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Document 62020CC0589

Schlussanträge des Generalanwalts N. Emiliou vom 20. Januar 2022.


Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:47

 SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NICHOLAS EMILIOU

vom 20. Januar 2022 ( 1 )

Rechtssache C‑589/20

JR

gegen

Austrian Airlines AG

(Vorabentscheidungsersuchen des Landesgerichts Korneuburg [Österreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Übereinkommen von Montreal – Art. 17 Abs. 1 – Haftung der Luftfahrtunternehmen für Tod oder Körperverletzungen der Fluggäste – Erfordernis eines hierfür ursächlichen ‚Unfalls‘, der sich ‚beim … Aussteigen‘ ereignet – Fluggast, der beim Aussteigen auf der Bordtreppe stürzt – Art. 20 – Einwand des fahrlässigen Mitverschuldens – Nichtfesthalten des Fluggasts an den Handläufen“

I. Einleitung

1.

Die vorliegende Rechtssache betrifft das alltägliche Risiko einer Verletzung durch Stolpern und Ausrutschen. Sie wirft, genauer gesagt, die Frage auf, ob und gegebenenfalls inwieweit Luftfahrtunternehmen haften, wenn Fluggästen diese Unglücksfälle an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen widerfahren.

2.

Insoweit hat das Landesgericht Korneuburg (Österreich) dem Gerichtshof zwei Fragen zur Auslegung von Art. 17 Abs. 1 und Art. 20 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr ( 2 ) (im Folgenden: Übereinkommen von Montreal) vorgelegt. Diese Fragen stellen sich im Rahmen einer Schadensersatzklage von JR, einer Reisenden auf einem internationalen Flug, gegen die Austrian Airlines AG, das Luftfahrtunternehmen, bei dem dieser Flug gebucht wurde und das ihn durchgeführt hat, wegen Verletzungen, die sie erlitt, als sie ohne erkennbaren Grund beim Aussteigen auf der Bordtreppe stürzte.

3.

Die erste Frage geht dahin, ob ein solcher Sturz einen „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal darstellt, der nach dieser Bestimmung die Haftung des Luftfahrtunternehmens auslöst. In der zweiten Frage geht es darum, ob in diesem Zusammenhang der Umstand, dass sich der Fluggast nicht an den Handläufen der Bordtreppe festgehalten hat, ein fahrlässiges Mitverschulden seinerseits darstellt, das das Luftfahrtunternehmen von seiner Haftung nach Art. 20 des Übereinkommens befreit. In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich erläutern, warum die beiden Fragen meines Erachtens nuanciert und einzelfallbezogen beantwortet werden müssen.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Übereinkommen von Montreal

4.

Aus dem dritten Erwägungsgrund des Übereinkommens von Montreal ergibt sich, dass die Vertragsstaaten „[die] Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr und eines angemessenen Schadenersatzes nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs [anerkennen]“.

5.

Im fünften Erwägungsgrund dieses Übereinkommens heißt es, dass „gemeinsames Handeln der Staaten zur weiteren Harmonisierung und Kodifizierung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr durch ein neues Übereinkommen das beste Mittel ist, um einen gerechten Interessenausgleich zu erreichen“.

6.

Art. 17 („Tod und Körperverletzung von Reisenden – Beschädigung von Reisegepäck“) des Übereinkommens von Montreal sieht in seinem Abs. 1 vor, dass „[d]er Luftfrachtführer den Schaden zu ersetzen [hat], der dadurch entsteht, dass ein Reisender getötet oder körperlich verletzt wird, jedoch nur, wenn sich der Unfall, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat“.

7.

Art. 20 („Haftungsbefreiung“) dieses Übereinkommens lautet: „Weist der Luftfrachtführer nach, dass die Person, die den Schadenersatzanspruch … erhebt, oder ihr Rechtsvorgänger den Schaden durch eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung, sei es auch nur fahrlässig, verursacht oder dazu beigetragen hat, so ist der Luftfrachtführer ganz oder teilweise von seiner Haftung gegenüber dieser Person insoweit befreit, als diese Handlung oder Unterlassung den Schaden verursacht oder dazu beigetragen hat. … Dieser Artikel gilt für alle Haftungsbestimmungen in diesem Übereinkommen einschließlich Artikel 21 Absatz 1.“

8.

Art. 21 („Schadenersatz bei Tod oder Körperverletzung von Reisenden“) des Übereinkommens von Montreal lautet:

„(1)   Für Schäden nach Artikel 17 Absatz 1, die 100000 Sonderziehungsrechte je Reisenden nicht übersteigen, kann die Haftung des Luftfrachtführers nicht ausgeschlossen oder beschränkt werden.

(2)   Der Luftfrachtführer haftet nicht für Schäden nach Artikel 17 Absatz 1, soweit sie 100000 Sonderziehungsrechte je Reisenden übersteigen, wenn er nachweist, dass

a)

dieser Schaden nicht auf eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung des Luftfrachtführers oder seiner Leute, sei sie auch nur fahrlässig begangen, zurückzuführen ist oder

b)

dieser Schaden ausschließlich auf eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung eines Dritten, sei sie auch nur fahrlässig begangen, zurückzuführen ist.“

B.   Unionsrecht

9.

Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei der Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr ( 3 ) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 889/2002 ( 4 ) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 2027/97) bestimmt, dass „für die Haftung eines Luftfahrtunternehmens der Gemeinschaft für Fluggäste und deren Gepäck alle einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal [gelten]“.

III. Sachverhalt, nationales Verfahren und Vorlagefragen

10.

Am 30. Mai 2019 reisten JR, ihr Ehemann und ihr zweijähriger Sohn mit einem von Austrian Airlines durchgeführten Flug im Rahmen eines mit Letzterer geschlossenen Luftbeförderungsvertrags von Thessaloniki (Griechenland) nach Wien (Österreich).

11.

Nach der Landung am Flughafen Wien-Schwechat wurde das Flugzeug in einer freistehenden Ausstiegsposition abgestellt. Nicht überdachte Bordtreppen, die auf jeder Seite über einen Handlauf verfügten, wurden sowohl im vorderen als auch im hinteren Bereich des Luftfahrzeugs positioniert, damit die Reisenden aussteigen konnten. JR und ihre Familie ließen andere Fluggäste zuerst aussteigen, bevor sie selbst die vordere Treppe benutzten. Der Ehemann von JR stieg als erster die Treppe hinab und hielt dabei in jeder Hand einen Handgepäck-Trolley. Auf dem unteren Drittel der Treppe kam er fast zu Fall, konnte sich aber noch auf den Beinen halten. JR folgte ihm, wobei sie in ihrer rechten Hand ihre Handtasche und auf dem linken Arm ihren Sohn hielt. Sie stürzte dort, wo ihr Ehemann zuvor beinahe zu Fall gekommen war, und schlug auf der Treppenkante auf. Bei dem Sturz erlitt sie eine Fraktur des linken Unterarms und ein Hämatom am Gesäß.

12.

JR verklagte Austrian Airlines vor dem Bezirksgericht Schwechat (Österreich) auf Schadensersatz in Höhe von 4675,00 Euro samt Anhang. Sie machte im Wesentlichen geltend, das Luftfahrtunternehmen hafte nach österreichischem Recht für die Körperverletzungen, die sie erlitten habe, da es gegen seine vertragliche Verkehrssicherungspflicht zum Schutz der Fluggäste verstoßen habe ( 5 ). JR macht insoweit geltend, dass es beim Ausstieg von Fluggästen auf einer freistehenden Parkposition gängige Praxis sei, dass das Luftfahrtunternehmen überdachte Bordtreppen bereitstelle und dafür sorge, dass diese nicht schmierig oder rutschig seien. Im vorliegenden Fall habe Austrian Airlines trotz Regens keine überdachte Treppen benutzt und damit das Risiko des Ausrutschens auf der nassen Treppe erhöht. Außerdem soll diejenige Stufe, auf der JR ausgerutscht ist, nach ihren Angaben ölig und/oder schmierig gewesen sein. Die Treppe sei in der Tat so rutschig gewesen, dass ihr Ehemann an derselben Stelle beinahe gestürzt sei, an der sie tatsächlich zu Fall gekommen sei, obwohl sie, nachdem sie ihren Ehemann fast stürzen gesehen habe, besonders Acht gegeben habe, indem sie ihren Sohn auf den Arm genommen habe, damit er nicht ausrutsche, und sehr vorsichtig herabgestiegen sei.

13.

Austrian Airlines erwidert hierauf erstens, dass sie ihre Verkehrssicherungspflicht nicht verletzt habe. Die Verwendung von Bordtreppen, die mit durchlöcherten/gerillten Trittflächen ausgestattet gewesen seien, um das Rutschrisiko zu vermindern, habe ein gefahrloses Aussteigen der Fluggäste sichergestellt. Außerdem seien die fraglichen Treppen in gutem technischen Zustand und weder nass noch ölig noch schmierig und daher nicht rutschig gewesen. Zweitens habe jedenfalls vernünftigerweise von JR erwartet werden dürfen, sich an den Handläufen festzuhalten, besonders nachdem sie gerade erst mitangesehen habe, wie ihr Ehemann beinahe gestürzt wäre. Außerdem könne nicht ausgeschlossen werden, dass ihr Sturz gerade deshalb eingetreten sei, weil sie gerade ihren Sohn gehalten habe. Drittens habe JR trotz ärztlicher Anweisung und Beratung auf die umgehende weiterführende Behandlung in einem umliegenden Krankenhaus verzichtet und sei stattdessen zurück nach Linz (Österreich) gefahren, wo sie sich erst am späten Abend des 30. Mai 2019 habe behandeln lassen. Daher könne nicht ausgeschlossen werden, dass sich ihre Verletzungen durch die verzögerte Behandlung verschlimmert hätten.

14.

Mit Urteil vom 15. März 2020 wies das Bezirksgericht Schwechat die Klage in vollem Umfang ab. Zusätzlich zu dem in Nr. 11 zusammengefassten Sachverhalt hat dieses Gericht ferner festgestellt, dass vor JR zirka 60 Passagiere die Bordtreppen zum Ausstieg benutzt hätten, von denen keiner ausgerutscht sei oder sich über deren Rutschigkeit beschwert habe. Die Stufen bestünden aus Riffelblech, das eine besondere Rutschfestigkeit gewährleiste. Solche Treppen würden auf dem Flughafen Wien-Schwechat, wo keine überdachten Treppen zur Verfügung stünden, ständig verwendet. Außerdem seien diese Gerätschaften zertifiziert, und die fraglichen Bordtreppen hätten sich in einwandfreiem Zustand befunden und keine Anzeichen von Mängeln oder Schäden aufgewiesen. Am fraglichen Tag seien die Stufen zwar tatsächlich feucht gewesen, weil es vorher geregnet habe, aber man habe nicht behaupten können, dass sie nass gewesen seien, da es zum Zeitpunkt des Aussteigens der Fluggäste nicht geregnet habe. Sie seien auch weder ölig noch schmierig noch irgendwie großflächig verunreinigt gewesen. Einzelne punktförmige Verunreinigungen unbekannter Konsistenz hätten sich lediglich auf den letzten drei Stufen befunden, aber es könne nicht festgestellt werden, dass diese Verunreinigungen rutschig gewesen seien oder dass gar Kaugummi auf den Stufen geklebt habe. Schließlich habe JR gesehen, wie ihr Mann beinahe gestürzt wäre, und sei dann selbst an derselben Stelle gestürzt. Abgesehen davon, dass keiner von ihnen die Handläufe verwendet habe, sei nicht feststellbar gewesen, warum die Klägerin gestürzt sei.

15.

