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Document 62017CJ0444

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 19. März 2019.
Préfet des Pyrénées-Orientales gegen Abdelaziz Arib u. a.
Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation (Frankreich).
Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Verordnung (EU) 2016/399 – Art. 32 – Vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen durch einen Mitgliedstaat – Illegale Einreise eines Drittstaatsangehörigen – Gleichstellung von Binnen- und Außengrenzen – Richtlinie 2008/115/EG – Geltungsbereich – Art. 2 Abs. 2 Buchst. a.
Rechtssache C-444/17.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2019:220

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

19. März 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Verordnung (EU) 2016/399 – Art. 32 – Vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen durch einen Mitgliedstaat – Illegale Einreise eines Drittstaatsangehörigen – Gleichstellung von Binnen- und Außengrenzen – Richtlinie 2008/115/EG – Geltungsbereich – Art. 2 Abs. 2 Buchst. a“

In der Rechtssache C‑444/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 12. Juli 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Juli 2017, in dem Verfahren

Préfet des Pyrénées-Orientales

gegen

Abdelaziz Arib,

Procureur de la République près le tribunal de grande instance de Montpellier,

Procureur général près la cour d’appel de Montpellier

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten E. Regan und T. von Danwitz, der Kammerpräsidentin C. Toader, des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter) sowie der Richter A. Rosas, E. Juhász, M. Ilešič, J. Malenovský, M. Safjan, D. Šváby, C. G. Fernlund und C. Vajda,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Juni 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

des Préfet des Pyrénées-Orientales, vertreten durch F.‑H. Briard und S. Bonichot, avocats,

der französischen Regierung, vertreten durch E. de Moustier, E. Armoet und D. Colas als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch R. Kanitz als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und G. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Oktober 2018

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 32 der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1, Berichtigung ABl. 2018, L 272, S. 69, im Folgenden: Schengener Grenzkodex) sowie von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).

2

Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen dem Préfet des Pyrénées-Orientales (Präfekt des Departements Pyrénées-Orientales, Frankreich) auf der einen Seite und Herrn Abdelaziz Arib, dem Procureur de la République près le tribunal de grande instance de Montpellier (Staatsanwaltschaft beim Landgericht Montpellier, Frankreich) und dem Procureur général près la cour d’appel de Montpellier (Generalstaatsanwaltschaft beim Berufungsgericht Montpellier, Frankreich) auf der anderen Seite über die Verlängerung der Verwaltungshaft von Herrn Arib, der illegal in das französische Hoheitsgebiet eingereist war.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

SDÜ

3

Das am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichnete und am 26. März 1995 in Kraft getretene Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: SDÜ) ist Teil des Schengen-Besitzstands.

4

Art. 26 des SDÜ lautet:

„(1)   Vorbehaltlich der Verpflichtungen, die sich aus der Genfer Konvention vom 28. Juli 1951 über den Flüchtlingsstatus in der Fassung des Protokolls von New York vom 31. Januar 1967 ergeben, verpflichten sich die Vertragsparteien, die nachstehenden Regelungen in ihre nationalen Rechtsvorschriften aufzunehmen:

a)

Wird einem Drittausländer die Einreise in das Hoheitsgebiet einer der Vertragsparteien verweigert, so ist der Beförderungsunternehmer, der ihn auf dem Luft‑, See- oder Landweg bis an die Außengrenze gebracht hat, verpflichtet, ihn unverzüglich zurückzunehmen. Auf Verlangen der Grenzüberwachungsbehörden hat der Beförderungsunternehmer den Drittausländer in den Drittstaat, aus dem er befördert wurde, in den Drittstaat, der das Reisedokument ausgestellt hat, mit dem er gereist ist, oder in jeden anderen Drittstaat, in dem seine Zulassung gewährleistet ist, zu verbringen.

b)

Der Beförderungsunternehmer ist verpflichtet, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sich zu vergewissern, dass der auf dem Luft- oder Seeweg beförderte Drittausländer über die für die Einreise in das Hoheitsgebiet der Vertragsparteien erforderlichen Reisedokumente verfügt.

