richtlinie 2004/48 zu beurteilen sind.

35

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner einzigen Frage wissen möchte, ob Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001 in Verbindung mit Art. 36 Satz 2 AEUV, Art. 47 der Charta und der Richtlinie 2004/48 dahin auszulegen ist, dass er einer Rechtsprechungspraxis entgegensteht, nach der der Tenor der Entscheidung, mit der einer Klage wegen Verletzung einer Unionsmarke stattgegeben wird, so allgemein formuliert wird, dass es der für die Vollstreckung dieser Entscheidung zuständigen Behörde überlassen bleibt, zu bestimmen, auf welche Waren diese Entscheidung Anwendung findet.

36

Diese Frage ist so zu verstehen, dass sie drei Teile umfasst. Der erste betrifft die Erschöpfung des Rechts aus der Unionsmarke und die Erfordernisse, die sich aus dem Schutz des freien Warenverkehrs ergeben. Der zweite bezieht sich auf die Anforderungen, denen nach der Richtlinie 2004/48 alle Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe genügen müssen, die erforderlich sind, um die Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums sicherzustellen. Der dritte betrifft die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, zum einen die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in einem vom Unionsrecht erfassten Bereich gewährleistet ist, und zum anderen die Voraussetzungen für ein faires Verfahren gemäß Art. 47 der Charta zu gewährleisten.

37

In Bezug auf den ersten Teil ist darauf hinzuweisen, dass Art. 9 der Verordnung 2017/1001 dem Inhaber einer Unionsmarke ein ausschließliches Recht gewährt, das es ihm u. a. gestattet, Dritten zu verbieten, mit seiner Marke versehene Waren ohne seine Zustimmung einzuführen, anzubieten, in den Verkehr zu bringen oder zu den genannten Zwecken zu besitzen (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2015, TOP Logistics u. a., C‑379/14, EU:C:2015:497, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001 enthält eine Ausnahme von diesem Grundsatz, indem er vorsieht, dass Erschöpfung des Rechts des Markeninhabers eintritt, wenn die Waren von ihm selbst oder mit seiner Zustimmung im EWR in den Verkehr gebracht wurden (vgl. entsprechend Urteil vom 14. Juli 2011, Viking Gas, C‑46/10, EU:C:2011:485, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Diese Bestimmung lehnt sich in ihrem Wortlaut an die Urteile des Gerichtshofs an, in denen bei der Auslegung der Art. 30 und 36 des EG-Vertrags (später Art. 28 und 30 EG, jetzt Art. 34 und 36 AEUV) im Unionsrecht der Grundsatz der Erschöpfung des Markenrechts anerkannt wurde. Sie übernimmt somit die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach sich der Inhaber einer nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats geschützten Marke nicht unter Berufung auf diese Vorschriften der Einfuhr oder dem Vertrieb einer Ware widersetzen kann, die in einem anderen Mitgliedstaat von ihm selbst oder mit seiner Zustimmung in den Verkehr gebracht worden ist (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Dezember 2017, Schweppes, C‑291/16, EU:C:2017:990, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Diese auf Art. 36 AEUV beruhende Rechtsprechung zum Grundsatz der Erschöpfung des Markenrechts soll ebenso wie Art. 15 der Verordnung 2017/1001 die grundlegenden Belange des Markenschutzes mit denen des freien Warenverkehrs im Binnenmarkt in Einklang bringen, so dass diese beiden Bestimmungen, mit denen dasselbe Ergebnis erreicht werden soll, in gleicher Weise auszulegen sind (vgl. entsprechend Urteil vom 20. Dezember 2017, Schweppes, C‑291/16, EU:C:2017:990, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Um einen angemessenen Ausgleich zwischen diesen grundlegenden Belangen zu gewährleisten, ist die Möglichkeit, die Erschöpfung des Rechts aus der Unionsmarke als Ausnahme von diesem Recht geltend zu machen, in mehrfacher Hinsicht begrenzt.

42

Erstens ist in Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001 der Grundsatz der Erschöpfung der Rechte aus der Marke für vom Markeninhaber oder mit seiner Zustimmung in den Verkehr gebrachte Waren nicht unabhängig von dem Ort verankert, an dem das Inverkehrbringen erfolgt ist, sondern nur für auf dem EWR-Markt in den Verkehr gebrachte Waren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 1998, Silhouette International Schmied, C‑355/96, EU:C:1998:374, Rn. 21, 26 und 31).