In Anbetracht dessen und im Einklang mit dem österreichischen Recht entschied das erstinstanzliche Gericht, dass Austrian Airlines ihre Verkehrssicherungspflicht nicht verletzt habe. Ein Luftfahrtunternehmen brauche nur jene Maßnahmen zu ergreifen, die vernünftigerweise von ihm zu erwarten seien. Insoweit werde durch die Verwendung von Bordtreppen mit rutschfesten Oberflächen ausreichend Sorge dafür getragen, dass Fluggäste aus dem Flugzeug gefahrlos aussteigen könnten. Jedenfalls müsse jeder Fluggast darauf achten, wo er hintrete. Obwohl JR gerade mitangesehen habe, wie ihr Ehemann beinahe gestürzt sei, habe sie keine Vorkehrungen getroffen, um ihren eigenen Sturz zu verhindern. Vernünftigerweise hätte sie innehalten und dann den Handlauf benutzen sollen, bevor sie sich weiter die Treppe hinunterbewegte. Es wäre JR auch möglich gewesen, die Hilfe ihres Ehemanns in Anspruch zu nehmen. Dass sie nicht nach dem Handlauf gegriffen habe, obwohl eine Gefahr bereits erkennbar gewesen sei, bedeute, dass sie ihren Sturz in erster Linie selbst verschuldet habe.

16.

Gegen dieses Urteil erhob JR Berufung beim Landesgericht Korneuburg (Österreich). Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Haftung von Austrian Airlines nicht anhand des österreichischen Rechts, sondern anhand der Voraussetzungen des Übereinkommens von Montreal zu beurteilen sei. Insoweit sei zweifelhaft, ob ein Sturz, wie er JR widerfahren sei, als„Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens, wie er im Urteil Niki Luftfahrt definiert worden sei, qualifiziert werden könne ( 6 ). Jedenfalls fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Fahrlässigkeit des Fluggasts – der sich nicht an den Handläufen festgehalten habe – das Luftfahrtunternehmen nach Art. 20 des Übereinkommens von jeglicher Haftung befreie.

17.

Vor diesem Hintergrund hat das Landesgericht Korneuburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen, dass der Begriff „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung einen Sachverhalt erfasst, bei dem ein Fluggast beim Ausstieg aus dem Flugzeug auf dem letzten Drittel der mobilen Ausstiegstreppe – ohne erkennbaren Grund – stürzt und sich dabei verletzt, wobei die Verletzung nicht durch einen bei der Fluggastbetreuung eingesetzten Gegenstand im Sinne des Urteils Niki Luftfahrt verursacht wurde und keine mangelhafte Beschaffenheit der Treppe gegeben war, diese insbesondere auch nicht rutschig war?

2.

Ist Art. 20 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen, dass eine allfällige Haftung des Luftfahrtunternehmens zur Gänze entfällt, wenn Umstände wie in Frage 1 beschrieben vorliegen und sich der Fluggast im Zeitpunkt des Sturzes nicht am Handlauf der Treppe festgehalten hat?

18.

Das Vorabentscheidungsersuchen vom 15. September 2020 ist am 10. November 2020 beim Gerichtshof eingegangen. JR, Austrian Airlines, die deutsche Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht. Eine mündliche Verhandlung hat nicht stattgefunden.

IV. Würdigung

19.

Das Übereinkommen von Montreal ist ein Vertrag über einheitliche Vorschriften für den internationalen Luftverkehr. Darin werden u. a. die Verpflichtungen der Luftfahrtunternehmen gegenüber den Fluggästen festgelegt, mit denen sie einen Beförderungsvertrag geschlossen haben. Da dieses Übereinkommen u. a. von der Europäischen Union geschlossen wurde ( 7 ), ist es integraler Bestandteil der Unionsrechtsordnung ab dem Zeitpunkt, in dem es in Bezug auf die Europäische Union in Kraft getreten ist, d. h. ab dem 28. Juni 2004. Daher ist der Gerichtshof ab diesem Zeitpunkt dafür zuständig, im Wege der Vorabentscheidung über seine Auslegung zu entscheiden ( 8 ).

20.

Wie das vorlegende Gericht zutreffend ausführt ( 9 ), findet das Übereinkommen von Montreal im Ausgangsverfahren Anwendung. JR hat nämlich mit Austrian Airlines einen Beförderungsvertrag geschlossen, und dieser Vertrag betraf eine „internationale Beförderung durch Luftfahrzeuge“ im Sinne von Art. 1 der Vereinbarung, weil der Abflugort und der Bestimmungsort dieses Fluges im Hoheitsgebiet zweier Vertragsstaaten, nämlich der Hellenischen Republik und der Republik Österreich, liegen ( 10 ).

21.

Kapitel III des Übereinkommens von Montreal enthält verschiedene Bestimmungen über die Haftung der Luftfahrtunternehmen. Art. 17 Abs. 1 behandelt insbesondere ihre Haftung bei „Tod oder Körperverletzung“ der Reisenden. Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass der Bruch und das Hämatom, die JR in ihrer Eigenschaft als Reisende erlitten hat ( 11 ) und für die sie eine Ausgleichszahlung von Austrian Airlines verlangt, solche „Körperverletzungen“ darstellen.

22.

Der Anspruch von JR fällt daher klar in den Anwendungsbereich von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal. Außerdem findet ausschließlich diese Bestimmung in solchen Fällen Anwendung. Denn nach Art. 29 des Übereinkommens kann ein Anspruch, auf welchen Rechtsgrund die klagende Partei ihn auch stützt – auf nationales Deliktrecht, vertragliche Haftung usw. – nur unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen geltend gemacht werden, die in diesem Übereinkommen vorgesehen sind, und kann andernfalls nicht gewährt werden. Mit anderen Worten: „Wenn das Übereinkommen keinen Rechtsbehelf zur Wiedergutmachung der Verletzung zur Verfügung stellt, steht überhaupt kein Rechtsbehelf zur Verfügung“ ( 12 ). Auch wenn JR ihr Begehren auf die österreichische zivilrechtliche Haftungsregelung stützt, hängt somit ihr Erfolg letztlich nicht vom Inhalt dieser Vorschriften, sondern von der richtigen Auslegung des Übereinkommens ab ( 13 ).

23.

Insoweit sieht Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal vor, dass der geschädigte Reisende einen Anspruch gegen das Luftfahrtunternehmen „jedoch nur [hat], wenn sich der Unfall, durch den … die Körperverletzung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat“.

24.

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so sind die dem Luftfahrtunternehmen zu seiner Verteidigung zu Gebote stehenden Einwendungen recht begrenzt und variieren je nach der Höhe des der klagenden Partei zu gewährenden Schadensersatzes. Übersteigt die Höhe des Anspruchs nicht 100000 Sonderziehungsrechte (SZR) ( 14 ), stellt Art. 21 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal klar, dass „die Haftung“ des Luftfahrtunternehmens „nicht ausgeschlossen oder beschränkt werden kann“. Überschreitet der Anspruch diese Schwelle, kann das Luftfahrtunternehmen nach Art. 21 Abs. 2 des Übereinkommens für sich eine Haftungsbeschränkung geltend machen ( 15 ), wenn es im Wesentlichen nachweist, dass die Verletzung des Reisenden nicht auf sein Fehlverhalten/seine Fahrlässigkeit zurückzuführen ist. Es steht fest, dass der Anspruch von JR die Schwelle von 100000 SZR nicht übersteigt, so dass sich Austrian Airlines jedenfalls nicht auf diese besondere Verteidigungsmöglichkeit berufen konnte.

25.

Dennoch steht dem Luftfahrtunternehmen, obwohl der Wortlaut von Art. 21 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal scheinbar für Uneingeschränktheit spricht, in diesem Fall weiterhin eine andere Verteidigungsmöglichkeit offen. Es kann nämlich seine Haftung – allein – dadurch ausschließen oder begrenzen, dass es gemäß Art. 20 des Übereinkommens den Nachweis eines fahrlässigen Mitverschuldens der klagenden Partei erbringt. Diese Bestimmung gilt nämlich für alle von diesem Vertrag erfassten Schäden einschließlich der „Körperverletzungen“ eines Reisenden, selbst wenn der Anspruch seinem Wert nach 100000 SZR nicht übersteigt ( 16 ).

26.

In diesem Zusammenhang betreffen die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen sowohl die Anspruchsvoraussetzungen (Art. 17 Abs. 1) als auch die Verteidigung gegen den Anspruch (Art. 20). Die erste Frage betrifft die rechte Auslegung des Begriffs „Unfall“ im Sinne der erstgenannten Bestimmung. Die zweite Frage bezieht sich auf das Problem des Mitverschuldens an einem Unfall durch Fahrlässigkeit. Art. 17 Abs. 1 ist vom Gerichtshof bereits ausgelegt worden, insbesondere im Urteil Niki Luftfahrt. Dies ist bei Art. 20 nicht der Fall. Insgesamt lässt sich eine Antwort auf die Vorlagefragen nicht schlüssig aus der vorliegenden Rechtsprechung ableiten, auch wenn bestimmte allgemeine Folgerungen gezogen werden können.

27.

Erstens sind die im Übereinkommen von Montreal enthaltenen Begriffe wie etwa „Unfall“ und „Fahrlässigkeit“einheitlich und autonom auszulegen, entsprechend den Auslegungsregeln des allgemeinen Völkerrechts, an die die Union gebunden ist ( 17 ).

28.

In dieser Hinsicht müssen diese Begriffe zweitens nach den Regeln des Völkergewohnheitsrechts ausgelegt werden, wie sie in dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 kodifiziert sind ( 18 ). Die relevanten Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal sind daher nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Ziels und Zwecks auszulegen ( 19 ) – dazu gehört es, „[die] Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr [anzuerkennen]“ und gleichzeitig einen „gerechten Ausgleich“ zwischen diesen Interessen und jenen der Luftfrachtführer zu wahren ( 20 ).

29.

Drittens möchte ich hinzufügen, dass der Gerichtshof, da er nur eines der für die Auslegung des Übereinkommens von Montreal zuständigen Gerichte ist und die einheitliche Anwendung dieses Übereinkommens in allen Vertragsstaaten ein anzustrebendes Ideal darstellt, gut daran tut, bei der Entscheidung über Begriffe wie „Unfall“ und „Fahrlässigkeit“ die Entscheidungen der Gerichte dieser Vertragsstaaten zu berücksichtigen und sich in ihnen Anregungen zu suchen ( 21 ).

30.

Ich werde in den folgenden Abschnitten die Vorlagefragen im Licht dieser allgemeinen Erwägungen erörtern. Zunächst werde ich jedoch eine letzte Bemerkung zum Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache machen. Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens, während einige der Sachverhaltselemente außer Streit stehen, andere Umstände bestreiten, nämlich die Frage, ob die in Rede stehende Bordtreppe nass, schmierig oder ölig und somit rutschig gewesen sei und ob dies der Grund für den Sturz von JR gewesen sei. Sie streiten auch darüber, ob JR fahrlässig gehandelt habe, weil sie sich nicht an den Handläufen festgehalten habe ( 22 ). Die nationalen Gerichte haben jedoch bereits alle diese Tatsachen festgestellt und gewürdigt. Sie haben festgestellt, dass die Stufen weder rutschig noch in irgendeiner Weise schadhaft waren, dass es somit unmöglich war, festzustellen, warum JR gestürzt sei, und dass sie tatsächlich fahrlässig war ( 23 ). Der Gerichtshof hat die erbetene Auslegung auf der Grundlage dieser Feststellungen vorzunehmen ( 24 ). Dies werde auch ich in den vorliegenden Schlussanträgen tun.

A.   Zu Stürzen und „Unfällen“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal (erste Frage)

31.

Aus dem Wortlaut von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal ergeben sich zwei kumulative Voraussetzungen. Damit das Luftfahrtunternehmen haftbar ist, muss die „Körperverletzung“ des Reisenden (i) durch einen „Unfall“ verursacht worden sein, (ii) der sich „an Bord des Luftfahrzeugs“ oder „beim Ein- oder Aussteigen“ ereignet hat.

32.

Die zweite Voraussetzung ist eigentlich nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Das vorlegende Gericht geht davon aus, dass sie erfüllt ist, und hat daher zu ihr keine Fragen vorgelegt. Vor dem Gerichtshof stellt Austrian Airlines jedoch in Abrede, dass diese Voraussetzung erfüllt sei. Sie macht im Wesentlichen geltend, dass die Begriffe „[beim] Einsteigen“ und „[beim] Aussteigen“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens auf den Vorgang des Überschreitens der Schwelle des Luftfahrzeugs beim Ein- oder Aussteigen beschränkt sein müssten, d. h. auf das Betreten des Luftfahrzeugs von der Bordtreppe oder der Fluggastbrücke aus bzw. auf den Übertritt vom Luftfahrzeug auf die Bordtreppe oder die Fluggastbrücke. Als JR im unteren Drittel der Treppe gestürzt sei, habe sie sich mithin schon nicht mehr im Stadium des „Aussteigens“ befunden. Um dem nationalen Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, werde ich kurz auf dieses Argument eingehen.

