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Document 62020CJ0597

Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 29. September 2022.
Polskie Linie Lotnicze "LOT" SA gegen Budapest Főváros Kormányhivatala.
Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 16 – Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste – Aufgaben der mit der Durchsetzung der genannten Verordnung betrauten nationalen Stelle – Nationale Regelung, die dieser Stelle die Befugnis verleiht, ein Luftfahrtunternehmen anzuweisen, die einem Fluggast geschuldete Ausgleichsleistung zu zahlen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf.
Rechtssache C-597/20.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:735

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

29. September 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Art. 16 – Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste – Aufgaben der mit der Durchsetzung der genannten Verordnung betrauten nationalen Stelle – Nationale Regelung, die dieser Stelle die Befugnis verleiht, ein Luftfahrtunternehmen anzuweisen, die einem Fluggast geschuldete Ausgleichsleistung zu zahlen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf“

In der Rechtssache C‑597/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) mit Entscheidung vom 27. Oktober 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 12. November 2020, in dem Verfahren

Polskie Linie Lotnicze „LOT“ S.A.

gegen

Budapest Főváros Kormányhivatala

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter N. Jääskinen, M. Safjan, N. Piçarra und M. Gavalec,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. Februar 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Polskie Linie Lotnicze „LOT“ S.A., vertreten durch S. Berecz und A. Csehó, Ügyvédek,

der Budapest Főváros Kormányhivatala, vertreten durch G. Cziráky und G. Tóth als Bevollmächtigte,

der ungarischen Regierung, vertreten durch Zs. Biró-Tóth und M. Fehér als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Hoogveld als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und J. Lachowicz als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Bottka, L. Havas und K. Simonsson als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. April 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Luftfahrtunternehmen Polskie Linie Lotnicze „LOT“ S.A. (im Folgenden: LOT) und der Budapest Főváros Kormányhivatala (Verbraucherschutzinspektion der Regierungsverwaltung für die Hauptstadt Budapest, Ungarn) (im Folgenden: Verbraucherschutzinspektion) über die Entscheidung, mit der die Verbraucherschutzinspektion gegenüber LOT anordnete, die in Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Ausgleichsleistungen zu zahlen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 1, 2, 4, 21 und 22 der Verordnung Nr. 261/2004 lauten:

„(1)

Die Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich des Luftverkehrs sollten unter anderem darauf abzielen, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen. Ferner sollte den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung getragen werden.

(2)

Nichtbeförderung und Annullierung oder eine große Verspätung von Flügen sind für die Fluggäste ein Ärgernis und verursachen ihnen große Unannehmlichkeiten.

(4)

Die Gemeinschaft sollte deshalb die mit der genannten Verordnung festgelegten Schutzstandards erhöhen, um die Fluggastrechte zu stärken und um sicherzustellen, dass die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in einem liberalisierten Markt harmonisierten Bedingungen unterliegt.

(21)

Die Mitgliedstaaten sollten Regeln für Sanktionen bei Verstößen gegen diese Verordnung festlegen und deren Durchsetzung gewährleisten. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.

(22)

Die Mitgliedstaaten sollten die generelle Einhaltung dieser Verordnung durch ihre Luftfahrtunternehmen sicherstellen und überwachen und eine geeignete Stelle zur Erfüllung dieser Durchsetzungsaufgaben benennen. Die Überwachung sollte das Recht von Fluggästen und Luftfahrtunternehmen unberührt lassen, ihre Rechte nach den im nationalen Recht vorgesehenen Verfahren gerichtlich geltend zu machen.“

4

Art. 5 („Annullierung“) Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 261/2004 sieht vor:

„(1)   Bei Annullierung eines Fluges [wird] den betroffenen Fluggästen

c)

vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

iii)

sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.

(3)   Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.“

5

Art. 7 („Ausgleichsanspruch“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 bestimmt:

„Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a)

250 [Euro] bei allen Flügen über eine Entfernung von 1500 km oder weniger,

b)

400 [Euro] bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1500 km und 3500 km,

c)

600 [Euro] bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b) fallenden Flügen.

