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Document 62019CJ0120

Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 20. Mai 2021.
X gegen College van burgemeester en wethouders van de gemeente Purmerend.
Vorabentscheidungsersuchen der Raad van State (Niederlande).
Vorlage zur Vorabentscheidung – Beförderung gefährlicher Güter im Binnenland – Richtlinie 2008/68/EG – Art. 5 Abs. 1 – Begriff ‚Bauvorschrift‘ – Verbot strengerer Bauvorschriften – Mitgliedstaatliche Behörde, die einer LPG-Tankstelle vorschreibt, sich nur durch Tankwagen, die mit einer nicht im ADR vorgesehenen besonderen hitzeabweisenden Ummantelung ausgerüstet sind, mit Flüssiggas beliefern zu lassen – Unzulässigkeit – Entscheidung, die von einer Kategorie von Rechtsunterworfenen rechtlich nicht angefochten werden kann – Eng umgrenzte Möglichkeit, die Aufhebung einer solchen Entscheidung bei einem offensichtlichen Verstoß gegen das Unionsrecht zu erwirken – Grundsatz der Rechtssicherheit – Effektivitätsgrundsatz.
Rechtssache C-120/19.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:398

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

20. Mai 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Beförderung gefährlicher Güter im Binnenland – Richtlinie 2008/68/EG – Art. 5 Abs. 1 – Begriff ‚Bauvorschrift‘ – Verbot strengerer Bauvorschriften – Mitgliedstaatliche Behörde, die einer LPG-Tankstelle vorschreibt, sich nur durch Tankwagen, die mit einer nicht im ADR vorgesehenen besonderen hitzeabweisenden Ummantelung ausgerüstet sind, mit Flüssiggas beliefern zu lassen – Unzulässigkeit – Entscheidung, die von einer Kategorie von Rechtsunterworfenen rechtlich nicht angefochten werden kann – Eng umgrenzte Möglichkeit, die Aufhebung einer solchen Entscheidung bei einem offensichtlichen Verstoß gegen das Unionsrecht zu erwirken – Grundsatz der Rechtssicherheit – Effektivitätsgrundsatz“

In der Rechtssache C‑120/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 30. Januar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Februar 2019, in dem Verfahren

X

gegen

College van burgemeester en wethouders van de gemeente Purmerend,

Beteiligte:

Tamoil Nederland BV,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter N. Wahl (Berichterstatter) und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi sowie des Richters J. Passer,

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

des College van burgemeester en wethouders van de gemeente Purmerend, vertreten durch J. R. van Angeren, advocaat,

der niederländischen Regierung, vertreten durch C. S. Schillemans, M. K. Bulterman und H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch D. Klebs und J. Möller als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Nijenhuis und N. Yerrell als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. Januar 2021

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. September 2008 über die Beförderung gefährlicher Güter im Binnenland (ABl. 2008, L 260, S. 13) in der durch die Richtlinie 2014/103/EU der Kommission vom 21. November 2014 (ABl. 2014, L 335, S. 15) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2008/68).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X und dem College van burgemeester en wethouders van de gemeente Purmerend (Kollegium des Bürgermeisters und der Beigeordneten der Gemeinde Purmerend, Niederlande) (im Folgenden: Kollegium) wegen einer Entscheidung, mit der das Kollegium die Erfordernisse hinsichtlich der Belieferung einer im Gemeindegebiet befindlichen Tankstelle mit Flüssiggas (LPG) festgelegt hat.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 1, 5, 11 und 22 der Richtlinie 2008/68 heißt es:

„(1)

Von der Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße, der Schiene oder Binnenwasserstraßen geht eine erhebliche Unfallgefahr aus. Daher sollten Maßnahmen getroffen werden, um zu gewährleisten, dass diese Beförderungen unter den bestmöglichen Sicherheitsbedingungen erfolgen.

(5)

I[m am 30. September 1957 in Genf geschlossenen Europäischen Übereinkommen über die internationale Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße (ADR)] … sind einheitliche Vorschriften für die grenzüberschreitende Beförderung gefährlicher Güter festgelegt. Diese Vorschriften sollten auch auf die innerstaatliche Beförderung ausgeweitet werden, um die Bedingungen für die Beförderung gefährlicher Güter gemeinschaftsweit zu harmonisieren und das reibungslose Funktionieren des Verkehrsbinnenmarkts zu gewährleisten. …

(11)

Jeder Mitgliedstaat sollte auch künftig das Recht haben, aus anderen Gründen als der Sicherheit der Beförderung, z. B. aus Gründen der nationalen Sicherheit oder des Umweltschutzes, die Beförderung gefährlicher Güter auf seinem Hoheitsgebiet zu regeln oder zu untersagen.

(22)

Da die Ziele dieser Richtlinie, nämlich die Gewährleistung der einheitlichen Anwendung der harmonisierten Sicherheitsbestimmungen in der gesamten Gemeinschaft sowie eines hohen Sicherheitsniveaus im innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Verkehr, auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden kann und daher wegen des Umfangs und der Wirkungen dieser Richtlinie besser auf Gemeinschaftsebene zu verwirklichen sind, kann die Gemeinschaft im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. …“

4

Art. 1 Abs. 1 und 5 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)   Diese Richtlinie gilt für die Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße, mit der Eisenbahn oder auf Binnenwasserstraßen innerhalb eines Mitgliedstaats oder von einem Mitgliedstaat in einen anderen, einschließlich der vom Anhang erfassten Tätigkeiten des Ein- und Ausladens der Güter, des Umschlags auf einen oder von einem anderen Verkehrsträger sowie der transportbedingten Aufenthalte.

(5)   Die Mitgliedstaaten können ausschließlich aus Gründen, die nicht mit der Sicherheit der Beförderung in Zusammenhang stehen, die Beförderung gefährlicher Güter in ihrem Hoheitsgebiet regeln oder untersagen.“

5

Art. 3 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)   Unbeschadet des Artikels 6 dürfen gefährliche Güter nicht befördert werden, soweit dies durch Anhang I Abschnitt I.1, Anhang II Abschnitt II.1 oder Anhang III Abschnitt III.1 untersagt ist.

(2)   Unbeschadet der allgemeinen Regeln für den Marktzugang oder der allgemein geltenden Regelungen für die Güterbeförderung ist die Beförderung gefährlicher Güter vorbehaltlich der Einhaltung der in Anhang I Abschnitt I.1, Anhang II Abschnitt II.1 und Anhang III Abschnitt III.1 festgelegten Bedingungen zulässig.“

6

Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten können aus Gründen der Sicherheit der Beförderung strengere Vorschriften, mit Ausnahme von Bauvorschriften, auf die innerstaatliche Beförderung gefährlicher Güter mit Fahrzeugen, Eisenbahnwagen und Binnenschiffen anwenden, die in ihrem Hoheitsgebiet zugelassen oder in Betrieb genommen werden.“

7

Art. 6 der Richtlinie 2008/68 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten u. a. von bestimmten Vorschriften in den Anhängen dieser Richtlinie abweichen können.

8

Anhang I dieser Richtlinie erklärt die Anhänge A und B des ADR in der am 1. Januar 2015 geltenden Fassung (im Folgenden: ADR 2015) für anwendbar.

