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Document 62020CC0466

Schlussanträge des Generalanwalts G. Pitruzzella vom 13. Januar 2022.


ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:25

 SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GIOVANNI PITRUZZELLA

vom 13. Januar 2022 ( 1 )

Rechtssache C‑466/20

HEITEC AG

gegen

HEITECH Promotion GmbH,

RW

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsmarken – Verwirkung durch Duldung – Berechnung der Fünfjahresfrist – Unterbrechung der Verwirkungsfrist durch Duldung – Versand einer Abmahnung – Wirkungen der Verwirkung – Abgeleitete Rechte auf Schadensersatz, Auskunftserteilung und Herausgabe der Waren zur Vernichtung“

1.

2006 stellte die Internationale Vereinigung für den Schutz des Geistigen Eigentums (AIPPI) fest, dass die meisten europäischen Gruppen, die an der von dieser Vereinigung ausgerichteten Ausarbeitung einer Synthese zur Frage der Duldung von Verletzungshandlungen an geistigen Eigentumsrechten und insbesondere der Unterbrechung der Duldung durch den Inhaber des älteren Rechts teilnahmen, „berich[te]ten, dass diese Frage noch nicht geregelt [sei] und genauerer Betrachtung bed[ürfe], so wie die gesamte Frage des Untergangs von Rechten aufgrund von Duldung“ ( 2 ). Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen gibt dem Gerichtshof fast 16 Jahre später und nachdem er die ersten Eckpunkte der Gemeinschaftsregelung zur Verwirkung durch Duldung in seinem Urteil Budějovický Budvar ( 3 ) gesetzt hatte, eine neue Gelegenheit, die Konturen dieser rechtlichen Regelung herauszuarbeiten.

I. Rechtlicher Rahmen

A.   Unionsrecht

1. Richtlinie 2008/95

2.

Dem zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken ( 4 ) lässt sich entnehmen, dass „[a]us Gründen der Rechtssicherheit und ohne in die Interessen der Inhaber älterer Marken in unangemessener Weise einzugreifen, … vorgesehen werden [muss], dass diese nicht mehr die Ungültigerklärung einer jüngeren Marke beantragen oder sich deren Benutzung widersetzen können, wenn sie deren Benutzung während einer längeren Zeit geduldet haben, es sei denn, dass die Anmeldung der jüngeren Marke bösgläubig vorgenommen worden ist“.

3.

Art. 4 der Richtlinie 2008/95, der „[w]eitere[n] Eintragungshindernisse[n] oder Ungültigkeitsgründe[n] bei Kollision mit älteren Rechten“ gewidmet ist, bestimmt:

„(1)   Eine Marke ist von der Eintragung ausgeschlossen oder unterliegt im Falle der Eintragung der Ungültigerklärung:

a)

wenn sie mit einer älteren Marke identisch ist und die Waren oder Dienstleistungen, für die die Marke angemeldet oder eingetragen worden ist, mit den Waren oder Dienstleistungen identisch sind, für die die ältere Marke Schutz genießt;

b)

wenn wegen ihrer Identität oder Ähnlichkeit mit der älteren Marke und der Identität oder Ähnlichkeit der durch die beiden Marken erfassten Waren oder Dienstleistungen für das Publikum die Gefahr von Verwechslungen besteht, die die Gefahr einschließt, dass die Marke mit der älteren Marke gedanklich in Verbindung gebracht wird.

(2)   ‚Ältere Marken‘ im Sinne von Absatz 1 sind

a)

Marken mit einem früheren Anmeldetag als dem Tag der Anmeldung der Marke, gegebenenfalls mit der für diese Marken in Anspruch genommenen Priorität, die den nachstehenden Kategorien angehören:

i)

Gemeinschaftsmarken;

ii)

in einem Mitgliedstaat … eingetragene Marken;

iii)

mit Wirkung für den Mitgliedstaat international registrierte Marken;

b)

Gemeinschaftsmarken, für die wirksam der Zeitrang … in Anspruch genommen wird, …

c)

Anmeldungen von Marken nach Buchstaben a und b, vorbehaltlich ihrer Eintragung;

(4)   Jeder Mitgliedstaat kann zudem vorsehen, dass eine Marke von der Eintragung ausgeschlossen ist oder im Falle der Eintragung der Ungültigerklärung unterliegt, wenn und soweit

b)

Rechte an einer nicht eingetragenen Marke oder einem sonstigen im geschäftlichen Verkehr benutzten Zeichen vor dem Tag der Anmeldung der jüngeren Marke oder gegebenenfalls vor dem Tag der für die Anmeldung der jüngeren Marke in Anspruch genommenen Priorität erworben worden sind und diese nicht eingetragene Marke oder dieses sonstige Zeichen dem Inhaber das Recht verleiht, die Benutzung einer jüngeren Marke zu untersagen;

c)

die Benutzung der Marke aufgrund eines sonstigen, nicht in Absatz 2 oder in vorliegendem Absatz unter Buchstabe b genannten älteren Rechts untersagt werden kann, insbesondere aufgrund eines

i)

Namensrechts;

ii)

Rechts an der eigenen Abbildung;

iii)

Urheberrechts;

iv)

gewerblichen Schutzrechts;

…“

4.

Art. 9 der Richtlinie 2008/95 lautet:

„(1)   Hat in einem Mitgliedstaat der Inhaber einer älteren Marke im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 die Benutzung einer jüngeren eingetragenen Marke in diesem Mitgliedstaat während eines Zeitraums von fünf aufeinander folgenden Jahren in Kenntnis dieser Benutzung geduldet, so kann er für die Waren oder Dienstleistungen, für die die jüngere Marke benutzt worden ist, aufgrund der älteren Marke weder die Ungültigerklärung der jüngeren Marke verlangen noch sich ihrer Benutzung widersetzen, es sei denn, dass die Anmeldung der jüngeren Marke bösgläubig vorgenommen worden ist.

(2)   Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass Absatz 1 auch für den Inhaber einer in Artikel 4 Absatz 4 Buchstabe a genannten älteren Marke oder eines sonstigen in Artikel 4 Absatz 4 Buchstabe b oder c genannten älteren Rechts gilt.

(3)   In den Fällen der Absätze 1 oder 2 kann der Inhaber der jüngeren eingetragenen Marke sich der Benutzung des älteren Rechts nicht widersetzen, auch wenn dieses Recht gegenüber der jüngeren Marke nicht mehr geltend gemacht werden kann.“

2. Verordnung Nr. 207/2009

5.

Art. 8 der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Unionsmarke ( 5 ) sieht vor:

„(1)   Auf Widerspruch des Inhabers einer älteren Marke ist die angemeldete Marke von der Eintragung ausgeschlossen,

a)

wenn sie mit der älteren Marke identisch ist und die Waren oder Dienstleistungen, für die die Marke angemeldet worden ist, mit den Waren oder Dienstleistungen identisch sind, für die die ältere Marke Schutz genießt;

b)

wenn wegen ihrer Identität oder Ähnlichkeit mit der älteren Marke und der Identität oder Ähnlichkeit der durch die beiden Marken erfassten Waren oder Dienstleistungen für das Publikum die Gefahr von Verwechslungen in dem Gebiet besteht, in dem die ältere Marke Schutz genießt; dabei schließt die Gefahr von Verwechslungen die Gefahr ein, dass die Marke mit der älteren Marke gedanklich in Verbindung gebracht wird.

(2)   ‚Ältere Marken‘ im Sinne von Absatz 1 sind

a)

Marken mit einem früheren Anmeldetag als dem Tag der Anmeldung der Unionsmarke, gegebenenfalls mit der für diese Marken in Anspruch genommenen Priorität, die den nachstehenden Kategorien angehören:

i)

Unionsmarken;

ii)

in einem Mitgliedstaat … eingetragene Marken;

iii)

mit Wirkung für einen Mitgliedstaat international registrierte Marken;

iv)

aufgrund internationaler Vereinbarungen mit Wirkung in der Union eingetragene Marken;

b)

Anmeldungen von Marken nach Buchstabe a, vorbehaltlich ihrer Eintragung;

(4)   Auf Widerspruch des Inhabers einer nicht eingetragenen Marke oder eines sonstigen im geschäftlichen Verkehr benutzten Kennzeichenrechts von mehr als lediglich örtlicher Bedeutung ist die angemeldete Marke von der Eintragung ausgeschlossen, wenn und soweit nach dem für den Schutz des Kennzeichens maßgeblichen Recht der Union oder des Mitgliedstaats

a)

Rechte an diesem Kennzeichen vor dem Tag der Anmeldung der Unionsmarke, gegebenenfalls vor dem Tag der für die Anmeldung der Unionsmarke in Anspruch genommenen Priorität, erworben worden sind;

b)

dieses Kennzeichen seinem Inhaber das Recht verleiht, die Benutzung einer jüngeren Marke zu untersagen.