33.

Das Übereinkommen von Montreal enthält keine Definition der in Art. 17 Abs. 1 enthaltenen Begriffe „[beim] Einsteigen“ oder „[beim] Aussteigen“. Dies vorausgeschickt, sehe ich nach den oben in Nr. 28 wiedergegebenen Auslegungsregeln keinen Grund, sie in dem von Austrian Airlines befürworteten engen Sinne auszulegen. Erstens bezieht sich „Einsteigen“ in seiner gewöhnlichen Bedeutung des An-Bord-Verbringens im weiten Sinn darauf, Fluggäste (oder eine Fracht usw.) vor dem Beginn einer Reise in ein Luftfahrzeug (oder Schiff usw.) gelangen zu lassen, während „Aussteigen“ das Gegenteil bedeutet. Zweitens bringt die Wendung „any of the operations“ (jedweder Vorgang) in Art. 17 Abs. 1 ( 25 ) den Willen der Verfasser des Übereinkommens zum Ausdruck, hierunter eine breite Palette von Sachverhalten zu erfassen, die offensichtlich nicht auf das bloße Betreten oder Verlassen des Luftfahrzeugs – oder auch auf das Hinauf- und Herabsteigen auf der Bordtreppe – beschränkt sind. Drittens ist in Bezug auf den letztgenannten Aspekt durchaus vertretbar, dass es sich im Rahmen des modernen Flugverkehrs „beim Ein- oder Aussteigen“ um komplexe Prozesse handelt, die oftmals über zahlreiche Gates, Gänge, Shuttledienste und Treppen verlaufen, bevor der Fluggast seinen Sitzplatz erreicht oder (in der Gegenrichtung) endgültig seinen Fuß auf den Boden eines bestimmten Landes setzt. Viertens sprechen auch Gegenstand und Ziele des Übereinkommens von Montreal für eine weite Auslegung. Wäre die Ansicht von Austrian Airlines zutreffend, führte dies zu einer recht drastischen Einschränkung der praktischen Wirksamkeit von Art. 17 Abs. 1. Dementsprechend haben die nationalen Gerichte diese Begriffe dahin verstanden, dass sie hinreichend weit gefasst sind, um im Interesse der Fluggäste Ereignisse einzubeziehen, die sich auf dem Rollfeld, in Shuttlebussen, die sie zu Luftfahrzeugen oder Flughafenterminals bringen, oder sogar in „sensiblen“ Teilen des Sicherheitsbereichs dieser Terminals ereignen, solange nur die Fluggäste – im Interesse der Luftfahrtunternehmen – der Kontrolle des Personals des Luftfahrtunternehmens unterstehen, wenn sich diese Vorfälle ereignen ( 26 ). Nach alledem umfasst der Begriff „[beim] Aussteigen“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 offensichtlich auch den Vorgang des Hinabsteigens der Bordtreppe nach der Landung, beschränkt sich aber nicht darauf.

34.

Der neuralgische Punkt liegt in der Auslegung der ersten Voraussetzung. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Begriff „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal einen Fall erfasst, in dem ein Fluggast während des Aussteigevorgangs auf der Bordtreppe stürzt, auch wenn der Grund für seinen Sturz nicht feststellbar ist und er namentlich nicht auf „einen bei der Fluggastbetreuung eingesetzten Gegenstand“ oder auf irgendeine Schadhaftigkeit oder Rutschigkeit der Treppe zurückzuführen war.

35.

Ich erinnere daran, dass das Übereinkommen von Montreal den in seinem Art. 17 Abs. 1 enthaltenen Begriff „Unfall“ nicht definiert. Die nationalen Gerichte verwenden insoweit eine Definition, die vor mehr als 30 Jahren vor dem Hintergrund von Art. 17 des Warschauer Abkommens festgelegt wurde. In seiner wegweisenden Entscheidung in der Rechtssache Air France/Saks ( 27 ) hat der United States Supreme Court (Oberster Gerichtshof der Vereinigten Staaten) diesen Begriff dahin ausgelegt, dass er „ein unerwartetes oder ungewöhnliches Ereignis oder ein Geschehen außerhalb der Sphäre des Fluggastes“ erfasst. Im Urteil Niki Luftfahrt legte der Gerichtshof seine eigene Definition fest. Er hat entschieden, dass ein „Unfall“ nach seiner gewöhnlichen Bedeutung ein „unvorhergesehenes, unbeabsichtigtes, schädigendes Ereignis“ ist ( 28 ). Der einzige nennenswerte Unterschied zwischen diesen beiden Definitionen besteht in dem auf die „Fluggastsphäre“ abstellenden Kriterium, das in der ersten Definition eingeführt wurde, aber offenbar in der zweiten Definition fehlt; auf diesen Punkt werde ich später zurückkommen ( 29 ).

36.

Außerdem ergibt sich aus den meisten nationalen Entscheidungen und aus dem Urteil Niki Luftfahrt, dass, da das Luftfahrtunternehmen für die Verletzung des Reisenden gemäß Art. 17 Abs. 1 „nur“ dann haftet, wenn sie durch einen „Unfall“ verursacht wurde, der sich an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat, keine zusätzlichen Haftungsvoraussetzungen in diesen Begriff „hineingelesen“ werden dürfen – sonst würde die schlichte Ratio dieser Bestimmung verzerrt.

37.

Insbesondere hängt erstens, wie der Gerichtshof in dem genannten Urteil ausdrücklich ausgeführt hat, die Haftung des Luftfahrtunternehmens nach Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal nicht davon ab, ob die Verletzung des Fluggasts auf das Eintreten eines luftfahrtspezifischen Risikos zurückgeht. Obwohl einige nationale Gerichte einen gegenteiligen Standpunkt eingenommen haben, hat der Gerichtshof zu Recht festgestellt, dass eine solche Auslegung des Begriffs „Unfall“ weder mit seiner gewöhnlichen Bedeutung noch mit den Zielen des Übereinkommens im Einklang stünde ( 30 ). Somit ist das Vorbringen von Austrian Airlines, der Treppensturz stelle, was sich nicht bestreiten lässt, ein Alltagsrisiko dar, für die Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts unerheblich.

38.

Ob zweitens die Verletzung des Fluggasts, wie es in der ersten Frage des vorlegenden Gerichts heißt, durch „einen bei der Fluggastbetreuung eingesetzten Gegenstand“ verursacht wurde oder nicht, ist meines Erachtens ebenfalls unerheblich, auch wenn dem Gericht darin beizupflichten ist, dass in diesem Punkt eine gewisse Unklarheit besteht. Immerhin hat der Gerichtshof in seinem Urteil Niki Luftfahrt klargestellt, dass der Begriff „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 „jeden an Bord eines Luftfahrzeugs vorfallenden Sachverhalt erfasst, in dem ein bei der Fluggastbetreuung eingesetzter Gegenstand eine körperliche Verletzung eines Reisenden verursacht hat“ ( 31 ).

39.

Ich bezweifle jedoch stark, dass der Gerichtshof hiermit diesen Begriff durch Aufnahme einer neuen Voraussetzung verengen wollte, die dem Wortlaut des Art. 17 Abs. 1 fremd ist, zumal er gerade in dem genannten Urteil eine andere verworfen hatte ( 32 ). Meines Erachtens ist diese Feststellung eher als eine abstrakte Beschreibung der in dieser Rechtssache in Rede stehenden Umstände gedacht: Konkret ging es um einen vom Personal des Luftfahrtunternehmens servierten Einwegbecher mit heißem Kaffee, der von einem Abstellbrett kippte und einem Fluggast Verbrühungen verursachte. Zahlreiche Ereignisse, die an Bord von Luftfahrzeugen oder beim Ein- oder Aussteigen stattfinden, können von der Definition des Begriffs „Unfall“, wie sie oben in Nr. 35 dargelegt worden ist, erfasst werden, auch wenn daran womöglich keine „bei der Fluggastbetreuung eingesetzten Gegenstände“ beteiligt sind, und umgekehrt. Die Frage, ob im vorliegenden Fall der Sturz von JR auf einen solchen „Gegenstand“ zurückzuführen war, ist somit nicht das Problem ( 33 ).

40.

Drittens kann die Haftung des Luftfahrtunternehmens nach Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal entgegen der offenbar von Austrian Airlines vertretenen Ansicht nicht von seinem Fehlverhalten/seiner Fahrlässigkeit abhängen. Während es sich nämlich hierbei um eine Haftungsvoraussetzung im innerstaatlichen Recht der deliktischen oder vertraglichen Haftung handeln kann, wird im Wortlaut der genannten Bestimmung auf nichts Dergleichen Bezug genommen. Auch hier kommt es darauf an, ob sich in bestimmten Situationen ein „Unfall“ ereignet hat, wobei es sich hierbei um einen objektiven Begriff handelt. Der Umstand, dass Austrian Airlines im vorliegenden Fall angemessene Vorkehrungen getroffen hat, um die Verletzung von JR zu verhindern ( 34 ), ist daher für die Feststellung, ob diese Verletzung durch ein Unfallereignis verursacht wurde, unerheblich ( 35 ).

41.

Die Beurteilung der gesamten Haftungsregelung des Übereinkommens von Montreal bei „Körperverletzung“ eines Fluggasts bestätigt diese Auslegung. Ich weise darauf hin, dass ein Fehlverhalten/eine Fahrlässigkeit des Luftfahrtunternehmens oder eher deren Fehlen auf der Ebene der Verteidigungsmittel gemäß Art. 21 Abs. 2 dieses Übereinkommens eine Rolle spielen kann. Das Luftfahrtunternehmen kann seine Haftung mitunter beschränken, indem es nachweist, dass ihm, obwohl sich ein „Unfall“ ereignet hat, die Verletzung nicht vorwerfbar ist ( 36 ). Somit kann das Fehlverhalten/die Fahrlässigkeit keinesfalls einen Bestandteil des Unfallbegriffs darstellen.

42.

Kurz gesagt ist die „eigentliche Frage“, die es zu beantworten gilt, eine eng gefasste Frage. Sie lässt sich im Kern wie folgt zusammenfassen: Ist die Verletzung des Fluggasts durch ein Ereignis verursacht worden, das der objektiven Definition eines „Unfalls“ entspricht, wie sie oben in Nr. 35 dargelegt worden ist?

43.

Nach Ansicht von JR, der deutschen Regierung und der Kommission ist diese Frage im vorliegenden Fall zu bejahen. Im Einklang mit der Definition des Gerichtshofs machen sie geltend, dass ein Sturz, wie ihn JR erlitten habe, offensichtlich ein „schädigendes“ und „unbeabsichtigtes“ Ereignis sei. Außerdem bestehe zwar immer das Risiko eines Sturzes auf Bordtreppen, und gelegentlich stürzen Personen tatsächlich; wenn dieser Fall aber eintrete, werde er dessen ungeachtet als „unvorhergesehen“ erachtet ( 37 ).

44.

Dagegen ist diese Frage nach Ansicht von Austrian Airlines zu verneinen. Sie macht im Wesentlichen geltend, dass sich im vorliegenden Fall kein „Unfall“ ereignet habe, da nichts „Ungewöhnliches“, „Unerwartetes“ oder „Unvorhergesehenes“ zu dem Sturz der Klägerin geführt habe. Fluggäste stiegen nach ihrem Flug regelmäßig die Bordtreppen herab. Außerdem gebe es mit Blick auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nichts Außergewöhnliches, wie etwa einen unerwarteten Höhenunterschied zwischen dem Boden des Luftfahrzeugs und der Treppe oder eine Schadhaftigkeit oder eine Substanz, die sie rutschig gemacht hätte. Diese Ansicht teilt das vorlegende Gericht offenbar.

45.