9

Im einzigen Erwägungsgrund des ADR 2015 heißt es, dass die Vertragsparteien bestrebt sind, „die Sicherheit des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs zu erhöhen“, während Art. 3 des ADR 2015 bestimmt, dass die Anhänge dieses Übereinkommens wesentliche Bestandteile des Übereinkommens sind.

10

Anhang A Teil 1 Kapitel 1.2 Abs. 1.2.1 des ADR 2015 definiert den Tankkörper als „[den] Teil des Tanks, der den zu befördernden Stoff enthält, einschließlich der Öffnungen und ihrer Verschlüsse, jedoch mit Ausnahme der Bedienungsausrüstung und der äußeren baulichen Ausrüstung“.

11

Die Tabelle A in Teil 3 Abs. 3.2 des ADR 2015 enthält die Liste der gefährlichen Güter und führt u. a. aus:

UN-Nummer

Benennung und Beschreibung

Klasse

ADR-Tanks

Tankcodierung

4.3

Sondervorschriften

4.3.5, 6.8.4

(1)

(2)

(3a)

(12)

(13)

1075

PETROLEUMGASE, VERFLÜSSIGT

2

PxBN(M)

TA4

TT9

TT11

12

Kapitel 4.3 des Anhangs A Abs. 4 des ADR 2015 trägt die Überschrift „Verwendung von festverbundenen Tanks (Tankfahrzeugen), Aufsetztanks, Tankcontainern und Tankwechselaufbauten (Tankwechselbehältern), deren Tankkörper aus metallenen Werkstoffen hergestellt sind, sowie von Batterie-Fahrzeugen und Gascontainern mit mehreren Elementen (MEGC)“. In Abs. 4.3.2.1.2 dieses Kapitels heißt es:

„Der erforderliche Typ eines Tanks, eines Batterie-Fahrzeugs und eines MEGC wird in Kapitel 3.2 Tabelle A Spalte 12 in kodierter Form angegeben. … Die Erläuterungen für die vier Teile des Codes sind in Absatz 4.3.3.1.1 (wenn der zu befördernde Stoff ein Stoff der Klasse 2 ist) … angegeben.“

13

Anhang A Teil 4 Kapitel 4.3 Abs. 4.3.3.1.1 des ADR 2015 enthält die folgende Tabelle:

Teil

Beschreibung

Tankcodierung

1

Tanktyp/Typ des Batterie-Fahrzeugs oder des MEGC

P = Tank, Batterie-Fahrzeug oder MEGC für verflüssigte oder gelöste Gase

14

Kapitel 6.8 des Anhangs A Teil 6 des ADR 2015 trägt die Überschrift „Vorschriften für den Bau, die Ausrüstung, die Zulassung des Baumusters, die Prüfung und die Kennzeichnung von festverbundenen Tanks (Tankfahrzeugen), Aufsetztanks, Tankcontainern und Tankwechselaufbauten (Tankwechselbehältern), deren Tankkörper aus metallenen Werkstoffen hergestellt sind, sowie von Batterie-Fahrzeugen und Gascontainern mit mehreren Elementen (MEGC)“. Abs. 6.8.2.1.9 dieses Kapitels gehört zu den „Vorschriften für den Bau“ nach Abs. 6.8.2.1 und hat folgenden Wortlaut:

„Die Werkstoffe der Tankkörper oder ihrer Schutzauskleidungen, die mit dem Inhalt in Berührung kommen, dürfen keine Stoffe enthalten, die mit dem Inhalt gefährlich reagieren … oder die unter Einwirkung des Inhalts gefährliche Stoffe erzeugen oder den Werkstoff merklich schwächen.

…“

15

Die Abs. 6.8.2.1.24 bis 6.8.2.1.26 dieses Kapitels 6.8, denen die Überschrift „Sonstige Vorschriften für den Bau von Tankkörpern“ vorangestellt ist, sehen vor:

„6.8.2.1.24 Die Schutzauskleidung muss so ausgelegt sein, dass ihre Dichtheit gewahrt bleibt, wie immer auch die Verformungen sein können, die unter normalen Beförderungsbedingungen … eintreten können.

6.8.2.1.25 Die Wärmeisolierung muss so ausgelegt sein, dass sie weder den leichten Zugang zu den Füll- und Entleerungseinrichtungen sowie zu den Sicherheitsventilen behindert, noch deren Funktion beeinträchtigt.

6.8.2.1.26 Wenn Tankkörper zur Beförderung flüssiger Stoffe mit einem Flammpunkt bis höchstens 60 °C nicht metallene Schutzauskleidungen (Innenbeschichtungen) haben, müssen die Tankkörper und die Schutzauskleidungen so ausgeführt sein, dass Zündgefahren infolge elektrostatischer Aufladungen nicht eintreten können.“

16

Abs. 6.8.3 des Kapitels 6.8 besteht allein aus der Überschrift „Sondervorschriften für die Klasse 2“, während Abs. 6.8.3.1 dieser Vorschrift speziell den „Bau von Tankkörpern“ erfasst. In Abs. 6.8.3.1.1 dieses Kapitels heißt es:

„Tankkörper für verdichtete, verflüssigte oder gelöste Gase müssen aus Stahl hergestellt sein. …“

17

Abs. 6.8.4 des Kapitels 6.8 des Anhangs A Teil 6 des ADR 2015 enthält u. a. die „Sondervorschriften“ TA4, TT9 und TT11, die gemäß der in Rn. 11 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Tabelle A auf Tankkörper zur Beförderung von LPG anwendbar sind.

18

Abs. 6.8.5.1.1 des Kapitels 6.8 legt fest, dass im Fall von geschweißten festverbundenen Tanks die Tankkörper zur Beförderung von verdichteten, verflüssigten oder gelösten Gasen der Klasse 2 aus Stahl hergestellt sein müssen; dabei dürfen Tankkörper zur Beförderung von tiefgekühlt verflüssigten Gasen der Klasse 2 auch aus Aluminium, Aluminiumlegierungen, Kupfer oder Kupferlegierungen hergestellt sein.

Niederländisches Recht

19

Art. 8:69a der Algemene wet bestuursrecht (Allgemeines Verwaltungsgesetz, im Folgenden: Awb) bestimmt:

„Der Verwaltungsrichter hebt einen Bescheid nicht mit der Begründung auf, dass er gegen eine geschriebene oder ungeschriebene Rechtsvorschrift oder einen allgemeinen Rechtsgrundsatz verstößt, wenn diese Vorschrift oder dieser Grundsatz offensichtlich nicht den Schutz der Interessen der Person bezweckt, die sich darauf beruft.“

20

Die Circulaire effectafstanden externe veiligheid LPG-tankstations voor besluiten met gevolgen voor de effecten van een ongeval (Runderlass über die einzuhaltenden äußeren Abstände bei LPG-Tankstellen im Rahmen von Entscheidungen, die Folgen für die Auswirkungen eines Unfalls haben) des Staatssecretaris van Infrastructuur en Milieu (Staatssekretär für Infrastruktur und Umwelt) vom 14. Juni 2016 (Stcrt. 2016, Nr. 31453, im Folgenden: Runderlass vom 14. Juni 2016) fordert die zuständigen Behörden auf, bei der Verabschiedung von raumplanerischen Entscheidungen Sicherheitsabstände zu berücksichtigen, mit denen den Auswirkungen von möglichen Unfällen im Zusammenhang mit der Belieferung einer Tankstelle mit Flüssiggas vorgebeugt werden kann, indem sie sich auf den Safety Deal hittewerende bekleding op LPG-autogastankwagens (Safety Deal über die hitzeabweisende Ummantelung von LPG-Autogastankwagen) (Stcrt. 2016, Nr. 31448, im Folgenden: Safety Deal) stützen, welcher vorschreibt, dass zum einen die niederländischen Tankwagen, die solche Tankstellen beliefern, in der Praxis mit einer besonderen hitzeabweisenden Ummantelung ausgerüstet sein müssen, mit der sich das Szenarium einer Gasexplosion einer expandierenden siedenden Flüssigkeit (boiling liquid expanding vapour explosion oder BLEVE‑Scenario) um mindestens 75 Minuten nach Beginn des Brandes hinauszögern lässt (im Folgenden: fraglicher besonderer Hitzeschutzschild bzw. fragliche besondere hitzeabweisende Ummantelung), und dass zum anderen die betreffenden Tankstellen normalerweise von Servicelastwagen beliefert werden, die mit einer solchen Ummantelung ausgerüstet sind.