(2)   Vorbehaltlich der Verpflichtungen, die sich aus der Genfer Konvention vom 28. Juli 1951 über den Flüchtlingsstatus in der Fassung des Protokolls von New York vom 31. Januar 1967 ergeben, verpflichten sich die Vertragsparteien, unter Berücksichtigung ihres Verfassungsrechts Sanktionen gegen Beförderungsunternehmer einzuführen, die Drittausländer, welche nicht über die erforderlichen Reisedokumente verfügen, auf dem Luft- oder Seeweg aus einem Drittstaat in ihr Hoheitsgebiet verbringen.

(3)   Die Absätze 1 Buchstabe b) und 2 finden auf Beförderungsunternehmer Anwendung, die im internationalen Linienverkehr Gruppen von Personen in Autobussen befördern, mit Ausnahme des Grenzverkehrs.“

Schengener Grenzkodex

5

Art. 2 des Schengener Grenzkodex lautet:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

1.

‚Binnengrenzen‘

a)

die gemeinsamen Landgrenzen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Fluss- und Binnenseegrenzen,

b)

die Flughäfen der Mitgliedstaaten für Binnenflüge,

c)

die See‑, Flussschifffahrts- und Binnenseehäfen der Mitgliedstaaten für regelmäßige Fährverbindungen;

2.

‚Außengrenzen‘ die Landgrenzen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Fluss- und Binnenseegrenzen, der Seegrenzen und der Flughäfen sowie der Flussschifffahrts‑, See- und Binnenseehäfen, soweit sie nicht Binnengrenzen sind;

…“

6

Art. 5 dieses Kodex bestimmt:

„(1)   Die Außengrenzen dürfen nur an den Grenzübergangsstellen und während der festgesetzten Verkehrsstunden überschritten werden. Die Verkehrsstunden sind an den Grenzübergangsstellen, die nicht rund um die Uhr geöffnet sind, deutlich anzugeben.

Die Mitgliedstaaten übermitteln der Kommission gemäß Artikel 39 die Liste ihrer Grenzübergangsstellen.

(3)   Unbeschadet der Ausnahmen des Absatzes 2 und der internationalen Schutzverpflichtungen der Mitgliedstaaten sehen die Mitgliedstaaten nach nationalem Recht Sanktionen für das unbefugte Überschreiten der Außengrenzen außerhalb der Grenzübergangsstellen oder der festgesetzten Verkehrsstunden vor. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“

7

Art. 13 Abs. 1 des Kodex sieht vor:

„Die Grenzüberwachung dient insbesondere der Verhinderung des unbefugten Grenzübertritts, der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität und der Veranlassung von Maßnahmen gegen Personen, die die Grenze unerlaubt überschreiten. Personen, die eine Grenze unerlaubt überschritten haben und die über kein Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates verfügen, sind aufzugreifen und Verfahren zu unterziehen, die mit der Richtlinie 2008/115/EG in Einklang stehen.“

8

Art. 14 des Schengener Grenzkodex bestimmt:

„(1)   Einem Drittstaatsangehörigen, der nicht alle Einreisevoraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 erfüllt und der nicht zu dem in Artikel 6 Absatz 5 genannten Personenkreis gehört, wird die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten verweigert. Davon unberührt bleibt die Anwendung besonderer Bestimmungen zum Asylrecht und zum internationalen Schutz oder zur Ausstellung von Visa für längerfristige Aufenthalte.

(4)   Die Grenzschutzbeamten stellen sicher, dass ein Drittstaatsangehöriger, dem die Einreise verweigert wurde, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats nicht betritt.

