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Document 62019CJ0322

Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 14. Januar 2021.
KS und MHK gegen The International Protection Appeals Tribunal u. a. und R.A.T. und D.S. gegen Minister for Justice and Equality.
Vorabentscheidungsersuchen des High Court (Irland) und des International Protection Appeals Tribunal.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Internationaler Schutz – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2013/33/EU – Drittstaatsangehöriger, der sich von einem Mitgliedstaat der Europäischen Union in einen anderen begeben, aber nur in Letzterem internationalen Schutz beantragt hat – Entscheidung zur Überstellung in den ersten Mitgliedstaat – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Zugang einer Person, die internationalen Schutz beantragt, zum Arbeitsmarkt.
Verbundene Rechtssachen C-322/19 und C-385/19.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:11

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

14. Januar 2021 ( *1 )

[Text berichtigt mit Beschluss vom 12. Mai 2021]

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Internationaler Schutz – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2013/33/EU – Drittstaatsangehöriger, der sich von einem Mitgliedstaat der Europäischen Union in einen anderen begeben, aber nur in Letzterem internationalen Schutz beantragt hat – Entscheidung zur Überstellung in den ersten Mitgliedstaat – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Zugang einer Person, die internationalen Schutz beantragt, zum Arbeitsmarkt“

In den verbundenen Rechtssachen C‑322/19 und C‑385/19

betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) (C‑322/19) und vom International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes, Irland) (C‑385/19) mit Entscheidungen vom 25. März 2019 und vom 16. Mai 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 23. April 2019 bzw. 16. Mai 2019, in den Verfahren

K.S.,

M.H.K.

gegen

The International Protection Appeals Tribunal,

The Minister for Justice and Equality,

Irland,

The Attorney General (C‑322/19)

und

R.A.T.,

D.S.

gegen

Minister for Justice and Equality (C‑385/19)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras sowie der Richter N. Piçarra (Berichterstatter), D. Šváby und S. Rodin sowie der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

[berichtigt mit Beschluss vom 12. Mai 2021] von K.S., vertreten durch M. Conlon, SC, E. Dornan und P. O’Shea, BL, sowie B. Burns, Solicitor,

[berichtigt mit Beschluss vom 12. Mai 2021] von M.H.K., vertreten durch M. Conlon, SC, E. Dornan und P. O’Shea, BL, sowie B. Burns, Solicitor,

[berichtigt mit Beschluss vom 12. Mai 2021] von R.A.T., vertreten durch M. Conlon, SC, E. Dornan, BL, und B. Burns, Solicitor,

[berichtigt mit Beschluss vom 12. Mai 2021] von D.S., vertreten durch M. Conlon, SC, E. Bouchared, BL, sowie S. Bartels, Solicitor,

[berichtigt mit Beschlusss vom 12. Mai 2021] des Minister for Justice and Equality und Irlands, vertreten durch M. Browne und G. Hodge sowie A. Joyce als Bevollmächtigte, unterstützt durch R. Barron, SC, und S.‑J. Hillery, BL,

der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma, C. Ladenburger und J. Tomkin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. September 2020

folgendes

Urteil

1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 15 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).

2

Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen zum einen Herrn K.S. und Herrn M.H.K. und dem International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes, Irland), dem Minister for Justice and Equality (Minister für Justiz und Gleichstellung, Irland), Irland und dem Attorney General sowie zum anderen Frau R.A.T. und Herrn D.S. und dem Minister for Justice and Equality (Minister für Justiz und Gleichstellung, Irland) über die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, mit denen ihnen in ihrer Eigenschaft als Antragsteller, um deren Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung), ersucht wurde, der Zugang zum Arbeitsmarkt verweigert wird.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2013/33

3

Mit der Richtlinie 2013/33 wurde die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. 2003, L 31, S. 18) mit Wirkung vom 21. Juli 2015 aufgehoben und ersetzt.

4

In den Erwägungsgründen 8, 11, 23 und 33 der Richtlinie 2013/33 heißt es:

„(8)

Um eine unionsweite Gleichbehandlung von Antragstellern sicherzustellen, sollte diese Richtlinie in allen Phasen und auf alle Arten von Verfahren, die Anträge auf internationalen Schutz betreffen, in allen Räumlichkeiten und Einrichtungen für die Unterbringung von Antragstellern und so lange, wie sie als Antragsteller im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats bleiben dürfen, Anwendung finden.

(11)

Es sollten Normen für die Aufnahme von Antragstellern festgelegt werden, die diesen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und vergleichbare Lebensbedingungen in allen Mitgliedstaaten gewährleisten.

(23)

Um die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Antragstellern zu fördern und erhebliche Diskrepanzen zwischen den Mitgliedstaaten zu begrenzen, muss der Zugang der Antragsteller zum Arbeitsmarkt klar geregelt werden.

(33)

Nach den Artikeln 1, 2 und Artikel 4a Absatz 1 des dem EUV und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) beigefügten Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und unbeschadet des Artikels 4 dieses Protokolls beteiligen sich das Vereinigte Königreich und Irland nicht an der Annahme dieser Richtlinie und sind weder durch diese gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet.“

5

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

b)

‚Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde;

f)

‚im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährte Vorteile‘ sämtliche Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten im Einklang mit dieser Richtlinie zugunsten von Antragstellern treffen;

g)

‚im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen‘ Unterkunft, Verpflegung und Kleidung in Form von Sach- oder Geldleistungen oder Gutscheinen oder einer Kombination davon sowie Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs;

…“

6

Art. 15 („Beschäftigung“) der Richtlinie 2013/33 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass der Antragsteller spätestens neun Monate nach der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz Zugang zum Arbeitsmarkt erhält, sofern die zuständige Behörde noch keine erstinstanzliche Entscheidung erlassen hat und diese Verzögerung nicht dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann.

(2)   Die Mitgliedstaaten beschließen nach Maßgabe ihres einzelstaatlichen Rechts, unter welchen Voraussetzungen dem Antragsteller Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt wird, wobei sie gleichzeitig für einen effektiven Arbeitsmarktzugang für Antragsteller sorgen.

(3)   Das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt darf während eines Rechtsbehelfsverfahrens, wenn es sich um einen Rechtsbehelf gegen eine ablehnende Entscheidung handelt, der in einem ordentlichen Verfahren aufschiebende Wirkung hat, erst entzogen werden, nachdem der Rechtsbehelf zurückgewiesen wurde.“

Richtlinie 2013/32/EU

7

Mit der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) wurde die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. 2005, L 326, S. 13) mit Wirkung vom 21. Juli 2015 aufgehoben und ersetzt.

8

In den Erwägungsgründen 27 und 58 der Richtlinie 2013/32 wird ausgeführt:

„(27)

Da Drittstaatsangehörige und Staatenlose, die ihren Wunsch bekundet haben, internationalen Schutz zu beantragen, Antragsteller darstellen, sollten sie die Pflichten erfüllen und die Rechte genießen, die in dieser Richtlinie und in der Richtlinie [2013/33] festgelegt sind. …

(58)

Nach den Artikeln 1, 2 und 4a Absatz 1 des dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und unbeschadet des Artikels 4 dieses Protokolls beteiligen sich das Vereinigte Königreich und Irland nicht an der Annahme dieser Richtlinie und sind weder durch diese gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet.“

9

Art. 2 Buchst. p der Richtlinie 2013/32 definiert die Wendung „Verbleib im Mitgliedstaat“ als „Verbleib im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen – des Mitgliedstaats, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde oder geprüft wird“.