21

Der Safety Deal, den der Staatssekretär für Infrastruktur und Umwelt und die Vereniging Vloeibaar Gas (Vereinigung Flüssiggas, Niederlande) sowie andere im Flüssiggassektor tätige Organisationen oder Verbände unterzeichnet haben, bestätigt im Wesentlichen die Verpflichtung der Mitglieder dieser Vereinigung, bei der Lieferung von Flüssiggas an Tankstellen nur Tankwagen zu nutzen, die mit der fraglichen hitzeabweisenden Ummantelung ausgerüstet sind, während sich die anderen Organisationen diesem Ziel verpflichten, indem sie dafür Sorge tragen, seine Durchsetzung bei ihren Mitgliedern zu fördern und zu gewährleisten. Außerdem billigten alle am Safety Deal Beteiligten den Inhalt des Runderlasses vom 14. Juni 2016.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

22

X wohnt etwa 125 m von einer Tankstelle entfernt, die seit 1977 u. a. Flüssiggas verkauft. X wollte die Einstellung des Verkaufs von Flüssiggas durch diese Tankstelle wegen der mit dem Verkauf verbundenen Gefahren für die Sicherheit der Wohnungen in der Nähe der Tankstelle erreichen und beantragte beim Kollegium, der Tankstelle die hierfür erteilte Umweltgenehmigung zu entziehen.

23

Nachdem das Kollegium diesen Antrag zwar mit Entscheidung vom 30. Juni 2015 abgelehnt hatte, schrieb es mit Entscheidung vom 18. Januar 2016 (im Folgenden: Entscheidung vom 18. Januar 2016) dieser Tankstelle allerdings zwei zusätzliche Erfordernisse im Zusammenhang mit der Belieferung mit Flüssiggas vor. Danach sollte sie nunmehr durch Tankwagen, die mit dem fraglichen Hitzeschutzschild sowie mit einem verbesserten Füllschlauch ausgerüstet sind, mit Flüssiggas beliefert werden. Das Kollegium war der Ansicht, dass diese beiden Auflagen es erlaubten, die Unfallgefahren bei der Belieferung der betreffenden Tankstelle mit Flüssiggas auf ein annehmbares Niveau zu reduzieren.

24

Was das Erfordernis des Hitzeschutzschilds betrifft, hatten die niederländischen Behörden einige Monate zuvor zum einen den Safety Deal eingerichtet und zum anderen den Runderlass vom 14. Juni 2016 zur Festlegung einer ergänzenden Risikomanagementpolitik für Tankstellen, die Flüssiggas zum Verkauf anbieten, verabschiedet, der auf dem Gedanken beruhte, dass diese Tankstellen nur durch mit der besonderen hitzeabweisenden Ummantelung ausgerüstete Tankwagen beliefert werden. Das vorlegende Gericht stellt klar, dass in diesem Runderlass nicht ausdrücklich angegeben sei, dass die zuständigen Behörden in Umweltgenehmigungen, die sie Tankstellen erteilten, die Flüssiggas zum Verkauf anböten, das Erfordernis eines Hitzeschutzschilds auferlegen müssten. Es fügt hinzu, dass die niederländischen Behörden es vorgezogen hätten, dieses Erfordernis nicht durch eine allgemeine zwingende Bestimmung vorzuschreiben, da sie der Ansicht seien, dass eine solche Bestimmung gegen Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 verstoßen könne.

25

Da X der Ansicht war, dass die beiden mit der Entscheidung vom 18. Januar 2016 vorgeschriebenen Auflagen aufzuheben seien, weil sie insbesondere aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit der Richtlinie 2008/68 nicht durchgesetzt werden könnten, erhob sie gegen diese Entscheidung Klage bei der Rechtbank Noord-Holland (Gericht der Provinz Nordholland, Niederlande). Dieses Gericht wies die Klage mit Entscheidung vom 8. Juni 2017 ab.

26

Das vorlegende Gericht, das über das Rechtsmittel von X gegen diese Entscheidung zu befinden hat, ist der Ansicht, dass das Erfordernis der Verwendung eines verbesserten Füllschlauchs nicht gegen die Bestimmungen der Richtlinie 2008/68 verstoße, so dass es aufrechterhalten werden könne. Es hat jedoch Zweifel daran, ob das Erfordernis einer besonderen hitzeabweisenden Ummantelung mit dieser Richtlinie vereinbar ist.

27

Das vorlegende Gericht stellt zunächst fest, dass der Hitzeschutzschild eines Tankwagens ein baulicher Gesichtspunkt im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 sei, und wirft sodann die Frage auf, ob das Erfordernis des fraglichen Hitzeschutzschilds nicht als eine nach dieser Bestimmung verbotene „Bauvorschrift“ angesehen werden könne, da sich dieses Erfordernis zum einen nicht unmittelbar an den Eigentümer oder den Betreiber des Tankfahrzeugs, sondern an den Betreiber der Tankstelle richte und es zum anderen nicht in einer allgemeinen zwingenden Bestimmung des nationalen Rechts, sondern in einer Umweltgenehmigung, die einer bestimmten Tankstelle erteilt worden sei, enthalten sei. In diesem Zusammenhang stellt das vorlegende Gericht die Frage, ob zu berücksichtigen sei, dass die niederländischen Behörden es zwar unterlassen hätten, dieses Erfordernis im Wege einer allgemeinen zwingenden Bestimmung vorzuschreiben, weil diese möglicherweise mit Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 unvereinbar sei, dass sie aber den Safety Deal eingerichtet und den Runderlass vom 14. Juni 2016 verabschiedet hätten, um sicherzustellen, dass Tankstellen im gesamten Inland nur durch Tankfahrzeuge, die mit der fraglichen Ummantelung ausgerüstet seien, mit Flüssiggas beliefert würden.

28

Für den Fall, dass der Gerichtshof der Auffassung sein sollte, dass das Erfordernis des fraglichen Hitzeschutzschilds eine nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 verbotene „Bauvorschrift“ sei, weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass eine solche Feststellung für sich allein nicht die Aufhebung der Entscheidung vom 18. Januar 2016, mit der dieses Erfordernis vorgeschrieben worden sei, erlauben würde. Nach Art. 8:69a Awb könne das Verwaltungsgericht nämlich eine Entscheidung, die gegen eine Rechtsvorschrift verstoße, die offensichtlich nicht dem Schutz des Interesses des Klägers diene, nicht aufheben. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 solle offensichtlich nicht das Interesse von X schützen, einen materiellen Schutz des Wohnviertels in der Nähe der betreffenden Tankstelle zu erhalten.