Bei der Ermittlung der Entfernung wird der letzte Zielort zugrunde gelegt, an dem der Fluggast infolge der Nichtbeförderung oder der Annullierung später als zur planmäßigen Ankunftszeit ankommt.“

6

Art. 12 („Weiter gehender Schadensersatz“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 lautet:

„Diese Verordnung gilt unbeschadet eines weiter gehenden Schadensersatzanspruchs des Fluggastes. Die nach dieser Verordnung gewährte Ausgleichsleistung kann auf einen solchen Schadensersatzanspruch angerechnet werden.“

7

Art. 16 („Verstöße“) der Verordnung Nr. 261/2004 lautet:

„(1)   Jeder Mitgliedstaat benennt eine Stelle, die für die Durchsetzung dieser Verordnung in Bezug auf Flüge von in seinem Hoheitsgebiet gelegenen Flughäfen und Flüge von einem Drittland zu diesen Flughäfen zuständig ist. Gegebenenfalls ergreift diese Stelle die notwendigen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Fluggastrechte gewahrt werden. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission mit, welche Stelle gemäß diesem Absatz benannt worden ist.

(2)   Unbeschadet des Artikels 12 kann jeder Fluggast bei einer gemäß Absatz 1 benannten Stelle oder einer sonstigen von einem Mitgliedstaat benannten zuständigen Stelle Beschwerde wegen eines behaupteten Verstoßes gegen diese Verordnung erheben, der auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats begangen wurde oder einen Flug von einem Drittstaat zu einem Flughafen in diesem Gebiet betrifft.

(3)   Die von den Mitgliedstaaten für Verstöße gegen diese Verordnung festgelegten Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“

Ungarisches Recht

8

Art. 43/A Abs. 2 des A fogyasztóvédelemről szóló 1997. évi CLV. törvény (Verbraucherschutzgesetz CLV von 1997) vom 15. Dezember 1997 (Magyar Közlöny 1997/119, S. 9558, im Folgenden: Verbraucherschutzgesetz) lautet:

„Die Verbraucherschutzbehörde ist – erforderlichenfalls nach Konsultation der Zivilluftfahrtbehörde – für die Durchsetzung der Verordnung [(EU) 2017/2394 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2017 über die Zusammenarbeit zwischen den für die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze zuständigen nationalen Behörden und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 (ABl. 2017, L 345, S. 1)] in Bezug auf Verstöße gegen die Bestimmungen der Verordnung Nr. 261/2004 innerhalb der Europäischen Union zuständig.“

9

Nach Art. 47 Abs. 1 Buchst. c und i des Verbraucherschutzgesetzes kann die Verbraucherschutzbehörde das betreffende Unternehmen dazu verpflichten, die festgestellten Fehler und Unregelmäßigkeiten binnen einer bestimmten Frist abzustellen und „Bußgelder zum Schutz der Verbraucher“ verhängen.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

10

Nach einer mehr als dreistündigen Verspätung ihres Fluges von New York (USA) nach Budapest (Ungarn) wandten sich Fluggäste an die Verbraucherschutzinspektion, damit diese gegenüber LOT anordne, als Schadensersatz wegen Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 die in Art. 7 der Verordnung vorgesehenen Ausgleichsleistungen zu zahlen.

11

Mit Entscheidung vom 20. April 2020 stellte die Verbraucherschutzinspektion u. a. einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 fest und ordnete gegenüber LOT an, jedem betroffenen Fluggast einen Ausgleich in Höhe von 600 Euro zu zahlen.

12

LOT vertrat die Ansicht, dass die Verbraucherschutzinspektion nicht dazu befugt sei, die Zahlung einer solchen Entschädigung anzuordnen, und focht daher die genannte Entscheidung vor dem Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) an, der in dieser Rechtssache das vorlegende Gericht ist.

13

Unter Berufung auf die Schlussanträge des Generalanwalts in den verbundenen Rechtssachen Ruijssenaars u. a. (C‑145/15 und C‑146/15, EU:C:2016:12) macht LOT geltend, dass das Verhältnis zwischen einem Luftfahrtunternehmen und einem Fluggast zivilrechtlicher Natur sei. Deshalb würde die ungarische Praxis, wonach die Verbraucherschutzinspektion auf der Grundlage der Verordnung Nr. 261/2004 gegenüber Luftfahrtunternehmen anordnen dürfe, Ausgleichsleistungen zu zahlen, dazu führen, dass ungarischen Zivilgerichten die Zuständigkeit genommen würde.

14

Demgegenüber bejaht die Verbraucherschutzinspektion ihre Befugnis auf der Grundlage von Art. 16 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 261/2004. Das Verbraucherschutzgesetz sehe vor, dass im Fall eines Verstoßes gegen die Bestimmungen der Verordnung Nr. 261/2004 die Verbraucherschutzinspektion für die Anwendung der Verordnung 2017/2394 zuständig sei. In diesem Rahmen sei sie befugt, sogenannte „Bußgelder zum Schutz der Verbraucher“ zu verhängen.

