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Document 62020TJ0752

    Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 28. Juni 2023 (Auszüge).
    International Management Group (IMG) gegen Europäische Kommission.
    Außervertragliche Haftung – Untersuchungen des OLAF – An die Presse durchgesickerte Informationen – Materieller und immaterieller Schaden – Kausalzusammenhang – Zurechenbarkeit von durchgesickerten Informationen – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Vertraulichkeit von Rechtsgutachten.
    Rechtssache T-752/20.

    Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    ECLI identifier: ECLI:EU:T:2023:366

     URTEIL DES GERICHTS (Siebte Kammer)

    28. Juni 2023 ( *1 )

    „Außervertragliche Haftung – Untersuchungen des OLAF – An die Presse durchgesickerte Informationen – Materieller und immaterieller Schaden – Kausalzusammenhang – Zurechenbarkeit von durchgesickerten Informationen – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht – Vertraulichkeit von Rechtsgutachten“

    In der Rechtssache T‑752/20,

    International Management Group (IMG) mit Sitz in Brüssel (Belgien), vertreten durch Rechtsanwältin L. Levi und Rechtsanwalt J.‑Y. de Cara,

    Klägerin,

    gegen

    Europäische Kommission, vertreten durch J. Baquero Cruz, J.‑F. Brakeland und S. Delaude als Bevollmächtigte,

    Beklagte,

    erlässt

    DAS GERICHT (Siebte Kammer)

    zum Zeitpunkt der Beratung unter Mitwirkung des Präsidenten R. da Silva Passos sowie der Richter L. Truchot (Berichterstatter) und M. Sampol Pucurull,

    Kanzler: L. Ramette, Verwaltungsrat,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens, insbesondere

    – der am 21. Dezember 2020 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klageschrift,

    – der Einrede der Unzulässigkeit, die die Kommission nach Art. 130 der Verfahrensordnung des Gerichts mit am 12. März 2021 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenem gesonderten Schriftsatz erhoben hat,

    – des Beschlusses vom 2. Juli 2021, die Entscheidung über die Einrede der Unzulässigkeit dem Endurteil vorzubehalten,

    auf die mündliche Verhandlung vom 20. Juni 2022

    folgendes

    Urteil ( 1 )

    1

    Mit ihrer auf Art. 268 AEUV gestützten Klage begehrt die Klägerin, die International Management Group (IMG), Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens, der ihr durch die Rechtswidrigkeit des Verhaltens der Europäischen Kommission und des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) im Anschluss an einen sie betreffenden Bericht des OLAF entstanden sein soll.

    [Nicht wiedergegeben]

    Anträge der Parteien

    19

    Die Klägerin beantragt,

    die Kommission zu verurteilen, ihr für den Zeitraum von Mitte Dezember 2015 bis zur Verkündung des Urteils in der vorliegenden Rechtssache einen Betrag von 10000 Euro monatlich als Ersatz des erlittenen immateriellen Schadens zu zahlen;

    die Kommission zu verurteilen, ihr einen Betrag von 2,1 Mio. Euro zuzüglich Verzugszinsen als Ersatz des erlittenen materiellen Schadens zu zahlen;

    der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

    20

    Die Kommission beantragt,

    die Klage als unzulässig abzuweisen;

    hilfsweise, die Klage als offensichtlich unbegründet oder als unbegründet abzuweisen;

    das der Klageschrift beigefügte Gutachten ihres Juristischen Dienstes vom 16. Januar 2015 (im Folgenden: Gutachten des Juristischen Dienstes) aus den Akten der vorliegenden Rechtssache zu entfernen;

    der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

    Rechtliche Würdigung

    Zur Schadensersatzforderung

    [Nicht wiedergegeben]

    Zur Rechtswidrigkeit des Verhaltens der Kommission und des OLAF

    [Nicht wiedergegeben]

    – Zur Verletzung der Sorgfalts- und der Fürsorgepflicht

    70

    Die Klägerin macht geltend, dass die Kommission ihre Sorgfalts- und ihre Fürsorgepflicht verletzt habe, indem sie weder das Durchsickern des OLAF‑Berichts öffentlich verurteilt noch die durch das Durchsickern herbeigeführte Verbreitung falscher Informationen mittels Veröffentlichung einer Pressemitteilung beendet habe, die die wesentlichen Informationen aus dem Schreiben vom 8. Mai 2015 – in dem die Kommission entschieden hatte, den Empfehlungen des OLAF‑Berichts nicht in vollem Umfang zu folgen – zusammengefasst hätte.