29

Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass das Kollegium nach niederländischem Recht keine Auflage in eine Genehmigung aufnehmen dürfe, deren Einhaltung durch den Adressaten es nicht sicherstellen könne und die folglich im Rahmen einer späteren Entscheidung nicht durchgesetzt werden könne. In Anbetracht dieses Arguments führt das vorlegende Gericht aus, dass es auf der Grundlage des anwendbaren niederländischen Rechts das Erfordernis des fraglichen Hitzeschutzschilds mit der Begründung aufheben könnte, dass es später nicht durchgesetzt werden könne, weil es gegen eine Rechtsnorm wie Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 verstoße, sofern auf der Grundlage einer summarischen Prüfung, die keinen Raum für Zweifel lasse, offensichtlich sei, dass das fragliche Erfordernis nicht vorgeschrieben werden dürfe (im Folgenden: Evidenzkriterium). Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob das Evidenzkriterium mit dem Unionsrecht und insbesondere mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar ist, wonach die einschlägigen Vorschriften des nationalen Rechts die Ausübung der aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen.

30

In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht zum einen darauf hin, dass die Wirksamkeit des Unionsrechts durch die Anwendung des Evidenzkriteriums behindert werden könnte, da dieses Kriterium nur in Ausnahmefällen erfüllt sei und damit für den Rechtsunterworfenen eine hohe Schwelle gesetzt werde und da der Gerichtshof in seinen Urteilen vom 29. April 1999, Ciola (C‑224/97, EU:C:1999:212), und vom 6. April 2006, ED & F Man Sugar (C‑274/04, EU:C:2006:233), entschieden habe, dass eine Verpflichtung, die sich aus einer rechtlichen unanfechtbaren Entscheidung ergebe, im Rahmen der Prüfung einer späteren Sanktionsentscheidung, die auf der erstgenannten Entscheidung beruhe, aufgrund der Unvereinbarkeit dieser ersten Entscheidung mit dem Unionsrecht unangewendet bleiben könne.

31

Zum anderen weist das vorlegende Gericht auf die Bedeutung des Grundsatzes der Rechtssicherheit hin, der es rechtfertigen könnte, dass eine in rechtlicher Hinsicht unanfechtbare Auflage wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende im Hinblick auf einen Rechtsunterworfenen wie X im Stadium einer Entscheidung, mit der sie durchgesetzt werden solle, nur in dem im niederländischen Recht vorgesehenen Fall in Frage gestellt werden könne, in dem offensichtlich sei, dass sie wegen ihrer Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht nicht habe vorgeschrieben werden dürfen. Die diesbezüglich durch das Evidenzkriterium vorgeschriebene hohe Schwelle sei somit durch das große Gewicht gerechtfertigt, das dem Interesse der Rechtssicherheit beigemessen werde. Außerdem fragt sich das vorlegende Gericht, ob die in der vorstehenden Randnummer angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs im Ausgangsverfahren anwendbar sei, da sich die Rechtssachen, in denen diese Urteile ergangen seien, auf eine spätere Entscheidung stützten, mit der gegen einen Rechtsunterworfenen eine Sanktion verhängt worden sei; dies sei hier nicht der Fall.

32

Vor diesem Hintergrund hat der Raad van State (Staatsrat, Niederlande) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

a)

Ist Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 dahin auszulegen, dass er einer in der Genehmigung für die LPG-Tankstelle enthaltenen Genehmigungsauflage entgegensteht, wonach die betreffende einzelne LPG-Tankstelle ausschließlich von LPG-Tankwagen mit einer hitzeabweisenden Ummantelung beliefert werden darf, während diese Verpflichtung nicht unmittelbar einem oder mehreren Betreibern von LPG-Tankwagen auferlegt wird?

b)

Ist es für die Beantwortung der ersten Frage von Bedeutung, dass der Mitgliedstaat mit Organisationen von Marktparteien in der LPG-Branche (u. a. Betreibern von LPG-Tankstellen, Herstellern, Verkäufern und Transporteuren von LPG) eine Vereinbarung in Form des Safety Deal abgeschlossen hat, in der sich die Parteien zur Anwendung der hitzeabweisenden Ummantelung verpflichtet haben, und dieser Mitgliedstaat anschließend einen Runderlass wie den vom 14. Juni 2016 verabschiedet hat, in dem eine ergänzende Risikomanagementpolitik festgelegt worden ist, die von der Annahme ausgeht, dass LPG-Tankstellen mittels Tankwagen beliefert werden, die mit einer hitzeabweisenden Ummantelung versehen sind?

2.

a)

Wenn ein nationales Gericht die Rechtmäßigkeit eines Durchsetzungsbeschlusses prüft, der dazu dient, die Erfüllung einer rechtlich unanfechtbar gewordenen und gegen das Unionsrecht verstoßenden Genehmigungsauflage durchzusetzen:

Ist es nach dem Unionsrecht, insbesondere der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur nationalen Verfahrensautonomie, zulässig, wenn das nationale Gericht grundsätzlich von der Rechtmäßigkeit einer solchen Genehmigungsauflage ausgeht, es sei denn, diese verstößt offensichtlich gegen höherrangiges Recht, darunter Unionsrecht? Falls ja: Knüpft das Unionsrecht (zusätzliche) Bedingungen an diese Ausnahme?

Oder hat das nationale Gericht eine solche Genehmigungsauflage nach dem Unionsrecht – u. a. in Anbetracht der Urteile des Gerichtshofs vom 29. April 1999, Ciola (C‑224/97, EU:C:1999:212), und vom 6. April 2006, ED & F Man Sugar (C‑274/04, EU:C:2006:233) – wegen Verstoßes gegen dieses Recht unangewendet zu lassen?

b)

Ist es bei der Beantwortung von Frage 2 a von Belang, ob der Durchsetzungsbeschluss eine Entschädigungssanktion (remedy) oder eine strafrechtliche Sanktion (criminal charge) darstellt?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

33

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 dahin auszulegen ist, dass er einem Erfordernis, das von den Behörden eines Mitgliedstaats einer Tankstelle im Rahmen einer Verwaltungsentscheidung in Form einer Umweltgenehmigung auferlegt wird, entgegensteht, wonach sich die Tankstelle nur durch Tankfahrzeuge, die mit einer besonderen hitzeabweisenden Ummantelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ausgerüstet sind, mit Flüssiggas beliefern lassen darf.

34

Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 aus Gründen der Sicherheit der Beförderung strengere Vorschriften auf die innerstaatliche Beförderung gefährlicher Güter mit Fahrzeugen, Eisenbahnwagen und Binnenschiffen anwenden können. Davon ausgenommen sind Bauvorschriften.

35

Aus diesem Wortlaut ergibt sich, dass es Art. 5 Abs. 1 bei einer solchen innerstaatlichen Beförderung den Mitgliedstaaten untersagt, aus Gründen der Sicherheit der Beförderung strengere Bauvorschriften anzuwenden.

36

Weder der genannte Art. 5 Abs. 1 noch irgendeine andere Bestimmung der Richtlinie 2008/68 definiert jedoch den Begriff „Bauvorschriften“, und es wird auch kein Standard für Vorschriften angegeben, ab dem die Mitgliedstaaten davon absehen müssten, strengere Vorschriften zu erlassen.