10

Art. 9 („Berechtigung zum Verbleib im Mitgliedstaat während der Prüfung des Antrags“) Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Antragsteller dürfen ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens so lange im Mitgliedstaat verbleiben, bis die Asylbehörde auf der Grundlage der in Kapitel III genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Antrag entschieden hat. Aus dieser Berechtigung zum Verbleib ergibt sich kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel.“

11

Art. 13 („Verpflichtungen der Antragsteller“) der Richtlinie sieht vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten schreiben Antragstellern vor, mit den zuständigen Behörden zur Feststellung ihrer Identität und anderer in Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie 2011/95/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9)] zusammenzuarbeiten. Die Mitgliedstaaten können den Antragstellern weitere Verpflichtungen zur Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden auferlegen, sofern diese Verpflichtungen für die Bearbeitung des Antrags erforderlich sind.

(2)   Die Mitgliedstaaten können insbesondere festlegen, dass

a)

die Antragsteller verpflichtet sind, sich entweder unverzüglich oder zu einem bestimmten Zeitpunkt bei den zuständigen Behörden zu melden oder dort persönlich vorstellig zu werden;

b)

die Antragsteller die in ihrem Besitz befindlichen Dokumente, die für die Prüfung des Antrags sachdienlich sind, wie zum Beispiel ihren Reisepass, vorlegen müssen;

c)

die Antragsteller verpflichtet sind, so rasch wie möglich die zuständigen Behörden über ihren jeweiligen Aufenthaltsort oder ihre Anschrift sowie sämtliche diesbezüglichen Änderungen zu unterrichten. …

d)

die zuständigen Behörden den Antragsteller sowie die von ihm mitgeführten Sachen durchsuchen dürfen. …

e)

die zuständigen Behörden ein Lichtbild des Antragstellers anfertigen dürfen und

f)

die zuständigen Behörden die mündlichen Aussagen des Antragstellers aufzeichnen dürfen, sofern er darüber im Voraus unterrichtet wurde.“

12

Art. 31 („Prüfungsverfahren“) Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass das Prüfungsverfahren innerhalb von sechs Monaten nach förmlicher Antragstellung zum Abschluss gebracht wird.

Ist ein Antrag gemäß dem Verfahren nach Maßgabe der [Dublin‑III-Verordnung] zu behandeln, so beginnt die Sechsmonatsfrist, sobald der für die Prüfung zuständige Mitgliedstaat gemäß jener Verordnung bestimmt ist, sich der Antragsteller im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet und er von der zuständigen Behörde betreut wird.

Die Mitgliedstaaten können die in dem vorliegenden Absatz festgelegte Sechsmonatsfrist um höchstens neun weitere Monate verlängern, wenn

c)

die Verzögerung eindeutig darauf zurückzuführen ist, dass der Antragsteller seinen Pflichten nach Artikel 13 nicht nachgekommen ist.“

Dublin‑III-Verordnung

13

Die Erwägungsgründe 11 und 19 der Dublin‑III-Verordnung lauten:

„(11)

Die Richtlinie [2013/33] sollte vorbehaltlich der Einschränkungen der Anwendung jener Richtlinie auf das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach Maßgabe dieser Verordnung Anwendung finden.

(19)

Um einen wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu gewährleisten, sollten im Einklang insbesondere mit Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Rechtsgarantien und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden. Um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, sollte ein wirksamer Rechtsbehelf gegen diese Entscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird.“

14

Art. 3 („Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz“) der Verordnung sieht vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2)   Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat, die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.

…“

15

Art. 7 („Rangfolge der Kriterien“) der Verordnung sieht vor:

„(1)   Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats finden in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung.

(2)   Bei der Bestimmung des nach den Kriterien dieses Kapitels zuständigen Mitgliedstaats wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.

…“

16

Art. 13 („Einreise und/oder Aufenthalt“) Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

Wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den … Daten nach der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über die Einrichtung von Eurodac für den Abgleich von Fingerabdruckdaten zum Zwecke der effektiven Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist und über der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung dienende Anträge der Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und Europols auf den Abgleich mit Eurodac-Daten sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1077/2011 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT‑Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (ABl. 2013, L 180, S. 1)] festgestellt, dass ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend die Land‑, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Die Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts.“

17

Art. 17 („Ermessensklauseln“) Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung sieht vor:

„Abweichend von Artikel 3 Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.“

18

Art. 27 („Rechtsmittel“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1)   Der Antragsteller … hat das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht.

(3)   Zum Zwecke eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung oder einer Überprüfung einer Überstellungsentscheidung sehen die Mitgliedstaaten in ihrem innerstaatlichen Recht Folgendes vor:

a)

dass die betroffene Person aufgrund des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung berechtigt ist, bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu bleiben; oder

b)

dass die Überstellung automatisch ausgesetzt wird und diese Aussetzung innerhalb einer angemessenen Frist endet, innerhalb der ein Gericht, nach eingehender und gründlicher Prüfung, darüber entschieden hat, ob eine aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung gewährt wird; …

…“

19

Art. 29 („Modalitäten und Fristen“) der Verordnung sieht vor:

„(1)   Die Überstellung des Antragstellers … aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.

(2)   Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.

…“

Irisches Recht

20

Gemäß Art. 4 des Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (im Folgenden: Protokoll Nr. 21) wurden die Bestimmungen der Richtlinie 2013/33 durch die European Communities (Reception Conditions) Regulations 2018 (S. I. Nr. 230/2018) (Verordnung von 2018 betreffend die Europäischen Gemeinschaften [Aufnahmebedingungen]) (im Folgenden: Verordnung von 2018) mit Wirkung vom 30. Juni 2018 in irisches Recht umgesetzt.

21

Regulation 2 Abs. 2 und 3 dieser Verordnung sieht vor:

„(2)   Für die Zwecke dieser Verordnung gilt, dass ein Antragsteller, wenn in Bezug auf ihn eine Überstellungsentscheidung im Sinne der [European Union (Dublin System) Regulations 2018 (Verordnung von 2018 betreffend die Europäische Union [Dublin-System])] ergangen ist, ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Entscheidung gemäß Regulation 5 Abs. 2 dieser Verordnung

a)

nicht länger Antragsteller ist und

b)

als Empfänger, nicht aber als Antragsteller angesehen wird.

(3)   Für die Zwecke dieser Verordnung gilt eine Person, die gemäß Regulation 16 Abs. 2 der [European Union (Dublin System) Regulations 2018 (S. I. Nr. 62/2018) (Verordnung über die Europäische Union [Dublin-System] von 2018)] beim International Protection Appeals Tribunal [Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes, Irland] einen Rechtsbehelf eingelegt hat, über den dieses Gericht noch nicht entschieden hat, nicht als Antragsteller, sondern als Empfänger.“

22

Regulation 11 Abs. 3 und 4 der Verordnung von 2018, mit der Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 umgesetzt wird, bestimmt:

„(3)   Ein Antragsteller kann eine Arbeitserlaubnis beantragen …

b)

frühestens acht Monate nach Einreichung seines Antrags [auf internationalen Schutz].