43

Durch die Klarstellung, dass das Inverkehrbringen außerhalb des EWR nicht das Recht des Inhabers erschöpft, sich der ohne seine Zustimmung unternommenen Einfuhr der betreffenden Waren zu widersetzen, hat der Unionsgesetzgeber es dem Markeninhaber somit gestattet, das erste Inverkehrbringen der mit der Marke versehenen Waren im EWR zu kontrollieren (vgl. entsprechend Urteil vom 20. November 2001, Zino Davidoff und Levi Strauss, C‑414/99 bis C‑416/99, EU:C:2001:617, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Zweitens sind mit einer Marke versehene Waren nicht als „im EWR in den Verkehr gebracht“ anzusehen, wenn der Markeninhaber sie in den EWR eingeführt hat, um sie dort zu verkaufen, oder wenn er sie in eigenen Geschäften oder in Geschäften verbundener Unternehmen zum Verkauf an Verbraucher im EWR angeboten hat, ohne dass sie verkauft worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. November 2004, Peak Holding, C‑16/03, EU:C:2004:759, Rn. 44).

45

Drittens hat der Gerichtshof entschieden, dass sich die Zustimmung des Inhabers außerdem auf jedes Exemplar der Ware erstrecken muss, für die die Erschöpfung geltend gemacht wird. Somit genügt es nicht, dass der Inhaber der Marke auf dem EWR-Markt bereits Waren vertreibt, die mit denjenigen, für die die Erschöpfung geltend gemacht wird, identisch sind oder ihnen ähneln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 1999, Sebago und Maison Dubois, C‑173/98, EU:C:1999:347, Rn. 21 und 22).

46

Viertens muss die Zustimmung, die einem Verzicht des Inhabers auf sein ausschließliches Recht aus Art. 9 der Verordnung 2017/1001, Dritten zu verbieten, mit seiner Marke versehene Waren einzuführen, gleichkommt, auf eine Weise geäußert werden, die einen Willen zum Verzicht auf dieses Recht mit Bestimmtheit erkennen lässt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. November 2001, Zino Davidoff und Levi Strauss, C‑414/99 bis C‑416/99, EU:C:2001:617, Rn. 41 und 45).

47

Ein solcher Wille ergibt sich in der Regel aus einer ausdrücklichen Erteilung der Zustimmung. Allerdings haben die Erfordernisse, die sich aus dem Schutz des freien Warenverkehrs ergeben, den Gerichtshof zu der Annahme veranlasst, dass diese Regel Modifizierungen unterliegen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2009, Makro Zelfbedieningsgroothandel u. a., C‑324/08, EU:C:2009:633, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48

Somit lässt sich nicht ausschließen, dass sich der Wille zum Verzicht auf dieses Recht in bestimmten Fällen, selbst dann, wenn das erste Inverkehrbringen der betreffenden Waren im EWR ohne ausdrückliche Zustimmung des Markeninhabers erfolgt ist, konkludent aus Anhaltspunkten und Umständen vor, bei oder nach dem Inverkehrbringen ergeben kann, die nach der Beurteilung des nationalen Gerichts ebenfalls mit Bestimmtheit einen Verzicht des Inhabers auf sein Recht erkennen lassen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. November 2001, Zino Davidoff und Levi Strauss, C‑414/99 bis C‑416/99, EU:C:2001:617, Rn. 46, und vom 15. Oktober 2009, Makro Zelfbedieningsgroothandel u. a., C‑324/08, EU:C:2009:633, Rn. 25 bis 27).

49

Allerdings kann sich eine konkludente Zustimmung nicht aus einem bloßen Schweigen des Markeninhabers ergeben. Eine solche Zustimmung kann sich auch nicht daraus ergeben, dass der Markeninhaber über seinen Widerspruch gegen einen Vertrieb im EWR nicht unterrichtet hat oder dass ein Verbot des Inverkehrbringens im EWR auf den Waren nicht angegeben ist. Die für den Nachweis einer konkludenten Zustimmung geltenden Anforderungen sehen insoweit keine grundsätzliche Unterscheidung danach vor, ob das erste Inverkehrbringen außerhalb oder innerhalb des EWR erfolgt ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. November 2001, Zino Davidoff und Levi Strauss, C‑414/99 bis C‑416/99, EU:C:2001:617, Rn. 55 und 56, sowie vom 15. Oktober 2009, Makro Zelfbedieningsgroothandel u. a., C‑324/08, EU:C:2009:633, Rn. 28).