37

Allerdings ist hervorzuheben, dass nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2008/68 die Beförderung gefährlicher Güter nur vorbehaltlich der Einhaltung der u. a. in Anhang I Abschnitt I.1 dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen zulässig ist; dieser verweist auf die Anhänge A und B des ADR in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung, d. h. des ADR 2015.

38

Sowohl Anhang A Teil 6 als auch Anhang B Teil 9 des ADR 2015 enthalten „Vorschriften für den Bau“. Daher ist der Begriff „Bauvorschriften“ in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 unter Bezugnahme auf die entsprechenden Vorschriften in diesen Teilen dieser Anhänge zu verstehen, und die Mitgliedstaaten haben somit nicht das Recht, strengere Vorschriften zu erlassen.

39

Was insbesondere die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Tankfahrzeuge betrifft, die für den Transport von Flüssiggas bestimmt sind, ist darauf hinzuweisen, dass nach Anhang A Teil 4 Kapitel 4.3 Abs. 4.3.2.1.2 und 4.3.3.1.1 sowie Kapitel 6.8. Abs. 6.8.3.1.1 und 6.8.5.1.1 des ADR 2015 in Verbindung mit Tabelle A zu Kapitel 3.2 von Teil 3 dieses Anhangs die Beförderung von Flüssiggas als Gefahrgut der Klasse 2 in Tanks zu erfolgen hat, die aus metallenen Werkstoffen gebaut sind. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass Anhang A Teil 6 Kapitel 6.8 des ADR 2015 u. a. „Vorschriften für den Bau“ enthält, die insbesondere für Tankfahrzeuge gelten, deren Tanks aus metallenen Werkstoffen hergestellt werden.

40

Daraus folgt, dass der Begriff „Bauvorschriften“ in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 in Bezug auf Tankfahrzeuge, die für die Beförderung von Flüssiggas bestimmt sind, dahin zu verstehen ist, dass er den „Vorschriften für den Bau“ entspricht, die in Anhang A Teil 6 Kapitel 6.8. des ADR 2015 und insbesondere in den nachgeordneten Vorschriften der Abs. 6.8.2.1, 6.8.3.1 und 6.8.5.1 dieses Kapitels sowie in den Sondervorschriften TA 4, TT 9 und TT 11 in Abs. 6.8.4 dieses Kapitels definiert sind, die auf solche Tankfahrzeuge gemäß der in Anhang A Teil 3 Kapitel 3.2 des ADR 2015 enthaltenen Tabelle A anwendbar sind.

41

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass sich aus Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 ergibt, dass die Mitgliedstaaten bei der innerstaatlichen Beförderung von Flüssiggas u. a. mit Tankfahrzeugen, die in ihrem Hoheitsgebiet zugelassen oder in Betrieb genommen werden, aus Sicherheitsgründen keine strengeren Bauvorschriften anwenden dürfen als die, die in Anhang A Teil 6 Kapitel 6.8 des ADR 2015 ausdrücklich vorgesehen sind.

42

Im vorliegenden Fall trifft es zwar zu, dass Anhang A Teil 6 Kapitel 6.8 des ADR 2015 mehrere Vorschriften für den Bau in Bezug auf die Schutzauskleidung oder die Wärmeisolierung des Tankkörpers oder des Tanks enthält, wie sie in den Abs. 6.8.2.1.9 und 6.8.2.1.24 bis 6.8.2.1.26 dieses Kapitels aufgeführt sind, doch ist festzustellen, dass er keine Vorschrift enthält, die eine hitzeabweisende Ummantelung wie die, die im Ausgangsverfahren verlangt wird, vorschreibt, d. h. eine hitzeabweisende Ummantelung, mit der sich das BLEVE‑Szenarium um mindestens 75 Minuten nach Beginn eines Brandes hinauszögern lässt.

43

Folglich steht Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 dem entgegen, dass die Mitgliedstaaten bei der inländischen Beförderung gefährlicher Güter u. a. mit Fahrzeugen, die in ihrem Hoheitsgebiet zugelassen oder in Betrieb genommen werden, aus Gründen der Sicherheit der Beförderung vorschreiben, dass diese Fahrzeuge mit einer hitzeabweisenden Ummantelung ausgerüstet sein müssen, die in den Vorschriften des ADR für den Bau nicht vorgesehen ist, da eine solche Auskleidung eine strengere Bauvorschrift darstellt, die durch diese Bestimmung der Richtlinie verboten ist.

44

Diese Auslegung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass ein Erfordernis wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, das unter Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 aufgestellt wurde, zum einen einer Tankstelle und nicht unmittelbar den Eigentümern oder Betreibern von Tankfahrzeugen auferlegt und zum anderen im Einzelfall und nicht im Rahmen einer zwingenden Bestimmung mit allgemeiner Geltung erlassen wurde.

45

Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 enthält nämlich ein eindeutiges, allgemeines und absolutes Verbot für die Mitgliedstaaten, die dessen Einhaltung unter allen Umständen und mit allen Mitteln sicherstellen müssen, wobei klarzustellen ist, dass der Begriff „Beförderung“ nach Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 auch den Vorgang des Ausladens gefährlicher Güter wie den bei der Belieferung einer Tankstelle mit Flüssiggas umfasst.

46

Somit steht Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 jeder Maßnahme eines Mitgliedstaats, einschließlich einer Maßnahme, die von einer kommunalen Behörde in Form einer individuellen Verwaltungsentscheidung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umweltgenehmigung erlassen wird, entgegen, die dem in dieser Bestimmung aufgestellten Verbot zuwiderlaufen würde, und zwar selbst dann, wenn den Betreibern von Tankfahrzeugen, die an der Sicherstellung der Versorgung des Adressaten dieser Maßnahme beteiligt oder damit beauftragt sind, mit einer solchen Maßnahme lediglich mittelbar eine Bauvorschrift auferlegt würde.

47

Zudem kann der Umstand, dass die niederländischen Behörden den Safety Deal eingerichtet und den Runderlass vom 14. Juni 2016 verabschiedet haben, um auf nationaler Ebene sicherzustellen, dass die zur Belieferung der im niederländischen Hoheitsgebiet gelegenen Tankstellen mit Flüssiggas verwendeten Tankfahrzeuge mit der fraglichen besonderen hitzeabweisenden Ummantelung ausgerüstet sind, keinerlei Einfluss auf die Beantwortung der ersten Frage haben, da der Rückgriff auf solche Instrumente eine Verwaltungsentscheidung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, mit der eine nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 verbotene Bauvorschrift auferlegt würde, in keiner Weise rechtfertigen kann.

48

Zweitens ist davon auszugehen, dass entgegen dem, was die Kommission im Wesentlichen in ihren schriftlichen Erklärungen geltend gemacht hat, aus Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 2008/68 nicht abgeleitet werden kann, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, aus anderen Gründen als der Sicherheit der Beförderung strengere Bauvorschriften als die im ADR vorgesehenen Vorschriften zu erlassen.

49

Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 2008/68 bestimmt, dass die Mitgliedstaaten ausschließlich aus Gründen, die nicht mit der Sicherheit der Beförderung in Zusammenhang stehen, die Beförderung gefährlicher Güter in ihrem Hoheitsgebiet regeln oder untersagen können.