(4)   Der Minister kann … dem Antragsteller eine Erlaubnis [für den Zugang zum Arbeitsmarkt] erteilen, wenn

a)

vorbehaltlich des Abs. 6 seit dem Tag der Antragstellung neun Monate verstrichen sind und zu diesem Zeitpunkt keine erstinstanzliche Entscheidung über den Antrag des Antragstellers auf Schutz ergangen ist und

b)

die in Buchst. a genannte Situation nicht ganz oder teilweise dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Rechtssache C‑322/19

23

Herr K.S. reiste im Februar 2010 aus Pakistan in das Vereinigte Königreich. Er stellte in diesem Mitgliedstaat keinen Antrag auf internationalen Schutz. Im Mai 2015 reiste er nach Irland und stellte dort am 11. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 9. März 2016 entschied der Refugee Applications Commissioner (Flüchtlingsbeauftragter, Irland), diesen Antrag auf der Grundlage der Dublin‑III-Verordnung in das Vereinigte Königreich weiterzuleiten. Herr K.S. legte gegen diese Entscheidung einen Rechtsbehelf ein, der am 17. August 2016 vom Refugee Appeals Tribunal (Berufungsgericht für Flüchtlinge, Irland) zurückgewiesen wurde. Er strengte daraufhin ein gerichtliches Überprüfungsverfahren beim High Court (Hoher Gerichtshof, Irland) an, das noch anhängig ist und aufschiebende Wirkung hat.

24

Herr K.S. beantragte zwischenzeitlich gemäß Regulation 11 Abs. 3 der Verordnung von 2018 beim Labour Market Access Unit of the Department of Justice and Equality (Referat für den Zugang zum Arbeitsmarkt beim Ministerium für Justiz und Gleichstellung, Irland) eine Erlaubnis für den Zugang zum Arbeitsmarkt. Auf die Ablehnung dieses Antrags hin legte er Widerspruch ein, der mit Entscheidung vom 19. Juli 2018 zurückgewiesen wurde. Gegen diese ablehnende Entscheidung legte Herr K.S. Berufung beim International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes, Irland) ein. Mit Entscheidung vom 11. September 2018 bestätigte dieses Gericht die ablehnende Entscheidung mit der Begründung, dass Personen, deren Antrag in Anwendung der Dublin‑III-Verordnung an einen anderen Mitgliedstaat weitergeleitet wurde, gemäß der Verordnung von 2018 keinen Anspruch auf Zugang zum Arbeitsmarkt hätten. K.S. stellte sodann beim vorlegenden Gericht einen Antrag auf gerichtliche Überprüfung der Entscheidung des International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes).

25

Herr M.H.K. reiste am 24. Oktober 2009 aus Bangladesch in das Vereinigte Königreich. Nach Ablauf seiner Aufenthaltserlaubnis reiste er am 4. September 2014 nach Irland, bevor über seinen Antrag auf Verlängerung seines Aufenthaltsrechts im Vereinigten Königreich entschieden wurde. Am 16. Februar 2015 stellte Herr M.H.K. in Irland einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 25. November 2015 entschied der Flüchtlingsbeauftragte, diesen Antrag auf der Grundlage der Dublin‑III-Verordnung an das Vereinigte Königreich weiterzuleiten. Herr M.H.K. legte gegen diese Entscheidung einen Rechtsbehelf ein, der am 30. März 2016 vom Refugee Appeals Tribunal (Berufungsgericht für Flüchtlinge) zurückgewiesen wurde. Er strengte daraufhin ein Verfahren der gerichtlichen Überprüfung beim High Court (Hoher Gerichtshof) an und berief sich dabei auf Art. 17 der Dublin‑III-Verordnung. Dieses Verfahren, das noch anhängig ist, hat aufschiebende Wirkung.

26

Herr M.H.K. beantragte außerdem gemäß Regulation 11 Abs. 3 der Verordnung von 2018 bei der zuständigen Behörde des Ministeriums für Justiz und Gleichstellung eine Erlaubnis für den Zugang zum Arbeitsmarkt. Nachdem dieser Antrag mit Entscheidung vom 16. August 2018 abgelehnt worden war, legte Herr M.H.K. Widerspruch ein, der am 5. September 2018 zurückgewiesen wurde. Gegen diese ablehnende Entscheidung legte er einen Rechtsbehelf beim International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) ein. Mit Entscheidung vom 17. Oktober 2018 wies dieses Gericht diesen Rechtsbehelf zurück und stellte fest, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt nicht zu den „im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“ gehöre. Herr M.H.K. beantragte daraufhin beim vorlegenden Gericht die gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung.

27

Die beim High Court (Hoher Gerichtshof) am 24. September bzw. am 12. November 2018 gestellten Anträge auf gerichtliche Überprüfung wurden zugelassen. Nach den Angaben dieses Gerichts sind diese beiden Anträge auf den Erlass von gerichtlichen Entscheidungen gerichtet, die erstens die Aufhebung der Entscheidungen über die Verweigerung des Zugangs zum Arbeitsmarkt, zweitens die Feststellung, dass Regulation 2 Abs. 2 und Regulation 11 Abs. 2 und 12 der Verordnung von 2018 mit der Richtlinie 2013/33 unvereinbar seien, und drittens den Ersatz der erlittenen Schäden zum Gegenstand hätten.

28

In diesem Zusammenhang möchte der High Court (Hoher Gerichtshof) erstens wissen, ob die Richtlinie 2013/32, obwohl sie auf Irland nicht anwendbar ist, bei der Auslegung der Richtlinie 2013/33 berücksichtigt werden könne.

29

Zweitens möchte der High Court (Hoher Gerichtshof) wissen, ob sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt und deren Antrag gemäß der Dublin‑III-Verordnung in einen anderen Mitgliedstaat weitergeleitet worden ist, auf Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 berufen kann. Es weist darauf hin, dass die Europäische Kommission in einem Entwurf einer Richtlinie über Aufnahmebedingungen vom 13. Juli 2016 vorgeschlagen habe, Personen, gegen die eine Überstellungsentscheidung nach der Dublin‑III-Verordnung ergangen sei, vom Zugang zum Arbeitsmarkt auszuschließen. Daraus könne jedoch nicht im Umkehrschluss geschlossen werden, dass Art. 15 der Richtlinie 2013/33 den von einer solchen Entscheidung betroffenen Personen den Zugang zum Arbeitsmarkt ermögliche.

30

Der High Court (Hoher Gerichtshof) ist der Auffassung, dass Personen wie die Kläger des Ausgangsverfahrens Personen seien, die „definitionsgemäß“ den durch die Dublin‑III-Verordnung eingeführten Mechanismus in gewissem Umfang missbraucht hätten, und dass die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in einem anderen Mitgliedstaat als dem der ersten Einreise des Antragstellers gegen diese Verordnung verstoße. Im Hinblick auf den Begriff des Rechtsmissbrauchs könnten diese Personen daher keinen Zugang zum Arbeitsmarkt nach Art. 15 der Richtlinie 2013/33 erhalten.