15

Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob die Verbraucherschutzinspektion gegenüber einem Luftfahrtunternehmen anordnen darf, eine Ausgleichsleistung gemäß Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 wegen Verstoßes gegen deren Bestimmungen zu zahlen.

16

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts lässt der Tenor des Urteils vom 17. März 2016, Ruijssenaars u. a. (C‑145/15 und C‑146/15, EU:C:2016:187), nicht erkennen, ob der Gerichtshof von der Auslegung von Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 abgewichen sei, die der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen in den diesem Urteil zugrunde liegenden Rechtssachen vorgeschlagen habe. Nach jener Auslegung dürfe eine nationale Stelle, die mit der Bearbeitung einer individuellen Beschwerde eines Fluggasts befasst sei, keine Durchsetzungsmaßnahmen gegen ein Luftfahrtunternehmen erlassen, um es dazu anzuhalten, die dem Fluggast nach dieser Verordnung zustehende Ausgleichsleistung zu zahlen.

17

Ferner lasse sich das besagte Urteil nicht unmittelbar auf das Ausgangsverfahren übertragen. Im Unterschied zu der Situation, um die es in dem besagten Urteil gegangen sei, ordne in Ungarn die Verbraucherschutzinspektion gegenüber Luftfahrtunternehmen nämlich systematisch an, die in der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Ausgleichsleistungen zu zahlen, obwohl auch die Zivilgerichte angerufen werden könnten.

18

Das vorlegende Gericht stellt allerdings klar, dass die Verbraucherschutzinspektion zwar allgemein befugt sei, über Verstöße gegen die Bestimmungen der Verordnung Nr. 261/2004 zu entscheiden, dass es in den ungarischen Rechtsvorschriften aber keine besondere Bestimmung gebe, die es der Verbraucherschutzinspektion gestatte, bei Verstößen gegen diese Verordnung Durchsetzungsmaßnahmen im Hinblick auf Ausgleichsleistungen an Fluggäste zu erlassen.

19

Unter diesen Umständen hat der Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 16 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass die für die Durchsetzung dieser Verordnung zuständige nationale Stelle, bei der ein Fluggast eine individuelle Beschwerde erhoben hat, das betreffende Luftfahrtunternehmen nicht verpflichten kann, den dem Fluggast nach der Verordnung zustehenden Ausgleich zu zahlen?

Zur Vorlagefrage

20

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass eine für die Durchsetzung dieser Verordnung zuständige nationale Stelle ein Luftfahrtunternehmen verpflichten darf, die den Fluggästen nach der Verordnung geschuldeten Ausgleichszahlungen im Sinne von Art. 7 der Verordnung zu leisten, wenn ein Fluggast bei dieser nationalen Stelle eine individuelle Beschwerde erhoben hat.

21

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.

22

Erstens ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, eine Stelle zu benennen, die für die Durchsetzung der Verordnung in Bezug auf Flüge von in seinem Hoheitsgebiet gelegenen Flughäfen und Flüge von einem Drittland zu diesen Flughäfen zuständig ist, und dass diese Stelle gegebenenfalls die notwendigen Maßnahmen ergreift, um sicherzustellen, dass die Fluggastrechte gewahrt werden.

23

Nach Art. 16 Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 kann jeder Fluggast bei einer gemäß Art. 16 Abs. 1 benannten Stelle oder einer sonstigen von einem Mitgliedstaat benannten zuständigen Stelle Beschwerde wegen eines behaupteten Verstoßes gegen die Verordnung erheben, der auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats begangen wurde oder einen Flug von einem Drittstaat zu einem Flughafen in diesem Gebiet betrifft.

24

In Anbetracht des Wortlauts dieser Bestimmungen hat der Gerichtshof entschieden, dass Beschwerden im Sinne von Art. 16 Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 eher als Hinweise zu verstehen sind, die zur ordnungsgemäßen Anwendung der Verordnung im Allgemeinen beitragen sollen, ohne dass die Stelle verpflichtet wäre, aufgrund solcher Beschwerden tätig zu werden, um das Recht jedes einzelnen Fluggasts auf Erhalt einer Ausgleichsleistung zu gewährleisten (Urteil vom 17. März 2016, Ruijssenaars u. a., C‑145/15 und C‑146/15, EU:C:2016:187, Rn. 31).

25

Desgleichen hat der Gerichtshof festgestellt, dass der in Art. 16 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 enthaltene Begriff „Sanktionen“ in Verbindung mit dem 21. Erwägungsgrund der Verordnung die Maßnahmen bezeichnet, die als Reaktion auf Verstöße ergriffen werden, die die Stelle in Ausübung ihrer allgemeinen Aufsicht nach Art. 16 Abs. 1 der Verordnung aufdeckt, und nicht verwaltungsrechtliche Durchsetzungsmaßnahmen, die in jedem Einzelfall zu ergreifen sind (Urteil vom 17. März 2016, Ruijssenaars u. a., C‑145/15 und C‑146/15, EU:C:2016:187, Rn. 32).