…“

6.

In Art. 54 der Verordnung Nr. 207/2009, der der Verwirkung durch Duldung gewidmet ist, heißt es:

„(1)   Hat der Inhaber einer Unionsmarke die Benutzung einer jüngeren Unionsmarke in der Europäischen Union während eines Zeitraums von fünf aufeinander folgenden Jahren in Kenntnis dieser Benutzung geduldet, so kann er für die Waren oder Dienstleistungen, für die die jüngere Marke benutzt worden ist, aufgrund dieser älteren Marke weder die Nichtigerklärung dieser jüngeren Marke verlangen noch sich ihrer Benutzung widersetzen, es sei denn, dass die Anmeldung der jüngeren Unionsmarke bösgläubig vorgenommen worden ist.

(2)   Hat der Inhaber einer in Artikel 8 Absatz 2 genannten älteren nationalen Marke oder eines in Artikel 8 Absatz 4 genannten sonstigen älteren Kennzeichenrechts die Benutzung einer jüngeren Unionsmarke in dem Mitgliedstaat, in dem diese ältere Marke oder dieses sonstige ältere Kennzeichenrecht geschützt ist, während eines Zeitraums von fünf aufeinander folgenden Jahren in Kenntnis dieser Benutzung geduldet, so kann er für die Waren oder Dienstleistungen, für die die jüngere Unionsmarke benutzt worden ist, aufgrund dieser älteren Marke oder dieses sonstigen älteren Kennzeichenrechts weder die Nichtigerklärung der Unionsmarke verlangen noch sich ihrer Benutzung widersetzen, es sei denn, dass die Anmeldung der jüngeren Unionsmarke bösgläubig vorgenommen worden ist.

(3)   In den Fällen der Absätze 1 und 2 kann der Inhaber der jüngeren Unionsmarke sich der Benutzung des älteren Rechts nicht widersetzen, obwohl dieses Recht gegenüber der jüngeren Unionsmarke nicht mehr geltend gemacht werden kann.“

7.

Art. 110 der Verordnung Nr. 207/2009 trägt den Titel „Untersagung der Benutzung von Unionsmarken“. In seinem Abs. 1 ist vorgesehen, dass „[d]iese Verordnung …, soweit nichts anderes bestimmt ist, das nach dem Recht der Mitgliedstaaten bestehende Recht unberührt [lässt], Ansprüche wegen Verletzung älterer Rechte im Sinne des Artikels 8 oder des Artikels 53 Absatz 2 gegenüber der Benutzung einer jüngeren Unionsmarke geltend zu machen. Ansprüche wegen Verletzung älterer Rechte im Sinne des Artikels 8 Absätze 2 und 4 können jedoch nicht mehr geltend gemacht werden, wenn der Inhaber des älteren Rechts nach Artikel 54 Absatz 2 nicht mehr die Nichtigerklärung der Unionsmarke verlangen kann.“

8.

In Art. 111 der Verordnung Nr. 207/2009 heißt es:

„(1)   Der Inhaber eines älteren Rechts von örtlicher Bedeutung kann sich der Benutzung der Unionsmarke in dem Gebiet, in dem dieses ältere Recht geschützt ist, widersetzen, sofern dies nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats zulässig ist.

(2)   Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Inhaber des älteren Rechts die Benutzung der Unionsmarke in dem Gebiet, in dem dieses ältere Recht geschützt ist, während fünf aufeinander folgender Jahre in Kenntnis dieser Benutzung geduldet hat, es sei denn, dass die Anmeldung der Unionsmarke bösgläubig vorgenommen worden ist.

(3)   Der Inhaber der Unionsmarke kann sich der Benutzung des in Absatz 1 genannten älteren Rechts nicht widersetzen, auch wenn dieses ältere Recht gegenüber der Unionsmarke nicht mehr geltend gemacht werden kann.“

B.   Deutsches Recht

9.

§ 21 des Gesetzes über den Schutz von Marken und sonstigen Kennzeichen (Markengesetz) vom 25. Oktober 1994 (im Folgenden: MarkenG) ( 6 ) bestimmt:

„(1)   Der Inhaber einer Marke oder einer geschäftlichen Bezeichnung hat nicht das Recht, die Benutzung einer eingetragenen Marke mit jüngerem Zeitrang für die Waren oder Dienstleistungen, für die sie eingetragen ist, zu untersagen, soweit er die Benutzung der Marke während eines Zeitraums von fünf aufeinanderfolgenden Jahren in Kenntnis dieser Benutzung geduldet hat, es sei denn, dass die Anmeldung der Marke mit jüngerem Zeitrang bösgläubig vorgenommen worden ist.

(2)   Der Inhaber einer Marke oder einer geschäftlichen Bezeichnung hat nicht das Recht, die Benutzung … einer geschäftlichen Bezeichnung … mit jüngerem Zeitrang zu untersagen, soweit er die Benutzung diese[r geschäftlichen Bezeichnung] während eines Zeitraums von fünf aufeinanderfolgenden Jahren in Kenntnis dieser Benutzung geduldet hat, es sei denn, dass der Inhaber dieses Rechts im Zeitpunkt des Rechtserwerbs bösgläubig war.

…“

10.

§ 125b Nr. 3 MarkenG sieht vor: „werden Ansprüche aus einer eingetragenen Unionsmarke gegen die Benutzung einer nach diesem Gesetz eingetragenen Marke mit jüngerem Zeitrang geltend gemacht, so ist § 21 Absatz 1 [MarkenG] entsprechend anzuwenden“.

II. Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

11.

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens wurde im Jahr 1984 unter der Firma Heitec Industrieplanung GmbH in das Handelsregister eingetragen. 1988 wurde ihre Firmierung in HEITEC GmbH geändert. Seit einem Rechtsformwechsel im Jahr 2000 firmiert sie als HEITEC AG. Sie ist Inhaberin der am 18. März 1998 mit einer Seniorität vom 13. Juli 1991 angemeldeten und am 4. Juli 2005 eingetragenen Unionswortmarke „HEITEC“ Nr. 774331 ( 7 ).

12.

Eine der beiden Beklagten des Ausgangsverfahrens ( 8 ) wurde ihrerseits am 16. April 2003 unter der Firma HEITECH Promotion GmbH in das Handelsregister eingetragen und nutzt diese (im Folgenden: Heitech). Sie ist Inhaberin einer am 17. September 2002 angemeldeten und am 4. Februar 2003 eingetragenen und spätestens seit dem 29. September 2004 benutzten deutschen Bildmarke. Sie ist auch Inhaberin der am 6. Februar 2008 angemeldeten und am 20. November 2008 unter der Nr. 6647432 eingetragenen Unionsbildmarke HEITECH, die sie spätestens seit dem 6. Mai 2009 nutzt.

13.

Am 29. November 2004 wandte sich Heitech schriftlich an die Vertreter von Heitec, um ihnen den Abschluss einer Abgrenzungs- und Vorrechtsvereinbarung anzubieten. Am 7. Juli 2008 informierte das EUIPO Heitec über die Anmeldung der Unionsmarke HEITECH. Am 22. April 2009 mahnte Heitec Heitech wegen der Verwendung des Unternehmenskennzeichens und der Marke mit dem Wortbestandteil HEITECH ab. In ihrer Antwort vom 6. Mai 2009 schlug Heitech erneut den Abschluss einer Abgrenzungs- und Vorrechtsvereinbarung vor.

14.

Am 31. Dezember 2012 ging die von der Klägerin des Ausgangsverfahrens eingereichte und auf den 15. Dezember 2012 datierte Klageschrift per Fax beim Landgericht Nürnberg-Fürth ein. Am 4. Januar 2013 forderte das Gericht die Klägerin des Ausgangsverfahrens zur Einzahlung eines Kostenvorschusses auf. Der Vorschuss war am 12. März 2013 immer noch nicht eingezahlt worden. Zu diesem Zeitpunkt erinnerte das Landgericht Nürnberg-Fürth die Klägerin des Ausgangsverfahrens daran, dass der Vorschuss nicht eingezahlt worden sei und dass die Originale der Klageschrift nicht eingereicht worden seien.