31

In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht drittens wissen, ob ein Mitgliedstaat im Rahmen der Umsetzung von Art. 15 der Richtlinie 2013/33 eine allgemeine Maßnahme erlassen darf, mit der Personen, die internationalen Schutz beantragen und deren Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat gemäß der Dublin‑III-Verordnung beschlossen wurde, jede Verzögerung des Ablaufs dieses Verfahrens zugerechnet wird. Es ist der Auffassung, dass diese Frage mit ja zu beantworten sei.

32

Viertens möchte der High Court (Hoher Gerichtshof) wissen, ob die Einlegung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs mit aufschiebender Wirkung durch die Person, die internationalen Schutz beantragt, gegen eine Entscheidung über die Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat nach der Dublin‑III-Verordnung auch eine dem Antragsteller zuzurechnende Verzögerung im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 darstellt. Auch diese Frage sei zu bejahen.

33

Unter diesen Umständen hat der High Court (Hoher Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Darf bei der Auslegung eines Rechtsakts der Union, der in einem bestimmten Mitgliedstaat Anwendung findet, ein Rechtsakt herangezogen werden, der zur gleichen Zeit erlassen wurde, in dem betreffenden Mitgliedstaat aber keine Anwendung findet?

2.

Findet Art. 15 der Richtlinie 2013/33 auf eine Person Anwendung, in Bezug auf die eine Überstellungsentscheidung nach der Dublin‑III-Verordnung ergangen ist?

3.

Darf ein Mitgliedstaat bei der Umsetzung von Art. 15 der Richtlinie 2013/33 eine allgemeine Maßnahme erlassen, die im Ergebnis Antragstellern, die gemäß der Dublin‑III-Verordnung zu überstellen sind, jegliche Verzögerungen bei oder nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung zurechnet?

4.

Kann in dem Fall, dass ein Antragsteller einen Mitgliedstaat verlässt, ohne dort einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt zu haben, und in einen anderen Mitgliedstaat reist, in dem er einen solchen Antrag stellt und in dem in Bezug auf ihn nach der Dublin‑III-Verordnung eine Entscheidung über die Rücküberstellung in den ersten Mitgliedstaat ergeht, die daraus resultierende Verzögerung bei der Bearbeitung des Schutzantrags im Rahmen von Art. 15 der Richtlinie 2013/33 dem Antragsteller zugerechnet werden?

5.

Kann in dem Fall, dass in Bezug auf einen Antragsteller eine Überstellungsentscheidung nach der Dublin‑III-Verordnung ergangen ist, sich die Überstellung aber wegen eines gerichtlichen Überprüfungsverfahrens verzögert, das der Antragsteller angestrengt hat und infolge dessen der High Court (Hoher Gerichtshof) den Vollzug der Überstellungsentscheidung ausgesetzt hat, die daraus resultierende Verzögerung bei der Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen von Art. 15 der Richtlinie 2013/33 dem Antragsteller entweder im Allgemeinen oder insbesondere dann zugerechnet werden, wenn in dem Verfahren festgestellt werden sollte, dass die gerichtliche Überprüfung – offensichtlich oder nicht – unbegründet oder rechtsmissbräuchlich ist?

Rechtssache C‑385/19

34

Frau R.A.T., eine irakische Staatsangehörige, stellte am 7. März 2018 in Irland einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Schreiben vom 2. Oktober 2018 wurde sie von der Entscheidung in Kenntnis gesetzt, sie nach der Dublin‑III-Verordnung in das Vereinigte Königreich zu überstellen. Daraufhin legte sie am 18. Oktober 2018 beim International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung ein. Dieser Rechtsbehelf ist noch anhängig.

35

Herr D.S., ein irakischer Staatsangehöriger, gibt an, dass er den Irak am 1. August 2015 verlassen habe, um über die Türkei und dann über Griechenland nach Österreich zu reisen. Er stellte in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz, verließ diesen Mitgliedstaat jedoch, bevor über seinen Antrag entschieden wurde. Herr D.S. behauptet, im August 2015 in den Irak zurückgekehrt und am 25. Dezember 2015 direkt nach Irland gereist zu sein. Am 8. Februar 2016 stellte er in diesem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz. Es wurde entschieden, ihn gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Dublin‑III-Verordnung nach Österreich zu überstellen, da die zuständige österreichische Behörde der Wiederaufnahme des Betroffenen nach dieser Bestimmung zustimmte. Herr D.S. legte gegen diese Entscheidung einen Rechtsbehelf beim International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) ein, der zurückgewiesen wurde. Herr D.S. strengte ein Verfahren zur gerichtlichen Überprüfung beim High Court (Hoher Gerichtshof) an, das noch anhängig ist.

36

Frau R.A.T. und Herr D.S. beantragten gemäß Regulation 11 der Verordnung von 2018 die Erlaubnis für den Zugang zum Arbeitsmarkt. Ihr Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass gegen sie eine Entscheidung zur Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat nach der Dublin‑III-Verordnung ergangen sei und sie daher nicht mehr die Eigenschaft eines „Antragstellers“ hätten, sondern jetzt gemäß der Verordnung von 2018 als „Empfänger“ einzustufen seien. Folglich könne ihnen kein Zugang zum irischen Arbeitsmarkt gewährt werden. Frau R.A.T. und Herr D.S. legten daraufhin beim International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidungen ein, mit denen ihre Anträge abgelehnt wurden. Das vorlegende Gericht hat diesen Rechtsbehelf mit Entscheidungen vom 12. März bzw. 10. April 2019 jeweils für zulässig erklärt.

37

In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Personen, deren Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat gemäß der Dublin‑III-Verordnung beschlossen wurde, eine andere Kategorie als die der „Antragsteller“ im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 darstellen könnten, die daher vom Zugang zum Arbeitsmarkt des Mitgliedstaats, der die Überstellung beantragt hat, ausgeschlossen wäre. Nach Auffassung dieses Gerichts lässt diese Richtlinie keine Unterscheidung zwischen Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, zu, was der Gerichtshof in Rn. 40 des Urteils vom 27. September 2012, Cimade und GISTI (C‑179/11, EU:C:2012:594), bestätigt habe.

38

Zur Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33, insbesondere des Satzteils „diese Verzögerung nicht dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann“, vertritt das International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) die Auffassung, dass der Umstand, dass ein Kläger einen gerichtlichen Rechtsbehelf einlege, um die Gültigkeit einer ihn beschwerenden Entscheidung anzufechten, nicht automatisch als ihm zur Last zu legende Verzögerung im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden könne.

39

Das International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) weist im Übrigen darauf hin, dass es nach der Verkündung des Urteils vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána (C‑378/17, EU:C:2018:979), die Auffassung vertreten habe, dass die Verordnung von 2018 gegen Art. 15 der Richtlinie 2013/33 verstoße, und daher beschlossen habe, diese Richtlinie anstelle der nationalen Bestimmungen anzuwenden, was zur Folge habe, dass den betroffenen Klägern Zugang zum irischen Arbeitsmarkt gewährt werde.