Diese entgegengesetzten Auffassungen spiegeln die verschiedenen Ansätze wider, die von nationalen Gerichten unter ähnlichen Umständen zugrunde gelegt worden sind.

46.

Einige nationale Entscheidungen folgen nämlich der von JR, der deutschen Regierung und der Kommission vertretenen Sichtweise. Nach diesen Entscheidungen wird der Sturz eines Fluggasts im Allgemeinen als „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal eingestuft ( 38 ).

47.

Andere nationale Entscheidungen – die meines Wissens die überwiegende Mehrheit darstellen – folgen der von Austrian Airlines vorgeschlagenen Sichtweise. Nach diesen Entscheidungen wird es nicht immer schon dann als ein „Unfall“ anerkannt, wenn ein Fluggast stürzt und sich verletzt. Die entscheidende Frage ist, warum er zu Sturz gekommen ist. Ein „Unfall“ liegt offenbar vor, wenn der Sturz durch einen unerwarteten oder ungewöhnlichen Faktor außerhalb der Sphäre des Fluggasts ausgelöst wurde. So wurden z. B. als „Unfälle“ jene Fälle anerkannt, bei denen Fluggäste auf den Bordtreppen deswegen ausrutschten und stürzten, weil sich Schnee/Eis oder Wasser auf den Stufen angesammelt hatte ( 39 ), weil sich die Stufen plötzlich bewegten ( 40 ) oder weil sich ein unerwartetes Gefälle zwischen dem Boden des Luftfahrzeugs und der Fluggastbrücke auftat ( 41 ). Als Opfer von „Unfällen“ wurden auch Fluggäste angesehen, die an Bord eines Luftfahrzeugs stürzten, weil sie auf einer Seifenspur auf dem Boden der Toilette ausgerutscht waren ( 42 ) oder weil ein Mitreisender ihnen plötzlich auf den Fuß trat ( 43 ). Wenn der Fluggast dagegen ohne erkennbaren Grund stürzte ( 44 ) oder der Sturz ausschließlich auf seine eigene gesundheitliche Verfassung zurückzuführen war ( 45 ), wurde der Anspruch verweigert.

48.

Meines Erachtens ist die diesem zweiten Ansatz zugrunde liegende Ratio richtig, und zwar aus mehreren Gründen.

49.

Erstens verschwimmen zwar in der Alltagssprache oft die Begriffe „Unfall“ und „Verletzung“, doch gilt dies nicht für das Übereinkommen von Montreal. Art. 17 Abs. 1 unterscheidet zwischen der vom Reisenden erlittenen „Körperverletzung“ und dem „Unfall“, der sie verursacht hat. Somit sind Ursache und Wirkung voneinander zu trennen. Ich neige zu der Auffassung, dass der Sturz an sich keine Ursache, sondern die Wirkung von etwas anderem ist: Es handelt sich dabei um die Reaktion einer Person auf einen auslösenden Anlass.

50.

Wenn man sich daher fragt, ob sich ein „Unfall“ ereignet hat, kann man den Sturz nicht ohne Berücksichtigung dessen betrachten, was ihn ausgelöst hat. Ich erinnere daran, dass die klagende Partei nach Art. 17 Abs. 1 sehr wohl nachzuweisen hat, dass ein „Unfall“ ihre Verletzung verursacht hat. „Ich bin gestürzt“ ist insoweit eine zu schwache Erklärung.

51.

Zweitens sei zu diesem letztgenannten Punkt erwähnt, dass zahlreiche Gründe dazu führen können, dass eine Person unbeabsichtigt stürzt und sich verletzt. Sie können „in ihrer Sphäre liegen“ – wie z. B. ein durch ihren Gesundheitszustand ausgelöster Ohnmachtsanfall – oder „außerhalb dessen“ – z. B. eine unerwartete Konfrontation mit einer rutschigen Oberfläche.

52.

Insoweit ist es nach meinem Dafürhalten recht augenfällig, dass Fluggäste, die an Bord des Luftfahrzeugs bzw. beim Ein- oder Aussteigen aus rein in „ihrer Sphäre liegenden“ Gründen stürzen, dem Luftfahrtunternehmen gegenüber keine Ansprüche aus Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal haben können ( 46 ). So etwa kann ein Schlaganfall, obwohl er sicherlich – um die Formulierung des Gerichtshofs aufzugreifen – ein „unvorhergesehenes, unbeabsichtigtes, schädigendes Ereignis“ ist, vernünftigerweise nicht als „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden. Die gleiche Überlegung gilt für Fluggäste, die infolge ihrer gegebenen gesundheitlichen Verfassung einen Ohnmachtsanfall erleiden, zu Boden stürzen und sich dadurch verletzen.

53.

Es gibt nämlich einen Grund, warum die nationalen Gerichte, wie ich oben in Nr. 35 ausgeführt habe, durchgängig ein „Sphären“-Kriterium in den Begriff „Unfall“ hineininterpretiert haben. Obwohl dieser Begriff auf seiner gewöhnlichen Wortbedeutung beruht, bleibt er ein autonomer Begriff, der in einem Vertrag verwendet wird, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen – das, wie bereits ausgeführt, u. a. darin besteht, „[die] Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr [anzuerkennen]“ und gleichzeitig einen „gerechten Ausgleich“ zu schaffen ( 47 ). Er sollte dementsprechend im Licht dieses Ziels ausgelegt werden. Insoweit haben die nationalen Gerichte zu Recht angenommen, dass die Verfasser des Übereinkommens von Montreal nicht beabsichtigten, die Luftfahrtunternehmen für bereits in der gesundheitlichen Verfassung ihrer Fluggäste angelegte Probleme, die zufällig an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen zu Tage treten, haftbar zu machen ( 48 ). Angesichts dessen bezweifle ich ernstlich, dass das „Sphären“-Kriterium, das offenbar in der Definition des Gerichtshofs im Urteil Niki Luftfahrt fehlt, vom Gerichtshof absichtlich nicht aufgenommen wurde ( 49 ).

54.

Daher ist nur dann davon auszugehen, dass ein Fluggast Geschädigter eines „Unfalls“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal geworden ist, wenn der Sturz dieses Fluggasts durch einen „außerhalb seiner Sphäre“ liegenden Faktor ausgelöst wird. Da jedoch jedwede Verletzung das Ergebnis einer Verkettung von Ursachen ist, genügt es, wenn ein bestimmtes Glied der Kette einen solchen externen Faktor darstellt ( 50 ).

55.

Drittens weise ich darauf hin, dass ein Ereignis, um als „Unfall“ eingestuft werden zu können, „unerwartet“ oder „ungewöhnlich“ bzw., um das vom Gerichtshof verwendete Synonym aufzugreifen, „unvorhergesehen“ sein muss. Insoweit wird in der nationalen Rechtsprechung durchweg anerkannt, dass dann kein „Unfall“ vorliegt, wenn eine Verletzung auf eine ihm eigentümliche, eigene oder sonderbare Reaktion des Fluggasts auf den gewöhnlichen, normalen und erwartbaren Betrieb des Luftfahrzeugs oder auf die für das Ein- und Aussteigen vorgesehenen Einrichtungen zurückzuführen ist ( 51 ). Im Urteil Altenrhein Luftfahrt ( 52 ) scheint mir der Gerichtshof diesen Ansatz bestätigt zu haben. Er entschied, dass ein Fluggast, der aufgrund einer sogenannten „harten Landung“ eine schwere Rückenverletzung erlitten habe, deshalb nicht Geschädigter eines „Unfalls“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal sei, weil die Landung im Bereich des normalen Betriebs des Luftfahrzeugs liege und daher nicht als „unvorhersehbar“ angesehen werden könne ( 53 ).

56.

Zur Auslösung der Haftung des Luftfahrtunternehmens muss der Sturz des Fluggasts aus etwas anderem resultieren als aus dessen Reaktion auf den normalen Betrieb des Luftfahrzeugs oder der oben genannten Einrichtungen. Wenn nämlich ein Fluggast zu Fall kommt, weil ihm aufgrund des normalen Drucks innerhalb der Flugkabine schwindelig wird, ist für mich nicht ersichtlich, warum dies anders zu behandeln sein sollte als die Rückenverletzung im Urteil Altenrhein Luftfahrt. Dass der Fluggast in der ersten Fallkonstellation zu Boden sank, während der Fluggast im zweitgenannten Fall in seinem Sitz verblieben ist, scheint mir nicht relevant zu sein.

57.

Natürlich hängt es vom Blickwinkel des Betrachters oder von der zugrunde gelegten Sichtweise ab, ob etwas „unvorhersehbar“ ist oder im Gegenteil gewöhnlich und normal ist und erwartet wird. Insoweit neigen die nationalen Gerichte dazu, den Standpunkt des Geschädigten einzunehmen ( 54 ). Im Urteil Altenrhein Luftfahrt hat der Gerichtshof dies jedoch verworfen, weil dieser Ansatz zu dem „paradoxen Ergebnis“ führen könnte, dass dasselbe Ereignis für bestimmte Fluggäste als „unvorhergesehen“ und damit als „Unfall“ eingestuft würde, für andere Fluggäste hingegen nicht. Der Gerichtshof hat auch nicht die Sichtweise des Luftfahrtunternehmens zugrunde gelegt. Vielmehr hat er eine objektivere Perspektive gewählt und entschieden, dass die in jener Rechtssache in Rede stehende „harte Landung“ insofern üblich und normal ist und erwartet wird, als sie nicht über die in den grundlegenden Anforderungen an den Betrieb des fraglichen Luftfahrzeugs vorgesehenen Grenzen hinausgeht ( 55 ).

58.

Ich stimme damit überein, dass eine gewisse Objektivität erforderlich ist. Die Übernahme der subjektiven Sichtweise der einen oder der anderen betroffenen Partei führt nicht immer zu einem ausgewogenen Ergebnis ( 56 ). Die Branchennormen einschließlich der grundlegenden Anforderungen an den Betrieb des Luftfahrzeugs oder der für das Ein- und Aussteigen verwendeten Einrichtungen sollten jedoch, auch wenn sie bisweilen relevant sind, nicht ausschlaggebend sein. Wenn also ein Fluggast an Bord des Luftfahrzeugs wegen plötzlicher Luftturbulenzen stürzt und sich verletzt, müsste man meiner Meinung nach zu dem Schluss gelangen, dass die Verletzung durch ein „unvorhersehbares“ Ereignis und somit durch einen „Unfall“ verursacht wurde, unabhängig davon, ob eine solche Turbulenz über die in diesen grundlegenden Anforderungen niedergelegten Grenzen hinausgegangen ist.

59.

Meines Erachtens muss der „unerwartete“, „ungewöhnliche“ oder „unvorhergesehene“ Charakter des der Verletzung zugrunde liegenden Ereignisses vielmehr aus der Sicht eines unbeteiligten Betrachters, nämlich eines hypothetischen Fluggasts mit einer gewissen – und/oder positiven – Vorerfahrung mit Flugreisen, beurteilt werden ( 57 ). Ein solcher Betrachter würde z. B. sicherlich nicht irgendeinen Fremdkörper – Wasser, Schnee, Öl, Bananenschalen usw. – auf dem Boden einer Flugkabine oder auf Bordtreppen erwarten.

60.

Kurz gesagt ereignet sich ein „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal, wenn der Sturz eines Fluggasts – zumindest teilweise – durch irgendeinen „außerhalb der Sphäre“ dieser Person liegenden Faktor ausgelöst wird. Außerdem muss dieser Faktor aus der Sicht eines unbeteiligten Betrachters „unerwartet“ oder „ungewöhnlich“ (oder, anders gesagt, „unvorhergesehen“) sein. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn bei dem Sturz ein Stoff oder ein Gegenstand eine Rolle spielt, dessen Vorhandensein nicht zum normalen Betrieb des Luftfahrzeugs oder der Ein- und Ausstiegseinrichtungen gehört.

61.