50

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 45 und 46 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, stehen Art. 1 Abs. 5 und Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 – die beide eng auszulegen sind, da sie Ausnahmen von der allgemeinen Regel des Art. 3 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie darstellen, wonach die Beförderung gefährlicher Güter den in den einschlägigen Anhängen dieser Richtlinie vorgesehenen Verboten und Genehmigungen unterliegt – in einem logischen Zusammenhang, da sie den Mitgliedstaaten gestatten, von dieser allgemeinen Regel aus unterschiedlichen Gründen abzuweichen.

51

Zu Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 2008/68 ist festzustellen, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 46 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, die Verwendung des Adverbs „ausschließlich“ in dieser Bestimmung impliziert, dass die Mitgliedstaaten die Beförderung von Gütern in ihrem Hoheitsgebiet nur aus anderen Gründen als der Sicherheit der Beförderung regeln oder untersagen dürfen, d. h. aus Gründen, die nicht mit der Sicherheit der Beförderung in Zusammenhang stehen dürfen.

52

Diese Auslegung des Wortlauts von Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 2008/68 wird durch das mit dieser Richtlinie verfolgte Ziel gestützt. Aus den Erwägungsgründen 1, 5 und 22 dieser Richtlinie geht nämlich hervor, dass diese darauf abzielt, dass die grenzüberschreitende und die innerstaatliche Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße, der Schiene oder Binnenwasserstraßen in der Union unter bestmöglichen Sicherheitsbedingungen erfolgt, wobei der Unionsgesetzgeber beschlossen hat, u. a. die Sicherheitsvorschriften in den Anhängen A und B des ADR so anzuwenden, dass die einheitliche Anwendung der harmonisierten Sicherheitsvorschriften in der gesamten Union sowie das reibungslose Funktionieren des Verkehrsbinnenmarkts gewährleistet sind.

53

Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass nach dem einzigen Erwägungsgrund des ADR die in diesem Übereinkommen enthaltenen Bestimmungen, zu denen die Vorschriften für den Bau gehören, die Sicherheit der Beförderung auf der Straße erhöhen sollen, können die Mitgliedstaaten – vorbehaltlich der in Art. 6 der Richtlinie 2008/68 ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen – gemäß Art. 1 Abs. 5 dieser Richtlinie keine anderen als die in dieser Richtlinie und in den Anhängen A und B des ADR vorgesehenen Vorschriften über die Sicherheit der Beförderung erlassen; andernfalls würden sie das doppelte Ziel einer Harmonisierung der Sicherheitsbestimmungen und einer Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Verkehrsbinnenmarkts gefährden und würden dabei zudem die Beurteilung des Unionsgesetzgebers in Frage stellen, der zufolge die Bestimmungen über die Sicherheit der Beförderung, die diese Richtlinie und die Anhänge des ADR vorschreiben, die bestmöglichen Sicherheitsbedingungen gewährleisten sollen.

54

Daher kann ein Mitgliedstaat, wenn er gemäß Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 2008/68 die Beförderung gefährlicher Güter in seinem Hoheitsgebiet regeln oder untersagen will, dies nur aus Gründen tun, die in keiner Weise mit der Sicherheit der Beförderung in Zusammenhang stehen, da andernfalls die mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele beeinträchtigt würden. Solche Gründe können zwar, wie sich aus dem elften Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, mit der nationalen Sicherheit oder dem Umweltschutz zusammenhängen, doch dürfen zur Wahrung dieser Ziele solche Gründe, wenn sie geltend gemacht werden, faktisch nicht mit der Sicherheit der Beförderung in Zusammenhang stehen. Insbesondere darf ein Mitgliedstaat nicht unter dem Deckmantel des Umweltschutzes Bauvorschriften erlassen, auch wenn, wie in der vorstehenden Randnummer ausgeführt, solche Vorschriften, die in den Anhängen A und B des ADR enthalten sind, die Sicherheit der Beförderung erhöhen sollen. Ein solcher Grund kann hingegen geltend gemacht werden, wie die deutsche Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen im Wesentlichen ausgeführt hat, um z. B. die Beförderung gefährlicher Güter durch ökologisch empfindliche Gebiete des betreffenden Mitgliedstaats zu regeln oder zu untersagen, da eine entsprechende Regelung die Sicherheit der Beförderung als solche in keiner Weise berührt.

55

Daher ist davon auszugehen, dass die Mitgliedstaaten weder nach Art. 1 Abs. 5 noch nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 Bauvorschriften wie das fragliche Erfordernis einer besonderen hitzeabweisenden Ummantelung erlassen dürfen.

56

Zudem ist – unabhängig von der Tatsache, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Tankstelle nach den Angaben des Kollegiums in seinen schriftlichen Erklärungen ausschließlich von Fahrzeugen eines niederländischen Lieferanten, die mit einem Hitzeschutzschild ausgestattet sind, mit Flüssiggas beliefert wird – klarzustellen, dass eine Bauvorschrift wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, wenn sie den Betreibern von LPG-Tankfahrzeugen mittelbar über eine einer Tankstelle erteilte Genehmigung auferlegt wird, nicht nur gegen Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 verstoßen kann, soweit es um Flüssiggas-Lieferungen im Rahmen einer innerstaatlichen Beförderung durch im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zugelassene Tankwagen geht, sondern auch, wie Rn. 55 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, gegen Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 2008/68, soweit es um alle Lieferungen von Flüssiggas geht, die u. a. im Rahmen einer grenzüberschreitenden Beförderung durch in einem anderen Mitgliedstaat zugelassene Tankwagen bewirkt werden.

57

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 dahin auszulegen ist, dass er dem Erlass von Bauvorschriften, die strenger als die in den Anhängen A und B des ADR enthaltenen Vorschriften sind, wie das von den Behörden eines Mitgliedstaats im Rahmen einer Verwaltungsentscheidung in Form einer Umweltgenehmigung auferlegte Erfordernis, sich mit Flüssiggas nur durch Tankfahrzeuge beliefern zu lassen, die mit einer besonderen hitzeabweisenden Ummantelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ausgerüstet sind, entgegensteht.

Zur zweiten Frage

58

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht und insbesondere der Grundsatz der Effektivität einer nationalen Verfahrensvorschrift entgegenstehen, wonach ein Rechtsunterworfener, damit eine unionsrechtswidrige Auflage, die durch eine von einer Kategorie von Rechtsunterworfenen grundsätzlich rechtlich unanfechtbare Verwaltungsentscheidung vorgeschrieben wird, wegen ihrer Nichtdurchsetzbarkeit, wenn sie durch eine spätere Entscheidung durchgeführt werden würde, aufgehoben werden kann, nachweisen muss, dass die fragliche Auflage auf der Grundlage einer summarischen Prüfung, die keinen Raum für Zweifel lässt, im Hinblick auf das Unionsrecht ganz offensichtlich nicht erlassen werden durfte.

Zur Zulässigkeit

59

In seinen schriftlichen Erklärungen vertritt das Kollegium die Auffassung, dass die zweite Frage in keinem Zusammenhang mit dem Rechtsstreit stehe und theoretischer Natur sei, da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verwaltungsentscheidung nicht rechtlich unanfechtbar und kein späterer Durchsetzungsbeschluss erlassen worden sei. Ohne daraus den Schluss zu ziehen, dass die zweite Frage unzulässig sei, stellt auch die niederländische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ähnliche Erwägungen an.

