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Document 62021CJ0040
Judgment of the Court (First Chamber) of 4 May 2023.#T.A.C. v Agenția Națională de Integritate (ANI).#Request for a preliminary ruling from the Curtea de Apel Timişoara.#Reference for a preliminary ruling – Decision 2006/928/EC – Mechanism for cooperation and verification of progress in Romania to address specific benchmarks in the areas of judicial reform and the fight against corruption – Charter of Fundamental Rights of the European Union – Article 15(1) – Article 47 – Article 49(3) – Elective public office – Conflict of interests – National legislation prohibiting the holding of elective public office for a predetermined period – Penalty additional to the termination of the term of office – Principle of proportionality.#Case C-40/21.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 4. Mai 2023.
T.A.C. gegen Agenția Națională de Integritate (ANI).
Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Timişoara.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Entscheidung 2006/928/EG – Verfahren für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 15 Abs. 1 – Art. 47 – Art. 49 Abs. 3 – Öffentliches Wahlamt – Interessenkonflikt – Nationale Regelung, die ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für eine vorbestimmte Dauer vorsieht – Sanktion, die zur Beendigung des Mandats hinzutritt – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Rechtssache C-40/21.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 4. Mai 2023.
T.A.C. gegen Agenția Națională de Integritate (ANI).
Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Timişoara.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Entscheidung 2006/928/EG – Verfahren für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 15 Abs. 1 – Art. 47 – Art. 49 Abs. 3 – Öffentliches Wahlamt – Interessenkonflikt – Nationale Regelung, die ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für eine vorbestimmte Dauer vorsieht – Sanktion, die zur Beendigung des Mandats hinzutritt – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Rechtssache C-40/21.
Court reports – general
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:367
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)
4. Mai 2023 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Entscheidung 2006/928/EG – Verfahren für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 15 Abs. 1 – Art. 47 – Art. 49 Abs. 3 – Öffentliches Wahlamt – Interessenkonflikt – Nationale Regelung, die ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für eine vorbestimmte Dauer vorsieht – Sanktion, die zur Beendigung des Mandats hinzutritt – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C‑40/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Timişoara (Berufungsgericht Timişoara, Rumänien) mit Entscheidung vom 12. November 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Januar 2021, in dem Verfahren
T. A. C.
gegen
Agenția Națională de Integritate (ANI)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter P. G. Xuereb, T. von Danwitz (Berichterstatter) und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– |
von T. A. C., vertreten durch T. Chiuariu, Avocat, |
– |
der Agenția Națională de Integritate (ANI), vertreten durch D. Chiurtu, O. Iacob und F.‑I. Moise als Bevollmächtigte, |
– |
der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und L. Liţu als Bevollmächtigte, |
– |
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, |
– |
der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Nicolae, P. J. O. Van Nuffel und M. Wasmeier als Bevollmächtigte, |
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. November 2022
folgendes
Urteil
1 |
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56) sowie von Art. 15 Abs. 1, Art. 47 und Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). |
2 |
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen T. A. C. und der Agenția Națională de Integritate (ANI) (Nationale Integritätsbehörde, Rumänien) wegen eines Berichts dieser Behörde, in dem festgestellt wird, dass T. A. C während seiner Amtszeit als Bürgermeister gegen die Vorschriften über Interessenkonflikte im Bereich der Verwaltung verstoßen habe. |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 |
Die Entscheidung 2006/928 wurde im Zusammenhang mit dem für den 1. Januar 2007 vorgesehenen Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union u. a. auf der Grundlage der Art. 37 und 38 der am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens und die Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht (ABl. 2005, L 157, S. 203, im Folgenden: Beitrittsakte) erlassen. Die Erwägungsgründe 1 bis 6 und 9 dieser Entscheidung lauten:
…
|
4 |
Art. 1 der Entscheidung 2006/928 sieht vor: „Bis zum 31. März jedes Jahres und zum ersten Mal bis zum 31. März 2007 erstattet Rumänien der Kommission Bericht über die Fortschritte bei der Erfüllung der im Anhang aufgeführten Vorgaben. Die Kommission kann jederzeit mit verschiedenen Maßnahmen technische Hilfe leisten oder Informationen zu den Vorgaben sammeln und austauschen. Ferner kann die Kommission zu diesem Zweck jederzeit Fachleute nach Rumänien entsenden. Die rumänischen Behörden leisten in diesem Zusammenhang die erforderliche Unterstützung.“ |
5 |
Art. 2 dieser Entscheidung bestimmt: „Die Kommission übermittelt dem Europäischen Parlament und dem Rat ihre Stellungnahme und ihre Feststellungen zum Bericht Rumäniens zum ersten Mal im Juni 2007. Danach erstattet die Kommission nach Bedarf, mindestens jedoch alle sechs Monate erneut Bericht.“ |
6 |
Art. 4 der Entscheidung lautet: „Diese Entscheidung ist an alle Mitgliedstaaten gerichtet.“ |
7 |
Der Anhang der Entscheidung hat folgenden Wortlaut: „Vorgaben für Rumänien nach Artikel 1:
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Rumänisches Recht
8 |