40

Unter diesen Umständen hat das International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sieht Art. 15 der Richtlinie 2013/33 verschiedene Kategorien von „Antragstellern“ vor?

2.

Welches Verhalten stellt eine Verzögerung, die dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann, im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 dar?

Verfahren vor dem Gerichtshof

41

Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 14. Juni 2019 sind die Rechtssachen C‑322/19 und C‑385/19 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

42

Mit gesondertem Beschluss vom 23. April 2019 hat der High Court (Hoher Gerichtshof) beantragt, die Rechtssache C‑322/19 dem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. Das International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) hat in seinem Vorlagebeschluss vom 16. Mai 2019 den gleichen Antrag in der Rechtssache C‑385/19 gestellt.

43

Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen der Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

44

Zur Stützung ihrer Ersuchen weisen die vorlegenden Gerichte darauf hin, dass sich die Kläger des Ausgangsverfahrens hinsichtlich ihres Rechts auf Zugang zum Arbeitsmarkt und ihres Familienlebens in einem Zustand der Unsicherheit befänden, der durch divergierende Entscheidungen der irischen Gerichte über die Anwendung der Richtlinie 2013/33 noch verschärft werde. Eine sehr rasche Antwort des Gerichtshofs würde es ermöglichen, diesen Zustand der Unsicherheit zu beenden.

45

Diese Gerichte weisen ferner darauf hin, dass das in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt nach der Richtlinie 2013/33 unter das in Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) garantierte Recht auf Menschenwürde falle.

46

Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 22. Mai 2019 in der Rechtssache C‑322/19 und am 14. Juni 2019 in der Rechtssache C‑385/19 beschlossen, die in Rn. 42 des vorliegenden Urteils genannten Anträge der vorlegenden Gerichte gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung zurückzuweisen.

47

Diese Entscheidungen werden zunächst damit begründet, dass die von den Klägern des Ausgangsverfahrens geltend gemachte Rechtsunsicherheit und ihr berechtigtes Interesse daran, so schnell wie möglich über die Tragweite der ihnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte zu befinden, als solche keinen außergewöhnlichen Umstand darstellen können, der den Rückgriff auf das beschleunigte Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung rechtfertigen könnte (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 18. Januar 2019, Adusbef u. a., C‑686/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:68‚ Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48

Anders als in dem vom High Court (Hoher Gerichtshof) angeführten Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 17. April 2008, Metock u. a. (C‑127/08, nicht veröffentlicht, EU:C:2008:235), in dem Ehepaaren die Möglichkeit genommen wurde, ein normales Familienleben zu führen, geht aus den Vorlagebeschlüssen nicht hervor, dass dies hier der Fall wäre. Desgleichen war in der Rechtssache, in der der Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 9. September 2011, Dereci u. a. (C‑256/11, nicht veröffentlicht, EU:C:2011:571, Rn. 15), ergangen ist, der ebenfalls vom High Court (Hoher Gerichtshof) angeführt worden ist, zumindest einem der Kläger die aufschiebende Wirkung seines Rechtsbehelfs gegen seine Ausweisungsverfügung versagt worden, so dass die Abschiebung des Betroffenen jederzeit erfolgen konnte. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass diese drohende Ausweisung ihm die Möglichkeit nimmt, ein normales Familienleben zu führen. In den Ausgangsverfahren ist den Antragstellern jedoch nicht ihre Freiheit entzogen und sind die gegen sie ergangenen Überstellungsentscheidungen bis zum Erlass eines rechtskräftigen Urteils ausgesetzt worden.

49

Sodann ist klarzustellen, dass Abweichungen bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts innerhalb der nationalen Gerichtsbarkeit für sich allein nicht ausreichen können, um das Vorabentscheidungsersuchen einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen. Die Bedeutsamkeit der Sicherstellung einer innerhalb der Europäischen Union einheitlichen Anwendung aller Bestimmungen, die Teil ihrer Rechtsordnung sind, ist nämlich jedem Ersuchen nach Art. 267 AEUV immanent (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 17. September 2018, Lexitor, C‑383/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:769, Rn. 16).

50

Schließlich geht aus den Vorlageentscheidungen nicht hervor, dass den Klägern der Ausgangsverfahren die durch die Richtlinie 2013/33 gewährleisteten materiellen Leistungen im Rahmen der Aufnahme vorenthalten würden. Folglich ist ihre Situation nicht so prekär, dass eine Behandlung der Vorabentscheidungsersuchen im beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung gerechtfertigt wäre.

Zu den Vorlagefragen

Zur Zulässigkeit der dritten in der Rechtssache C‑322/19 aufgeworfenen Frage

51

Mit seiner dritten Frage in der Rechtssache C‑322/19 möchte der High Court (Hoher Gerichtshof) im Wesentlichen wissen, ob ein Mitgliedstaat im Rahmen der Umsetzung von Art. 15 der Richtlinie 2013/33 eine allgemeine Maßnahme erlassen darf, mit der der Person, die internationalen Schutz beantragt hat und deren Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat nach der Dublin‑III-Verordnung beantragt wurde, jede Verzögerung beim Erlass einer Überstellungsentscheidung zur Last gelegt wird.

52

Zunächst ist festzustellen, dass aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervorgeht, dass eine solche allgemeine Umsetzungsmaßnahme in den Ausgangsverfahren in Rede steht.

53

Zwar spricht für die Vorlagefragen zum Unionsrecht eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit, doch liegt die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (Urteile vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 28, und vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 44).

54

Jedenfalls betrifft, wie die Kommission zu Recht ausführt, die Verzögerung nach Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie den Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz und nicht den Erlass einer Überstellungsentscheidung im Sinne der Dublin‑III-Verordnung.

55

Nach alledem ist die dritte Frage in der Rechtssache C‑322/19, da sie in Wirklichkeit auf ein Gutachten des Gerichtshofs abzielt, unzulässig.

Zur Sache

Zur ersten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑322/19

56

Mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C‑322/19 möchte der High Court (Hoher Gerichtshof) im Wesentlichen wissen, ob ein nationales Gericht die Richtlinie 2013/32, die nach den Art. 1 und 2 sowie Art. 4a Abs. 1 des Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Mitgliedstaat dieses Gerichts nicht anwendbar ist, berücksichtigen darf, wenn es die Bestimmungen der Richtlinie 2013/33 auslegt, die ihrerseits nach Art. 4 des Protokolls in diesem Mitgliedstaat anwendbar ist.

57

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangen sowohl die einheitliche Anwendung des Unionsrechts als auch der Gleichheitssatz, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen sind, wobei diese Auslegung unter Berücksichtigung nicht nur des Wortlauts der Bestimmung, sondern auch ihres Regelungszusammenhangs und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Zwecks zu erfolgen hat (Urteil vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58

Außerdem sind die Bestimmungen der Richtlinie 2013/32 in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die beiden betreffenden Instrumente zum selben rechtlichen Korpus gehören, nämlich dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem, für die Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2013/33 relevante und notwendige Gesichtspunkte des Regelungszusammenhangs.