(6)   Die Modalitäten der Einreiseverweigerung sind in Anhang V Teil A festgelegt.“

9

Art. 23 („Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets“) dieses Kodex sieht vor:

„Das Ausbleiben der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen berührt nicht:

a)

die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten. Im Sinne von Satz 1 darf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse insbesondere nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt werden, wenn die polizeilichen Maßnahmen

i)

keine Grenzkontrollen zum Ziel haben;

ii)

auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen;

iii)

in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet;

iv)

auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden;

…“

10

Art. 25 des Kodex bestimmt:

„(1)   Ist im Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht, so ist diesem Mitgliedstaat unter außergewöhnlichen Umständen die Wiedereinführung von Kontrollen an allen oder bestimmten Abschnitten seiner Binnengrenzen für einen begrenzten Zeitraum von höchstens 30 Tagen oder für die vorhersehbare Dauer der ernsthaften Bedrohung, wenn ihre Dauer den Zeitraum von 30 Tagen überschreitet, gestattet. Die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen darf in Umfang und Dauer nicht über das Maß hinausgehen, das zur Bewältigung der ernsthaften Bedrohung unbedingt erforderlich ist.

(2)   Kontrollen an den Binnengrenzen werden nur als letztes Mittel und im Einklang mit den Artikeln 27, 28 und 29 wiedereingeführt. Wird ein Beschluss zur Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nach Artikel 27, 28 oder 29 in Betracht gezogen, so sind die in Artikel 26 beziehungsweise 30 genannten Kriterien in jedem einzelnen Fall zu Grunde zu legen.

(3)   Hält die ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit in dem betreffenden Mitgliedstaat über den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten Zeitraum hinaus an, so kann dieser Mitgliedstaat die Kontrollen an seinen Binnengrenzen unter Zugrundelegung der in Artikel 26 genannten Kriterien und gemäß Artikel 27 aus den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten Gründen und unter Berücksichtigung neuer Umstände für weitere Zeiträume von höchstens 30 Tagen verlängern.

(4)   Der Gesamtzeitraum, innerhalb dessen Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereingeführt werden können, einschließlich etwaiger Verlängerungen nach Absatz 3 dieses Artikels, beträgt höchstens sechs Monate. Liegen außergewöhnliche Umstände im Sinne von Artikel 29 vor, so kann dieser Gesamtzeitraum gemäß Artikel 29 Absatz 1 auf eine Höchstdauer von zwei Jahren verlängert werden.“

11

Art. 32 des Schengener Grenzkodex lautet:

„Bei Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen finden die einschlägigen Bestimmungen des Titels II entsprechend Anwendung.“

12

Die Art. 5, 13 und 14 dieses Kodex gehören zu dessen Titel II („Außengrenzen“), während die Art. 23, 25 und 32 des Kodex zu seinem Titel III („Binnengrenzen“) gehören.

13

Anhang V Teil A Nr. 2 des Schengener Grenzkodex sieht vor:

„Ist der Drittstaatsangehörige, dem die Einreise verweigert wurde, von einem Beförderungsunternehmer an die Außengrenze verbracht worden, so geht die örtlich zuständige Behörde wie folgt vor:

a)

Sie ordnet gegenüber diesem Unternehmer an, den Drittstaatsangehörigen gemäß Artikel 26 des [SDÜ] und gemäß der Richtlinie 2001/51/EG des Rates … zurückzunehmen und ihn umgehend in den Drittstaat, aus dem er befördert wurde, in den Drittstaat, der das Grenzübertrittspapier ausgestellt hat, oder in jeden anderen Drittstaat, in dem seine Zulassung gewährleistet ist, zu befördern oder Mittel für seinen Rücktransport zu finden;

b)

sie trifft bis zur Durchführung des Rücktransports unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten nach Maßgabe des nationalen Rechts geeignete Maßnahmen, um die unerlaubte Einreise von Drittstaatsangehörigen, denen die Einreise verweigert wurde, zu verhindern.“

Richtlinie 2008/115

14

Der fünfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 lautet:

„Mit dieser Richtlinie sollte eine Reihe von horizontalen Vorschriften eingeführt werden, die für sämtliche Drittstaatsangehörige gelten, die die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllen.“

15

Art. 2 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)   Diese Richtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.