Art. 25 der Legea nr. 176/2010 privind integritatea în exercitarea funcțiilor și demnităților publice, pentru modificarea și completarea legii nr. 144/2007 privind înființarea, organizarea și funcționarea Agenției Naționale de Integritate, precum și pentru modificarea și completarea altor acte normative (Gesetz Nr. 176/2010 über die Integrität bei der Wahrnehmung öffentlicher Ämter und Würden, zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes Nr. 144/2007 über die Errichtung, Organisation und Arbeitsweise der Nationalen Integritätsbehörde sowie zur Änderung und Ergänzung weiterer Rechtsakte) vom 1. September 2010 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 621 vom 2. September 2010) bestimmt: „(1) Die Handlung einer Person, bezüglich deren festgestellt wurde, dass sie unter Verstoß gegen die gesetzlichen Verpflichtungen betreffend den Interessenkonflikt oder die Unvereinbarkeit einen Verwaltungsakt erlassen, ein Rechtgeschäft abgeschlossen, eine Entscheidung erlassen oder am Erlass einer Entscheidung mitgewirkt hat, stellt ein Disziplinarvergehen dar und wird nach den für die betreffende Würde, das betreffende Amt oder die betreffende Tätigkeit geltenden Vorschriften geahndet, sofern die Bestimmungen dieses Gesetzes nichts anderes bestimmen und die Handlung nicht die Tatbestandsmerkmale einer Straftat erfüllt. (2) Einer Person, die gemäß den Bestimmungen von Abs. 1 aus dem Amt entlassen oder ihres Amtes enthoben worden ist oder bei der ein Interessenkonflikt oder eine Unvereinbarkeit festgestellt worden ist, ist für einen Zeitraum von drei Jahren ab dem Tag der Entlassung oder der Entfernung aus dem betreffenden öffentlichen Amt oder der betreffenden öffentlichen Würde oder der Beendigung des Mandats das Recht verwehrt, ein öffentliches Amt oder eine öffentliche Würde, die den Bestimmungen dieses Gesetzes unterliegen, zu bekleiden, mit Ausnahme von Wahlämtern. Hat die Person ein wählbares Amt bekleidet, darf sie dasselbe Amt für einen Zeitraum von drei Jahren nach der Beendigung des Mandats nicht mehr ausüben. Bekleidet die Person zum Zeitpunkt der Feststellung der Unvereinbarkeit oder des Interessenkonflikts kein öffentliches Amt oder keine öffentliche Würde mehr, so gilt die dreijährige Sperre kraft Gesetzes ab dem Tag, an dem der Beurteilungsbericht endgültig wird oder das Urteil, mit dem das Vorliegen eines Interessenkonflikts oder eine Unvereinbarkeit bestätigt wird, endgültig und unwiderrufbar wird. …“ |
9 |
Art. 66 Abs. 1 der Legea nr. 286/2009 privind Codul penal (Gesetz Nr. 286/2009 betreffend das Strafgesetzbuch) vom 17. Juli 2009 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 510 vom 24. Juli 2009) in seiner für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (im Folgenden: Strafgesetzbuch) lautet: „Die ergänzende Strafe des Verbots der Ausübung bestimmter Rechte besteht in dem Verbot, während eines Zeitraums von einem bis zu fünf Jahren eines oder mehrere der folgenden Rechte auszuüben:
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10 |
Art. 301 („Interessenkonflikt“) des Strafgesetzbuchs bestimmt in Abs. 1: „Ein Amtsträger, der in Ausübung seines Amtes eine Handlung vornimmt oder am Erlass einer Entscheidung mitwirkt, durch die er für sich, seinen Ehegatten, einen Verwandten oder einen Verschwägerten bis einschließlich zweiten Grades unmittelbar oder mittelbar einen Vermögensvorteil erlangt, … wird mit Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren und mit der ergänzenden Strafe des Verbots der Ausübung des Rechts, ein öffentliches Amt zu bekleiden, bestraft.“ |
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
11 |
Am 22. Juni 2016 wurde der Kläger des Ausgangsverfahrens für den Zeitraum 2016‑2020 zum Bürgermeister der Gemeinde MN (Rumänien) gewählt. |
12 |
In einem Beurteilungsbericht vom 25. November 2019 stellte die ANI fest, dass er die Vorschriften über Interessenkonflikte im Bereich der Verwaltung nicht eingehalten habe. Während seiner Amtszeit habe er nämlich mittels eines Nutzungsüberlassungsvertrags einem Verein, in dem seine Ehefrau Gründungsmitglied und stellvertretende Vorsitzende sei, das Recht eingeräumt, bestimmte der Gemeinde gehörende Räumlichkeiten für einen Zeitraum von fünf Jahren unentgeltlich für kulturelle Aktivitäten zu nutzen. |
13 |
Sollte dieser Bericht, der als Feststellung eines Interessenkonflikts seitens des Klägers des Ausgangsverfahrens gilt, bestandskräftig werden – etwa mangels Anfechtung –, würde sein Mandat kraft Gesetzes enden, und ihm würde nach nationalem Recht außerdem für die Dauer von drei Jahren verboten, ein öffentliches Wahlamt zu bekleiden. |
14 |
Mit Klageschrift vom 19. Dezember 2019 erhob der Kläger des Ausgangsverfahrens beim Tribunalul București (Regionalgericht Bukarest, Rumänien) Klage auf Nichtigerklärung dieses Berichts und machte u. a. geltend, dass das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegenstehe, wonach gegen eine Person, die den Feststellungen zufolge in einem Interessenkonflikt gehandelt habe, eine Sanktion wie das Verbot, für die Dauer von drei Jahren ein öffentliches Wahlamt zu bekleiden, automatisch verhängt werde, ohne dass dabei nach der Schwere des begangenen Verstoßes abgewogen werden könne. |
15 |
Das Regionalgericht Bukarest verneinte seine Zuständigkeit für diese Klage und verwies die Sache an das vorlegende Gericht, die Curtea de Apel Timișoara (Berufungsgericht Timișoara, Rumänien). |
16 |
Das vorlegende Gericht führt zunächst aus, dass das Ausgangsverfahren in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle, da das Gesetz Nr. 176/2010 die zweite im Anhang der Entscheidung 2006/928 genannte Vorgabe umsetze. Auch die Gründung der ANI sei erfolgt, um diese Vorgabe zu erfüllen. |
17 |