    71

    Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof die Fürsorgepflicht als einen Begriff definiert hat, der das Gleichgewicht zwischen den wechselseitigen Rechten und Pflichten widerspiegelt, das mit dem Statut der Beamten der Europäischen Union in den Beziehungen zwischen der Behörde und den öffentlichen Bediensteten geschaffen wurde, wobei dieses Gleichgewicht insbesondere erfordert, dass die Behörde bei der Entscheidung über die Stellung eines Beamten alle Tatsachen berücksichtigt, die geeignet sind, sie in ihrer Entscheidung zu leiten, und dabei nicht nur das dienstliche Interesse, sondern auch dasjenige des betroffenen Beamten berücksichtigt (vgl. Urteil vom 12. November 2020, Fleig/EAD, C‑446/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:918, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    72

    Somit betrifft die Fürsorgepflicht speziell die Pflichten der Unionsorgane gegenüber ihren Beamten und Bediensteten, und zwar insbesondere dahin gehend, dass sie die Berücksichtigung derer individuellen Interessen beinhaltet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 2008, Nardone/Kommission, T‑57/99, EU:T:2008:555, Rn. 167).

    73

    Da die vorliegende Klage nicht das Verhältnis zwischen der Unionsverwaltung und einem ihrer Beamten oder sonstigen Bediensteten betrifft, ist die Fürsorgepflicht im vorliegenden Fall nicht anwendbar und kann daher von der Klägerin nicht zur Stützung ihrer Anträge geltend gemacht werden.

    74

    Somit ist die von der Klägerin geltend gemachte Rechtswidrigkeit zu verneinen, soweit sie auf eine Verletzung der Fürsorgepflicht gestützt ist.

    75

    Zu prüfen bleibt folglich die Rechtswidrigkeit, soweit sie auf eine Verletzung der Sorgfaltspflicht gestützt ist.

    76

    Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann die außervertragliche Haftung der Union in einem konkreten Fall nur dann ausgelöst werden, wenn die Person, die den Ersatz des Schadens oder der Schäden verlangt, die sie durch ein Verhalten oder einen Rechtsakt der Union erlitten zu haben glaubt, den Nachweis erbringt, dass ein Verstoß gegen eine Rechtsnorm vorliegt, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen (Urteile vom 4. Juli 2000, Bergaderm und Goupil/Kommission, C‑352/98 P, EU:C:2000:361, Rn. 41 und 42, sowie vom 4. April 2017, Europäischer Bürgerbeauftragter/Staelen, C‑337/15 P, EU:C:2017:256, Rn. 31).

    77

    Außerdem muss der Verstoß hinreichend qualifiziert sein; dieses Erfordernis hängt wiederum von dem Wertungsspielraum des Organs, der Einrichtung oder der sonstigen Stelle der Union, dem oder der der Verstoß angelastet wird, sowie davon ab, ob die Grenzen dieses Spielraums in Anbetracht u. a. des Grades an Klarheit und Präzision der betreffenden Norm, etwaiger bei ihrer Auslegung oder Anwendung auftretender Schwierigkeiten sowie der Komplexität des zu regelnden Sachverhalts in offenkundiger und schwerwiegender Weise überschritten wurden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Juli 2000, Bergaderm und Goupil/Kommission, C‑352/98 P, EU:C:2000:361, Rn. 40, 43 und 44, sowie vom 30. Mai 2017, Safa Nicu Sepahan/Rat, C‑45/15 P, EU:C:2017:402, Rn. 30).

    78

    Aus Rn. 70 des vorliegenden Urteils geht hervor, dass die Klägerin der Kommission vorwirft, diese habe nicht in der Art Stellung bezogen, dass sie öffentlich das Durchsickern des OLAF‑Berichts verurteilt und mittels Veröffentlichung einer Pressemitteilung die durch das Durchsickern verursachte Verbreitung falscher Informationen beendet hätte. Damit wirft die Klägerin der Kommission ein Unterlassen vor.

    79

    Nach der Rechtsprechung können Unterlassungen der Unionsorgane nur dann die Haftung der Union begründen, wenn die Organe gegen eine Rechtspflicht zum Tätigwerden verstoßen haben, die sich aus einer Unionsvorschrift ergibt (vgl. Beschluss vom 12. Juli 2018, Acquafarm/Kommission, C‑40/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:566, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    80

    Aus den Rn. 77 und 79 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass die Prüfung der Frage, ob ein Organ aufgrund eines Unterlassens einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsnorm begangen hat, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, die Feststellung erfordert, ob drei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich erstens das Bestehen einer Rechtspflicht zum Tätigwerden, zweitens das Bestehen eines Wertungsspielraums des betreffenden Organs bzw. der betreffenden Einrichtung oder sonstigen Stelle der Union und drittens ein offenkundiger und qualifizierter Verstoß des Organs gegen die Grenzen seines Wertungsspielraums.