15.

Am 23. September 2013 lehnte Heitec gegenüber Heitech den Abschluss einer Abgrenzungs- und Vorrechtsvereinbarung schriftlich ab. Sie bot ihr den Abschluss einer Lizenzvereinbarung an und teilte gleichzeitig mit, ein gerichtliches Verfahren eingeleitet zu haben. In einem erneuten, an Heitech gerichteten Schreiben vom 29. Dezember 2013 ließ Heitec die Beklagte des Ausgangsverfahrens wissen, dass sie sich auf ihr Unternehmenskennzeichen stütze und Inhaberin der Unionsmarke HEITEC sei. Außerdem sei ein Klageverfahren anhängig.

16.

Am 30. Dezember 2013 ging beim Landgericht Nürnberg-Fürth ein auf den 12. Dezember 2013 datierter Schriftsatz von Heitec mit einem Verrechnungsscheck für die Gerichtskosten sowie einer neuen, auf den 4. Oktober 2013 datierten Klageschrift ein. Am 14. Januar 2014 wies das Landgericht Heitec darauf hin, dass die Klageschrift vom 15. Dezember 2012 zugestellt werden müsste, obgleich die Originale für Gericht und Beklagte des Ausgangsverfahrens immer noch nicht eingereicht worden seien. Nach Aufforderung, diese Unterlagen vorzulegen, übermittelte Heitec dem Landgericht Nürnberg-Fürth am 22. Februar 2014 die Originale.

17.

Am 24. Februar 2014 wies das Landgericht Nürnberg-Fürth Heitec darauf hin, dass die Anträge in den am 22. Februar 2014 eingegangenen Originalen der Klage nicht mit den Anträgen der am 31. Dezember 2012 eingereichten Klageschrift übereinstimmten. Am 16. Mai 2014 leitete das Landgericht Nürnberg-Fürth schließlich das Verfahren ein und verfügte, dass Abschriften der Klageschrift vom 15. Dezember 2012 an die Beklagten des Ausgangsverfahrens zugestellt werden.

18.

Am 23. Mai 2014 wurde die Klageschrift vom 15. Dezember 2012 den Beklagten des Ausgangsverfahrens ( 9 ) schließlich zugestellt, nachdem die Originale dem Landgericht Nürnberg-Fürth am 21. Mai 2014 übermittelt worden waren.

19.

Heitec verfolgte in erster Linie Ansprüche aus der Verletzung ihres Unternehmenskennzeichens HEITEC und hilfsweise auf die Verletzung ihrer Unionsmarke HEITEC gestützte Ansprüche. Sie beantragte, Heitech zur Unterlassung der Kennzeichnung ihres Geschäftsbetriebs mit der Bezeichnung „HEITECH Promotion GmbH“ (Antrag I), zur Unterlassung der Anbringung der Zeichen „HEITECH PROMOTION“ und/oder „HEITECH“ auf Waren, des Angebots von Waren und Dienstleistungen unter diesen Zeichen, der Verwendung dieser Zeichen in Geschäftspapieren, auf Internetseiten oder in der Werbung (Antrag II), zur Unterlassung der Verwendung oder Übertragung der geschäftlich genutzten Internet-Domain „heitech-promotion.de“ (Antrag III) und zur Einwilligung in die Löschung ihrer Firma im Handelsregister (Antrag VII) zu verurteilen. Ferner machte Heitec gegenüber beiden Beklagten Ansprüche auf Auskunft, Schadensersatzfeststellung, Vernichtung und Zahlung von Abmahnkosten geltend (Anträge IV, V, VI, VIII).

20.

Das Landgericht Nürnberg-Fürth erkannte Heitec gegenüber Heitech einen Anspruch auf Zahlung von Abmahnkosten in Höhe von 1353,80 Euro nebst Zinsen zu und wies die weiteren Anträge ab.

21.

Heitec legte beim Oberlandesgericht Nürnberg (Deutschland) Berufung ein. Dieses entschied mit der Begründung, die Ansprüche von Heitec seien verwirkt, dass die Klage unbegründet sei. Hierzu führte es aus, dass Heitech ihre prioritätsjüngeren Kennzeichen mindestens fünf Jahre lang ununterbrochen benutzt habe und dass Heitec dies geduldet habe, da sie in Kenntnis dieser Benutzung keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen habe, um die Benutzung innerhalb der fünf Jahre zu unterbinden. Die beim Landgericht Nürnberg-Fürth eingereichte Klage habe die Verwirkungsfrist nicht unterbrochen, da sie den Beklagten des Ausgangsverfahrens erst nach Ablauf von fünf Jahren seit der Abmahnung zugestellt worden sei, die der Klage vorausgegangen sei. Das Berufungsgericht entschied ferner, dass nicht angenommen werden könne, dass die Duldung mit der Abmahnung geendet habe, da die Zustellung der Klageschrift nicht alsbald nach der Abmahnung erfolgt sei.

22.

Heitec legte beim vorlegenden Gericht Revision ein. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts kommt es für die Entscheidung über die Klage darauf an, ob die Unterlassungs- und Folgeansprüche von Heitec gemäß § 21 Abs. 1 und 2 MarkenG, Art. 54 Abs. 1 und 2 sowie Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 verwirkt sind.

23.

Für die Verwirkung der Ansprüche von Heitec, die sich gegen die Benutzung der deutschen Marke, deren Inhaberin Heitech ist, durch diese richte (Antrag II, soweit er sich auf das Zeichen HEITECH PROMOTION bezieht), gelte § 21 Abs. 1 in Verbindung mit § 125b Nr. 3 MarkenG, soweit sich diese Ansprüche auf die Unionsmarke stützen, deren Inhaberin Heitec ist.

24.

Mit § 21 Abs. 1 MarkenG sei die in Art. 9 der Richtlinie 2008/95 vorgesehene Verwirkung von Ansprüchen aus Marken (Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/95) und aus sonstigen Zeichen – darunter Unternehmenskennzeichen –, die im geschäftlichen Verkehr benutzt werden (Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95), gegen die Benutzung einer eingetragenen Marke in deutsches Recht umgesetzt worden.

25.

Soweit Heitec gegen die geschäftliche Bezeichnung von Heitech vorgeht (Anträge I, II, III und VII), richtet sich die Verwirkung gemäß den Feststellungen des vorlegenden Gerichts nach § 21 Abs. 2 MarkenG. Hierzu weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass diese Bestimmung, obgleich ihr Regelungsgehalt über den der Richtlinie 2008/95 hinausgehe und sich auch in Art. 54 der Verordnung Nr. 207/2009 nicht widerspiegle, im Einklang mit der richtlinienkonformen Auslegung, die § 21 Abs. 1 MarkenG zu geben sei, auszulegen sei. Soweit sich Heitec auf ihre Unionsmarke stütze, gelte im Übrigen gemäß dem Verweis auf das nationale Recht durch Art. 101 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 ( 10 ) § 21 Abs. 2 MarkenG.

26.

Zu den Anträgen von Heitec, die sich dagegen richten, dass Heitech die Unionsmarke benutzt, deren Inhaberin sie ist (Antrag II, soweit er sich auf das Zeichen HEITECH bezieht), führt das vorlegende Gericht zunächst aus, dass die Art. 54, 110 und 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 maßgeblich seien.

27.

Anschließend verweist das vorlegende Gericht auf die nachfolgenden Feststellungen des Berufungsgerichts. Zum einen habe Heitech ihr Unternehmenskennzeichen tatsächlich zur Bezeichnung ihrer geschäftlichen Tätigkeit und ihre Marken für die Waren und Dienstleistungen im Umfang ihres jeweiligen Schutzbereichs in einer den geltend gemachten Anträgen entsprechenden Weise benutzt. Somit habe spätestens am 6. Mai 2009, dem Zeitpunkt, zu dem Heitech ein Schreiben an Heitec richtete, um ihr den Abschluss einer Abgrenzungs- und Vorrechtsvereinbarung vorzuschlagen, eine Benutzung vorgelegen. Zum anderen sei davon auszugehen, dass Heitec spätestens zu diesem Zeitpunkt Kenntnis von der Benutzung der in Rede stehenden Zeichen gehabt habe. Schließlich sei die Gutgläubigkeit von Heitech weder vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth noch vor dem Berufungsgericht in Frage gestellt worden.