Sodann weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach Art. 25 dieses Gesetzes, wenn in Bezug auf eine Person, die ein öffentliches Wahlamt bekleide, ein Interessenkonflikt bestandskräftig festgestellt werde, das Mandat dieser Person kraft Gesetzes ende. Außerdem greife dann automatisch das in Abs. 2 dieses Artikels vorgesehene zusätzliche Verbot der Bekleidung dieses Amtes für die Dauer von drei Jahren, ohne dass dieses Verbot auf seine Erforderlichkeit geprüft oder nach Maßgabe der Schwere des Verstoßes differenziert angewandt werde. Nach der Rechtsprechung der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) betreffe dieses Verbot alle in Art. 1 des Gesetzes Nr. 176/2010 genannten öffentlichen Wahlämter, ungeachtet des in dieser Bestimmung verwendeten Ausdrucks „dasselbe Amt“. Im Übrigen könne weder die Beendigung des Mandats noch das Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gerichtlich angefochten werden, da das mit der Rechtmäßigkeit eines Beurteilungsberichts der ANI befasste Gericht nur prüfen könne, ob die dem Betroffenen vorgeworfenen Handlungen einen Interessenkonflikt begründeten, und sich nicht zu den daraus folgenden Sanktionen äußern könne. |
18 |
Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass im vorliegenden Fall zwar keine Straftat des Klägers des Ausgangsverfahrens festgestellt worden sei, Art. 301 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs aber einen Straftatbestand des Interessenkonflikts vorsehe, der ebenfalls mit der ergänzenden Strafe des Verbots der Bekleidung eines öffentlichen Amtes nach Art. 66 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs geahndet werden könne. Daher sei zu klären, ob das in Art. 25 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 176/2010 vorgesehene Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter ebenso wie diese ergänzende Strafe nach Maßgabe des in Art. 49 der Charta niedergelegten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit von Strafen zu beurteilen sei und, wenn ja, ob dieser Grundsatz einer solchen Sanktion entgegenstehe. |
19 |
Schließlich sei zu prüfen, ob Art. 15 Abs. 1 und Art. 47 der Charta einer nationalen Bestimmung entgegenstünden, nach der diese Sanktion für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren automatisch verhängt werde, ohne dass es dem Gericht gestattet wäre, sich in Ansehung der konkreten Umstände des Einzelfalls mit ihrer Erforderlichkeit oder ihrem Ausmaß zu befassen. |
20 |
Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel Timişoara (Berufungsgericht Timişoara) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
|
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
21 |
Die ANI und die rumänische Regierung halten die Vorlagefragen für unzulässig. Sie machen zum einen geltend, die Charta sei auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar, da keine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta vorliege. Zum anderen tragen sie vor, die vorgelegten Fragen seien unerheblich und das aufgeworfene Problem sei rein hypothetisch, da es im Ausgangsrechtsstreit nur um die Nichtigerklärung eines Beurteilungsberichts gehe, in dem ein Interessenkonflikt des Klägers des Ausgangsverfahrens festgestellt worden sei, und nicht um die Frage der Sanktionen. |
22 |
Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert ist, wonach die Charta für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union gilt. Diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
23 |
Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts sowie aus der Begründung des Gesetzes Nr. 176/2010 hervor, dass mit diesem Gesetz die zweite im Anhang der Entscheidung 2006/928 genannte Vorgabe umgesetzt wird, nämlich die Einrichtung einer Behörde für Integrität mit folgenden Zuständigkeiten: Überprüfung von Vermögensverhältnissen, Unvereinbarkeiten und möglichen Interessenskonflikten und Verabschiedung verbindlicher Beschlüsse als Grundlage für abschreckende Sanktionen. |
24 |
Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, sind die im Anhang dieser Entscheidung aufgeführten Vorgaben für Rumänien insofern verbindlich, als dieser Mitgliedstaat der besonderen Verpflichtung unterliegt, sie zu erreichen und die zu ihrer Erreichung geeigneten Maßnahmen zu ergreifen. Ebenso ist dieser Mitgliedstaat verpflichtet, von der Durchführung aller Maßnahmen abzusehen, die die Erreichung dieser Vorgaben gefährden könnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 172). |
25 |
Ferner verpflichtet diese Entscheidung Rumänien dazu, Korruption, insbesondere Korruption auf höchster Ebene, wirksam und unabhängig von einer etwaigen Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der Union zu bekämpfen sowie die Anwendung wirksamer und abschreckender Sanktionen im Fall von Korruptionsdelikten im Allgemeinen vorzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 189 und 190 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). |
26 |
In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof auch klargestellt, dass Rumänien die anwendbaren Sanktionen, bei denen es sich um verwaltungsrechtliche oder strafrechtliche Sanktionen oder um eine Kombination aus beiden handeln kann, frei wählen kann, wobei diese Befugnis durch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Äquivalenz und der Effektivität beschränkt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 191 und 192 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). |
27 |
Aus diesen Erwägungen folgt, wie der Generalanwalt in Nr. 21 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dass das Gesetz Nr. 176/2010, insbesondere sein Art. 25, eine Maßnahme zur Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellt, so dass die Charta im Rahmen des Ausgangsverfahrens anwendbar ist. |
28 |
Was den Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits betrifft, so spricht nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 13. November 2018, Levola Hengelo, C‑310/17, EU:C:2018:899, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
29 |
Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht im Vorabentscheidungsersuchen ausgeführt, dass dem Kläger des Ausgangsverfahrens, wenn die Rechtmäßigkeit des in Rn. 12 des vorliegenden Urteils erwähnten Beurteilungsberichts durch Abweisung der bei diesem Gericht anhängigen Klage bestätigt werden sollte, die Bekleidung öffentlicher Wahlämter für die Dauer von drei Jahren gemäß Art. 25 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 176/2010 automatisch verboten würde, ohne dass er dieses Verbot im Rahmen eines weiteren Gerichtsverfahrens anfechten könnte. |