    81

    Es ist zu prüfen, ob diese drei Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.

    82

    Die Sorgfaltspflicht, die dem in Art. 41 der Charta der Grundrechte verankerten Recht auf eine gute Verwaltung innewohnt und allgemein für das Handeln der Unionsverwaltung in ihren Beziehungen zur Öffentlichkeit gilt, gebietet, dass die Unionsverwaltung sorgsam und umsichtig handelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2022, SGL Carbon u. a./Kommission, C‑65/21 P und C‑73/21 P bis C‑75/21 P, EU:C:2022:470, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    83

    Erstens ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass es sich bei der Sorgfaltspflicht um eine Rechtsregel handelt, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, deren Verletzung unter bestimmten Umständen die außervertragliche Haftung der Union auslösen kann, und zwar dann, wenn sie in einem konkreten Fall nachweislich hinreichend qualifiziert im Sinne der oben in Rn. 77 angeführten Rechtsprechung ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. März 1990,Grifoni/Kommission, C‑308/87, EU:C:1990:134, Rn. 6, 7 und 14, vom 16. Dezember 2008, Masdar [UK]/Kommission, C‑47/07 P, EU:C:2008:726, Rn. 91, und vom 4. April 2017, Bürgerbeauftragter/Staelen, C‑337/15 P, EU:C:2017:256, Rn. 38 und 41).

    84

    Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass sich angesichts der Natur der Sorgfaltspflicht, die eng mit dem Rahmen verbunden ist, in dem die Unionsverwaltung in einem konkreten Fall handelt, die Feststellung des Vorliegens eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen diese Pflicht nur aus einer Einzelfallprüfung aller relevanten tatsächlichen und rechtlichen Umstände ergeben kann, die unter Berücksichtigung des Bereichs, der Umstände und des Kontexts der Sorgfaltspflicht des betreffenden Organs, der betreffenden Einrichtung oder der betreffenden sonstigen Stelle sowie der konkreten Gegebenheiten, die den Nachweis der Missachtung ermöglichen, vorzunehmen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. April 2017, Bürgerbeauftragter/Staelen, C‑337/15 P, EU:C:2017:256, Rn. 40 und 41).

    85

    Wie oben in Rn. 70 ausgeführt, macht die Klägerin geltend, dass die Kommission ihre Sorgfaltspflicht verletzt habe, indem sie weder das Durchsickern des OLAF‑Berichts öffentlich verurteilt noch die durch das Durchsickern herbeigeführte Verbreitung falscher Informationen mittels Veröffentlichung einer Mitteilung, die die wesentlichen im Schreiben vom 8. Mai 2015 enthaltenen Informationen zusammengefasst hätte, beendet habe.

    86

    Es ist daher zu prüfen, ob die Sorgfaltspflicht dahin ausgelegt werden kann, dass der Kommission eine Rechtspflicht zum Tätigwerden oblag, die in der Verpflichtung bestünde, ein Durchsickern von Informationen öffentlich zu verurteilen und die durch das Durchsickern herbeigeführte Verbreitung falscher Informationen mittels Veröffentlichung einer Mitteilung zu beenden.

    87

    Die Klägerin führt in ihren Schriftsätzen keine konkrete Rechtsvorschrift an, aus der sich für die Kommission als Reaktion auf die Übermittlung eines OLAF‑Berichts eine Rechtspflicht zum Tätigwerden ergäbe, die in einer Stellungnahme bestünde, mit der das Durchsickern eines Untersuchungsberichts des OLAF öffentlich verurteilt und die durch ein solches Durchsickern verursachte Verbreitung falscher Informationen beendet würde. Die von der Klägerin geltend gemachte Verletzung der Sorgfaltspflicht ist jedoch eng mit der Verordnung Nr. 883/2013 verbunden, die den rechtlichen Rahmen darstellt, in dem die Kommission bei der Abfassung des Schreibens vom 8. Mai 2015 gehandelt hat, so dass zu prüfen ist, ob sich eine solche Pflicht aus den Bestimmungen dieser Verordnung ergibt.