(2)   Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden:

a)

die einem Einreiseverbot nach Artikel 13 des Schengener Grenzkodex unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land‑, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten;

b)

die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.

…“

16

In Art. 3 der Richtlinie heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

2.

‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;

3.

‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in

deren Herkunftsland oder

ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder

ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird;

…“

17

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie lautet:

„In Bezug auf die nach Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommenen Drittstaatsangehörigen verfahren die Mitgliedstaaten wie folgt; sie:

a)

stellen sicher, dass diese nicht eine weniger günstige Behandlung erfahren oder ihnen nicht ein geringeres Maß an Schutz gewährt wird, als dies in Artikel 8 Absätze 4 und 5 (Beschränkung der Anwendung von Zwangsmaßnahmen), Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe a (Aufschub der Abschiebung), Artikel 14 Absatz 1 Buchstaben b und d (medizinische Notversorgung und Berücksichtigung der Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen) und Artikel 16 und 17 (Haftbedingungen) vorgesehen ist, und

b)

halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“

Französisches Recht

18

Art. L. 621-2, Nrn. 1 und 2 des Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile (Gesetzbuch über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht) in der durch das Gesetz Nr. 2012‑1560 vom 31. Dezember 2012 geänderten Fassung (im Folgenden: CESEDA) lautet:

„Ein Ausländer, der nicht Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der Europäischen Union ist, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr und mit einer Geldstrafe von 3750 Euro bestraft, wenn er

1.

in den europäischen Teil des französischen Hoheitsgebiets eingereist ist, ohne die Voraussetzungen gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, b oder c der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) [(ABl. 2006, L 105, S. 1, Berichtigung ABl. 2018, L 272, S. 69)] zu erfüllen und ohne dass ihm die Einreise gemäß Art. 5 Abs. 4 Buchst. a und c dieser Verordnung gestattet worden ist; das Gleiche gilt, wenn der Ausländer durch eine vollziehbare Entscheidung eines anderen Vertragsstaats des [SDÜ] zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben worden ist;

2.

oder wenn er unmittelbar aus dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats dieses Übereinkommens in den europäischen Teil des französischen Hoheitsgebiets eingereist ist, ohne die Regelungen von dessen Art. 19 Abs. 1 oder 2, Art. 20 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 oder 2 – mit Ausnahme der in Art. 5 Abs. 1 Buchst. e der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 … und, wenn sich die Ausschreibung zur Einreiseverweigerung nicht aus einer von einem anderen Vertragsstaat des [SDÜ] getroffenen vollziehbaren Entscheidung ergibt, in Buchst. d dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen – zu beachten;

Gemäß diesem Artikel darf die öffentliche Klage nur erhoben werden, wenn die Tatsachen unter den in Art. 53 des Code de procédure pénale [Strafprozessordnung] genannten Umständen festgestellt wurden.“

19

Art. 53 des Code de procédure pénale in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Strafprozessordnung) sieht vor:

„Als auf frischer Tat festgestellt gilt ein Verbrechen oder Vergehen, das gerade verübt wird oder verübt worden ist. Als auf frischer Tat festgestellt gilt auch ein Verbrechen oder Vergehen, wenn in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang zur Tathandlung dem Verdächtigen in der Öffentlichkeit nachgesetzt oder er im Besitz von Gegenständen oder mit Spuren oder unter Anhaltspunkten angetroffen wird, die auf seine Beteiligung an dem Verbrechen oder Vergehen schließen lassen.

Wird ein Verbrechen oder Vergehen auf frischer Tat festgestellt, dürfen die Ermittlungen unter Leitung des Staatsanwalts unter den in diesem Kapitel festgelegten Voraussetzungen ununterbrochen acht Tage lang fortgesetzt werden.