Daher ist meines Erachtens dann, wenn ein Fluggast auf einem Schmierfleck auf dem Kabinenboden, auf einer tückisch schneebedeckten Bordtreppe oder aufgrund anderer ähnlicher Umstände ausrutscht und stürzt, die daraus resultierende Verletzung durch einen „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal verursacht worden. Wenn hingegen ein Fluggast, wie es bei JR unter den im Ausgangsverfahren gegebenen Umständen der Fall war, auf einer Bordtreppe stürzt, die nicht rutschig, schadhaft oder in irgendeiner anderen Weise ungewöhnlich gefährlich ist, und wenn zudem nicht nachgewiesen wird, dass der Sturz durch einen anderen „unerwarteten“ oder „ungewöhnlichen“ (oder „unvorhergesehenen“) Faktor – eine plötzlich sich auftuende Lücke zwischen dem Luftfahrzeug und der Treppe usw. – ausgelöst wurde, dann liegt kein solcher „Unfall“ vor. Bei diesem Sturz handelt es sich um nichts anderes als um die dem Fluggast eigentümliche, eigene oder sonderbare – und unerklärliche – Reaktion auf die gewöhnliche, normale und erwartete Funktion dieser Treppe ( 58 ).

62.

Meines Erachtens liefe jede andere Auslegung der Zielsetzung des Übereinkommens von Montreal zuwider ( 59 ). Wäre der Begriff „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1, wie JR, die deutsche Regierung und die Kommission meinen, dahin zu verstehen, dass er jeden schädigenden und unfreiwilligen Sturz eines Fluggasts unabhängig vom auslösenden Faktor erfasst, würde namentlich der Anwendungsbereich dieser Bestimmung zum Nachteil der Luftfahrtunternehmen unverhältnismäßig ausgeweitet ( 60 ).

63.

Hiernach würden nämlich die Luftfahrtunternehmen für Zwischenfälle haftbar gemacht, die auf Gründen beruhen, die von bereits bestehenden Gesundheitsproblemen bis hin zu reiner Ungeschicklichkeit der betreffenden Fluggäste reichen können. Dergleichen käme insoweit einer Erstreckung der Haftung der Luftfahrtunternehmen für jedweden Schaden sehr nahe, der an Bord ihrer Luftfahrzeuge oder beim Ein- oder Aussteigen eintritt, obwohl die Verfasser des Übereinkommens von Montreal in Art. 17 Abs. 1 gerade den Begriff „Unfall“ und nicht „Ereignis“ verwendeten, um die Gruppe der Ansprüche zu begrenzen, die von den Fluggästen bei einer „Körperverletzung“ geltend gemacht werden könnten ( 61 ). Solche Vorkommnisse wären schwer vorhersehbar und unmöglich zu verhindern. Hierdurch könnte daher den Luftfahrtunternehmen eine sehr hohe Schadensersatzlast auferlegt werden, die schwer zu bestimmen und offensichtlich mit der in diesem Übereinkommen vorgenommenen sorgfältigen Interessenabwägung unvereinbar wäre ( 62 ).

64.

Zwar räumt Art. 20 des Übereinkommens von Montreal, worauf JR und die Kommission hinweisen, den Luftfahrtunternehmen eine Verteidigungsmöglichkeit im Fall des fahrlässigen Mitverschuldens ein. Diese Vorschrift könnte sie unter bestimmten Umständen tatsächlich von der Haftung befreien, wenn ein Sturz auf die Fahrlässigkeit der klagenden Partei zurückzuführen ist. Allerdings hülfe diese Vorschrift wenig in den zahlreichen Fällen, in denen eine solche Fahrlässigkeit nicht festgestellt werden könnte – z. B. wenn ein Fluggast ohne erkennbaren Grund mitten auf dem Rollfeld stürzt oder wenn der Sturz allein auf seine gegebene gesundheitliche Verfassung zurückzuführen ist ( 63 ).

65.

Demgegenüber ist die in den vorliegenden Schlussanträgen vorgeschlagene Auslegung für die Luftfahrtunternehmen meines Erachtens nicht derart belastend ( 64 ), während sie den Fluggästen eine „einfache und schnelle“ Entschädigung ermöglicht, wie es der Gerichtshof im Urteil Niki Luftfahrt verlangt ( 65 ). Der Begriff „Unfall“ bleibt ein weiter Begriff, und die der klagenden Partei nach Art. 17 Abs. 1 obliegende Darlegungs- und Beweislast wiegt nicht schwer. Sie muss lediglich – mit Erfolg – dartun, dass ein außerhalb ihrer Sphäre liegender unerwarteter oder ungewöhnlicher Faktor ihren Sturz verursachte oder zu ihm beitrug – wie etwa, dass Schnee auf den Stufen der Bordtreppe lag – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die klagende Partei braucht nicht darzutun, warum sich etwas Unerwartetes oder Ungewöhnliches ereignet hat – warum Schnee oder Sonstiges auf den Stufen lag ( 66 ). Insbesondere braucht, wie sich oben aus Nr. 40 ergibt, nicht nachgewiesen zu werden, dass dies auf ein Fehlverhalten/eine Fahrlässigkeit des Luftfahrtunternehmens zurückzuführen ist – es kann sich auch um Drittverschulden oder um höhere Gewalt handeln.

66.

Nach alledem ist meines Erachtens auf die erste Frage zu antworten, dass der Begriff „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal einen Fall erfasst, in dem ein Fluggast beim Aussteigen auf der Bordtreppe stürzt, sofern der Sturz durch einen unerwarteten oder ungewöhnlichen Faktor außerhalb der Sphäre des Fluggasts ausgelöst wurde.

B.   Zu dem in Art. 20 des Übereinkommens von Montreal vorgesehenen Einwand des fahrlässigen Mitverschuldens (zweite Frage)

67.

Ob sich ein „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal ereignet hat, ist eine Sache. Ob dieser „Unfall“ unter die Schadensersatzpflicht fällt, steht auf einem anderen Blatt. Obwohl dies grundsätzlich der Fall ist, erinnere ich daran, dass Art. 20 dieses Übereinkommens dem Luftfahrtunternehmen eine Verteidigungsmöglichkeit in Form der Geltendmachung eines fahrlässigen Mitverschuldens gewährt.

68.

In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage im Wesentlichen wissen, ob nach dieser Bestimmung der Umstand, dass sich ein Fluggast, der beim Aussteigen auf der Bordtreppe gestürzt ist, nicht an den Handläufen festgehalten hat, das Luftfahrtunternehmen unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens von seiner Haftung zu befreien vermag und, wenn ja, in welchem Umfang.

69.

Natürlich wird der Gerichtshof die zweite Frage nicht zu beantworten haben, wenn er die erste Frage in der Weise beantwortet, wie ich es in den vorliegenden Schlussanträgen vorgeschlagen habe. Das vorlegende Gericht dürfte dann nämlich dem Begehren von JR nicht stattgeben – da nicht dargetan wäre, dass ihre Verletzung durch einen „Unfall“ verursacht wurde – und bräuchte sich nicht mit der Frage des fahrlässigen Mitverschuldens zu befassen. Ich werde diese Frage daher nur hilfsweise behandeln.

70.

Im Großen und Ganzen erfüllt Art. 20 des Übereinkommens von Montreal je nach den gegebenen Umständen die Funktion einer partiellen oder umfassenden Einwendung, die als Verteidigungsmittel namentlich gegen einen Anspruch aus „Körperverletzung“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal vorgebracht werden kann. Denn der genannte Art. 20 ermöglicht es dem Luftfahrtunternehmen, sich teilweise oder sogar vollständig von der Haftung zu befreien, die sich aus Art. 17 Abs. 1 ergibt. Das bedeutet, dass das Gericht von der Schadensersatzsumme, die andernfalls der klagenden Partei zugesprochen würde, einen teilweisen oder vollständigen Abzug vornimmt.

71.

Was im Besonderen die Voraussetzungen für die Haftungsbefreiung angeht, so hat Art. 20 den Fall vor Augen, dass „die Person, die den Schadenersatzanspruch erhebt, … den Schaden durch eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung, sei es auch nur fahrlässig, verursacht oder dazu beigetragen hat“ ( 67 ). Somit muss das Verhalten des Fluggasts, unabhängig davon, ob es sich dabei um eine „Handlung“ oder um eine „Unterlassung“ handelt, nicht nur Teil der Kausalkette sein, die zu seinem Schaden geführt hat, sondern es muss auch „Fahrlässigkeit“ oder eine andere Form „unrechtmäßigen“ Verhaltens aufweisen. Die Beweislast obliegt insoweit dem Luftfahrtunternehmen ( 68 ).

72.

Diese Begriffe der „unrechtmäßigen“ Handlung oder Unterlassung und der „Fahrlässigkeit“ werden im Übereinkommen von Montreal nicht definiert. Ich erinnere daran, dass sie gleichwohl gemäß den oben in Nr. 28 dargelegten Auslegungsregeln einer einheitlichen und autonomen Bedeutung zugeführt werden müssen. Die allgemeinen Grundsätze, die sich aus dem Recht der Vertragsstaaten und dem Unionsrecht ableiten ( 69 ), geben hierfür ebenfalls relevante Fingerzeige.

73.

Nach der üblichen Bedeutung dieser Begriffe ist „unrechtmäßig“ („wrongful“) für gewöhnlich ein weites Synonym für „unfair, rechtswidrig, schadensstiftend oder tadelnswert“ ( 70 ), während mit „Fahrlässigkeit“ genauer die Außerachtlassung der erforderlichen Sorgfalt und Aufmerksamkeit für jemanden oder für etwas gemeint ist, für den oder das man Verantwortung trägt. Ich werde mich in dem verbleibenden Teil der vorliegenden Schlussanträge auf diesen zweiten Begriff konzentrieren, da im Übrigen mit der „unrechtmäßigen Handlung oder Unterlassung“, auf die Art. 20 des Übereinkommens von Montreal abstellt, sehr wahrscheinlich ein vorsätzliches Verhalten der klagenden Partei gemeint ist, in anderen Worten also eine Fallkonstellation, die in der vorliegenden Rechtssache nicht relevant ist.

74.

Wie die deutsche Regierung und die Kommission zu Recht ausführen, geht es im Zusammenhang mit Art. 20 nicht darum, ob die klagende Partei nicht die gebotene Sorgfalt und Aufmerksamkeit gegenüber dem Luftfahrtunternehmen an den Tag gelegt hat, sondern darum, ob sie diese Sorgfalt hinsichtlich ihrer eigenen Sicherheit außer Acht gelassen hat ( 71 ). Im Allgemeinen handelt eine Person fahrlässig, wenn sie in einer bestimmten Situation nicht die „gebotene Sorgfalt“ („reasonable care“) walten lässt. Kurz gesagt muss das Luftfahrtunternehmen nachweisen, dass die klagende Partei unter den gegebenen Umständen nicht die „gebotene Sorgfalt“ hinsichtlich ihrer Sicherheit an den Tag gelegt und dadurch ihre Verletzung verursacht oder zu ihr beigetragen hat. Was „geboten“ („reasonable“) ist, wird objektiv beurteilt, indem das tatsächliche Verhalten der betroffenen Person mit dem Verhalten verglichen wird, das eine – hypothetische – angemessen sorgfältige Person in derselben Situation an den Tag gelegt hätte ( 72 ).

75.

Austrian Airlines hat im Ausgangsverfahren zwei Gründe für ein potenzielles fahrlässiges Mitverschulden angeführt: erstens den Umstand, dass sich JR nicht an den Handläufen festgehalten hat, um die Sturzgefahr zu minimieren, obwohl sie kurz zuvor gesehen hatte, wie ihr Ehemann fast gestürzt wäre; zweitens die Tatsache, dass sie sich dafür entschieden hat, sich nicht unmittelbar nach dem Vorfall in einem nahe gelegenen Krankenhaus behandeln zu lassen, sondern stattdessen nach Hause gefahren ist, bevor sie sich ins Krankenhaus begab, was ihre Verletzungen möglicherweise verschlimmert hat – in anderen Worten: sie hat es versäumt, „den Schaden zu mindern“ ( 73 ). Beide Umstände sind meines Erachtens im Hinblick auf Art. 20 des Übereinkommens von Montreal relevant. Das vorlegende Gericht fragt jedoch nicht, ob solche Umstände tatsächlich eine Fahrlässigkeit des Fluggasts begründen. Es ist nämlich überzeugt, dass dies der Fall ist, zumindest in Bezug auf das Nichtfesthalten an den Handläufen. Wie ich oben in Nr. 30 erläutert habe, obliegt es mir nicht, diese Feststellung in Frage zu stellen. Ich werde jedoch zwei Anmerkungen dazu machen.