59

Unter diesen Umständen ist bei der Auslegung der im Mitgliedstaat des vorlegenden Gerichts nach dem Protokoll Nr. 21 anwendbaren Richtlinie 2013/33 die Richtlinie 2013/32 auch dann zu berücksichtigen, wenn sie nach diesem Protokoll in diesem Mitgliedstaat nicht anwendbar ist, um eine einheitliche Auslegung und Anwendung der Bestimmungen der erstgenannten Richtlinie in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten.

60

Daher ist auf die erste Frage in der Rechtssache C‑322/19 zu antworten, dass ein nationales Gericht die Richtlinie 2013/32, die nach den Art. 1 und 2 sowie Art. 4a Abs. 1 des Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Mitgliedstaat dieses Gerichts nicht anwendbar ist, berücksichtigen muss, wenn es die Bestimmungen der Richtlinie 2013/33 auslegt, die ihrerseits nach Art. 4 des Protokolls in diesem Mitgliedstaat anwendbar ist.

Zur zweiten Frage in der Rechtssache C‑322/19 und zur ersten Frage in der Rechtssache C‑385/19

61

Mit der zweiten Frage in der Rechtssache C‑322/19 und der ersten Frage in der Rechtssache C‑385/19, die zusammen zu prüfen sind, möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 15 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die einen Antragsteller im Sinne von Art. 2 Buchst. b dieser Richtlinie vom Zugang zum Arbeitsmarkt allein deshalb ausschließt, weil gegen ihn eine Überstellungsentscheidung nach der Dublin‑III-Verordnung ergangen ist.

62

Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 dafür Sorge tragen, dass die Antragsteller unter den in dieser Bestimmung vorgesehenen Bedingungen Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Soweit diese Bestimmung auf den Zugang zum Arbeitsmarkt zugunsten der „Antragsteller“ abzielt, ist auf die Definition dieses Begriffs in Art. 2 Buchst. b dieser Richtlinie zu verweisen.

63

Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/33 definiert den „Antragsteller“ als „einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde“. Mit der Verwendung des unbestimmten Artikels „einen“ stellt der Unionsgesetzgeber, wie der Generalanwalt in Nr. 54 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, klar, dass kein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser von vornherein vom Status eines Antragstellers ausgeschlossen ist.

64

Ferner unterscheidet Art. 2 Buchst. b nicht danach, ob der Antragsteller nach der Dublin‑III-Verordnung Gegenstand eines Verfahrens zur Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat ist oder nicht. Nach dieser Bestimmung behält der Antragsteller diesen Status nämlich, soweit über seinen Antrag auf internationalen Schutz „noch nicht endgültig entschieden wurde“. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 55 bis 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, stellt eine Überstellungsentscheidung jedoch keine Entscheidung dar, mit der endgültig über einen Antrag auf internationalen Schutz entschieden wird, so dass ihr Erlass nicht zur Folge haben kann, dass der Betroffene seine Eigenschaft als „Antragsteller“ im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/33 verliert.

65

Diese wörtliche Auslegung steht zweitens im Einklang mit der Absicht des Unionsgesetzgebers, wie sie sich aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 ergibt, wonach diese in allen Phasen und auf alle Arten von Verfahren, die Anträge auf internationalen Schutz betreffen und so lange, wie die Antragsteller als solche im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats bleiben dürfen, Anwendung findet. Daraus folgt, dass Antragsteller, die Gegenstand der durch die Dublin‑III-Verordnung eingeführten „Verfahren betreffend Anträge auf internationalen Schutz“ sind, offensichtlich in den persönlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie und damit in den ihres Art. 15 fallen.

66

Diese Auslegung wird auch durch zwei weitere Instrumente bestätigt, die ebenso wie die Richtlinie 2013/33 zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem gehören, nämlich die Richtlinie 2013/32 und die Dublin‑III-Verordnung. Nach dem 27. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 stellen nämlich Drittstaatsangehörige und Staatenlose, die ihren Wunsch bekundet haben, internationalen Schutz zu beantragen, Antragsteller dar. Daher sollten sie die Rechte genießen, die in dieser Richtlinie und in der Richtlinie 2013/33 vorgesehen sind. Ebenso heißt es im elften Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung ausdrücklich, dass die Richtlinie 2013/33 auf das Verfahren zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats nach Maßgabe dieser Verordnung Anwendung finden sollte. Ein solches Verfahren findet aber in der Praxis in dem Mitgliedstaat statt, der die Überstellung des Antrags in einen anderen Mitgliedstaat verlangt, und zwar bis zur Aufnahme oder Wiederaufnahme des Antragstellers durch den ersuchten Mitgliedstaat, wenn sich herausstellt, dass dieser tatsächlich nach dieser Verordnung für die Prüfung dieses Antrags zuständig ist.

67

Diese Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 steht drittens im Einklang mit dem Urteil vom 27. September 2012, Cimade und GISTI (C‑179/11, EU:C:2012:594), betreffend die Verpflichtung des Mitgliedstaats, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gemäß der Richtlinie 2003/9, die durch die Richtlinie 2013/33 aufgehoben und ersetzt wurde, gestellt wurde, dem Antragsteller während der Dauer des Verfahrens zur Aufnahme oder Wiederaufnahme durch den nach der Vorgängerverordnung der Dublin‑III-Verordnung für die Prüfung dieses Antrags zuständigen Mitgliedstaat Mindestbedingungen für die Aufnahme zu garantieren. Der Gerichtshof hat in Rn. 40 dieses Urteils festgestellt, dass die Art. 2 und 3 der Richtlinie 2003/9, die im Wesentlichen den Art. 2 und 3 der Richtlinie 2013/33 entsprechen, nur eine Kategorie von Antragstellern vorsehen, die alle Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen umfasst, die einen Antrag auf internationalen Schutz stellen. In Rn. 53 dieses Urteils hat der Gerichtshof im Wesentlichen klargestellt, dass der Antragsteller diese Eigenschaft behält, solange noch keine endgültige Entscheidung über seinen Antrag ergangen ist. Schließlich hat der Gerichtshof in Rn. 58 des Urteils hervorgehoben, dass die Verpflichtung des mit einem solchen Antrag befassten Mitgliedstaats, die in der Richtlinie 2003/9 festgelegten Mindestvoraussetzungen zu gewähren, erst mit der tatsächlichen Überstellung des Asylbewerbers durch den ersuchenden Mitgliedstaat endet.

68

Zwar stellt der Zugang zum Arbeitsmarkt streng genommen keine im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistung im Sinne von Art. 2 Buchst. g der Richtlinie 2013/33 dar, doch fällt er unter die im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteile im Sinne von Art. 2 Buchst. f, unter denen sämtliche Maßnahmen zu verstehen sind, die die Mitgliedstaaten im Einklang mit dieser Richtlinie zugunsten von Personen treffen, die internationalen Schutz beantragt haben und über deren Antrag noch nicht endgültig entschieden wurde. Folglich erlischt die Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33, dem Antragsteller Zugang zum Arbeitsmarkt zu gewähren, erst mit dessen endgültiger Überstellung in den ersuchten Mitgliedstaat.