30 |
Es ist daher nicht offensichtlich, dass die Auslegung der Bestimmungen der Charta in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder dass das Problem hypothetischer Natur ist. |
31 |
Folglich sind die Vorlagefragen zulässig. |
Zur Beantwortung der Vorlagefragen
Zur ersten Frage
32 |
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen ist, dass er auf eine nationale Regelung anwendbar ist, die am Ende eines Verwaltungsverfahrens eine Maßnahme vorsieht, mit der für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gegen eine Person verhängt wird, bei der ein Interessenkonflikt in der Ausübung eines solchen Amtes festgestellt wurde. |
33 |
Art. 49 Abs. 3 der Charta, wonach das Strafmaß zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein darf, betrifft Sanktionen strafrechtlicher Natur. Daher ist zu prüfen, ob ein Verbot wie das oben beschriebene strafrechtlichen Charakter hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, ECOTEX BULGARIA, C‑544/19, EU:C:2021:803, Rn. 90). |
34 |
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung von Art. 50 der Charta, die auf deren Art. 49 Abs. 3 übertragen wurde, sind für die Beurteilung des strafrechtlichen Charakters einer Sanktion drei Kriterien maßgebend: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Oktober 2021, ECOTEX BULGARIA, C‑544/19, EU:C:2021:803, Rn. 91, sowie vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
35 |
Auch bei Zuwiderhandlungen, die im innerstaatlichen Recht nicht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, kann sich ein solcher Charakter gleichwohl aus der Art der Zuwiderhandlung und dem Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion ergeben (Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
36 |
Zwar ist es Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der genannten Kriterien zu beurteilen, ob die im Ausgangsverfahren fragliche Maßnahme im Sinne von Art. 49 Abs. 3 der Charta strafrechtlicher Natur ist, doch kann der Gerichtshof in seiner Vorabentscheidung Klarstellungen vornehmen, um diesem Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, ECOTEX BULGARIA, C‑544/19, EU:C:2021:803, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
37 |
Was das erste Kriterium anbelangt, das die Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht betrifft, ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut von Art. 25 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 176/2010, in dem von einem „Disziplinarvergehen“ die Rede ist, als auch aus der im Vorabentscheidungsersuchen angeführten nationalen Rechtsprechung, insbesondere derjenigen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), dass nach rumänischem Recht weder die kraft Gesetzes eintretende Beendigung des Mandats im Fall der Feststellung eines Interessenkonflikts noch das diese Beendigung ergänzende Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter als strafrechtliche Sanktionen angesehen werden. Außerdem geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass diese Maßnahmen auf der Grundlage eines Verwaltungsverfahrens ergehen. Zwar kennt das rumänische Recht auch den Straftatbestand des Interessenkonflikts, doch werden die insoweit drohenden Sanktionen, wie der Generalanwalt in Nr. 31 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, in einem gesonderten und eigenständigen Verfahren verhängt. |
38 |
Das zweite Kriterium, das sich auf die Art der Zuwiderhandlung bezieht, erfordert die Prüfung, ob mit der fraglichen Maßnahme u. a. eine repressive Zielsetzung verfolgt wird, was für eine Sanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 49 der Charta typisch ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 89, sowie vom 6. Oktober 2021, ECOTEX BULGARIA, C‑544/19, EU:C:2021:803, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
39 |
Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen und den Erklärungen der Verfahrensbeteiligten vor dem Gerichtshof hervor, dass das Gesetz Nr. 176/2010 Integrität und Transparenz bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und Pflichten gewährleisten und institutioneller Korruption vorbeugen soll und dass das Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter, wie es im Ausgangsverfahren ausgesprochen werden könnte, zu einem größeren Komplex von Maßnahmen gehört, die allesamt ergänzend dieses Ziel verfolgen, so dass dieses Verbot zur Erfüllung der in der Entscheidung 2006/928 genannten Vorgaben beiträgt. Somit besteht der Zweck dieses Verbots, ebenso wie der Zweck der kraft Gesetzes eintretenden Beendigung des Mandats, darin, das ordnungsgemäße Funktionieren und die Transparenz des Staates zu wahren, indem Interessenkonflikte dauerhaft beendet werden. |
40 |
Insoweit hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Bezug auf ein – einem entsprechenden Zweck dienendes und auf die freie Entscheidung der Wahlorgane abzielendes – Verbot, für Wahlen zu kandidieren und Wahlämter zu bekleiden, entschieden, dass dieses Verbot keinen Strafcharakter habe, selbst wenn es im Anschluss an eine strafrechtliche Verurteilung wegen Korruptionsdelikten ausgesprochen werde (vgl. in diesem Sinne EGMR, 18. Mai 2021, Galan/Italien, CE:ECHR:2021:0518DEC006377216, §§ 85 und 97, sowie EGMR, 17. Juni 2021, Miniscalco/Italien, CE:ECHR:2021:0617JUD005509313, §§ 64 und 73). |
41 |
In Anbetracht der oben genannten Gesichtspunkte und nach Maßgabe der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung liegt der Schluss nahe, dass eine Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren im Raum stehende, mit der die Bekleidung öffentlicher Wahlämter für die Dauer von drei Jahren verboten wird, ein hauptsächlich präventives und nicht repressives Ziel verfolgt. |
42 |