60

Vorab ist festzustellen, dass nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass eines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen hat. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen (Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 24, und vom 7. Februar 2018, American Express, C‑304/16, EU:C:2018:66, Rn. 31).

61

Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts zu befinden, wenn die erbetene Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 25, und vom 7. Februar 2018, American Express, C‑304/16, EU:C:2018:66, Rn. 32).

62

Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens nach ständiger Rechtsprechung nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen liegt, sondern darin, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 194 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63

Im vorliegenden Fall kommt das vorlegende Gericht zwar zu dem Ergebnis, dass, selbst wenn in Anbetracht der Antwort des Gerichtshofs auf die erste Frage festgestellt werden sollte, dass das Vorbringen der Klägerin, wonach die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Auflage gegen Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 verstoße, begründet sei, eine solche Feststellung es für sich allein dem vorlegenden Gericht wegen Art. 8:69a Awb nicht erlauben würde, diese Auflage aufzuheben.

64

Außerdem trifft es zwar zu, dass das vorlegende Gericht in der Formulierung der zweiten Frage tatsächlich von einem „Durchführungsbeschluss“ spricht, „der dazu dient, [den Adressaten] einer rechtlich unanfechtbar gewordenen und gegen das Unionsrecht verstoßenden Genehmigungsauflage [zu deren Erfüllung zu zwingen]“, und dass es in der Vorlageentscheidung nirgendwo angibt, dass es eine Entscheidung gab, die das Kollegium erlassen haben soll, um das in der Entscheidung vom 18. Januar 2016 auferlegte Erfordernis durchzusetzen.

65

Das vorlegende Gericht präzisiert jedoch, dass sich X im Rahmen ihrer Klage auf den Grundsatz des niederländischen Verwaltungsrechts berufen habe, wonach eine Genehmigung keine Auflage vorschreiben dürfe, deren Einhaltung durch den Adressaten die zuständige Behörde nicht sicherstellen könne. Das vorlegende Gericht räumt ein, dass sich X auf diesen Grundsatz berufen kann, und zieht daraus den Schluss, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Auflage aufgehoben werden könne, wenn davon auszugehen sei, dass die Auflage aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 nicht durchgeführt werden könne. Es weist außerdem darauf hin, dass es diese Sachfrage schon jetzt und nicht erst im Rahmen eines etwaigen späteren Verfahrens, mit dem die Rechtmäßigkeit einer späteren Entscheidung zur Durchsetzung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Auflage geklärt werden solle, zu prüfen habe.

66

Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht klar darlegt, dass es nach nationalem Recht verpflichtet ist, diese Frage im Stadium des bei ihm anhängigen Verfahrens zu entscheiden, auch wenn das Kollegium anscheinend noch keine Entscheidung zur Durchsetzung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Auflage erlassen hat. Daher ist die zweite Frage nicht hypothetisch, und ihre Beantwortung ist für die tatsächliche Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erforderlich.

67

Folglich ist die zweite Frage zulässig.

Zur Begründetheit

68

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass – wie in den Rn. 28 und 63 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde – das vorlegende Gericht trotz der Antwort auf die erste Frage in Rn. 57 des vorliegenden Urteils wegen Art. 8:69a Awb auf Antrag eines Rechtsunterworfenen wie X die in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umweltgenehmigung enthaltene Auflage nicht deshalb aufheben kann, weil sie gegen Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 verstößt, da nach seinen eigenen Feststellungen die letztgenannte Bestimmung nicht den Schutz des Interesses von X bezweckt, einen tatsächlichen Schutz des in der Nähe der betreffenden Tankstelle befindlichen Wohnviertels zu erhalten. Somit ist hinsichtlich dieser Auflage davon auszugehen, dass sie ab diesem Stadium durch einen Rechtsunterworfenen wie X grundsätzlich unanfechtbar ist. Das vorlegende Gericht führt jedoch aus, dass gemäß dem Grundsatz des niederländischen Verwaltungsrechts, wonach eine Genehmigung, selbst wenn sie für einen Rechtsunterworfenen wie X grundsätzlich unanfechtbar geworden sei, keine Auflage vorsehen dürfe, deren Einhaltung durch den Adressaten die zuständige Behörde nicht durch eine spätere Entscheidung zur Durchsetzung dieser Auflage sicherstellen könne, X die Aufhebung der fraglichen Auflage schließlich im Rahmen ihrer ebenfalls beim vorlegenden Gericht anhängigen Klage gegen die Genehmigung, mit der diese Auflage vorgeschrieben worden sei, erwirken könne; Voraussetzung dafür sei, dass das Evidenzkriterium erfüllt sei, d. h., dass – wie in Rn. 29 des vorliegenden Urteils ausgeführt – die Vorschrift des niederländischen Rechts erfüllt sei, wonach auf der Grundlage einer summarischen Prüfung, die keinen Raum für Zweifel lasse, offensichtlich sein müsse, dass die betreffende Auflage wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht nicht habe vorgeschrieben werden dürfen.

69

Hierzu ist festzustellen, dass mangels einer einschlägigen Unionsregelung die Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der den Rechtsunterworfenen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats sind; sie dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 18. Dezember 2014, CA Consumer Finance, C‑449/13, EU:C:2014:2464, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

70

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Feststellungen des vorlegenden Gerichts, dass das Evidenzkriterium dem Äquivalenzgrundsatz genügt, da bei der Anwendung dieses Kriteriums nicht zwischen der Unvereinbarkeit mit höherrangigen Normen des nationalen Rechts und der Unvereinbarkeit mit Normen des Unionsrechts unterschieden wird.

71

Dagegen hat das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit dieses Kriteriums mit dem Effektivitätsgrundsatz.

72

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen ist. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (Urteil vom 16. Juli 2020, Caixabank und Banco Bilbao Vizcaya Argentaria, C‑224/19 und C‑259/19, EU:C:2020:578, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung).

73

Das vorlegende Gericht führt u. a. aus, dass das Evidenzkriterium, wie es im niederländischen Verwaltungsrecht vorgesehen sei, den Grundsatz der Rechtssicherheit wahren solle, so dass die Durchsetzbarkeit und damit die Rechtmäßigkeit bestandskräftiger Entscheidungen nur in Frage gestellt werden könnten, wenn die Unvereinbarkeit solcher Entscheidungen mit höherrangigem Recht, wie den Normen des Unionsrechts, offensichtlich sei.

74

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtssicherheit zu den im Unionsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört. So hat der Gerichtshof u. a. festgestellt, dass die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung zur Rechtssicherheit beiträgt und dass das Unionsrecht nicht verlangt, dass eine Einrichtung grundsätzlich verpflichtet ist, eine bestandskräftig gewordene Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen (Urteil vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C‑189/18, EU:C:2019:861, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Gerichtshof hat jedoch klargestellt, dass unter bestimmten Umständen die Besonderheiten der in Rede stehenden Situationen und Interessen berücksichtigt werden können, um ein Gleichgewicht zwischen einerseits dem Erfordernis der Rechtssicherheit und andererseits dem der Rechtmäßigkeit im Hinblick auf das Unionsrecht zu finden (Urteil vom 4. Oktober 2012, Byankov, C‑249/11, EU:C:2012:608, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

75

In diesem Kontext ergibt sich aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts, dass mit der nationalen Verfahrensvorschrift, die das Evidenzkriterium darstellt, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den allgemeinen unionsrechtlichen Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Rechtmäßigkeit im Hinblick auf das Unionsrecht gefunden werden soll, indem zur Wahrung der Rechtssicherheit generell der Bestandskraft der fraglichen Auflage ein höheres Gewicht beigemessen wird, jedoch unter engen Voraussetzungen Ausnahmen zugelassen werden, und zwar dadurch, dass diese Verfahrensvorschrift es einem Rechtsunterworfenen wie X lediglich ermöglicht, feststellen zu lassen, dass eine in einer bestandskräftigen Entscheidung enthaltene Auflage nicht angewandt werden kann, und folglich die Aufhebung dieser Auflage nur unter der Voraussetzung, dass ein offensichtlicher Widerspruch zwischen der Auflage und dem Unionsrecht nachgewiesen wird, zu erwirken.