76.

Erstens hängt nämlich, wie sich bereits aus Nr. 74 ergibt, die Frage, ob ein Fluggast in einer bestimmten Situation fahrlässig gehandelt hat, in hohem Maße vom Sachverhalt ab. So kann die Tatsache, dass sich ein Fluggast, der beim Aussteigen auf der Bordtreppe gestürzt ist, nicht an den Handläufen festgehalten hat, mitunter, aber nicht immer als fahrlässiges Mitverschulden seinerseits angesehen werden ( 74 ). Ob eine angemessen sorgfältige Person in derselben Situation genauso gehandelt hätte, hängt von sämtlichen Begleitumständen ab, wie etwa davon, wie viele Fluggäste sich auf der Treppe befanden, ob es gerade regnete oder nicht, ob die Person einer erhöhten Sturzgefahr ausgesetzt war, weil sie nach einem langen Flug müde war, einen schweren Koffer trug oder ein quengelndes Kind auf dem Arm hatte, usw. Ebenso kann die Tatsache, dass sich ein Fluggast dafür entschieden hat, sich nicht unmittelbar nach dem Sturz behandeln zu lassen, manchmal bedeuten, dass er seinen Schaden nicht gemindert hat. Dies hängt jedoch von verschiedenen Umständen ab, z. B. davon, inwieweit die Verletzung zu dem gegebenen Zeitpunkt als schwerwiegend erschien, ob das Personal des Luftfahrtunternehmens die verletzte Person informierte oder auf die verfügbaren medizinischen Dienste hinwies oder auch davon, ob der bevorzugte Arzt/die bevorzugte Ärztin des Fluggasts weit entfernt ist.

77.

Dies führt mich zu meiner zweiten Erwägung. Der Gerichtshof macht es sich manchmal zur Aufgabe, Fragen zu beantworten, die auf einen sehr detaillierten und spezifischen Sachverhalt zugeschnitten sind. Die Rechtsprechung zum Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen ( 75 ) ist ein Paradebeispiel für diese Tendenz. In ihr entscheidet der Gerichtshof oft eigentlich darüber, ob bestimmte Sachverhalte als „außergewöhnliche Umstände“ einzustufen sind ( 76 ). Ich ersuche den Gerichtshof respektvoll darum, davon in Bezug auf Art. 20 des Übereinkommens von Montreal dringend Abstand zu nehmen. Andernfalls versinkt er möglicherweise in einer Flut von Vorabentscheidungsersuchen, in denen er um die Beurteilung einer Vielzahl von Fällen mit jeweils spezifischem Sachverhalt ersucht wird. Er sollte sich vielmehr darauf beschränken, abstrakte und allgemeine Beurteilungskriterien für die Anwendung dieser Bestimmung aufzustellen, und die Entscheidung den nationalen Gerichten überlassen.

78.

Zu den Rechtsfolgen, die aus der Feststellung von fahrlässigem Mitverschulden zu ziehen sind, heißt es in Art. 20 des Übereinkommens von Montreal, dass das Luftfahrtunternehmen insoweit „ganz oder teilweise von seiner Haftung befreit … [ist] ( 77 ), als [die] Handlung oder Unterlassung [der klagenden Partei] …, sei es auch nur fahrlässig, den Schaden verursacht oder dazu beigetragen hat“.

79.

Das vorlegende Gericht fragt sich, wie dieser Ansatz im Ausgangsverfahren anzuwenden ist. Wenn man bedenkt, dass nach Ansicht des Gerichts zum einen JR fahrlässig gehandelt hat, weil sie sich nicht an den Handläufen festgehalten hat, und zum anderen Austrian Airlines keine Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist ( 78 ), stellt sich die Frage, warum das Luftfahrtunternehmen nicht vollständig von seiner Haftung für den der Klägerin widerfahrenen „Unfall“ befreit werden sollte ( 79 ). Es stellt sich letztlich die Frage, wie der Umfang der Befreiung zu bestimmen ist, die einem Luftfahrtunternehmen in einem bestimmten Fall, in dem fahrlässiges Mitverschulden festgestellt wurde, zu gewähren ist – ob diese Befreiung vollständig oder teilweise (und wenn dem so ist, in welcher Höhe) erfolgen soll.

80.

Es handelt sich hierbei um eine heikle Problematik. Der Einwand des fahrlässigen Mitverschuldens findet sich nämlich üblicherweise in den herkömmlichen Haftungsregelungen wieder, die auf Fehlverhalten beruhen. Ist sowohl dem rechtswidrig Handelnden als auch dem Geschädigten jeweils ein Fehlverhalten anzulasten, das zum Schaden des Letzteren beigetragen hat, wird die Haftung auf beide nach ihrer jeweiligen Verschuldensquote aufgeteilt, und der Schadensersatz wird entsprechend berechnet ( 80 ). Wie kann indessen im Rahmen einer„Körperverletzung“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal, wo doch das Fehlverhalten/die Fahrlässigkeit des Luftfahrtunternehmens im Gegensatz zur Fahrlässigkeit der klagenden Partei unerheblich ist ( 81 ), eine solche Haftungsaufteilung vorgenommen werden?

81.

In rechtstheoretischer Hinsicht kann wahrscheinlich keine wirklich befriedigende Lösung dieses Problems gefunden werden. In praktischer Hinsicht besteht jedoch meines Erachtens eine Lösung darin, zu beurteilen, inwieweit die Verletzung des Reisenden (i) durch den fraglichen „Unfall“ und (ii) durch seine eigene Fahrlässigkeit verursacht worden ist. Es hat eine vergleichende Kausalitätsprüfung zu erfolgen, die auch von den nationalen Gerichten vorzunehmen ist ( 82 ). Letztlich geht es bei dem Einwand des fahrlässigen Mitverschuldens um Billigkeitserwägungen. Es wäre unbillig, ein Luftfahrtunternehmen allein deshalb für die Verletzung eines Fluggasts umfassend haften zu lassen, weil ein „Unfall“ Teil der Kausalkette ist, die dazu geführt hat, obwohl der Fluggast ebenfalls zu seiner Verletzung beigetragen hat. Diese Verteidigungsmöglichkeit trägt als solche dazu bei, den von den Verfassern des Übereinkommens von Montreal verfolgten „Interessenausgleich“ sicherzustellen.

82.

Wenn z. B. ein Fluggast beim Aussteigen auf der Bordtreppe stürzt, und zwar deswegen, weil (i) er auf einem nicht erwarteten Schneefleck auf den Stufen ausgerutscht ist und (ii) weil er sich nicht an den Handläufen festgehalten hat – falls dies unter den gegebenen Umständen als fahrlässig angesehen wird –, dann müsste der Verschuldensanteil der klagenden Partei nach billigem Ermessen das Luftfahrtunternehmen von einem Teil der Haftung befreien, die ihm sonst nach Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal wegen „Unfalls“ auferlegt wird. Dass der Fluggast nicht nach den Handläufen greift, müsste in diesem Zusammenhang wahrscheinlich so behandelt werden wie der Umstand, dass eine Person, die in einen von einem Dritten verursachten Autounfall verwickelt ist, ihren Sicherheitsgurt nicht angelegt hat: Es handelt sich um einen Schadensbeitrag, der eine teilweise Herabsetzung des zugesprochenen Schadensersatzes rechtfertigt. Die vollständige Befreiung des Luftfahrtunternehmens sollte dagegen auf Fälle grober Fahrlässigkeit seitens der klagenden Partei beschränkt werden ( 83 ).

83.

Nach alledem ist meines Erachtens auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 20 des Übereinkommens von Montreal im Zusammenhang mit einem Anspruch nach Art. 17 des Übereinkommens Anwendung findet, wenn die klagende Partei nicht die gebotene Sorgfalt hinsichtlich ihrer Sicherheit an den Tag gelegt und aus diesem Grund ihre Verletzung verursacht oder zu ihr beigetragen hat. Die nationalen Gerichte haben dies unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände zu beurteilen. Der Grad der Haftungsbefreiung des Luftfrachtführers hängt davon ab, inwieweit die Verletzung (i) durch den fraglichen „Unfall“ und (ii) durch die Fahrlässigkeit der klagenden Partei verursacht wurde. Die vollständige Haftungsbefreiung ist auf Fälle grober Fahrlässigkeit seitens der klagenden Partei beschränkt.

V. Ergebnis

84.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Landesgerichts Korneuburg (Österreich) wie folgt zu antworten:

1.

Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossen, am 9. Dezember 1999 von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 in ihrem Namen genehmigt wurde, ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung einen Fall erfasst, in dem ein Fluggast beim Aussteigen auf der Bordtreppe stürzt, sofern der Sturz durch einen unerwarteten oder ungewöhnlichen Faktor ausgelöst wurde, der außerhalb der Sphäre des Fluggasts liegt.

2.

Art. 20 dieses Übereinkommens ist dahin auszulegen, dass er im Zusammenhang mit einem Anspruch nach Art. 17 des Übereinkommens Anwendung findet, wenn die klagende Partei nicht die gebotene Sorgfalt hinsichtlich ihrer Sicherheit an den Tag gelegt und aus diesem Grund ihre Verletzung verursacht oder zu ihr beigetragen hat. Die nationalen Gerichte haben dies unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände zu beurteilen. Der Grad der Haftungsbefreiung des Luftfrachtführers hängt davon ab, inwieweit die Verletzung (i) durch den fraglichen „Unfall“ und (ii) durch die Fahrlässigkeit der klagenden Partei verursacht wurde. Die vollständige Haftungsbefreiung ist auf Fälle grober Fahrlässigkeit seitens der klagenden Partei beschränkt.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Dieses am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossene Übereinkommen wurde von der Europäischen Gemeinschaft am 9. Dezember 1999 unterzeichnet und in ihrem Namen durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. 2001, L 194, S. 38) genehmigt.

( 3 ) Verordnung des Rates vom 9. Oktober 1997 (ABl. 1997, L 285, S. 1).

( 4 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Mai 2002 (ABl. 2002, L 140, S. 2).

( 5 ) Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass sich die zivilrechtliche Haftung nach § 1295 Abs. 1 des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs u. a. aus der Verletzung einer vertraglichen Verpflichtung ergeben kann. Weiter ergibt sich daraus, dass mit dem Abschluss eines Luftbeförderungsvertrags nach österreichischem Recht für das Luftfahrtunternehmen eine Nebenpflicht entsteht, die Verkehrssicherheit der Fluggäste zu gewährleisten, insbesondere beim Ein- und Aussteigen.

( 6 ) Urteil vom 19. Dezember 2019 (C‑532/18, EU:C:2019:1127, im Folgenden: Urteil Niki Luftfahrt).

( 7 ) Siehe Fn. 2.

( 8 ) Siehe insbesondere das Urteil Niki Luftfahrt (Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 9 ) Siehe Nr. 16.

( 10 ) Siehe Nr. 10. Außerdem kommt, da Austrian Airlines, wie es scheint, ein „Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 2027/97 ist (d. h. „ein Luftfahrtunternehmen mit einer gültigen Betriebsgenehmigung, die von einem Mitgliedstaat gemäß der Verordnung (EWG) Nr. 2407/92 [des Rates vom 23. Juli 1992 über die Erteilung von Betriebsgenehmigungen an Luftfahrtunternehmen (ABl. 1992, L 240, S. 1)] erteilt wurde“, auch die erstgenannte Verordnung zur Anwendung. Für die Haftung von „Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft“ bei Gesundheitsschäden von Fluggästen verweist Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung jedoch auf die einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal.

( 11 ) Siehe Nr. 11.

( 12 ) House of Lords (Vereinigtes Königreich), 8. Dezember 2005, Deep Vein Thrombosis and Air Travel Group Litigation, Re, [2005] UKHL 72 (im Folgenden: Deep Vein Thrombosis and Air Travel Group Litigation, Re), Lord Scott, § 3.