    88

    Zum einen werden nach Art. 11 Abs. 3 der Verordnung Nr. 883/2013 „[d]ie nach Abschluss einer externen Untersuchung erstellten Berichte und Empfehlungen … zusammen mit allen sachdienlichen Schriftstücken gemäß den für externe Untersuchungen geltenden Regelungen den zuständigen Behörden der betroffenen Mitgliedstaaten sowie erforderlichenfalls den zuständigen Dienststellen der Kommission übermittelt“. Diese Bestimmung sieht keine Rechtspflicht der Kommission vor, tätig zu werden. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin nachgewiesen hat, dass die Sorgfaltspflicht insofern eine Rechtspflicht zum Tätigwerden zulasten der Kommission begründete.

    89

    Zum anderen sind nach Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2013 „Informationen, die im Rahmen externer Untersuchungen übermittelt oder erlangt werden, … unabhängig davon, in welcher Form sie vorliegen, durch die einschlägigen Bestimmungen geschützt“. Nach Art. 3 („Externe Untersuchungen“) Abs. 2 dieser Verordnung in der auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbaren Fassung kann „das [OLAF] gemäß den in der Verordnung (Euratom, EG) Nr. 2185/96 festgelegten Bestimmungen und Verfahren bei Wirtschaftsteilnehmern vor Ort Kontrollen und Überprüfungen durchführen“. Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (Euratom, EG) Nr. 2185/96 des Rates vom 11. November 1996 betreffend die Kontrollen und Überprüfungen vor Ort durch die Kommission zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vor Betrug und anderen Unregelmäßigkeiten (ABl. 1996, L 292, S. 2) sieht vor, dass „[g]emäß dieser Verordnung mitgeteilte oder eingeholte Informationen … unabhängig von der Form der Mitteilung … dem Amtsgeheimnis [unterliegen]“.

    90

    Außerdem stellen nach Art. 10 Abs. 3 der Verordnung Nr. 883/2013 „[d]ie betroffenen Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen … sicher, dass die Vertraulichkeit der durch das [OLAF] durchgeführten Untersuchungen … gewahrt [wird]“. Im vorliegenden Fall ist die Kommission unstreitig ein betroffenes Organ im Sinne dieser Bestimmung.

    91

    Aus den genannten Bestimmungen ergibt sich, dass die Kommission im Rahmen der externen Untersuchungen des OLAF zur Vertraulichkeit und zur Wahrung des Amtsgeheimnisses verpflichtet ist.

    92

    Auch wenn die Kommission somit verpflichtet ist, sicherzustellen, dass die Vertraulichkeit der Untersuchungen des OLAF gewahrt wird, kann die Sorgfaltspflicht, der sie unterliegt, jedoch angesichts dessen, dass sie ihre Vertraulichkeitspflicht nicht verletzt hat und für das Durchsickern des OLAF‑Berichts an die Presse nicht verantwortlich gemacht werden kann (siehe oben, Rn. 67), für sie keine Handlungspflicht der von der Klägerin im vorliegenden Fall geltend gemachten Art begründen, die darin bestünde, das Durchsickern von Informationen über eine solche Untersuchung an die Presse zu verurteilen und sich von den veröffentlichten Informationen zu distanzieren.

    93

    Die Sorgfaltspflicht hat nicht den Umfang, den ihr die Klägerin zuschreibt. Tatsächlich ist es das Durchsickern des Berichts an die Presse – dessen Zurechnung an die Kommission jedoch nicht nachgewiesen worden ist –, das eine Verletzung der oben genannten Vertraulichkeitspflicht darstellt, nicht jedoch das Unterlassen, das die Klägerin der Kommission vorwirft (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 15. Januar 2015, Ziegler und Ziegler Relocation/Kommission, T‑539/12 und T‑150/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:15, Rn. 102).

    94

    Die Klägerin hat somit nicht nachgewiesen, dass die Kommission im vorliegenden Fall zum Tätigwerden verpflichtet war.

    95

    Daher kann das geltend gemachte Unterlassen nach der oben in Rn. 79 angeführten Rechtsprechung nicht die Haftung der Union auslösen.

    96

    Selbst wenn davon auszugehen wäre, dass sich im vorliegenden Fall eine Rechtspflicht der Kommission zum Tätigwerden aus der Sorgfaltspflicht ergibt, wäre jedenfalls zu prüfen, ob die Kommission die Grenzen, die ihrem Wertungsspielraum in diesem Fall gesetzt wären, offenkundig und erheblich überschritten hat.