69

Viertens heißt es im elften Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33, dass Normen für die Aufnahme von Antragstellern festgelegt werden sollten, die diesen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen und vergleichbare Lebensbedingungen in allen Mitgliedstaaten gewährleisten. Der Gerichtshof hat ferner klargestellt, dass das Erfordernis der Achtung der Menschenwürde nicht nur gegenüber Asylbewerbern gilt, die sich bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag im Hoheitsgebiet des zuständigen Mitgliedstaats aufhalten, sondern auch gegenüber solchen, die auf die Bestimmung des für diesen Antrag zuständigen Mitgliedstaats warten (Urteil vom 27. September 2012, Cimade und GISTI, C‑179/11, EU:C:2012:594, Rn. 43). Wie der Generalanwalt in Nr. 85 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, trägt die Arbeit in offenkundiger Weise zur Wahrung der Würde des Antragstellers bei, da die Einkünfte aus einer Beschäftigung es ihm ermöglichen, nicht nur seinen eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern auch, über eine Unterkunft außerhalb der Aufnahmeeinrichtungen zu verfügen, in der er gegebenenfalls seine Familie aufnehmen kann.

70

Darüber hinaus heißt es im 23. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33, dass eines der Ziele dieser Richtlinie darin besteht, die „wirtschaftliche Unabhängigkeit von Antragstellern zu fördern“. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass, wie die Kommission in ihrem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. Dezember 2008 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (COM[2008] 815 final) hervorgehoben hat, der Zugang zum Arbeitsmarkt sowohl der Person, die internationalen Schutz beantragt, als auch dem Aufnahmemitgliedstaat zugutekommt. Eine Vereinfachung des Zugangs dieser Antragsteller zum Arbeitsmarkt kann der aufgrund ihrer prekären Lage besonders großen Gefahr der Isolation und der sozialen Ausgrenzung vorbeugen. Dadurch wird auch die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Antragstellern gefördert, welches eines der Ziele der Richtlinie 2013/33 ist.

71

Umgekehrt widerspricht es diesem Ziel, dem Antragsteller den Zugang zum Arbeitsmarkt zu verwehren, abgesehen davon, dass dadurch dem betreffenden Mitgliedstaat wegen der Zahlung zusätzlicher Sozialleistungen Kosten aufgebürdet werden. Das Gleiche gilt, wenn einem Antragsteller, gegen den eine Überstellungsentscheidung ergangen ist, während des gesamten Zeitraums zwischen der Einreichung seines Antrags auf internationalen Schutz und dem Zeitpunkt der Zustimmung zu seiner Überstellung in den ersuchten Mitgliedstaat der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt wird; hinzu kommt der Zeitraum für die Prüfung seines Antrags selbst, der bis zu sechs Monate ab dem Zeitpunkt der Zustimmung zur Überstellung durch den ersuchten Mitgliedstaat betragen kann.

72

Somit fallen Antragsteller im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/33, gegen die nach der Dublin‑III-Verordnung eine Überstellungsentscheidung ergangen ist, in den persönlichen Anwendungsbereich des Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie.

73

Nach alledem ist auf die zweite Frage in der Rechtssache C‑322/19 und die erste Frage in der Rechtssache C‑385/19 zu antworten, dass Art. 15 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die einen Antragsteller vom Zugang zum Arbeitsmarkt allein deshalb ausschließt, weil ihm gegenüber eine Überstellungsentscheidung nach der Dublin‑III-Verordnung ergangen ist.

Zur zweiten Frage in der Rechtssache C‑385/19

74

Mit der zweiten Frage in der Rechtssache C‑385/19 möchte das International Protection Appeals Tribunal (Gericht für Rechtsbehelfe in Sachen des internationalen Schutzes) im Wesentlichen wissen, welches Verhalten eine Verzögerung darstellen kann, die dem Antragsteller im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 zur Last gelegt werden kann.

75

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 99 ff. seiner Schlussanträge festgestellt hat, enthält die Richtlinie 2013/33 insoweit keinen Hinweis.

76

Daher ist auf die gemeinsamen Verfahrensregeln für die Zuerkennung des internationalen Schutzes zu verweisen, die durch die Richtlinie 2013/32 eingeführt worden sind, die, wie in Rn. 60 des vorliegenden Urteils festgestellt, bei der Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2013/33 zu berücksichtigen ist.

77

So ergibt sich aus Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32, dass eine Verzögerung bei der Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz dem Antragsteller zur Last zu legen ist, wenn er seinen Pflichten nach Art. 13 nicht nachgekommen ist. Diese Bestimmung sieht vor, dass der Antragsteller verpflichtet ist, mit den zuständigen Behörden bei der Feststellung seiner Identität und anderer in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 genannter Angaben, d. h. zu Alter und familiären und sozialen Verhältnissen – auch der betroffenen Verwandten –, Staatsangehörigkeit(en), Land/Ländern und Ort(en) des früheren Aufenthalts, früheren Asylanträgen, Reisewegen und Reisedokumenten sowie zu den Gründen für seinen Antrag auf internationalen Schutz, verpflichtet ist. Die Pflicht des Antragstellers zur Zusammenarbeit setzt voraus, dass er die geforderten Nachweise und gegebenenfalls die verlangten Erklärungen und Auskünfte vorlegt (Urteil vom 14. September 2017, K., C‑18/16, EU:C:2017:680, Rn. 38).

78

Art. 13 der Richtlinie 2013/32 erlaubt es den Mitgliedstaaten auch, den Antragstellern weitere Verpflichtungen aufzuerlegen, die für die Bearbeitung des Antrags erforderlich sind, wie u. a. die Pflicht, sich bei den zuständigen Behörden zu melden oder zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort persönlich vorstellig zu werden oder die Behörden über seinen Aufenthaltsort zu informieren, und sie können vorsehen, dass die zuständigen Behörden ihn durchsuchen, ein Lichtbild von ihm anfertigen und seine mündlichen Aussagen aufzeichnen dürfen.

79

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich im Wesentlichen, dass eine Verzögerung bei der Bearbeitung eines Antrags auf internationalen Schutz dem Antragsteller zur Last gelegt werden kann, wenn er es unterlassen hat, mit den zuständigen nationalen Behörden zusammenzuarbeiten. In Anbetracht des in den Rn. 57 ff. des vorliegenden Urteils angeführten Gebots einer einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts ist diese Auslegung auch dann geboten, wenn die Richtlinie 2013/32 in dem betreffenden Mitgliedstaat aufgrund eines spezifischen abweichenden Rechtsakts, in diesem Fall des Protokolls Nr. 21, nicht anwendbar ist.

80

Nach alledem ist auf die zweite Frage in der Rechtssache C‑385/19 zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass dem Antragsteller eine Verzögerung beim Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz zur Last gelegt werden darf, die auf eine mangelnde Zusammenarbeit dieses Antragstellers mit den zuständigen Behörden zurückzuführen ist.

Zur vierten Frage in der Rechtssache C‑322/19

81

Mit der vierten Frage in der Rechtssache C‑322/19 möchte der High Court (Hoher Gerichtshof) im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat einem Antragsteller die Verzögerung beim Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz deshalb zur Last legen darf, weil dieser Antragsteller seinen Antrag nicht im Mitgliedstaat der ersten Einreise gestellt hat.