28.

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist es dennoch erforderlich, die Voraussetzungen einer „Duldung“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/95 sowie von Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 klarzustellen und insbesondere zu klären, ob – wie das Urteil Budějovický Budvar ( 11 ) nahelegen könnte – lediglich die Einlegung eines Rechtsbehelfs bei einer Behörde oder einem Gericht die Fünfjahresfrist für die Verwirkung unterbrechen kann oder ob ein Verhalten wie der Versand einer Abmahnung, dem nicht zwingend oder nicht unmittelbar die Einleitung eines Verfahrens vor den zuvor genannten Stellen folgt, insoweit genügen kann. Konkret wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob ein Verhalten, wie es Heitec im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits an den Tag gelegt hat, als ein Verhalten angesehen werden kann, das zu einer Beendigung der Duldung im Sinne der vorstehend genannten Bestimmungen geführt hat. Für den Fall, dass letztlich eine Klage bei Gericht erhoben wird, möchte das vorlegende Gericht schließlich wissen, wann von einer Unterbrechung der Verwirkungsfrist auszugehen ist, wenn sich der Zugang der Klageschrift beim Beklagten aufgrund Verschuldens des Inhabers der älteren Marke bis über den Ablauf der Fünfjahresfrist hinaus verzögert.

29.

Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen, und mit Entscheidung, die am 25. September 2020 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Kann eine Duldung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/95 sowie von Art. 54 Abs. 1 und 2 und Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 nicht nur durch einen bei einer Behörde oder einem Gericht einzulegenden Rechtsbehelf, sondern auch durch ein Verhalten ausgeschlossen werden, das ohne Einschaltung einer Behörde oder eines Gerichts erfolgt?

2.

Für den Fall, dass Frage 1 bejaht wird: Stellt eine Abmahnung, mit der der Inhaber des älteren Zeichens vor Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens vom Inhaber des jüngeren Zeichens die Verpflichtung zur Unterlassung der Zeichennutzung und den Abschluss einer Vertragsstrafenverpflichtung für den Fall der Zuwiderhandlung verlangt, ein der Duldung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/95 sowie von Art. 54 Abs. 1 und 2 und Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 entgegenstehendes Verhalten dar?

3.

Kommt es für die Berechnung des fünfjährigen Duldungszeitraums im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/95 sowie von Art. 54 Abs. 1 und 2 und Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 im Falle eines gerichtlichen Rechtsbehelfs auf die Einreichung des Rechtsbehelfs bei Gericht oder den Zugang des Rechtsbehelfs beim Anspruchsgegner an? Erlangt in diesem Zusammenhang Bedeutung, dass sich der Zugang des Rechtsbehelfs beim Anspruchsgegner aufgrund Verschuldens des Inhabers der älteren Marke bis über den Ablauf der Fünfjahresfrist hinaus verzögert?

4.

Umfasst die Verwirkung nach Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/95 sowie von Art. 54 Abs. 1 und 2 und Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 neben Unterlassungsansprüchen auch etwa auf Schadensersatz, Auskunft und Vernichtung gerichtete markenrechtliche Folgeansprüche?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

30.

Heitec, Heitech und die Europäische Kommission haben beim Gerichtshof Erklärungen eingereicht. Der Gerichtshof hat zudem Fragen zur schriftlichen Beantwortung an alle Beteiligten des schriftlichen Verfahrens des vorliegenden Vorabentscheidungsverfahrens gerichtet, die ihre Antworten alle an den Gerichtshof übermittelt haben.

IV. Würdigung

A.   Vorbemerkungen

31.

Was das anwendbare Recht angeht, beziehen sich die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen auf die Auslegung von Bestimmungen der Richtlinie 2008/95 und der Verordnung Nr. 207/2009. Auch wenn diese beiden Rechtsakte aufgehoben und ersetzt wurden ( 12 ), enthalten sie, wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, die in zeitlicher Hinsicht auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Bestimmungen, da es in diesem Verfahren im Wesentlichen um die Feststellung geht, welche Art von Verhaltensweisen geeignet sind, eine Duldung bekannter Verletzungen älterer Rechte in einem Kontext zu beenden, in dem schließlich ein Gericht von der Inhaberin dieser Rechte – der Klägerin des Ausgangsverfahrens – angerufen wurde und die Klage der Beklagten des Ausgangsverfahrens spätestens am 23. Mai 2014 und somit unter der Geltung der beiden vorbezeichneten Rechtsakte zugestellt wurde.

32.

Was die oben angeführten Rechtsakte angeht, sei daran erinnert, dass die Verordnung Nr. 207/2009 die für Unionsmarken geltenden Rechtsvorschriften definiert, wobei unter Unionsmarken Marken für Waren oder Dienstleistungen verstanden werden, die entsprechend den Voraussetzungen der Verordnung eingetragen wurden ( 13 ). Hierzu ist festzustellen, dass Heitec Inhaberin der am 4. Juli 2005 eingetragenen Unionswortmarke HEITEC ist und dass die Beklagte des Ausgangsverfahrens ihrerseits Inhaberin einer am 20. November 2008 eingetragenen Unionsbildmarke mit dem Wortbestandteil HEITECH ist. Die Richtlinie 2008/95 findet ihrerseits auf Individual‑, Kollektiv‑, Garantie‑ und Gewährleistungsmarken für Waren oder Dienstleistungen Anwendung, die u. a. in einem Mitgliedstaat eingetragen oder angemeldet worden sind ( 14 ). Die Beklagte des Ausgangsverfahrens ist Inhaberin einer am 4. Februar 2003 eingetragenen deutschen Bildmarke mit dem Wortbestandteil HEITECH PROMOTION.

33.

Die verschiedenen im Rahmen des Ausgangsverfahrens gestellten Anträge richten sich sowohl gegen die Benutzung der deutschen Marke, deren Inhaberin Heitech ist, wie auch gegen die Benutzung der Unionsmarke, deren Inhaberin sie ist, durch diese ( 15 ).

B.   Zur ersten und zur zweiten Vorlagefrage

34.

Mit den ersten beiden Vorlagefragen an den Gerichtshof – die meines Erachtens zusammen zu betrachten sind –, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Klarstellungen zur rechtlichen Regelung der Verwirkung durch Duldung, die sowohl in der Richtlinie 2008/95 als auch in der Verordnung Nr. 207/2009 vorgesehen ist.

35.

Einleitend fällt auf, dass der Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/95 ( 16 ) nahezu identisch mit dem Wortlaut von Art. 54 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 ist. Beide Bestimmungen sehen einen ähnlichen Mechanismus vor: Der Inhaber einer älteren (nationalen oder Unions‑) Marke, der die Benutzung einer jüngeren Marke in einem anderen Mitgliedstaat oder allgemeiner in der Union während eines Zeitraums von fünf aufeinanderfolgenden Jahren und in Kenntnis dieser Benutzung geduldet hat, kann für die Waren oder Dienstleistungen, für die die jüngere Marke benutzt worden ist, aufgrund der älteren Marke weder die Ungültig‑ bzw. Nichtigerklärung der jüngeren Marke verlangen noch sich ihrer Benutzung widersetzen. Die Verwirkung kann zumindest in zwei Fällen verhindert werden: wenn die Anmeldung der jüngeren Marke bösgläubig vorgenommen wurde oder wenn eine Duldung durch den Inhaber der älteren Marke nicht mehr festgestellt werden kann. Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 sieht einen ähnlichen Mechanismus vor.

1. Erkenntnisstand zur Duldung

36.

Mit den ersten beiden Vorlagefragen wird der Gerichtshof um Klarstellung ersucht, welche Art von Ereignis oder Verhalten geeignet ist, eine Duldung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/95 bzw. Art. 54 Abs. 1 und 2 sowie Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 zu beenden.

37.

Vor der Beantwortung dieser Fragen ist zunächst eine Definition dieses Begriffs der „Duldung“ angebracht. Hierzu enthält das Urteil Budějovický Budvar ( 17 ) eine gewisse Anzahl nützlicher Hinweise. Der Gerichtshof war damals zur Auslegung von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 89/104/EWG ( 18 ) befragt worden, eine Bestimmung, die unverändert in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/95 übernommen wurde, so dass die Aussagen aus dem zuvor angeführten Urteil zur Richtlinie 89/104 entsprechend für die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/95 gelten.