50

Fünftens schließlich trifft die Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anwendung der Erschöpfung grundsätzlich den Wirtschaftsteilnehmer, der sich auf die Erschöpfung beruft. Diese Regel ist jedoch anzupassen, wenn sie es dem Inhaber ermöglichen könnte, die nationalen Märkte abzuschotten und damit den Fortbestand von Preisunterschieden zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Schweppes, C‑291/16, EU:C:2017:990, Rn. 52 und 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51

Eine solche Anpassung der Beweislast wäre insbesondere bei einem ausschließlichen Vertriebssystem geboten (Urteil vom 8. April 2003, Van Doren + Q, C‑244/00, EU:C:2003:204, Rn. 39).

52

Somit ergibt sich aus Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001 in Verbindung mit Art. 36 AEUV und der in den Rn. 38 bis 40 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass ein Wirtschaftsteilnehmer, der sich mit einer Verletzungsklage des Inhabers einer Unionsmarke konfrontiert sieht, berechtigt ist, sich zu seiner Verteidigung darauf zu berufen und zu beweisen, dass die mit dieser Marke versehenen Waren, auf die sich die Verletzungsklage bezieht, von diesem Inhaber oder mit seiner Zustimmung im EWR in den Verkehr gebracht worden sind. Wie sich aus der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, muss dieser Wirtschaftsteilnehmer auch in den Genuss einer Anpassung der Beweislast zu seinen Gunsten kommen können, wenn die hierfür in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Voraussetzungen erfüllt sind.

53

Dagegen geht aus der in den Rn. 44 und 49 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht hervor, dass der Markeninhaber verpflichtet wäre, ein System zur Kennzeichnung seiner Waren einzuführen, mit dem für jede Ware festgestellt werden kann, ob sie für den EWR-Markt bestimmt war.

54

Wie nämlich der Generalanwalt in Nr. 76 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, kann mangels einer unionsrechtlichen Vorschrift, deren Auslegung unter Berücksichtigung u. a. ihres Wortlauts und ihres Kontexts sowie der mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgten Ziele zu einer solchen Lösung führen könnte, eine bloße Feststellung, dass es für den Beklagten eines Verletzungsverfahrens schwierig ist, Informationen über den ursprünglichen Lieferanten eines Parallelvertriebsnetzes zu erlangen, keine Rechtsgrundlage darstellen, die es rechtfertigt, dem Inhaber eine solche Verpflichtung aufzubürden.

55

Außerdem würde jede dahin gehende Verpflichtung die Möglichkeit für den Inhaber, den für eine bestimmte Ware ursprünglich vorgesehenen Bestimmungsmarkt kurzfristig zu ändern, ungebührlich einschränken.

56

Zum zweiten Teil der Vorlagefrage ist festzustellen, dass die verfahrensrechtlichen Aspekte der Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums einschließlich des in Art. 9 der Verordnung 2017/1001 vorgesehenen ausschließlichen Rechts grundsätzlich durch das nationale Recht geregelt werden, wie es durch die Richtlinie 2004/48 harmonisiert wurde, die, wie insbesondere aus ihren Art. 1 bis 3 hervorgeht, die Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe betrifft, die erforderlich sind, um die Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums sicherzustellen. Daher muss jedes nationale Verfahren, das eine Klage wegen Verletzung einer Unionsmarke betrifft, die Bestimmungen dieser Richtlinie beachten.

57

Es ist jedoch festzustellen, dass der Verfahrensaspekt, auf den sich die vom vorlegenden Gericht in der vorliegenden Rechtssache gestellte Frage speziell bezieht, nicht durch die Richtlinie 2004/48 geregelt wird, da diese keine Bestimmung über die Formulierung des Tenors gerichtlicher Entscheidungen über eine Verletzungsklage enthält. Diese Frage unterliegt daher dem Grundsatz der Verfahrensautonomie, der Gegenstand des dritten Teils der Vorlagefrage ist.

58

Hinsichtlich dieses dritten Teils scheint das vorlegende Gericht einen Kausalzusammenhang zwischen der Formulierung des Tenors der zur Beendigung des Ausgangsrechtsstreits zu erlassenden Entscheidung und den angeführten Nachteilen wahrzunehmen, denen die Beklagte im Stadium der Vollstreckung dieser Entscheidung ausgesetzt sein könnte. Allerdings ist festzustellen, dass sich diese Nachteile aus dem entsprechenden Zwangsvollstreckungsverfahren nach der Verletzungsklage ergeben.

59

Daher ist zu prüfen, ob der Umstand, dass die Beklagte im Stadium der Zwangsvollstreckung nach nationalem Recht über begrenzte Rechtsbehelfe und Verfahrensgarantien verfügt, im Widerspruch zu den unionsrechtlichen Erfordernissen eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes und damit der Einheit sowie der Wirksamkeit des Unionsrechts steht.