Zum dritten Kriterium betreffend den Schweregrad der Sanktion ist darauf hinzuweisen, dass eine solche Maßnahme, wie der Generalanwalt in Nr. 33 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht darin besteht, eine Freiheits- oder Geldstrafe zu verhängen, sondern darin, die künftige Ausübung bestimmter Tätigkeiten, nämlich öffentlicher Wahlämter, zu verbieten, wobei diese Maßnahme auf eine begrenzte Gruppe von Personen mit einem besonderen Status abzielt. Das Verbot ist zudem befristet und betrifft nicht das aktive Wahlrecht. |
43 |
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Sanktionen, die der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahme ähneln, im Allgemeinen nicht als hinreichend schwer angesehen werden, um strafrechtlichen Charakter anzunehmen, zumal wenn das aktive Wahlrecht unberührt bleibt (vgl. in diesem Sinne Europäische Kommission für Menschenrechte, 13. Januar 1997, Tapie/Frankreich, CE:ECHR:1997:0113DEC003225896, S. 5, sowie EGMR, 18. Mai 2021, Galan/Italien, CE:ECHR:2021:0518DEC006377216, §§ 96 und 97). |
44 |
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass keines der drei in Rn. 34 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien erfüllt zu sein scheint und dass folglich das in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter nicht strafrechtlicher Natur zu sein scheint, was das vorlegende Gericht jedoch zu überprüfen haben wird. |
45 |
Sollte diese Maßnahme nicht strafrechtlicher Natur sein, könnte sie nicht anhand von Art. 49 Abs. 3 der Charta beurteilt werden. |
46 |
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen ist, dass er auf eine nationale Regelung, die am Ende eines Verwaltungsverfahrens eine Maßnahme vorsieht, mit der für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gegen eine Person verhängt wird, bei der ein Interessenkonflikt in der Ausübung eines solchen Amtes festgestellt wurde, nicht anwendbar ist, sofern diese Maßnahme nicht strafrechtlicher Natur ist. |
Zur zweiten Frage
47 |
Zunächst ist dem Vorabentscheidungsersuchen zu entnehmen, dass die zweite Frage für den Fall gestellt wird, dass das in Art. 25 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 176/2010 vorgesehene Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter strafrechtlicher Natur ist. Wie sich aus den Erwägungen in den Rn. 32 bis 46 des vorliegenden Urteils ergibt, scheint dies aber – vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen – nicht der Fall zu sein, so dass Art. 49 Abs. 3 der Charta wohl keine Anwendung findet. |
48 |
Da mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung, wie in Rn. 27 des vorliegenden Urteils festgestellt, Unionsrecht durchgeführt wird, muss sie jedoch ungeachtet dessen mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeinem Grundsatz des Unionsrechts im Einklang stehen. |
49 |
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört nämlich nach ständiger Rechtsprechung zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, mit denen eine nationale Regelung, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt oder dieses durchführt, vereinbar sein muss, auch wenn die Rechtsvorschriften der Union im Bereich der anwendbaren Sanktionen nicht harmonisiert sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. April 2019, Repsol Butano und DISA Gas, C‑473/17 und C‑546/17, EU:C:2019:308, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
50 |
Nach ständiger Rechtsprechung muss eine Maßnahme, um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren, geeignet sein, die Erreichung des verfolgten legitimen Ziels in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich ist, wobei die durch sie verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Januar 2018, F, C‑473/16, EU:C:2018:36, Rn. 56, sowie vom 7. September 2022, Cilevičs u. a., C‑391/20, EU:C:2022:638, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
51 |
Administrative oder repressive Maßnahmen, die nach nationalen Rechtsvorschriften gestattet sind, dürfen nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit diesen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist (Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C‑452/20, EU:C:2022:111, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). Insbesondere muss die Härte der verhängten Sanktion der Schwere des mit ihr geahndeten Verstoßes entsprechen (Urteil vom 12. September 2019, Maksimovic u. a., C‑64/18, C‑140/18, C‑146/18 und C‑148/18, EU:C:2019:723, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
52 |
Unter diesen Umständen ist, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, die zweite Frage dahin gehend umzuformulieren, dass mit ihr im Wesentlichen geklärt werden soll, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine Maßnahme vorsieht, mit der für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gegen eine Person verhängt wird, bei der ein Interessenkonflikt in der Ausübung eines solchen Amtes festgestellt wurde. |
53 |
Im vorliegenden Fall ist zunächst daran zu erinnern, dass das Gesetz Nr. 176/2010, dessen Art. 25 Abs. 2 das Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für die Dauer von drei Jahren vorsieht, darauf abzielt, Integrität und Transparenz bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und Pflichten zu gewährleisten und institutioneller Korruption vorzubeugen. Die Zwecke dieses Gesetzes, die zur Erfüllung der im Anhang der Entscheidung 2006/928 aufgeführten Vorgaben beitragen, stellen somit ein von der Union anerkanntes legitimes Ziel dar. |
54 |
Es ist zwar Sache des vorlegenden Gerichts, das allein für die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zuständig ist, in dem Fall, dass es die Rechtmäßigkeit des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beurteilungsberichts bestätigen sollte, abschließend zu beurteilen, ob die fragliche Sanktion in Bezug auf den in diesem Bericht festgestellten Interessenkonflikt zur Erreichung dieses legitimen Ziels geeignet und erforderlich sowie im Hinblick darauf angemessen ist. Gleichwohl kann der Gerichtshof Klarstellungen vornehmen, um dem vorlegenden Gericht eine Richtschnur für diese Beurteilung zu geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Februar 2022, Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C‑452/20, EU:C:2022:111, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