38.

Aus diesem Urteil kann daher abgeleitet werden, dass die in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/95 genannte Duldung ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist, da sie weder in dieser Bestimmung, die hierzu keinen ausdrücklichen Verweis auf das nationale Recht enthält, noch in irgendeiner anderen Bestimmung der Richtlinie definiert wird ( 19 ).

39.

Der Gerichtshof hat zudem u. a. in Anbetracht der Erwägungsgründe 3, 7, 9 und 11 der Richtlinie 89/104 entschieden ( 20 ), dass deren Art. 9 „eine umfassende Harmonisierung der Voraussetzungen vornimmt, unter denen der Inhaber einer jüngeren eingetragenen Marke unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung durch Duldung sein Recht an dieser Marke behalten kann, wenn der Inhaber einer identischen älteren Marke die Ungültigerklärung beantragt oder der Benutzung dieser jüngeren Marke entgegentritt“ ( 21 ). Da diese Erwägungsgründe in den Erwägungsgründen 4, 8, 10 und 12 der Richtlinie 2008/95 wieder aufgenommen werden, drängt sich die gleiche Feststellung auf.

40.

Schließlich hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Begriff der Duldung in Art. 54 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 „in demselben Sinne verwendet wird wie in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 89/104“ ( 22 ) und somit wie in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/95. Die Duldung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/95 und von Art. 54 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 ist mithin ein Begriff des Unionsrechts, dessen Sinn und Bedeutung in allen Mitgliedstaaten gleich sein müssen und dem eine autonome und in der Rechtsordnung der Union einheitliche Auslegung zu geben ist ( 23 ).

41.

Auf das Ersuchen, die Auslegung eines autonomen Begriffs des Unionsrechts, den das Recht der Union nicht definiert, zu präzisieren, hat der Gerichtshof eine klassische Prüfung vorgenommen, die darin bestand, Bedeutung und Tragweite dieses Begriffs unter Bezugnahme auf den Sinn des Begriffs „Duldung“ nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem der Begriff verwendet wird, und der mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgten Ziele zu bestimmen ( 24 ). Aus dieser Prüfung hat sich ergeben, dass „sich der Duldende passiv [verhält], indem er darauf verzichtet, ihm zur Verfügung stehende Maßnahmen zur Beendigung eines Zustands zu ergreifen, von dem er Kenntnis hat und der nicht zwangsläufig erwünscht ist. … [D]er Begriff [d]er ‚Duldung‘ [setzt] voraus, dass der Duldende gegenüber einem Zustand untätig bleibt, dem er sich widersetzen könnte“ ( 25 ).

42.

So muss der Inhaber der älteren Marke zum einen die Benutzung einer jüngeren Marke während einer längeren Zeit „wissentlich geduldet“ haben, d. h. „bewusst“, „in Kenntnis der Tatsachen“ ( 26 ).

43.

Zum anderen bezweckt die Richtlinie 89/104 wie die Richtlinie 2008/95 „ein Gleichgewicht zwischen dem Interesse des Inhabers einer Marke an der Wahrung ihrer Hauptfunktion und dem Interesse der anderen Wirtschaftsteilnehmer an der Verfügbarkeit von Zeichen, die ihre Waren und Dienstleistungen bezeichnen können, herzustellen“ ( 27 ), wobei dieser Zweck „zur Wahrung der Hauptfunktion voraus[setzt], dass der Inhaber einer älteren Marke imstande sein muss, … sich der Benutzung einer mit seiner Marke identischen jüngeren Marke zu widersetzen“ ( 28 ). Der Gerichtshof hat daher in Rn. 49 des Urteils Budějovický Budvar ( 29 ) entschieden, dass „jeder außergerichtliche oder gerichtliche Rechtsbehelf, der vom Inhaber der älteren Marke während des in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 89/104 [und damit in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/95] vorgesehenen Zeitraums eingelegt wurde, eine Unterbrechung der Verwirkung durch Duldung [bewirkt]“.

2. Zur erforderlichen Formalisierung des Endes der Duldung der Rechtsverletzung

44.

Die Einlegung eines derartigen Rechtsbehelfs stellt unzweifelhaft den weitestgehenden, am meisten formalisierten Grad dar, mit dem der Rechtsinhaber „sich widersetzen könnte“, um die vom Gerichtshof verwendete Formulierung aufzugreifen. Dem bloßen Wortlaut der Rn. 49 des Urteils Budějovický Budvar ( 30 ) lässt sich allerdings nicht entnehmen, dass der Gerichtshof entschieden hätte, dass allein die Einlegung eines derartigen Rechtsbehelfs eine Unterbrechung der Verwirkung durch Duldung bewirken kann. Dies scheint mir angesichts des Wortlauts von Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/95 bzw. von Art. 54 Abs. 1 und 2 sowie Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 auch keine ausdrückliche Anforderung des Unionsgesetzgebers zu sein.

45.

Heitech macht geltend, diese Bestimmungen seien so auszulegen, dass sie sich nur auf tatsächlich mit dem Ziel der Beendigung der Duldung eingelegte Rechtsbehelfe bezögen, und beruft sich zur Stützung ihres Vorbringens auf verschiedene Bestimmungen der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums ( 31 ). Diese Bestimmungen verwiesen häufig auf die im Bereich des geistigen Eigentums zuständigen nationalen Gerichte. Ich weise allerdings darauf hin, dass die Richtlinie 2004/48 die nationalen Rechtsvorschriften einander annähern soll, die bezogen auf die Instrumente zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums bislang ein unterschiedliches Schutzniveau boten, so dass sie gemäß dem Wortlaut ihres Art. 1 „Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe, die erforderlich sind, um die Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums sicherzustellen“, zum Gegenstand hat. All diese Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe sind gerichtlicher Natur. Darüber hinaus ist festzustellen, dass sich keine Bestimmung der Richtlinie 2004/48 mit der Frage der Verwirkung durch Duldung beschäftigt, so dass sich für unsere Rechtssache aus dem Studium dieser Richtlinie keinerlei hilfreiche Schlussfolgerungen gewinnen lassen.

46.

Wenn man auf die mangelnde Bestimmtheit des Wortlauts der beiden Normen abstellte, die ich heute zu prüfen habe, könnte man leicht zu der Schlussfolgerung gelangen, dass jegliches Verhalten des Inhabers der älteren Marke, mit dem einem schon geringfügig aktiven Protest gegen die Benutzung der betreffenden Marke und/oder des betreffenden Zeichens durch den Inhaber der jüngeren Marke Ausdruck verliehen wird, ausreichen könnte, um die Frist für die Verwirkung durch Duldung zu unterbrechen.

47.

Da sich aus der Auslegung des Wortlauts der beiden mir heute zur Prüfung vorliegenden Bestimmungen nichts Erhellendes ableiten lässt, ist daher das verfolgte Telos von Interesse. Insoweit hat der Unionsgesetzgeber deutlich darauf verwiesen, dass die Verwirkung durch Duldung „[a]us Gründen der Rechtssicherheit und ohne in die Interessen der Inhaber älterer Marken in unangemessener Weise einzugreifen“ ( 32 ) eingeführt wurde. Um das Schweigen des Gesetzgebers auszugleichen, ist somit seinem Willen Geltung zu verschaffen, „ein Gleichgewicht herzustellen zwischen dem Interesse des Inhabers einer Marke an der Wahrung ihrer Hauptfunktion und dem Interesse der anderen Wirtschaftsteilnehmer an der Verfügbarkeit von Zeichen, die ihre Waren und Dienstleistungen bezeichnen können“ ( 33 ).

48.

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich meines Erachtens, dass die Duldung beendet wird, wenn der Inhaber der älteren Marke ihm zur Verfügung stehende Maßnahmen ergreift, um der Beeinträchtigung seiner Rechte ein Ende zu setzen. Und da es um den Ausgleich der betroffenen Interessen unter Beachtung der Rechtssicherheit der jeweils Beteiligten geht, muss dieser Widerspruch zur Erlangung einer verbindlichen Lösung durch den Rückgriff auf die zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe formalisiert werden.

49.