Wenn die Ermittlungen, die bei einem Verbrechen oder einem Vergehen, das mit einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren oder mehr bedroht ist, zur Wahrheitsfindung erforderlich sind, nicht aufgeschoben werden können, kann der Staatsanwalt beschließen, die Ermittlungen unter den gleichen Bedingungen um höchstens acht Tage zu verlängern.“

20

Art. 62-2 der Strafprozessordnung bestimmt:

„Der Polizeigewahrsam ist eine Zwangsmaßnahme, die von einem Beamten der Kriminalpolizei unter richterlicher Aufsicht angeordnet wird und mit der eine Person, gegen die ein oder mehrere Verdachtsgründe für die Begehung oder den Versuch der Begehung eines Verbrechens oder eines mit einer Freiheitsstrafe bedrohten Vergehens vorliegen, zur Verfügung der Ermittlungspersonen gehalten wird.

…“

21

Art. 78-2 der Strafprozessordnung bestimmt:

„Die Beamten der Kriminalpolizei sowie unter ihrer Aufsicht die Hilfsbeamten und beigeordneten Hilfsbeamten der Kriminalpolizei, die in den Art. 20 und 21‑1 genannt sind, können jede Person auffordern, auf beliebige Weise ihre Identität zu belegen, wenn ein oder mehrere plausible Gründe für den Verdacht bestehen, dass sie

eine Straftat begangen hat oder versucht hat, eine Straftat zu begehen, oder

ein Verbrechen oder Vergehen vorbereitet oder

sachdienliche Angaben im Rahmen von Ermittlungen wegen eines Verbrechens oder Vergehens machen kann oder

gegen die Verpflichtungen oder Verbote verstoßen hat, denen sie im Rahmen der richterlichen Aufsicht, einer Hausarrestmaßnahme mit elektronischer Überwachung, einer Strafe oder einer vom Haftrichter überprüften Maßnahme unterliegt, oder

Gegenstand einer von einer Justizbehörde angeordneten Fahndung ist.

Auf schriftliche Aufforderung des Oberstaatsanwalts zum Zweck der Untersuchung und Verfolgung der von ihm angegebenen Straftaten kann die Identität jeder Person nach denselben Modalitäten auch an den Orten und in dem Zeitraum kontrolliert werden, die dieser Staatsanwalt festlegt. Die Tatsache, dass bei einer Identitätskontrolle andere Straftaten als die in der Aufforderung des Oberstaatsanwalts genannten festgestellt werden, bildet keinen Grund für die Nichtigkeit der Zwischenverfahren.

Die Identität jeder Person kann unabhängig von deren Verhalten ebenfalls nach den in Abs. 1 festgelegten Modalitäten kontrolliert werden, um eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung, insbesondere der Sicherheit von Personen oder Gütern, zu verhindern.

In einem Gebiet zwischen der Landgrenze von Frankreich zu den Staaten, die dem [SDÜ] beigetreten sind, und einer diesseits im Abstand von 20 km zu ihr gezogenen Linie sowie in den öffentlich zugänglichen Bereichen der Häfen, Flughäfen und Eisenbahn- oder Busbahnhöfe, die für den internationalen Verkehr geöffnet und durch Erlass bestimmt sind, kann zur Verhütung und Ermittlung von Straftaten im Zusammenhang mit der grenzüberscheitenden Kriminalität die Identität jeder Person ebenfalls nach den in Abs. 1 festgelegten Modalitäten kontrolliert werden, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen zu überprüfen. … Außerdem kann bei einem Autobahnabschnitt, der in dem in Satz 1 dieses Absatzes genannten Gebiet beginnt, dann, wenn die erste Autobahnzahlstelle jenseits der 20‑km-Linie liegt, die Kontrolle bis zu dieser ersten Zahlstelle auf den Parkplätzen sowie am Ort dieser Zahlstelle und auf den daran angrenzenden Parkplätzen erfolgen. Die Zahlstellen im Sinne dieser Vorschrift werden durch Erlass bestimmt. Die Tatsache, dass bei einer Identitätskontrolle eine andere Straftat als die Nichteinhaltung der oben genannten Verpflichtungen festgestellt wird, bildet keinen Grund für die Nichtigkeit der Zwischenverfahren. Die Kontrolle der Verpflichtungen zum Besitz, Mitführen und Vorzeigen der gesetzlich vorgeschriebenen Urkunden und Bescheinigungen im Sinne dieses Absatzes darf nur für eine Dauer von bis zu sechs aufeinanderfolgenden Stunden am selben Ort durchgeführt werden und darf nicht aus einer systematischen Kontrolle von Personen bestehen, die sich in den in demselben Absatz genannten Gebieten oder Orten aufhalten oder dort reisen.