55 |
Was die Frage betrifft, ob die in Rede stehende Sanktion geeignet ist, die Erreichung der verfolgten legitimen Ziele in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, ist darauf hinzuweisen, dass sie zum Tragen kommt, nachdem die ANI bestandskräftig festgestellt hat, dass ein rechtswidriger Interessenkonflikt vorliegt, der einer Person, die ein öffentliches Wahlamt bekleidet – z. B. ein Amt als Bürgermeister, wie der Kläger des Ausgangsverfahrens –, während der Ausübung ihres Amtes zuzurechnen ist, wobei diese Sanktion zu der kraft Gesetzes eintretenden Beendigung des Mandats dieser Person hinzutritt. |
56 |
Die automatische Verhängung dieser Sanktionen ermöglicht es, den festgestellten Interessenkonflikt dauerhaft zu beenden und auf diesem Wege das Funktionieren des Staates und der betreffenden Wahlorgane zu wahren. Außerdem erscheint der Umstand, dass sowohl die kraft Gesetzes eintretende Beendigung des Mandats als auch ein automatisches Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für eine im Voraus bestimmte, hinreichend lange Dauer vorgesehen sind, geeignet, Inhaber eines Wahlamtes davon abzuhalten, sich auf einen Interessenkonflikt einzulassen, und sie dazu anzuhalten, ihren Verpflichtungen in diesem Bereich nachzukommen. |
57 |
Daraus folgt, dass das in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für die Dauer von drei Jahren geeignet erscheint, das mit dieser Regelung verfolgte legitime Ziel zu erreichen. |
58 |
Was die Erforderlichkeit dieser Sanktion betrifft, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass der rumänische Gesetzgeber dieses Verbot vorgesehen und seine Dauer auf drei Jahre festgesetzt hat, weil er davon ausging, dass ein Interessenkonflikt von Natur aus gravierende Folgen für das Funktionieren des Staates und für die Gesellschaft habe. Dementsprechend wird dieses Verbot als Folge einer Verfehlung verhängt, die vom Inhaber eines öffentlichen Wahlamtes – wie hier vom Kläger des Ausgangsverfahrens – begangen wurde und fraglos schwerwiegend ist. |
59 |
Der rumänische Gesetzgeber hat in Art. 301 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs auch den Straftatbestand des Interessenkonflikts vorgesehen, der mit einer Freiheitsstrafe und einer ergänzenden Strafe des Verbots der Bekleidung von Wahlämtern für eine variable Dauer von einem bis zu fünf Jahren bedroht ist. |
60 |
Zu ergänzen ist, dass das Ausmaß der Interessenkonflikte und der Grad der Korruption im nationalen öffentlichen Sektor bei der Frage zu berücksichtigen sind, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende die Grenzen dessen überschreitet, was zur Erreichung des Ziels, Integrität und Transparenz bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und Pflichten zu gewährleisten sowie institutioneller Korruption vorzubeugen, erforderlich ist. Insoweit ist daran zu erinnern, dass mit dem Gesetz Nr. 176/2010 die zweite im Anhang der Entscheidung 2006/928 aufgeführte Vorgabe umgesetzt wird, die für Rumänien verbindlich ist und darauf abzielt, dass verbindliche Beschlüsse der ANI zu abschreckenden Sanktionen führen können. Die Entscheidung 2006/928 verpflichtet Rumänien auch, Korruption wirksam zu bekämpfen. |
61 |
In Anbetracht der präventiven Komponente der fraglichen Maßnahme, die u. a. darauf abzielt, Inhaber öffentlicher Ämter von jeder Beeinträchtigung der Integrität ihres Amtes abzuhalten, ist die Festlegung einer vorbestimmten Dauer für diese Maßnahme in einem solchen nationalen Kontext erforderlich, um ihre Wirksamkeit zu gewährleisten. |
62 |
Außerdem ist das in Art. 25 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 176/2010 vorgesehene Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter zeitlich begrenzt und gilt nur für bestimmte Kategorien von Personen, die besondere Aufgaben wahrnehmen. Insbesondere ist zu beachten, dass eine Person, die ein Wahlamt als Bürgermeister bekleidet, wie hier der Kläger des Ausgangsverfahrens, große Verantwortung trägt, mit erheblichen Befugnissen ausgestattet ist und die Aufgabe hat, ihre Mitbürger zu vertreten. |
63 |
Das Verbot bezieht sich im Übrigen nur auf begrenzte Tätigkeiten, nämlich öffentliche Wahlämter, und hindert nicht an der Ausübung anderer beruflicher Tätigkeiten, etwa im privaten Sektor. |
64 |
Daraus folgt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung in Anbetracht des Kontexts, in den sie sich einfügt, nicht über die Grenzen dessen hinausgeht, was zur Erreichung des mit ihr verfolgten legitimen Ziels erforderlich ist, soweit sie eine Sanktion der Unwählbarkeit für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren vorsieht. |
65 |
Was die Angemessenheit der fraglichen Maßnahme und insbesondere das Verhältnis ihrer Härte zur Schwere des Verstoßes betrifft, ist auf die Bedeutung, die der Bekämpfung der Korruption im öffentlichen Sektor in einigen Mitgliedstaaten zukommt, und auf die – auch durch die Entscheidung 2006/928 angeordnete – Priorität hinzuweisen, die der rumänische Gesetzgeber diesem Ziel eingeräumt hat, bei dem es sich, wie in der Begründung des Gesetzes Nr. 176/2010 angegeben, um ein echtes Anliegen der rumänischen Gesellschaft handelt. |
66 |
In Anbetracht dessen, wie schwer das öffentliche Interesse durch Korruption und selbst noch so geringfügige Interessenkonflikte seitens der gewählten Vertreter in einem von hoher Korruptionsgefahr geprägten nationalen Kontext beeinträchtigt wird, erscheint daher das in dieser nationalen Regelung vorgesehene Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter für eine vorbestimmte Dauer von drei Jahren grundsätzlich nicht außer Verhältnis zu dem Verstoß, der damit geahndet werden soll. |
67 |