Die Formalisierung des Widerspruchs ist nämlich, wie Heitech und die Kommission zu Recht geltend machen, erforderlich, um die praktische Wirksamkeit von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/95 bzw. von Art. 54 Abs. 1 und 2 sowie Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 sicherzustellen. Würde ein informeller Austausch wie die Übersendung eines einfachen Schreibens für eine Unterbrechung der Verwirkungsfrist ausreichen, so könnte es nie zu einer Konsolidierung der Rechtslage des Inhabers der jüngeren Marke (unter der Annahme, dass die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind) kommen. Dies ist aber, wie ich weiter oben ausgeführt habe, ersichtlich nicht der Wille des Unionsgesetzgebers. Ein Schreiben mit der Androhung, gerichtliche Schritte einzuleiten, ohne dass diese Androhung jemals in die Tat umgesetzt würde, liefe beispielsweise für den Inhaber der älteren Marke darauf hinaus, im Sinne des Urteils Budějovický Budvar ( 34 ) darauf zu verzichten, ihm zur Verfügung stehende Maßnahmen zur Beendigung eines Zustands zu ergreifen, von dem er unzweifelhaft Kenntnis hat, und dadurch die Duldung zu verlängern anstatt sie zu unterbrechen. Die Übermittlung einer Abmahnung bietet insofern auch keine höhere Garantie für die Ernsthaftigkeit der Absicht, seine Rechte verbindlich geltend zu machen.

50.

Eine Formalisierung des Widerspruchs ist insofern erforderlich, als es der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet, dass sowohl der Beginn der Verwirkungsfrist ( 35 ) als auch der Moment, in dem sie unterbrochen wird oder abläuft, genau bestimmt sind. Um dies zu gewährleisten, ist nur ein Ereignis, das – wie die Einleitung eines Gerichts‑ oder Verwaltungsverfahrens – in eindeutiger Weise die klare und ernsthafte Absicht zum Ausdruck bringt, seine Rechte geltend zu machen, zur Beendigung der Duldung geeignet.

51.

Nach alledem kann nur die eindeutige Erklärung der klaren und ernsthaften Absicht zur Beendigung der Duldung durch die Einleitung eines Gerichts‑ oder Verwaltungsverfahrens durch den Inhaber der älteren Rechte die Duldung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/95 bzw. von Art. 54 Abs. 1 und 2 sowie Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 beenden, vorausgesetzt, dass sie innerhalb einer Frist von fünf Jahren ab der Kenntnis des Inhabers der älteren Rechte von der Benutzung der jüngeren Marke erfolgt.

C.   Zur dritten Vorlagefrage

52.

Sollte der Gerichtshof meinem Vorschlag folgend entscheiden, dass die Fünfjahresfrist nur durch die Einleitung eines Verwaltungs‑ oder Gerichtsverfahrens unterbrochen werden und damit die Duldung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/95 bzw. von Art. 54 Abs. 1 und 2 sowie Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 beendet werden kann, möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof weiter klargestellt wissen, zu welchem Zeitpunkt genau diese Frist als abgelaufen anzusehen ist.

53.

Hierzu lässt sich meiner Prüfung der ersten und der zweiten Vorlagefrage entnehmen, dass es entscheidend auf die Einstellung des Inhabers der älteren Marke ankommt. Meines Erachtens ist daher für die Feststellung, ob die Frist für die Verwirkung durch Duldung abgelaufen ist, auf die Sichtweise dieses Inhabers abzustellen, um zu prüfen, ob er aus subjektiver Sicht die erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat, um die Verletzung seiner Rechte mit der Erhebung einer Klage zu beenden. Zum Zeitpunkt der Erhebung dieser Klage manifestiert sich beim Inhaber der älteren Marke die ernsthafte und eindeutige Absicht, seine Rechte geltend zu machen, sehr klar.

54.

Im Unterschied zur Verjährungsfrist, die die Ausübung eines subjektiven Rechts betrifft, auf das sich der Betroffene vor Gericht nicht mehr wirksam berufen kann ( 36 ), schlägt die Verwirkungsfrist außerdem unmittelbar und unverzüglich auf die Prozessfähigkeit durch. Der Klageanspruch ist also nicht verwirkt, soweit er innerhalb einer Frist von fünf Jahren ab Kenntnis der Benutzung erhoben wird. Daher ist es nach meinem Dafürhalten nur logisch, dass die Verwirkungsfrist zum Zeitpunkt der Erhebung der Klage oder, genauer gesagt, der Einreichung des verfahrenseinleitenden Schriftstücks unterbrochen wird. Auch wenn das Unionsrecht die Frist für die Verwirkung durch Duldung als solche sowie grundsätzlich die Wirkungen dieser Duldung harmonisiert, lässt es den Mitgliedstaaten freie Hand für die Festlegung der verfahrensrechtlichen Voraussetzungen einer Klage (wie für die Voraussetzungen ihrer Zulässigkeit oder auch ihrer Zustellung), die eben darauf gerichtet ist, die Duldung zu beenden. Unter diesen Umständen erscheint mir das Abstellen auf den Zeitpunkt der Erhebung der Klage als Zeitpunkt für die Unterbrechung der Verwirkungsfrist beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts die Lösung zu sein, die am zufriedenstellendsten ist, wie auch am geeignetsten, die nationalen Unterschiede zu glätten, die im Verlauf der nachfolgenden Abschnitte des Gerichtsverfahrens möglicherweise deutlicher zutage treten könnten. Zum Zeitpunkt der Erhebung der Klage kann die Absicht des Inhabers der älteren Marke mit relativer Gewissheit festgestellt werden ( 37 ).

55.

Eine Wahl des Zeitpunkts der Zustellung an den Beklagten erscheint mir hingegen unter Berücksichtigung der Unterschiede in den nationalen Praktiken, auf die ich zuvor eingegangen bin, gewagter. In diesem Punkt schließe ich mich den von der Kommission geäußerten Vorbehalten an.

56.

Schließlich bin ich auch in Übereinstimmung mit der Kommission der Ansicht, dass die Verwirkungsfrist zwar grundsätzlich ab dem Zeitpunkt der Erhebung der Klage beim zuständigen Gericht unterbrochen wird, die Feststellung, ob dies tatsächlich der Fall ist, aber letztlich den befassten Gerichten obliegt. Die Unterbrechung der Verwirkungsfrist kann somit, da die Interessen des Inhabers der jüngeren Marke ebenfalls zu berücksichtigen sind, nur unter bestimmten Voraussetzungen erfolgen, deren erste die Zulässigkeit der erhobenen Klage ist. Da diese Interessen immer im Hinterkopf zu behalten sind, muss die Unterrichtung des Beklagten über die Klage binnen einer relativ kurzen Frist nach Erhebung der Klage erfolgen. Ein Kläger – der beispielsweise die Behebung formaler Mängel einer Klageschrift verzögert oder auf die ein oder andere Weise das Verfahren behindert, indem er im Dunkeln lässt, ob er tatsächlich die Absicht hat, einen Gerichtsprozess anzustrengen (wie etwa durch die Nichtzahlung der Verfahrenskosten), oder, wie das vorlegende Gericht ausführt, durch sein alleiniges Verschulden die Unterrichtung des Beklagten verzögert, so dass bei diesem durch den Zeitablauf ein berechtigtes Vertrauen entsteht, sich auf eine Duldung berufen zu können – sollte unter diesen recht besonderen Umständen nicht geltend machen dürfen, die Frist für die Verwirkung durch Duldung unterbrochen zu haben, bevor er die Mängel seiner Klageschrift behoben bzw. die Verfahrenskosten beglichen hat oder bis er schließlich den Anordnungen des angerufenen Gerichts Folge geleistet hat, damit seine Klage letztendlich als tatsächlich erhoben angesehen werden kann.

57.

Ich erinnere daran, dass die Frist für die Verwirkung durch Duldung nach dem Unionsrecht fünf Jahre beträgt und ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Inhaber der älteren Marke Kenntnis von der Benutzung durch den Inhaber der jüngeren Marke erlangt hat. Die Fünfjahresfrist versetzt die Inhaber älterer Rechte vollkommen in die Lage, ihre Rechte im Kontext einer Situation geltend zu machen, von der sie bereits seit Langem Kenntnis haben, ohne für die Erhebung ihrer Klage bis zum Ende der Frist zuzuwarten. Sollte dies der Fall sein, hätten sie jedes Interesse daran, möglichst schnell eine korrekt geführte und zulässig eingereichte Klage zu erheben, da ihnen andernfalls eine gewisse Fahrlässigkeit vorgeworfen werden könnte ( 38 ).