82

Insoweit ist zum einen festzustellen, dass, wie der Generalanwalt in den Nrn. 110 und 112 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, keine Bestimmung der Dublin‑III-Verordnung einen Antragsteller verpflichtet, seinen Antrag im Mitgliedstaat der ersten Einreise zu stellen.

83

Zum anderen ist daran zu erinnern, dass nach Art. 3 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung der Antrag auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft wird, nämlich von dem Mitgliedstaat, der nach den in Kapitel III dieser Verordnung hierarchisch geordneten Kriterien als zuständig bestimmt wird. Der Mitgliedstaat der ersten Einreise ist aber nicht automatisch der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat. Dieser ist anhand der Kriterien des Art. 7 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung zu bestimmen.

84

Unter diesen Umständen kann einem Antragsteller, der einen Mitgliedstaat verlässt, ohne einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt zu haben, und der einen solchen Antrag in einem anderen Mitgliedstaat stellt, die hieraus möglicherweise resultierende Verzögerung der Prüfung seines Antrags allein aufgrund dieser Tatsache nicht zur Last gelegt werden.

85

Nach alledem ist auf die vierte Frage in der Rechtssache C‑322/19 zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat einem Antragsteller die Verzögerung beim Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz nicht deshalb zur Last legen darf, weil dieser Antragsteller seinen Antrag nicht gemäß Art. 13 der Dublin‑III-Verordnung im Mitgliedstaat der ersten Einreise gestellt hat.

Zur fünften Frage in der Rechtssache C‑322/19

86

Mit der fünften Frage in der Rechtssache C‑322/19 möchte der High Court (Hoher Gerichtshof) wissen, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat einem Antragsteller die Verzögerung bei der Bearbeitung seines Antrags auf internationalen Schutz zur Last legen darf, die sich daraus ergibt, dass er gemäß der Dublin‑III-Verordnung gegen die gegen ihn ergangene Überstellungsentscheidung einen gerichtlichen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung eingelegt hat.

87

Erstens ist daran zu erinnern, dass Art. 27 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung die Mitgliedstaaten verpflichtet, in ihrem innerstaatlichen Recht vorzusehen, dass zum einen der Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, das Recht verleiht, bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu bleiben, und zum anderen, dass die Überstellung automatisch ausgesetzt wird.

88

Diese Bestimmungen sind im Licht des 19. Erwägungsgrundes der Dublin‑III-Verordnung auszulegen, wonach im Einklang insbesondere mit Art. 47 der Charta Rechtsgarantien und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden sollten, um einen wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu gewährleisten. So ist zum einen entschieden worden, dass der Unionsgesetzgeber nicht die Absicht hatte, den Rechtsschutz von Personen, die internationalen Schutz beantragen, dem Erfordernis einer zügigen Bearbeitung ihres Antrags zu opfern, indem er ihnen einen wirksamen und vollständigen Rechtsschutz garantiert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Juni 2016, Ghezelbash, C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 57, und vom 31. Mai 2018, Hassan, C‑647/16, EU:C:2018:368, Rn. 57), und zum anderen, dass eine restriktive Auslegung der Reichweite des in Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Rechts auf einen Rechtsbehelf der Erreichung dieses Ziels entgegenstehen könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juli 2017, Mengesteab, C‑670/16, EU:C:2017:587, Rn. 46 und 47).

89

Daraus folgt, dass die Ausübung des Rechts des Antragstellers auf einen Rechtsbehelf gegen eine gegen ihn ergangene Überstellungsentscheidung als solche keine vorwerfbare Verzögerung im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 darstellen kann. Abs. 3 dieser Vorschrift stellt im Übrigen klar, dass einem Antragsteller der Zugang zum Arbeitsmarkt während des Rechtsbehelfsverfahrens nicht entzogen werden darf. Dies muss auch dann gelten, wenn ein Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung nach Art. 27 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung eingelegt wurde.

90

Zweitens kann ohne eine Prüfung der Umstände des Einzelfalls durch das nationale Gericht nicht vermutet werden, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung einen Rechtsmissbrauch darstellt.

91

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Nachweis eines Missbrauchs zum einen voraussetzt, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und zum anderen ein subjektives Element voraussetzt, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden (Urteil vom 18. Dezember 2014, McCarthy u. a.,C‑202/13, EU:C:2014:2450‚ Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

92

Der Gerichtshof hat ferner klargestellt, dass der Umstand, dass sich ein Mitgliedstaat gegebenenfalls mit einer hohen Zahl von Rechtsmissbrauchs- oder Betrugsfällen durch Drittstaatsangehörige konfrontiert sieht, den Erlass einer Maßnahme, die unter Ausschluss jeder spezifischen Beurteilung des eigenen Verhaltens der Betroffenen auf generalpräventiven Erwägungen beruht, nicht rechtfertigen kann. Der Erlass von Maßnahmen, mit denen bei verbreiteten Rechtsmissbrauchs- oder Betrugsfällen ein Ziel der Generalprävention verfolgt wird, würde nämlich implizieren, dass die bloße Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe von Personen es den Mitgliedstaaten gestatten würde, die Anerkennung eines durch das Unionsrecht ausdrücklich verliehenen Rechts zu verweigern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, McCarthy u. a., C‑202/13, EU:C:2014:2450, Rn. 55 und 56).

93

Nach alledem ist auf die fünfte Frage in der Rechtssache C‑322/19 zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat einem Antragsteller die Verzögerung bei der Bearbeitung seines Antrags auf internationalen Schutz, die sich daraus ergibt, dass er gemäß der Dublin‑III-Verordnung gegen die gegen ihn ergangene Überstellungsentscheidung einen gerichtlichen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung eingelegt hat, nicht zur Last legen darf.

Kosten

94

Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Ein nationales Gericht muss die Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, die nach den Art. 1 und 2 sowie Art. 4a Abs. 1 des Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Mitgliedstaat dieses Gerichts nicht anwendbar ist, berücksichtigen, wenn es die Bestimmungen der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, auslegt, die ihrerseits nach Art. 4 des Protokolls in diesem Mitgliedstaat anwendbar ist.

 

2.

Art. 15 der Richtlinie 2013/33 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die einen Antragsteller vom Zugang zum Arbeitsmarkt allein deshalb ausschließt, weil ihm gegenüber eine Überstellungsentscheidung nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ergangen ist.

 

3.

Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33 ist dahin auszulegen, dass

dem Antragsteller eine Verzögerung beim Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz zur Last gelegt werden darf, die auf eine mangelnde Zusammenarbeit dieses Antragstellers mit den zuständigen Behörden zurückzuführen ist;

ein Mitgliedstaat einem Antragsteller die Verzögerung beim Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz nicht deshalb zur Last legen darf, weil dieser Antragsteller seinen Antrag nicht gemäß Art. 13 der Verordnung Nr. 604/2013 im Mitgliedstaat der ersten Einreise gestellt hat;

ein Mitgliedstaat einem Antragsteller die Verzögerung bei der Bearbeitung seines Antrags auf internationalen Schutz, die sich daraus ergibt, dass er gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 gegen die gegen ihn ergangene Überstellungsentscheidung einen gerichtlichen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung eingelegt hat, nicht zur Last legen darf.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

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