Da allerdings, wie die Rechtsprechung der Înalta Curte de Casație şi Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) offenbar bestätigt, die Dauer dieses Verbots in keinem Fall angepasst werden kann, ist nicht auszuschließen, dass sich diese Sanktion in bestimmten Ausnahmefällen als im Hinblick auf den mit ihr geahndeten Verstoß unverhältnismäßig erweisen kann. |
68 |
Dies könnte nämlich dann der Fall sein, wenn das festgestellte rechtswidrige Verhalten in Ansehung des verfolgten Ziels ausnahmsweise keinen schwer ins Gewicht fallenden Aspekt aufweist, während sich die Auswirkungen der Sanktion auf die persönliche, berufliche und wirtschaftliche Situation der betroffenen Person als besonders schwerwiegend erweisen. |
69 |
Somit ist es im vorliegenden Fall, falls die Rechtmäßigkeit des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beurteilungsberichts bestätigt wird, Aufgabe des vorlegenden Gerichts, unter Würdigung aller maßgeblichen Umstände zu prüfen, ob die Härte der dem Kläger des Ausgangsverfahrens nach Art. 25 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 176/2010 drohenden Sanktion unter Berücksichtigung des mit diesem Gesetz verfolgten Ziels in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des in diesem Bericht festgestellten Interessenkonflikts steht. |
70 |
Sollte dies nicht der Fall sein, müsste das vorlegende Gericht diese Regelung, soweit möglich, dahin auslegen, dass sie es erlaubt, eine verhältnismäßige, aber dennoch – im Einklang mit der Entscheidung 2006/928 – wirksame und abschreckende Sanktion zu verhängen. |
71 |
Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass die nationalen Gerichte das nationale Recht so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen haben und dass, auch wenn die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen darf, die nationalen Gerichte, einschließlich der letztinstanzlichen Gerichte, gegebenenfalls eine gefestigte Rechtsprechung abändern müssen, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit dem Unionsrecht unvereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Mai 2019, Związek Gmin Zagłębia Miedziowego, C‑566/17, EU:C:2019:390, Rn. 48 und 49, sowie vom 4. März 2020, Telecom Italia, C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
72 |
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, die eine Maßnahme vorsieht, mit der für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gegen eine Person verhängt wird, bei der ein Interessenkonflikt in der Ausübung eines solchen Amtes festgestellt wurde, nicht entgegensteht, sofern die Anwendung dieser Regelung in Anbetracht aller maßgeblichen Umstände dazu führt, dass eine Sanktion verhängt wird, die unter Berücksichtigung des Ziels, Integrität und Transparenz bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und Pflichten zu gewährleisten sowie institutioneller Korruption vorzubeugen, in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des mit ihr geahndeten Verstoßes steht. Dies ist nicht der Fall, wenn das festgestellte rechtswidrige Verhalten in Ansehung dieses Ziels ausnahmsweise keinen schwer ins Gewicht fallenden Aspekt aufweist, während sich die Auswirkungen der fraglichen Maßnahme auf die persönliche, berufliche und wirtschaftliche Situation der betroffenen Person als besonders schwerwiegend erweisen. |
Zur dritten Frage
73 |
Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Abs. 1 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die eine Maßnahme vorsieht, mit der für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren ein Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter gegen eine Person verhängt wird, bei der ein Interessenkonflikt in der Ausübung eines solchen Amtes festgestellt wurde. |
74 |
In Art. 15 Abs. 1 der Charta ist das Recht verankert, zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben. Außerdem gehört die freie Berufsausübung zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. März 2012, Interseroh Scrap and Metals Trading, C‑1/11, EU:C:2012:194, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
75 |
Die ANI und die rumänische Regierung sind der Ansicht, dass das Recht, öffentliche Wahlämter zu bekleiden, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 15 Abs. 1 der Charta falle, da das passive Wahlrecht zu den politischen Rechten gehöre, was durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigt werde. Die Kommission trägt ebenfalls vor, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter wohl nicht in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung falle, da das Wahlverfahren nicht bedeute, dass eine bestimmte Person das Recht hätte, ein solches Amt zu bekleiden. |
76 |
Insoweit ist festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 15 Abs. 1 der Charta zwar weit gefasst ist, wie die Verwendung der Worte „jede Person“, „arbeiten“ und „Beruf“ belegt. |
77 |
Außerdem ist gemäß den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) die in dieser Bestimmung festgeschriebene Berufsfreiheit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannt, die sich u. a. aus den Urteilen vom 14. Mai 1974, Nold/Kommission (4/73, EU:C:1974:51, Rn. 12 bis 14), vom 13. Dezember 1979, Hauer (44/79, EU:C:1979:290, S. 3727), und vom 8. Oktober 1986, Keller (234/85, EU:C:1986:377, Rn. 8), ergibt. Art. 15 Abs. 1 der Charta lehnt sich ferner an Art. 1 Abs. 2 der am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichneten und am 3. Mai 1996 in Straßburg revidierten Europäischen Sozialcharta an, der einen wirksamen Schutz des Rechts des Arbeitnehmers verlangt, seinen Lebensunterhalt durch eine frei übernommene Tätigkeit zu verdienen, sowie an Nr. 4 der auf der Tagung des Europäischen Rates am 9. Dezember 1989 in Straßburg angenommenen Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, die besagt, dass jeder nach den für den jeweiligen Beruf geltenden Vorschriften das Recht auf freie Wahl und Ausübung eines Berufes hat. Somit hat Art. 15 Abs. 1 der Charta, wie der Generalanwalt in Nr. 85 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sowohl in persönlicher als auch in sachlicher Hinsicht einen weiten Anwendungsbereich. |
78 |