58.

Unter diesen Umständen ist es, wenn die Frist für die Verwirkung durch Duldung zwischen Klageerhebung und Zustellung an den Beklagten abläuft, Sache des angerufenen Gerichts, zu würdigen, ob die Information des Beklagten verspätet erfolgt ist und, soweit dies der Fall sein sollte, ob die Verspätung dem Verhalten des Klägers im Laufe des Verfahrens zugerechnet werden kann. In einem solchen Fall hat das angerufene Gericht auch zu prüfen, ob ein solches Verhalten dazu geeignet ist, die Ernsthaftigkeit der bei ihm eingereichten Klage in Frage zu stellen, und daraus alle Konsequenzen hinsichtlich der Berechnung der Frist für die Verwirkung durch Duldung zu ziehen.

59.

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass bei der Erhebung einer Klage durch den Inhaber der älteren Marke grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Klageerhebung als Zeitpunkt für die Unterbrechung der fünfjährigen Verwirkungsfrist, wie sie in Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/95 bzw. Art. 54 Abs. 1 und 2 sowie Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 vorgesehen ist, abzustellen ist. Wenn die Frist für die Verwirkung durch Duldung zwischen der Erhebung dieser Klage und ihrer Zustellung an den Beklagten abläuft, ist es Sache des angerufenen Gerichts, zu würdigen, ob die Information des Beklagten verspätet erfolgt ist und, soweit dies der Fall sein sollte, ob die Verspätung dem Verhalten des Klägers im Laufe des Verfahrens zugerechnet werden kann. In einem solchen Fall hat das angerufene Gericht auch zu prüfen, ob ein solches Verhalten dazu geeignet ist, die Ernsthaftigkeit der beim ihm eingereichten Klage in Frage zu stellen, und daraus alle Konsequenzen hinsichtlich der Berechnung der Frist für die Verwirkung durch Duldung zu ziehen.

D.   Zur vierten Vorlagefrage

60.

Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob im Fall einer Verwirkung diese nicht nur auf die Klage auf Unterlassung der Benutzung der jüngeren Marke durchschlägt, sondern auch auf Neben‑ oder Folgeansprüche, die beispielsweise auf Feststellung einer Schadensersatzpflicht, Auskunftserteilung oder Vernichtung der markenverletzenden Waren gerichtet sind.

61.

Zunächst ist auf den Einwand der Klägerin des Ausgangsverfahrens einzugehen, wonach eine Antwort des Gerichtshofs auf die vierte Vorlagefrage unnötig wäre, soweit im Ausgangsrechtsstreit keine Verwirkung eingetreten wäre. Auch wenn es die Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Auslegung der Bestimmungen zu geben, deren Anwendung es beabsichtigt, so weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof nicht befugt ist, über den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zu entscheiden oder die von ihm auszulegenden Vorschriften des Unionsrechts auf nationale Maßnahmen oder Gegebenheiten anzuwenden, da dafür ausschließlich die nationalen Gerichte zuständig sind ( 39 ). Folglich darf der Gerichtshof nicht von der Prämisse ausgehen, dass die von der Klägerin des Ausgangsverfahrens vor diesen Gerichten eingeklagten Ansprüche nicht verwirkt sind, um eine Beantwortung der Vorlagefrage abzulehnen.

62.

Um auf die vierte Frage zurückzukommen, weise ich erstens darauf hin, dass weder der Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/95 noch der von Art. 54 Abs. 1 und 2 sowie von Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 die Wirkungen der Verwirkung konkret festlegt. Einer Lektüre dieser Bestimmungen lässt sich jedoch entnehmen, dass der Inhaber der älteren Marke, soweit die übrigen dort vorgesehenen Voraussetzungen für die Feststellung der Verwirkung vorliegen, „für die Waren oder Dienstleistungen, für die die jüngere Marke benutzt worden ist, aufgrund der älteren Marke weder die Nichtigerklärung der jüngeren Marke verlangen noch sich ihrer Benutzung widersetzen [kann]“ ( 40 ). Daraus ergibt sich im Gegenschluss, dass der Inhaber einer Marke, bevor eine Verwirkung durch Duldung eintritt, sowohl die Nichtigerklärung einer jüngeren Marke verlangen als auch sich mit einer Verletzungsklage ihrer Benutzung widersetzen kann ( 41 ).

63.

Bezogen auf die Unionsmarke werden die Wirkungen der Nichtigkeit in Art. 55 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 näher bestimmt, nach dem die in dieser Verordnung vorgesehenen, in Abschnitt 2 des Titels II der Verordnung geregelten „Wirkungen der Unionsmarke … als von Anfang an nicht eingetreten [gelten]“. Die Richtlinie 2008/95 enthält keine entsprechenden Bestimmungen, und aus ihrem sechsten Erwägungsgrund ergibt sich, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … weiterhin festlegen können [sollen], welche Rechtswirkung dem Verfall oder der Ungültigerklärung einer Marke zukommt“.

64.

Der Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/95 bzw. von Art. 54 Abs. 1 und 2 sowie von Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 ist ausgerichtet an der Prüfung der ersten und der zweiten Vorlagefrage mittels einer teleologischen Auslegung dieser Bestimmungen zu erläutern. Die Verwirkung durch Duldung ist zwar ein Mechanismus zur Sicherstellung der Interessenabwägung unter Wahrung des Gebots der Rechtssicherheit. Mir erschiene es jedoch ein Verstoß gegen dieses Gebot, wenn der Inhaber einer älteren Marke nach fünf Jahren der Duldung nicht mehr die Nichtigerklärung der jüngeren Marke beantragen und sich auch nicht ihrer Benutzung widersetzen könnte, aber weiterhin Schadensersatz infolge einer Benutzung erhalten könnte, der er sich, als er es noch konnte, nicht widersetzt hat, und der er sich aufgrund der Verwirkung nun nicht mehr widersetzen kann. Die angestrebte Rechtssicherheit würde nämlich gefährdet, wenn der Inhaber der älteren Marke während der gesamten geduldeten parallelen Benutzung der beiden Marken auf unbestimmte Zeit weiterhin Schadensersatz erhalten könnte. Die Verurteilung zur Vernichtung von Waren, die nicht als markenverletzend eingestuft werden können, käme aufgrund eben dieser Duldung zudem einer juristischen Absurdität gleich.

65.

Ich neige daher zu der Auffassung, dass die Unmöglichkeit, sich im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/95 bzw. von Art. 54 Abs. 1 und 2 sowie Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 der Benutzung der jüngeren Marke zu widersetzen, weit auszulegen ist, so dass der Inhaber der älteren Marke ab dem Zeitpunkt, zu dem die Verwirkung durch Duldung festgestellt wird, all seine an die Priorität seiner Marke geknüpften Privilegien gegenüber dem Inhaber der jüngeren Marke, deren Benutzung er geduldet hat, verliert, und dass folglich die Verwirkung durch Duldung dahin zu verstehen ist, dass sie nicht nur auf die Unterlassungsklage durchschlägt, sondern auch auf die auf die ältere Marke gestützten Nebenforderungen, wie etwa Forderungen auf Schadensersatz, Auskunftserteilung oder Vernichtung.

V. Ergebnis

66.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Bundesgerichtshofs (Deutschland) wie folgt zu antworten:

1.

Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken bzw. Art. 54 Abs. 1 und 2 sowie Art. 111 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Unionsmarke sind dahin auszulegen, dass nur die eindeutige Erklärung der klaren und ernsthaften Absicht zur Beendigung der Duldung durch die Einleitung eines Gerichts‑ oder Verwaltungsverfahrens durch den Inhaber der älteren Rechte die Duldung beenden kann, vorausgesetzt, dass sie innerhalb einer Frist von fünf Jahren ab der Kenntnis des Inhabers der älteren Rechte von der Benutzung der jüngeren Marke erfolgt.

2.