76

Angesichts dieser Zielsetzung ist davon auszugehen, dass der Effektivitätsgrundsatz einer nationalen Verfahrensvorschrift wie dem Evidenzkriterium grundsätzlich nicht entgegensteht.

77

Um sicherzustellen, dass diese Zielsetzung tatsächlich erreicht wird, sollte dieses Kriterium jedoch nicht derart strikt angewandt werden, dass die Voraussetzung eines offensichtlichen Verstoßes gegen das Unionsrecht in faktischer Hinsicht die Möglichkeit eines Rechtsunterworfenen wie X, die tatsächliche Aufhebung der fraglichen Auflage zu erwirken, obsolet machen würde.

78

Wäre dies der Fall, würde nämlich der Effektivitätsgrundsatz, der, wie in Rn. 69 des vorliegenden Urteils ausgeführt, verlangt, dass eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts nicht unmöglich macht oder übermäßig erschwert, eindeutig nicht beachtet werden.

79

Außerdem könnte das vorlegende Gericht den in Rn. 24 des vorliegenden Urteils angeführten Umstand berücksichtigen, dass es die niederländischen Behörden vorgezogen haben, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Auflage nicht im Wege einer allgemeinen zwingenden Bestimmung vorzuschreiben, da sie der Ansicht waren, dass eine solche Bestimmung gegen Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68 verstoßen könnte.

80

Dieses Ergebnis wird durch die vom vorlegenden Gericht angeführten Urteile vom 29. April 1999, Ciola (C‑224/97, EU:C:1999:212), und vom 6. April 2006, ED & F Man Sugar (C‑274/04, EU:C:2006:233), nicht entkräftet. Diese beiden Urteile sind nämlich in einem anderen Kontext ergangen als dem, der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, so dass die sich daraus ergebende Lehre für die vorliegende Rechtssache unerheblich ist.

81

Was erstens das Urteil vom 29. April 1999, Ciola (C‑224/97, EU:C:1999:212), betrifft, hat der Gerichtshof im Wesentlichen entschieden, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts es gebietet, eine bestandskräftige unionsrechtswidrige Entscheidung bei der Beurteilung der Begründetheit einer späteren, auf die erste dieser Entscheidungen gestützten Entscheidung unangewendet zu lassen. Dabei hat der Gerichtshof außerdem klargestellt, dass der Rechtsstreit, um den es in der Rechtssache ging, in der dieses Urteil ergangen ist, nicht an sich die Rechtmäßigkeit der ersten Entscheidung betraf. Im Ausgangsverfahren geht es demgegenüber um die Frage, ob mit dem Effektivitätsgrundsatz eine nationale Verfahrensvorschrift vereinbar ist, deren Anwendung es gerade erlaubt, eine gegenüber einer Kategorie von Rechtsunterworfenen grundsätzlich bestandskräftige Verwaltungsentscheidung aufzuheben, wenn diese Entscheidung offensichtlich gegen das Unionsrecht verstößt.

82

Was zweitens das Urteil vom 6. April 2006, ED & F Man Sugar (C‑274/04, EU:C:2006:233), betrifft, hat der Gerichtshof im Wesentlichen entschieden, dass eine Entscheidung, mit der eine Sanktion verhängt wird, nicht allein damit begründet werden kann, dass bereits eine bestandskräftige Entscheidung über die Rückforderung der Erstattung auf der Grundlage derselben Verordnung ergangen war. Eine solche Situation entspricht jedoch nicht der Situation, die dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, die, wie in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils ausgeführt, im Wesentlichen die Vereinbarkeit einer nationalen Verfahrensvorschrift, nach der unter bestimmten Voraussetzungen eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung aufgehoben werden kann, mit dem Effektivitätsgrundsatz betrifft.

83

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass das Unionsrecht und insbesondere der Grundsatz der Effektivität einer Verfahrensvorschrift des nationalen Verwaltungsrechts nicht entgegenstehen, wonach ein Rechtsunterworfener, damit eine unionsrechtswidrige Auflage, die durch eine von einer Kategorie von Rechtsunterworfenen grundsätzlich nicht anfechtbare Verwaltungsentscheidung vorgeschrieben wird, wegen ihrer Nichtdurchsetzbarkeit, wenn sie durch eine spätere Entscheidung durchgeführt werden würde, aufgehoben werden kann, nachweisen muss, dass die fragliche Auflage auf der Grundlage einer summarischen Prüfung, die keinen Raum für Zweifel lässt, im Hinblick auf das Unionsrecht ganz offensichtlich nicht erlassen werden durfte; dabei darf jedoch diese Vorschrift nicht derart strikt angewandt werden, dass es einem Rechtsunterworfenen in faktischer Hinsicht unmöglich wäre, eine tatsächliche Aufhebung der fraglichen Auflage zu erwirken, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

Kosten

84

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/68/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. September 2008 über die Beförderung gefährlicher Güter im Binnenland in der durch die Richtlinie 2014/103/EU der Kommission vom 21. November 2014 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er dem Erlass von Bauvorschriften, die strenger als die Vorschriften sind, die in den Anhängen A und B des am 30. September 1957 in Genf geschlossenen Europäischen Übereinkommens über die internationale Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße in seiner am 1. Januar 2015 geltenden Fassung enthalten sind, wie das von den Behörden eines Mitgliedstaats im Rahmen einer Verwaltungsentscheidung in Form einer Umweltgenehmigung auferlegte Erfordernis, sich mit Flüssiggas nur durch Tankfahrzeuge beliefern zu lassen, die mit einer besonderen hitzeabweisenden Ummantelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ausgerüstet sind, entgegensteht.

 

2.

Das Unionsrecht und insbesondere der Grundsatz der Effektivität stehen einer Verfahrensvorschrift des nationalen Verwaltungsrechts nicht entgegen, wonach ein Rechtsunterworfener, damit eine unionsrechtswidrige Auflage, die durch eine von einer Kategorie von Rechtsunterworfenen grundsätzlich unanfechtbare Verwaltungsentscheidung vorgeschrieben wird, wegen ihrer Nichtdurchsetzbarkeit, wenn sie durch eine spätere Entscheidung durchgeführt werden würde, aufgehoben werden kann, nachweisen muss, dass die fragliche Auflage auf der Grundlage einer summarischen Prüfung, die keinen Raum für Zweifel lässt, im Hinblick auf das Unionsrecht ganz offensichtlich nicht erlassen werden durfte; dabei darf jedoch diese Vorschrift nicht derart strikt angewandt werden, dass es einem Rechtsunterworfenen in faktischer Hinsicht unmöglich wäre, eine tatsächliche Aufhebung der fraglichen Auflage zu erwirken, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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