26

Dem Wortlaut von Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 ist jedoch nicht zu entnehmen, dass es einem Mitgliedstaat verboten wäre, einer für die Durchsetzung dieser Verordnung zuständigen Stelle eine solche Durchsetzungsbefugnis zuzuweisen. Wie der Generalanwalt in Nr. 36 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich vielmehr aus dem Wortlaut dieses Artikels, dass die Mitgliedstaaten in Bezug auf die Zuständigkeiten, die sie ihren nationalen Stellen zum Schutz der Fluggastrechte übertragen möchten, über einen Handlungsspielraum verfügen.

27

Im Übrigen hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten u. a. angesichts des Handlungsspielraums, über den sie bei der Zuweisung der Zuständigkeiten, die sie den Stellen im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 übertragen möchten, verfügen, die Möglichkeit haben, zum Ausgleich eines unzureichenden Schutzes der Fluggastrechte eine solche Stelle zu ermächtigen, Maßnahmen auf individuelle Beschwerden hin zu ergreifen (Urteil vom 17. März 2016, Ruijssenaars u. a., C‑145/15 und C‑146/15, EU:C:2016:187, Rn. 36).

28

Zweitens spricht auch der Kontext von Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 für eine solche Auslegung.

29

Insoweit ergibt sich aus Art. 12 und Art. 16 Abs. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 in Verbindung mit ihrem 22. Erwägungsgrund, dass die Zuständigkeit der für die Durchsetzung der Verordnung benannten Stellen nur durch das Recht der Fluggäste beschränkt wird, bei einem Gericht einen weiter gehenden Schadensersatz als die in Art. 7 der Verordnung vorgesehenen pauschalen Ausgleichszahlungen zu beantragen.

30

Während die in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 festgelegten Pauschalbeträge einen standardisierten und unverzüglichen Ausgleich darstellen, mit dem die mit der Erhebung von Schadensersatzklagen vor den zuständigen Gerichten verbundenen Unannehmlichkeiten vermieden werden sollen, betrifft der in Art. 12 der Verordnung vorgesehene weiter gehende Schadensersatz einen dem betroffenen Fluggast eigenen Schaden, der individuell und nachträglich zu beurteilen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Rusu, C‑354/18, EU:C:2019:637, Rn. 28 und 36).

31

Dagegen sollen die in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 festgelegten Pauschalbeträge nur den Schaden ausgleichen, der für alle betroffenen Fluggäste praktisch identisch ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Rusu, C‑354/18, EU:C:2019:637, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Die Bestimmung dieser Beträge erfordert keine individuelle Beurteilung des Umfangs der verursachten Schäden, da zum einen die Höhe der in Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 festgelegten Pauschalausgleichszahlung anhand der von dem betreffenden Flug erfassten Entfernung unter Zugrundelegung des letzten Zielorts des Fluggasts berechnet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2017, Bossen u. a., C‑559/16, EU:C:2017:644, Rn. 17) und zum anderen bei der Berechnung dieser Höhe die über drei Stunden hinausgehende Zeitspanne der tatsächlichen Verspätung außer Betracht bleibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Oktober 2012, Nelson u. a., C‑581/10 und C‑629/10, EU:C:2012:657, Rn. 54).

33

Dadurch können – wie der Generalanwalt in Nr. 46 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – sowohl die Fluggäste als auch die Luftfahrtunternehmen die Höhe der jeweils geschuldeten Ausgleichszahlung leicht ermitteln. Dies gilt erst recht für die auf der Grundlage von Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 benannten Stellen.

34

Außerdem lässt sich zwar dadurch, dass Gerichten die Rechtsstreitigkeiten über die nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 geschuldete Ausgleichszahlung vorbehalten werden, jeglicher für die Fluggastrechte nachteiliger unterschiedlicher Beurteilung ein und desselben Einzelfalls durch die Stellen im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 einerseits und die mit individuellen Klagen befassten nationalen Gerichte andererseits vorbeugen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. März 2016, Ruijssenaars u. a., C‑145/15 und C‑146/15, EU:C:2016:187, Rn. 34), doch lässt sich dieses Risiko auch durch ein angemessenes Zusammenspiel zwischen Verwaltungsverfahren und Gerichtsverfahren vermeiden.