( 13 ) Eine Tatsache, welche die Parteien des Ausgangsverfahrens und das erstinstanzliche Gericht selbst offenbar außer Acht gelassen haben (vgl. Nrn. 12 bis 15).

( 14 ) Das SZR ist ein vom Internationalen Währungsfonds (IWF) definiertes und beibehaltenes internationales Reserveguthaben, dessen Wert auf einem Korb nationaler Währungen beruht und täglich schwankt (vgl. https://www.imf.org/en/About/Factsheets/Sheets/2016/08/01/14/51/Special-Drawing-Right-SDR).

( 15 ) Übersteigt der Anspruch seinem Wert nach 100000 SZR und weist das Luftfahrtunternehmen nach, dass ihm kein Fehlverhalten anzulasten ist, so bleibt es für den entstandenen Schaden bis zur Höhe dieses Betrags haftbar.

( 16 ) Dies kommt im letzten Satz von Art. 20 klar zum Ausdruck, wonach dieser „für alle Haftungsbestimmungen in diesem Übereinkommen einschließlich Artikel 21 Absatz 1“ gilt. Gleichwohl besteht in diesem Punkt eine gewisse Unklarheit, wenn es um „Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft“ geht. In der „Informationsmitteilung“ im Anhang der Verordnung Nr. 2027/97 heißt es nämlich, dass „[f]ür Schäden bis zu einer Höhe von 100000 SZR … das Luftfahrtunternehmen keine Einwendungen gegen Schadensersatzforderungen erheben [kann]“ (Hervorhebung nur hier). Meines Erachtens handelt es sich dabei jedoch bloß um eine Formulierung, die zu wünschen übrig lässt. Erstens weise ich erneut darauf hin, dass hinsichtlich der Haftung eines „Luftfahrtunternehmens der Gemeinschaft“ gegenüber den Fluggästen Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2027/97 auf das Übereinkommen von Montreal verweist (siehe oben, Fn. 10). Die Haftungsvoraussetzungen (einschließlich der den Luftfahrtunternehmern zu ihrer Verteidigung zu Gebote stehenden Einwendungen) sind grundsätzlich jene, die in diesem Übereinkommen vorgesehen sind. Zweitens ist klar, dass der Unionsgesetzgeber bei der Änderung der Verordnung Nr. 2027/97 durch den Erlass der Verordnung Nr. 889/2002 die Möglichkeit für „Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft“ beschränken wollte, von Art. 21 Abs. 2 dieses Übereinkommens Gebrauch zu machen (vgl. Anhang der Verordnung Nr. 2027/97 in Verbindung mit dem elften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 889/2002). Es deutet jedoch nichts darauf hin, dass er ihnen auch verbieten wollte, von der in Art. 20 des Übereinkommens vorgesehenen Verteidigungsmöglichkeit Gebrauch zu machen. Vielmehr wurde der neunte Erwägungsgrund durch die Verordnung Nr. 889/2002 weder gestrichen noch geändert und stellt somit noch immer allgemein fest: „Für den Fall, dass der Schaden durch Fahrlässigkeit des betreffenden Fluggastes mitverursacht wurde, können die Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft von ihrer Haftung befreit werden.“

( 17 ) Siehe insbesondere das Urteil Niki Luftfahrt (Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 18 ) United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331 (im Folgenden: Wiener Übereinkommen).

( 19 ) Vgl. Art. 31 des genannten Wiener Übereinkommens und das Urteil Niki Luftfahrt (Rn. 31).

( 20 ) Vgl. den dritten und den fünften Erwägungsgrund des Übereinkommens von Montreal und das Urteil Niki Luftfahrt (Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 21 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2020, Kommission/Ungarn [Hochschulbildung] (C‑66/18, EU:C:2020:792, Rn. 92). Außerdem enthielt das am 12. Oktober 1929 in Warschau unterzeichnete Abkommen zur Vereinheitlichung von Regeln über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das dem Übereinkommen von Montreal vorausgegangen ist, Bestimmungen (Art. 17 und 21), die Art. 17 Abs. 1 und Art. 20 des Übereinkommens von Montreal trotz einiger Unterschiede (siehe unten, Fn. 77) entsprachen. So können die Begriffe „Unfall“ und „Fahrlässigkeit“ im Sinne der letztgenannten Bestimmungen im Licht nationaler Entscheidungen zu ersteren ausgelegt werden und umgekehrt (vgl. Schlussanträge von Generalanwalt Saugmandsgaard Øe in der Rechtssache Niki Luftfahrt (C‑532/18, EU:C:2019:788, Nrn. 26, 27 und 43). Ich werde mich daher auf die Entscheidungen zu der einen oder zu der anderen Übereinkunft beziehen, ohne einen Unterschied zu machen.

( 22 ) Vgl. Nrn. 12 und 13.

( 23 ) Siehe Nr. 14.

( 24 ) Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV ist es nämlich allein Sache der nationalen Gerichte, den Sachverhalt der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten festzustellen (vgl. z. B. Urteil vom 7. August 2018, Prenninger u. a., C‑329/17, EU:C:2018:640, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 25 ) Diese Wendung findet in der deutschen Fassung des Übereinkommens von Montreal („beim Ein-oder Aussteigen ereignet hat“) keine Entsprechung. Dies ist zwar bedauerlich, meines Erachtens aber nicht von Belang. Denn lediglich die sechs Sprachfassungen, in denen das Übereinkommen ausgearbeitet wurde (nämlich Englisch, Arabisch, Chinesisch, Spanisch, Französisch und Russisch), gelten als „verbindlich“ und sollten Berücksichtigung finden (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe in der Rechtssache Niki Luftfahrt, C‑532/18, EU:C:2019:788, Nr. 36). Diese „verbindlichen“ Fassungen scheinen in dem fraglichen Punkt miteinander in Einklang zu stehen. Vgl. insbesondere die spanische („cualquiera de las operaciones“) und die französische („toutes opérations“) Fassung.

( 26 ) Vgl. zu weiteren Einzelheiten Naveau, J., Godfroid, M., Frühling, P., Précis de droit aérien, 2. Aufl., Bruylant, Brüssel, 2006, S. 333, Schmid, R., „Art. 17“ in Montreal Convention, Kluwer, Niederlande, 2006, §§ 50 bis 86, und Chapman, M., Prager, S., Harding, J., Saggerson on Travel Law and Litigation, 5. Aufl., Wildy, Simmonds & Hill Publishing, London, 2013, S. 499 bis 502.

( 27 ) US Supreme Court (Oberster Gerichtshof der USA), 4. März 1985, 470 U.S. 392 (1985) (Urteil Air France/Saks).

( 28 ) Urteil Niki Luftfahrt (Rn. 35).

( 29 ) Vgl. unten, Nrn. 52 und 53.

( 30 ) Urteil Niki Luftfahrt (Rn. 41).

( 31 ) Urteil Niki Luftfahrt (Rn. 43 und Tenor).

( 32 ) Siehe Nr. 37.

( 33 ) Die gegenteilige Auslegung würde zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung gleichartiger Sachverhalte führen. Würde nämlich ein Fluggast einen anderen unbeabsichtigt durch das Verschütten eines heißen Getränks zu Schaden kommen lassen, sollte die Einstufung eines solchen Ereignisses als „Unfall“ nicht davon abhängen, ob es sich um einen vom Luftfahrtunternehmen zur Verfügung gestellten Einwegbecher oder um einen vom Fluggast mitgebrachten Mehrwegbecher handelt.

( 34 ) Siehe Nr. 15.

( 35 ) Vgl. Urteil Air France/Saks: „Für die den ‚Unfall‘ betreffende Voraussetzung … ist zu untersuchen, welcher Art das Ereignis war, das die Verletzung verursacht hat, und nicht, welche Sorgfalt die Fluggesellschaft zur Abwendung der Verletzung hat walten lassen.“

( 36 ) Siehe Nr. 24.

( 37 ) Dies treffe selbst dann zu, wenn JR im vorliegenden Fall dadurch in Alarmbereitschaft versetzt worden sei, dass ihr Ehemann beinahe gestürzt sei. Die Frage, ob sie nach der Beobachtung dieses Zwischenfalls mehr Vorsicht hätte walten lassen müssen, sei erst im Stadium der Prüfung des fahrlässigen Mitverschuldens nach Art. 20 des Übereinkommens von Montreal zu berücksichtigen.

( 38 ) Vgl. z. B. Cour d’appel de Nouméa (Berufungsgericht Nouméa, Frankreich), 21. Januar 2014, 13/00203.

( 39 ) Vgl. die Entscheidungen des United States Court of Appeals, Ninth Circuit (Berufungsgericht der Vereinigten Staaten, 9. Bezirk) vom 19. April 1993, Gezzi/British Airways Plc, 991 F.2d 603 (9th Cir. 1993), und des High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Hoher Gerichtshof [England & Wales], Abteilung Queen’s Bench [Kammer für Verwaltungsrecht]) (Vereinigtes Königreich) vom 31. Juli 2019, Carmelo Labbadia/Alitalia (Societa Aerea Italiana SpA), [2019] EWHC 2103 (Admin).

( 40 ) Vgl. Court of Appeal, New South Wales (Berufungsgericht New South Wales) (Australien), 20. August 2009, Air Link Pty Ltd/Paterson [2009] NSWCA.

( 41 ) Vgl. Wandsworth County Court (Grafschaftsgericht Wandsworth) (Vereinigtes Königreich), 20. Oktober 2007, Singhal/British Airways Plc, [2007] 10 WLUK 552.

( 42 ) Vgl. United States District Court, C.D. California (Bundesbezirksgericht der Vereinigten Staaten für den Mittelbezirk Kaliforniens), 20. März 2006, Sharma/Virgin Atlantic Airways, 31 Avi 17, 539 (CD Cal., 2006).

( 43 ) Vgl. United States District Court, N.D. California (Bundesbezirksgericht der Vereinigten Staaten für den Nordbezirk Kaliforniens), 26. August 2003, Kwon/Singapore Airlines, 356 F.Supp.2d 1041 (N.D. Cal., 2003).

( 44 ) Vgl. insbesondere die Entscheidungen des United States District Court, S.D. Florida, Miami Division (Bundesbezirksgericht der Vereinigten Staaten für den Südbezirk Floridas, Abteilung Miami), vom 4. September 2008, Ugaz/American Airlines, Inc., 576 F.Supp.2d 1354, des Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Berufungsgericht [England & Wales] [Zivilrechtskammer]) (Vereinigtes Königreich) vom 18. Dezember 2008, Beverley Anne Barclay/British Airways Plc, [2008] EWCA Civ 1419 (im Folgenden: Beverly Anne Barclay/British Airways Plc), und der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) vom 15. Januar 2014, 11-27.962.

( 45 ) Vgl. Court of Appeal (England & Wales) (Civil division) (Berufungsgericht [England & Wales] [Zivilrechtskammer] (Vereinigtes Königreich), 16. April 1997, Chaudhari/British Airways Plc, [1997] 4 WLUK 221.

( 46 ) Vgl. Deep Vein Thrombosis and Air Travel Group Litigation, Re, Lord Mance, § 56.

( 47 ) Siehe Nr. 28.

( 48 ) Vgl. Naveau, J., Godfroid, M., Frühling, P., a. a. O., S. 331.

( 49 ) Vielleicht hat der Gerichtshof es nicht erwähnt, weil er es in jener Rechtssache nicht für erforderlich gehalten hat, dies zu tun. Eine andere Erklärung für dieses Unterlassen lässt sich womöglich aus Rn. 38 des Urteils Niki Luftfahrt herleiten. Der Gerichtshof hat dort festgestellt, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt während der Aushandlung des Übereinkommens von Montreal beschlossen wurde, den letzten Satz der ursprünglichen Entwurfsfassung von Art. 17 Abs. 1 zu streichen, der „bei durch den Gesundheitszustand des Reisenden bedingtem Tod oder Verletzung“ eine Haftungsbefreiung für den Luftfrachtführer vorsah. Insoweit geht aus einer Erklärung der norwegischen und der schwedischen Delegation hervor, dass diese diesen Satz streichen wollten, da seine Beibehaltung zu einer Ungleichgewichtung der beteiligten Interessen zulasten des Reisenden führen würde (vgl. DCW Doc Nr. 11, 4/5/99). Meines Erachtens reicht jedoch eine Erklärung zweier Delegationen schwerlich aus, um die Auffassung zu rechtfertigen, dass die Verfasser dieses Übereinkommens die Absicht hatten, durch Streichung dieses Satzes die Luftfahrtunternehmen für „in der Sphäre“ ihrer Fluggäste anzusiedelnde und sie betreffende Vorfälle und insbesondere für das Auftreten ihrer persönlichen Gesundheitsprobleme haftbar zu machen, wenn kein außerhalb dieser Sphäre wurzelnder „Unfall“ vorliegt, der diese Probleme verursacht oder verschlimmert. Nichts in den übrigen travaux préparatoires deutet in diese Richtung.