Bei der Erhebung einer Klage durch den Inhaber der älteren Marke ist grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Klageerhebung als Zeitpunkt für die Unterbrechung der fünfjährigen Verwirkungsfrist, wie sie in Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/95 bzw. Art. 54 Abs. 1 und 2 sowie Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 vorgesehen ist, abzustellen. Wenn die Frist für die Verwirkung durch Duldung zwischen der Erhebung dieser Klage und ihrer Zustellung an den Beklagten abläuft, ist es Sache des angerufenen Gerichts, zu würdigen, ob die Information des Beklagten verspätet erfolgt ist und, soweit dies der Fall sein sollte, ob die Verspätung dem Verhalten des Klägers im Laufe des Verfahrens zugerechnet werden kann. Das angerufene Gericht hat gegebenenfalls auch zu prüfen, ob ein solches Verhalten dazu geeignet ist, die Ernsthaftigkeit der bei ihm eingereichten Klage in Frage zu stellen, und daraus alle Konsequenzen hinsichtlich der Berechnung der Frist für die Verwirkung durch Duldung zu ziehen.

3.

Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/95 bzw. Art. 54 Abs. 1 und 2 sowie Art. 111 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 sind dahin auszulegen, dass der Inhaber der älteren Marke ab dem Zeitpunkt, zu dem die Verwirkung durch Duldung festgestellt wird, all seine an die Priorität seiner Marke geknüpften Privilegien gegenüber dem Inhaber der jüngeren Marke, deren Benutzung er geduldet hat, verliert und dass folglich die Verwirkung durch Duldung im Sinne dieser Bestimmungen dahin zu verstehen ist, dass sie nicht nur auf die Unterlassungsklage durchschlägt, sondern auch auf die auf die ältere Marke gestützten Nebenforderungen.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Internationale Vereinigung für den Schutz des Geistigen Eigentums, „Zusammenfassender Bericht – Frage Q192 – Duldung (Tolerierung) der Verletzung geistiger Eigentumsrechte“, 2006, abrufbar unter: https://aippi.soutron.net/Portal/DownloadImageFile.ashx?fieldValueId=4488.

( 3 ) Urteil vom 22. September 2011 (C‑482/09, EU:C:2011:605).

( 4 ) ABl. 2008, L 299, S. 25.

( 5 ) ABl. 2009, L 78, S. 1.

( 6 ) BGBl. 1994 I S. 3082.

( 7 ) Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) mit Entscheidung vom 5. Juni 2018 den Verfall der Marke der Klägerin des Ausgangsverfahrens wegen Nichtbenutzung festgestellt hat. Hiergegen hat die Klägerin des Ausgangsverfahrens beim Gericht der Europäischen Union Klage erhoben. Zum Zeitpunkt der Abfassung der vorliegenden Schlussanträge ist diese Klage noch anhängig (T‑520/19).

( 8 ) Die Klage des Ausgangsverfahrens ist ebenfalls gegen RW, den Geschäftsführer der Beklagten des Ausgangsverfahrens, gerichtet. Soweit nicht anders angegeben, wird in den vorliegenden Schlussanträgen allgemein auf Heitech als Beklagte des Ausgangsverfahrens Bezug genommen.

( 9 ) Vgl. Nr. 12 der vorliegenden Schlussanträge.

( 10 ) Nach dessen Wortlaut „[i]n allen Fragen, die nicht durch diese Verordnung erfasst werden, … die Unionsmarkengerichte ihr nationales Recht einschließlich ihres internationalen Privatrechts an[wenden]“.

( 11 ) Urteil vom 22. September 2011 (C‑482/09, EU:C:2011:605).

( 12 ) Die Richtlinie 2008/95 ist seit dem 14. Januar 2019 nicht mehr in Kraft und wurde durch die Richtlinie (EU) 2015/2436 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2015 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken (ABl. 2015, L 336, S. 1) ersetzt. Die Verordnung Nr. 207/2009 ist seit dem 30. September 2017 nicht mehr in Kraft und wurde durch die Verordnung (EU) 2017/1001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über die Unionsmarke (ABl. 2017, L 154, S. 1) ersetzt. Die Bestimmungen der Richtlinie 2015/2436 und der Verordnung 2017/1001 zur Verwirkung durch Duldung entsprechen vollständig denen in der Richtlinie 2008/95 und in der Verordnung Nr. 207/2009: siehe zum Vergleich Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2015/2436 bzw. Art. 61 Abs. 1 und 2 sowie Art. 138 Abs. 2 der Verordnung 2017/1001.

( 13 ) Vgl. Art. 1 der Verordnung Nr. 207/2009.

( 14 ) Vgl. Art. 1 der Richtlinie 2008/95.

( 15 ) Zu den Einzelheiten der verschiedenen Anträge vgl. Nrn. 23 ff. der vorliegenden Schlussanträge.

( 16 ) Da Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2008/95 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, die Anwendung von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie auf die dort genannten Fälle auszudehnen, gilt die Auslegung für diese zuletzt genannte Bestimmung auch für die Umsetzung von Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie durch die Mitgliedstaaten.

( 17 ) Urteil vom 22. September 2011 (C‑482/09, EU:C:2011:605).

( 18 ) Richtlinie des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken (ABl. 1989, L 40, S. 1).

( 19 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2011, Budějovický Budvar (C‑482/09, EU:C:2011:605, Rn. 28 und 29).

( 20 ) Vgl. Urteil vom 22. September 2011, Budějovický Budvar (C‑482/09, EU:C:2011:605, Rn. 30 bis 32).

( 21 ) Urteil vom 22. September 2011, Budějovický Budvar (C‑482/09, EU:C:2011:605, Rn. 33).

( 22 ) Urteil vom 22. September 2011, Budějovický Budvar (C‑482/09, EU:C:2011:605, Rn. 35).

( 23 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 22. September 2011, Budějovický Budvar (C‑482/09, EU:C:2011:605, Rn. 37).

( 24 ) Vgl. Urteil vom 22. September 2011, Budějovický Budvar (C‑482/09, EU:C:2011:605, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 25 ) Urteil vom 22. September 2011, Budějovický Budvar (C‑482/09, EU:C:2011:605, Rn. 44). Hervorhebung nur hier.

( 26 ) Urteil vom 22. September 2011, Budějovický Budvar (C‑482/09, EU:C:2011:605, Rn. 47).

( 27 ) Urteil vom 22. September 2011, Budějovický Budvar (C‑482/09, EU:C:2011:605, Rn. 48).

( 28 ) Urteil vom 22. September 2011, Budějovický Budvar (C‑482/09, EU:C:2011:605, Rn. 48).

( 29 ) Urteil vom 22. September 2011 (C‑482/09, EU:C:2011:605).

( 30 ) Urteil vom 22. September 2011 (C‑482/09, EU:C:2011:605).

( 31 ) ABl. 2004, L 157, S. 45.

( 32 ) Zwölfter Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/95.

( 33 ) Urteil vom 22. September 2011, Budějovický Budvar (C‑482/09, EU:C:2011:605, Rn. 48). Vgl. auch Rn. 34 dieses Urteils und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 34 ) Urteil vom 22. September 2011 (C‑482/09, EU:C:2011:605).

( 35 ) Vgl., allerdings in einem ganz anderen Zusammenhang, Urteil vom 16. Mai 2000, Preston u. a. (C‑78/98, EU:C:2000:247, Rn. 68).

( 36 ) Vgl. Urteil vom 8. November 2012, Evropaïki Dynamiki/Kommission (C‑469/11 P, EU:C:2012:705, Rn. 52).

( 37 ) Diese Gewissheit kann nur relativ sein, solange eine gerichtliche Entscheidung in der Sache nicht ergangen ist und soweit beispielsweise eine Klagerücknahme im Laufe des Verfahrens weiterhin möglich ist.

( 38 ) Auch hier hängt alles davon ab, wie das Gericht alle Umstände des von ihm zu prüfenden Falles beurteilt. So könnte die verspätete Klageerhebung beispielsweise im Fall einer ganz am Ende der Fünfjahresfrist erhobenen Klage, während die beiden betroffenen Parteien aber lange verhandelt oder Schritte zur außergerichtlichen Schlichtung eingeleitet hatten, dem Inhaber der älteren Marke natürlich nicht als Fahrlässigkeit ausgelegt werden.

( 39 ) Aus der umfangreichen Rechtsprechung vgl. u. a. Urteil vom 7. September 2006, Jehle, Weinhaus Kiderlen (C‑489/04, EU:C:2006:527, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 40 ) Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/95. Art. 54 der Verordnung Nr. 207/2009 ist ähnlich, aber nicht völlig identisch formuliert.

( 41 ) Vgl. Beschluss vom 10. März 2015, Rosa dels Vents Assessoria (C‑491/14, EU:C:2015:161, Rn. 25).

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