Gleichwohl schließt dieser Anwendungsbereich, so weit er auch sein mag, nicht das Recht ein, ein nach einem demokratischen Wahlprozess erworbenes Wahlmandat wie ein Amt als Bürgermeister für eine bestimmte Dauer auszuüben. |
79 |
Diese Auslegung wird dadurch bestätigt, dass Art. 15 der Charta zu deren Titel II („Freiheiten“) gehört, während spezifische Vorschriften über das passive Wahlrecht bei Wahlen, nämlich die Art. 39 und 40 der Charta, die das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament bzw. bei den Kommunalwahlen betreffen, in einem anderen Titel stehen, nämlich Titel V („Bürgerrechte“). |
80 |
Für eine solche Auslegung spricht auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, da dieser entschieden hat, dass das Recht auf Ausübung eines nach einem Wahlprozess erworbenen Wahlmandats ein politisches Recht und die entsprechende Vergütung lediglich eine Folge davon sei (vgl. in diesem Sinne EGMR, 8. November 2016, Savisaar/Estland, CE:ECHR:2016:1108DEC000836516, §§ 26 und 27). |
81 |
Daraus folgt, dass das Recht, ein öffentliches Wahlamt, etwa ein Amt als Bürgermeister, zu bekleiden, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 15 Abs. 1 der Charta fällt, so dass sich der Kläger des Ausgangsverfahrens im vorliegenden Fall nicht mit Erfolg auf diese Vorschrift berufen kann. |
82 |
Wie sich aus Art. 53 der Charta ergibt, lässt diese Auslegung jedoch die Möglichkeit der Mitgliedstaaten unberührt, einen in ihren nationalen Verfassungen anerkannten höheren Schutzstandard für das Recht auf Arbeit und freie Berufsausübung anzuwenden, sofern das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, dadurch nicht beeinträchtigt wird. |
83 |
Was Art. 47 der Charta anbelangt, so sieht dieser in Abs. 1 vor, dass jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Art. 47 Abs. 2 der Charta bestimmt, dass jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. |
84 |
Die Anerkennung des in Art. 47 der Charta niedergelegten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf in einem bestimmten Einzelfall setzt voraus, dass sich die Person, die es geltend macht, auf durch das Unionsrecht garantierte Rechte oder Freiheiten beruft oder dass diese Person von einem Verfahren betroffen ist, das eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
85 |
Dies ist hier der Fall, da das dem Kläger des Ausgangsverfahrens für den Fall, dass die Rechtmäßigkeit des Beurteilungsberichts der ANI bestätigt wird, drohende, für die vorbestimmte Dauer von drei Jahren geltende Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter im Gesetz Nr. 176/2010 vorgesehen ist, mit dem, wie sich aus Rn. 27 des vorliegenden Urteils ergibt, Unionsrecht durchgeführt wird. Art. 47 der Charta ist daher auf das Ausgangsverfahren anwendbar. |
86 |
Was den Inhalt dieser Bestimmung betrifft, so umfasst der darin verankerte Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes mehrere Elemente, zu denen u. a. der Grundsatz der Waffengleichheit und das Recht auf Zugang zu den Gerichten gehören (Urteil vom 30. Juni 2016, Toma und Biroul Executorului Judecătoresc Horațiu-Vasile Cruduleci, C‑205/15, EU:C:2016:499, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
87 |
Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 47 der Charta impliziert u. a., dass der Inhaber dieses Rechts Zugang zu einem Gericht erhalten kann, das über die Befugnis verfügt, die Achtung der ihm durch das Unionsrecht garantierten Rechte sicherzustellen und zu diesem Zweck alle für die bei ihm anhängige Streitigkeit relevanten Tatsachen- und Rechtsfragen zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
88 |
Im vorliegenden Fall setzt das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, wie der Generalanwalt in Nr. 100 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, voraus, dass das vorlegende Gericht die Rechtmäßigkeit des den Kläger des Ausgangsverfahrens belastenden Beurteilungsberichts der ANI überprüfen und gegebenenfalls diesen Bericht sowie die auf seiner Grundlage verhängten Sanktionen für nichtig erklären kann. |
89 |
Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht aber hervor, dass Beurteilungsberichte der ANI jeweils die Beschreibung des Sachverhalts, den Standpunkt der betroffenen Person und die Würdigung der den festgestellten Interessenkonflikt begründenden Umstände enthalten. Außerdem ist das vorlegende Gericht im Rahmen der Kontrolle, die es in Bezug auf den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beurteilungsbericht vorzunehmen hat, zur Prüfung aller maßgeblichen Rechts- und Tatsachenfragen befugt, so dass es am Ende dieser Kontrolle das Vorliegen eines Interessenkonflikts bejahen oder verneinen kann. Sollte das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis gelangen, dass der Beurteilungsbericht rechtswidrig ist, wäre es zudem befugt, ihn für nichtig zu erklären und infolgedessen die auf seiner Grundlage ergangenen Maßnahmen (Beendigung des Mandats und Verbot der Bekleidung öffentlicher Wahlämter) für ungültig zu erklären. |
90 |
Darüber hinaus ist es, wie sich aus den Rn. 69 und 72 des vorliegenden Urteils ergibt, Aufgabe des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob im vorliegenden Fall das aus dem Unionsrecht folgende Erfordernis der Verhängung einer verhältnismäßigen Sanktion erfüllt ist. |
91 |
Im Übrigen enthalten die dem Gerichtshof vorliegenden Akten, wie auch der Generalanwalt in Nr. 102 seiner Schlussanträge festgestellt hat, keinen Anhaltspunkt, der Zweifel an der Wirksamkeit der im rumänischen Recht vorgesehenen Rechtsbehelfe oder an der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung mit Art. 47 der Charta aufkommen lassen könnte. |
92 |
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage wie folgt zu antworten:
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Kosten
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Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: |
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Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Rumänisch.