    97

    Es ist darauf hinzuweisen, dass eine solche Annahme dazu führen würde, die Sorgfaltspflicht dahin auszulegen, dass es im Fall des Durchsickerns eines vertraulichen Dokuments, das nicht nachweislich von dem betroffenen Organ im Sinne der Verordnung Nr. 883/2013 verursacht wurde, diesem Organ obliegen würde, den Schaden, der sich aus der Verletzung der Vertraulichkeit ergeben könnte, nicht zu vergrößern.

    98

    Wie oben in Rn. 77 ausgeführt, ist die Frage, ob das betreffende Unionsorgan die Grenzen seines Wertungsspielraums offenkundig und erheblich überschritten hat, insbesondere anhand des Grades an Klarheit und Präzision der Norm, gegen die in hinreichend qualifizierter Weise verstoßen worden sein soll, und der etwaigen bei ihrer Auslegung oder Anwendung auftretenden Schwierigkeiten zu prüfen.

    99

    Insoweit ist festzustellen, dass eine solche Pflicht der Kommission zum Tätigwerden, um den Schaden, der durch einen ihr nicht zuzurechnenden Verstoß gegen die Vertraulichkeit entsteht, nicht zu vergrößern, nicht aus Art. 10 der Verordnung Nr. 883/2013 folgt und auch nicht implizit aus seinem Regelungsgehalt abgeleitet werden kann. Indem Abs. 3 dieses Artikels vorsieht, dass die betroffenen Organe die Wahrung der Vertraulichkeit bei den Untersuchungen des OLAF sicherstellen, verpflichtet er diese Organe nämlich dazu, zu gewährleisten, dass der Inhalt der Untersuchungen des OLAF vertraulich bleibt. Demgegenüber erlegt er ihnen für den Fall, dass die Vertraulichkeit nicht gewahrt worden ist und die Verbreitung ihren Ursprung nicht innerhalb des betroffenen Organs hat, keine Verpflichtungen auf, das Durchsickern von Informationen zu verurteilen, die Verbreitung der betreffenden Informationen zu beenden oder etwaige falsche Informationen zu berichtigen.

    100

    Derartige Verpflichtungen können nicht als Teil der Verpflichtung im Sinne von Art. 10 Abs. 3 der Verordnung Nr. 883/2013, die Wahrung der Vertraulichkeit der Untersuchungen des OLAF sicherzustellen, angesehen werden. Zum einen ist nämlich, nachdem die Vertraulichkeit bereits verletzt worden ist, die der Kommission obliegende Verpflichtung, die Wahrung der Vertraulichkeit sicherzustellen, gegenstandslos geworden. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass erstens das etwaige Erfordernis, das Durchsickern zu verurteilen, über die bloße Verpflichtung zur Wahrung der Vertraulichkeit hinausgeht, zweitens die Kommission in einem solchen Fall nicht in der Lage ist, die sich aus diesem Durchsickern ergebende Verbreitung des OLAF‑Berichts in der Presse zu beenden, und drittens, sofern einige der verbreiteten Informationen falsch sein sollten, ihre Berichtigung nicht geeignet ist, ihren vertraulichen Charakter wiederherzustellen, der endgültig weggefallen ist.

    101

    Selbst wenn also im vorliegenden Fall eine Rechtspflicht der Kommission zum Tätigwerden bestanden hätte, könnte nicht davon ausgegangen werden, dass die von der Klägerin geltend gemachte Verletzung der Sorgfaltspflicht einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsnorm darstellt, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen.

    102

    Somit ist davon auszugehen, dass hinsichtlich des vierten Rechtswidrigkeitsgrundes kein qualifizierter Verstoß vorliegt, soweit geltend gemacht wird, die Kommission habe ihre Sorgfalts- und ihre Fürsorgepflicht verletzt.

    103

    Folglich ist festzustellen, dass die erste Voraussetzung für die Auslösung der Haftung der Union nicht erfüllt ist.

    104

    Nach alledem ist die Klage abzuweisen.

    [Nicht wiedergegeben]

     

    Aus diesen Gründen hat

    DAS GERICHT (Siebte Kammer)

    für Recht erkannt und entschieden:

     

    1.

    Das von der International Management Group (IMG) als Anlage A.21 zur Klageschrift vorgelegte Dokument wird aus der Akte entfernt.

     

    2.

    Die Klage wird abgewiesen.

     

    3.

    IMG trägt die Kosten.

     

    da Silva Passos

    Truchot

    Sampol Pucurull

    Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 28. Juni 2023.

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

    ( 1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.

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