60

Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und nun auch in Art. 47 der Charta verankert (Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61

Zum Wesensgehalt des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gehört u. a., dass die Person, die Inhaber dieses Rechts ist, Zugang zu einem Gericht erhalten kann, das über die Befugnis verfügt, die Achtung der ihr durch das Unionsrecht garantierten Rechte sicherzustellen und zu diesem Zweck alle für die bei ihm anhängige Streitigkeit relevanten Tatsachen- und Rechtsfragen zu prüfen (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62

Außerdem ist der Grundsatz der Waffengleichheit, der eine logische Folge aus dem Begriff des fairen Verfahrens als solchem ist und der Wahrung des Gleichgewichts zwischen den Prozessparteien dient, indem er gewährleistet, dass jedes Dokument, das dem Gericht vorgelegt wird, von jeder Partei des Verfahrens kontrolliert und in Frage gestellt werden kann, integraler Bestandteil des in Art. 47 der Charta verankerten Grundsatzes des wirksamen gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte. Dieser Grundsatz gebietet es insbesondere, dass es jeder Partei angemessen ermöglicht wird, ihren Standpunkt sowie ihre Beweise unter Bedingungen vorzutragen, die sie nicht in eine gegenüber ihrem Gegner deutlich nachteilige Position versetzen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Juli 2014, Sánchez Morcillo und Abril García, C‑169/14, EU:C:2014:2099, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 10. Februar 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Verjährungsfrist], C‑219/20, EU:C:2022:89, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte einen fundamentalen Grundsatz des Unionsrechts darstellt. Gegen diesen Grundsatz würde es verstoßen, wenn eine gerichtliche Entscheidung auf Tatsachen und Schriftstücke gegründet würde, von denen die Parteien selbst – oder eine von ihnen – keine Kenntnis nehmen und zu denen sie daher auch nicht Stellung nehmen konnten (Urteil vom 12. November 2014, Guardian Industries und Guardian Europe/Kommission, C‑580/12 P, EU:C:2014:2363 Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64

Nach ständiger Rechtsprechung ist die Beachtung der Verteidigungsrechte in allen Verfahren gegen eine Person, die zu einer sie beschwerenden Maßnahme führen können, auch dann sicherzustellen, wenn eine spezielle Regelung fehlt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2007, Land Oberösterreich und Österreich/Kommission, C‑439/05 P und C‑454/05 P, EU:C:2007:510, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

65

Gleichwohl ist es – vorbehaltlich des Bestehens einschlägiger Unionsregeln, wie der in der Richtlinie 2004/48 vorgesehenen – nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die verfahrensrechtlichen Modalitäten der Rechtsbehelfe festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass diese Modalitäten bei dem Unionsrecht unterliegenden Sachverhalten nicht ungünstiger sind als bei gleichartigen Sachverhalten, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

66

Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung zu urteilen verstoßen die einschlägigen Bestimmungen des nationalen Verfahrensrechts offensichtlich nicht gegen den Äquivalenzgrundsatz.

67

Zum Effektivitätsgrundsatz ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht die Mitgliedstaaten nicht dazu zwingt, neben den nach innerstaatlichem Recht bereits bestehenden Rechtsbehelfen neue zu schaffen, es sei denn, es gibt nach dem System der betreffenden nationalen Rechtsordnung keinen Rechtsbehelf, mit dem wenigstens inzident die Wahrung der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleistet werden könnte, oder die einzige Möglichkeit für den Einzelnen, Zugang zu einem Gericht zu erlangen, bestünde darin, eine Rechtsverletzung begehen zu müssen (Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 62).

68

Zudem ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (Urteile vom 10. März 2022, Grossmania, C‑177/20, EU:C:2022:175, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 17. Mai 2022, SPV Project 1503 u. a., C‑693/19 und C‑831/19, EU:C:2022:395, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

69

Einem Wirtschaftsteilnehmer, der Waren besitzt, die vom Inhaber einer Unionsmarke oder mit dessen Zustimmung unter dieser Marke im EWR in den Verkehr gebracht wurden, stehen indessen Rechte aus dem mit den Art. 34 und 36 AEUV gewährleisteten freien Warenverkehr und aus Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001 zu, die die nationalen Gerichte zu wahren haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Dezember 1968, Salgoil, 13/68, EU:C:1968:54, S. 694, und vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a., C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 105 und die dort angeführte Rechtsprechung).