( 50 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil Air France/Saks. Neben einem externen Faktor, der seinen Sturz auslöste, mag auch der Gesundheitszustand des Fluggasts zu seiner Verletzung beigetragen haben – etwa weil er aufgrund seines Gesundheitsproblems besonders sturzgefährdet war. Der fragliche Vorfall sollte dessen ungeachtet als „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 eingestuft werden. Ein Fluggast kann auch fahrlässig zu seinem Sturz beigetragen haben – durch das Tragen von Flip-Flops. Dies fällt aber unter Art. 20 (vgl. meine Prüfung der zweiten Frage).

( 51 ) Vgl. die Urteile Air France/Saks und Beverley Anne Barclay/British Airways Plc, § 36.

( 52 ) Urteil vom 12. Mai 2021 (C‑70/20, EU:C:2021:379, im Folgenden: Urteil Altenrhein Luftfahrt).

( 53 ) Vgl. in diesem Sinne a. a. O., Rn. 37 bis 40.

( 54 ) Vgl. Deep Vein Thrombosis and Air Travel Group Litigation, Re, Lord Scott, § 14.

( 55 ) Ebd., Rn. 35, 37 bis 40.

( 56 ) Legte man die Sichtweise des Geschädigten zugrunde, könnte dies den Luftfahrtunternehmen aus dem vom Gerichtshof im Urteil Altenrhein Luftfahrt (Rn. 35) angeführten Grund einen ungerechtfertigten Schaden zufügen. Folgte man dem Standpunkt des Luftfahrtunternehmens, so würden wiederum den Fluggästen ungerechtfertigte Nachteile entstehen. Ereignisse wie das Vergießen eines heißen Getränks über einen Fluggast oder das Ausrutschen eines Fluggasts auf einem Schmierfleck könnten dann nämlich für „gewöhnlich“, „erwartet“ oder „vorhersehbar“ erachtet werden, da es Luftfahrtunternehmen wohlbekannt ist, dass Unordnung und das Verschütten von Flüssigkeiten an Board ihrer Luftfahrzeuge vorkommen.

( 57 ) Vgl. in diesem Sinne auch den Supreme Court of Victoria (Court of Appeal) (Oberster Gerichtshof von Victoria [Berufungsgericht]) (Australien), Qantas/Povey, [2003] VSCA 227, Ormiston JA, §§ 200 bis 203.

( 58 ) Vgl. in diesem Sinne Chapman, M., Prager, S., Harding, J., a. a. O., S. 495 und 496. Vgl. zur gleichen Lösung bei einem nahezu identischen Sachverhalt Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich), 8. Oktober 2014, 13-24.346.

( 59 ) Vgl. Nr. 28.

( 60 ) Vgl. entsprechend Urteil Altenrhein Luftfahrt (Rn. 36).

( 61 ) Vgl. Urteil Niki Luftfahrt (Rn. 37). Auch wenn der Gerichtshof den Begriff der „verschuldensunabhängigen Haftung“ zur Beschreibung von Art. 17 Abs. 1 verwendet hat (vgl. Rn. 36 dieses Urteils), ist dieser Begriff daher meines Erachtens nicht angemessen. Zwar muss die klagende Partei zur Begründung ihres Anspruchs kein Fehlverhalten/keine Fahrlässigkeit seitens des Luftfahrtunternehmens nachweisen (vgl. Nr. 40). Die Haftung aus Art. 17 Abs. 1 stützt sich jedoch nicht auf das Risiko, das mit der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens einhergeht. Sie setzt vielmehr ein gewisses Fehlverhalten des Luftfahrtunternehmens beim Eintreten eines „Unfalls“ an Bord oder beim Ein-oder Aussteigen voraus. Es wird angenommen, dass dem Luftfahrtunternehmen bei der Organisation der Reise oder bei der Betreuung der Fluggäste während der Reise Fehler unterlaufen sind. Würde es sich in theoretischer Hinsicht um eine auf „Gefährdung“ und nicht um eine auf „Fehlverhalten“ beruhende Haftung handeln, hätten die Luftfahrtunternehmen keine Möglichkeit, ihre Haftung dadurch zu begrenzen, dass sie nachweisen, dass kein Fehlverhalten/keine Fahrlässigkeit ihrerseits vorliegt (vgl. Art. 21 Abs. 2), und das fahrlässige Mitverschulden des Fluggasts (vgl. Art. 20) wäre unerheblich (vgl. Giemulla, E., „Article 20 – Exoneration“ in Montreal Convention, Kluwer, Niederlande, 2006, §§ 2 und 3).

( 62 ) Vgl. in diesem Sinne das Urteil Beverley Anne Barclay/British Airways Plc (§§ 32 bis 34).

( 63 ) Es sei denn, das Luftfahrtunternehmen könnte belegen, dass der Fluggast im Hinblick auf seinen Gesundheitszustand fahrlässig gehandelt hat oder dass es als fahrlässig gilt, in solch einem Zustand zu fliegen, was in den meisten Fällen wahrscheinlich äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich nachzuweisen ist.

( 64 ) Gleichzeitig veranlasst diese Auslegung die Luftfahrtunternehmen – im Interesse der Fluggäste – dazu, alle externen Faktoren zu bekämpfen, die zu schadensstiftendem Ausrutschen oder Stolpern an Bord ihrer Luftfahrzeuge oder auf den mit ihnen verbundenen Einrichtungen führen können.

( 65 ) Vgl. Rn. 40 dieses Urteils.

( 66 ) Vgl. Court of Appeal, New South Wales (Berufungsgericht New South Wales) (Australien), 20. August 2009, Air Link Pty Ltd/Paterson, [2009] NSWCA, § 121.

( 67 ) Oder ihr Rechtsvorgänger. Da im vorliegenden Fall der Anspruch von der durch eine Verletzung ihres Körpers geschädigten Reisenden geltend gemacht wurde, werde ich mich darauf beschränken, von der Fahrlässigkeit der klagenden Partei/des Fluggasts zu sprechen.

( 68 ) Die Beweisanforderungen richten sich hingegen nach dem nationalen Recht des angerufenen Gerichts (im Folgenden: lex fori), wobei die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz zu beachten sind (vgl. entsprechend Urteil vom 9. Juli 2020, Vueling Airlines,C‑86/19, EU:C:2020:538, Rn. 38 bis 40).

( 69 ) Das fahrlässige Mitverschulden ist nämlich ein gemeinsames Merkmal des Delikts- und Vertragsrechts der jeweiligen Vertragsstaaten. Vgl. für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Von Bar, C. u. a. (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law. Draft Common Frame of Reference (DCFR); prepared by the Study Group on a European Civil Code and the Research Group on EC Private Law (Acquis Group), Sellier, European Law Publishers, München, 2008, Bd. IV, Buch VI („Non contractual liability arising out of damage caused to another“), S. 3636 bis 3656. Außerdem wird dieser Begriff im Unionsrecht anerkannt. Vgl. z. B. im Bereich der außervertraglichen Haftung der Europäischen Union das Urteil vom 19. Mai 1992, Mulder u. a./Rat und Kommission (C‑104/89 und C‑37/90, EU:C:1992:217, Rn. 33). Vgl. auch Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr (ABl. 2007, L 315, S. 14), Anhang I Titel IV Kapitel 1, Art. 26 Abs. 2 Buchst. b.

( 70 ) Wie die deutsche Regierung ausführt, muss das Verhalten der klagenden Partei nicht unbedingt gegen eine Rechtsvorschrift verstoßen. Der Wortlaut des Art. 20 ist weiter gefasst.

( 71 ) Vgl. entsprechend American Restatement of Torts, Second, § 463b.

( 72 ) Der objektive Standard der angemessen sorgfältigen Person taucht in den Rechtsvorschriften der Vertragsstaaten immer wieder auf. Vgl. z. B. im französischen und im italienischen Recht die etwas altmodischen Begriffe „bon père de famille“ und „buon padre di famiglia“ (guter Familienvater) und im Common law den Begriff „reasonable man“ (vernünftiger Mensch). Vgl. für ein Beispiel des Unionsrechts auch den „sorgfältigen Wirtschaftsteilnehmer“ (vgl. Urteil vom 12. Juli 2011, L’Oréal u. a., C‑324/09, EU:C:2011:474, Rn. 120 und 122).

( 73 ) Vgl. Nrn. 13 bis 15.

( 74 ) Vgl. High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Administrative Court) (Hoher Gerichtshof [England & Wales], Abteilung Queen’s Bench (Kammer für Verwaltungsrecht) (Vereinigtes Königreich), 31. Juli 2019, Carmelo Labbadia/Alitalia (Societa Aerea Italiana SpA), [2019] EWHC 2103 (Admin), §§ 43 und 44.

( 75 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1). Ich erinnere daran, dass ein Luftfahrtunternehmen nach dieser Bestimmung nicht verpflichtet ist, Ausgleichszahlungen in Höhe von 600 Euro gemäß Art. 7 dieser Verordnung zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung auf „außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären“.

( 76 ) Damit wird der schmale Grat zwischen der Auslegung des Unionsrechts (für die der Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens zuständig ist) und seiner Anwendung (für die er dabei nicht zuständig ist) beschritten. Insoweit teile ich die Auffassung, die Generalanwalt Bobek in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi (C‑561/19, EU:C:2021:291, Nrn. 139 bis 149), zum Ausdruck gebracht hat.

( 77 ) Im Gegensatz dazu kann das Gericht nach Art. 21 Abs. 1 des Warschauer Abkommens den Luftftrachtführer von der Haftung befreien, wenn fahrlässiges Mitverschulden festgestellt wird, soweit dies nach Maßgabe der lex fori vorgesehen ist.

( 78 ) Siehe Nrn. 15 und 40.

( 79 ) Diese Argumentation setzt selbstverständlich voraus, dass der Sturz von JR tatsächlich einen „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal darstellt.

( 80 ) Vgl. z. B. Law Reform (Contributory Negligence) Act 1945 (c. 28), § 1.

( 81 ) Vgl. Nrn. 24 und 40.

( 82 ) Vgl. insbesondere United States District Court, S.D. New York (Bundesbezirksgericht der Vereinigten Staaten für den Südbezirk des Bundesstaats New York), 7. Juli 1992, Eichler/Lufthansa German Airlines, 794 F.Supp.127 (S.D.N.Y. 1992), §§ 3 bis 5. Deshalb geht es nicht darum, das jeweilige Verhalten des Reisenden und des Luftfahrtunternehmens zu vergleichen, wie es das vorlegende Gericht getan hat.

( 83 ) Zum Beispiel wenn der Fluggast beim Herabsteigen auf der Bordtreppe Flip-Flops sowie zwei schwere Koffer trug und in die Luft schaute, was dazu führte, dass er an einer nassen Stelle, die man leicht umgehen hätte können, ausrutschte. Dies vorausgeschickt, weise ich nochmals darauf hin, dass meines Erachtens kein „Unfall“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal vorliegt, wenn die klagende Partei ohne erkennbaren Grund wie im vorliegenden Fall stürzt. Sollte der Gerichtshof einen anderen Ansatz zugrunde legen, würde ich der vom vorlegenden Gericht und der deutschen Regierung vertretenen Logik folgen. Wenn der Sturz ausschließlich durch die Fahrlässigkeit der klagenden Partei erklärbar ist, sollte das Luftfahrtunternehmen vollständig von der Haftung befreit werden, die sich aus diesem „Unfall“ ergibt.

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