35

Wie der Generalanwalt in Nr. 51 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, ist es in Ermangelung einer einschlägigen Unionsregelung Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats, die hierfür erforderlichen Verfahrensmodalitäten zu regeln.

36

Andererseits kann der Umstand, dass den nationalen Stellen im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 eine Durchsetzungsbefugnis zuerkannt wird, jedenfalls nicht dazu führen, dass den Fluggästen oder Luftfahrtunternehmen die Möglichkeit genommen wird, einen gerichtlichen Rechtsbehelf beim zuständigen nationalen Gericht einzulegen (vgl. für Fluggäste in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2012, Cuadrench Moré, C‑139/11, EU:C:2012:741, Rn. 23).

37

Da der Antrag eines Fluggasts auf Ausgleichszahlungen nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 die Ausübung eines durch das Unionsrecht garantierten Rechts darstellt, räumt Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union einem solchen Fluggast das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf Zugang zu einem Gericht ein, das gegebenenfalls die Möglichkeit hat, den Gerichtshof auf der Grundlage von Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung zu ersuchen. Desgleichen muss ein Luftfahrtunternehmen die Möglichkeit haben, einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung einzulegen, mit der es von der nationalen Stelle im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004, die von einem Fluggast mit einer individuellen Beschwerde befasst wurde, dazu verpflichtet worden ist, die dem Fluggast nach dieser Verordnung geschuldete Ausgleichszahlung zu leisten.

38

Drittens wird die in den vorangehenden Randnummern dargelegte Auslegung von Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 durch die mit dieser Verordnung verfolgten Ziele bestätigt, wie sie in ihren Erwägungsgründen 1, 2 und 4 aufgeführt sind. Es handelt sich zum einen um das Ziel, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, wobei den Erfordernissen des Verbraucherschutzes im Allgemeinen in vollem Umfang Rechnung zu tragen ist, und zum anderen um das Ziel, die Fluggastrechte zu stärken, indem das Ärgernis und die Unannehmlichkeiten, die durch die große Verspätung oder die Annullierung von Flügen entstehen, verringert werden.

39

Das spezifische Ziel der nach der Verordnung Nr. 261/2004 gewährten pauschalen Ausgleichszahlung besteht gerade darin, dem Schaden, der in einem mit einer solchen Verspätung einhergehenden Zeitverlust von mindestens drei Stunden besteht und eine „Unannehmlichkeit“ im Sinne dieser Verordnung darstellt, unverzüglich und standardisiert abzuhelfen, ohne dass die betroffenen Fluggäste die mit der Erhebung von Schadensersatzklagen verbundenen Nachteile zu tragen haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Rusu, C‑354/18, EU:C:2019:637, Rn. 28).

40

Einer auf der Grundlage von Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 261/2004 benannten nationalen Stelle eine Durchsetzungsbefugnis zu verleihen, trägt sicherlich dazu bei, dass die Fluggäste die mit der Erhebung von Schadensersatzklagen verbundenen Nachteile nicht zu tragen haben. Eine solche Befugnis ermöglicht es aus den vom Generalanwalt in Nr. 48 seiner Schlussanträge angeführten Gründen der Einfachheit, Schnelligkeit und Wirksamkeit, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen und gleichzeitig eine Überlastung der Gerichte angesichts der potenziell hohen Zahl von Ausgleichsansprüchen zu vermeiden.

41

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 16 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten die für die Durchsetzung der Verordnung zuständige nationale Stelle dazu ermächtigen können, ein Luftfahrtunternehmen zu verpflichten, die den Fluggästen nach der Verordnung geschuldeten Ausgleichszahlungen im Sinne von Art. 7 der Verordnung zu leisten, wenn ein Fluggast bei dieser nationalen Stelle eine individuelle Beschwerde erhoben hat, sofern diesem Fluggast und dem genannten Luftfahrtunternehmen die Möglichkeit eines gerichtlichen Rechtsbehelfs offensteht.

Kosten

42

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 16 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91

 

ist dahin auszulegen, dass

 

die Mitgliedstaaten die für die Durchsetzung der Verordnung zuständige nationale Stelle dazu ermächtigen können, ein Luftfahrtunternehmen zu verpflichten, die den Fluggästen nach der Verordnung geschuldeten Ausgleichszahlungen im Sinne von Art. 7 der Verordnung zu leisten, wenn ein Fluggast bei dieser nationalen Stelle eine individuelle Beschwerde erhoben hat, sofern diesem Fluggast und dem genannten Luftfahrtunternehmen die Möglichkeit eines gerichtlichen Rechtsbehelfs offensteht.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Ungarisch.

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