70

Im Hinblick auf den in der in Rn. 65 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung anerkannten Grundsatz der Verfahrensautonomie kann das Unionsrecht jedoch vorbehaltlich der Bestimmungen der Richtlinie 2004/48 einer gerichtlichen Praxis nicht entgegenstehen, nach der der Tenor einer Entscheidung, mit der einer Klage wegen Verletzung einer Unionsmarke stattgegeben wird, allgemein formuliert ist, sofern der Beklagte über einen wirksamen gerichtlichen Schutz der Rechte verfügt, die er aus den Art. 34 und 36 AEUV sowie aus Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001 herleitet.

71

Wenn das nationale Gericht verpflichtet ist, im Tenor seiner Entscheidungen, mit denen einer Klage wegen Verletzung einer Unionsmarke stattgegeben wird, mit einer allgemeinen Formulierung die Waren zu bezeichnen, die nicht zuvor vom Inhaber oder mit seiner Zustimmung im EWR in den Verkehr gebracht worden sind, müsste der Beklagte demnach im Stadium der Zwangsvollstreckung in den Genuss aller Garantien eines fairen Verfahrens kommen, um die Existenz einer Verletzung oder drohenden Verletzung der ausschließlichen Rechte des Markeninhabers in zweckdienlicher Weise bestreiten und sich der Beschlagnahme der Exemplare der Waren widersetzen zu können, für die die ausschließlichen Rechte des Markeninhabers erschöpft sind und die daher frei im EWR zirkulieren können.

72

Was den vom vorlegenden Gericht angeführten Umstand angeht, dass es AB mangels eines Zugangs zu den Datenbanken von Harman objektiv nicht möglich sei, nachzuweisen, dass die von ihr erworbenen Waren von Harman oder mit deren Zustimmung im EWR in den Verkehr gebracht worden seien, könnte es sich, wie der Generalanwalt in Nr. 90 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, selbst dann, wenn die Hypothese eines ausschließlichen Vertriebs nicht belegt wird, als erforderlich erweisen, dass die für die Zwangsvollstreckung zuständige Behörde oder, je nach Fall, das Gericht, dass für die Entscheidung über Rechtsbehelfe gegen die Handlungen dieser Behörde zuständig ist, die Beweislast anpassen, soweit sie anhand der besonderen Umstände in Bezug auf den Vertrieb der fraglichen Waren feststellen sollten, dass die in Rn. 50 des vorliegenden Urteils angeführte Beweislastregel es dem Markeninhaber ermöglichen könnte, die nationalen Märkte abzuschotten und damit den Fortbestand von Preisunterschieden zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern.

73

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2017/1001 in Verbindung mit Art. 36 Satz 2 AEUV, Art. 47 der Charta und der Richtlinie 2004/48 dahin auszulegen ist, dass er einer Rechtsprechungspraxis nicht entgegensteht, nach der der Tenor der Entscheidung, mit der einer Klage wegen Verletzung einer Unionsmarke stattgegeben wird, so allgemein formuliert wird, dass es der für die Vollstreckung dieser Entscheidung zuständigen Behörde überlassen bleibt, zu bestimmen, auf welche Waren diese Entscheidung Anwendung findet, sofern der Beklagte im Rahmen des Zwangsvollstreckungsverfahrens die Bestimmung der von diesem Verfahren erfassten Waren anfechten kann und ein Gericht unter Beachtung der Bestimmungen der Richtlinie 2004/48 prüfen und entscheiden kann, welche Waren vom Inhaber der Marke oder mit seiner Zustimmung tatsächlich im EWR in den Verkehr gebracht wurden.

Kosten

74

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 15 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über die Unionsmarke ist in Verbindung mit Art. 36 Satz 2 AEUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums

 

dahin auszulegen, dass

 

er einer Rechtsprechungspraxis nicht entgegensteht, nach der der Tenor der Entscheidung, mit der einer Klage wegen Verletzung einer Unionsmarke stattgegeben wird, so allgemein formuliert wird, dass es der für die Vollstreckung dieser Entscheidung zuständigen Behörde überlassen bleibt, zu bestimmen, auf welche Waren diese Entscheidung Anwendung findet, sofern der Beklagte im Rahmen des Zwangsvollstreckungsverfahrens die Bestimmung der von diesem Verfahren erfassten Waren anfechten kann und ein Gericht unter Beachtung der Bestimmungen der Richtlinie 2004/48 prüfen und entscheiden kann, welche Waren vom Inhaber der Marke oder mit seiner Zustimmung tatsächlich im Europäischen Wirtschaftsraum in den Verkehr gebracht wurden.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.

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