…“

Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

22

Nach der vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen zwischen Frankreich und anderen zum Schengen-Raum gehörenden Mitgliedstaaten in Frankreich nach Art. 25 des Schengener Grenzkodex wurde Herr Arib, ein marokkanischer Staatsangehöriger, gemäß den Voraussetzungen von Art. 78‑2 Abs. 9 der Strafprozessordnung am 15. Juni 2016 in dem Gebiet zwischen der französisch-spanischen Grenze und einer im Abstand von 20 km von ihr gezogenen Linie kontrolliert. Herr Arib, der Frankreich zuvor im Anschluss an eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verlassen hatte, die ihm am 10. August 2013 bekannt gegeben worden war, befand sich in einem aus Marokko kommenden Fernbus.

23

Herr Arib wurde wegen des Verdachts der illegalen Einreise in das französische Hoheitsgebiet, einem Vergehen nach Art. L. 621‑2 CESEDA, in Polizeigewahrsam genommen. Am Folgetag erließ der Präfekt gegen ihn eine Verfügung, mit der ihm aufgegeben wurde, das französische Hoheitsgebiet zu verlassen, und ordnete seine Unterbringung in Abschiebehaft an.

24

Mit Beschluss vom 21. Juni 2016 erklärte der Juge des libertés et de la détention du tribunal de grande instance de Perpignan (Haftrichter des Landgerichts Perpignan, Frankreich) die Anordnung des Polizeigewahrsams von Herrn Arib und das nachfolgende Verfahren einschließlich der Abschiebehaft von Herrn Arib für nichtig, und zwar im Wesentlichen, weil dieser nicht habe in Polizeigewahrsam genommen werden dürfen. Herr Arib, ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, habe die Binnengrenze zwischen Frankreich und Spanien überquert, so dass die Richtlinie 2008/115 anzuwenden sei, die unter Umständen wie denen des vorliegenden Falles die Verhängung einer Freiheitsstrafe nicht zulasse.

25

Mit Beschluss vom 22. Juni 2016 bestätigte der abgeordnete Richter der Cour d’appel de Montpellier (Berufungsgericht Montpellier, Frankreich) die erstinstanzliche Entscheidung. Der Präfekt des Departements Pyrénées-Orientales legte gegen diesen Beschluss Kassationsbeschwerde bei der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) ein und machte u. a. geltend, dass ein Mitgliedstaat im Fall einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit ausnahmsweise Kontrollen an seinen Binnengrenzen wiedereinführen und so von der Anwendung der Richtlinie 2008/115 teilweise absehen könne. Da die in dieser Richtlinie vorgesehenen Schutzmaßnahmen unter diesen Umständen nicht zur Anwendung kämen, könne eine illegal nach Frankreich eingereiste Person gemäß Art. 78‑2 Abs. 9 der Strafprozessordnung kontrolliert und gegen sie, da sie illegal aufhältig sei, eine Freiheitsstrafe verhängt und sie daher in Polizeigewahrsam genommen werden.

26

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass zum einen der Schengener Grenzkodex den Grundsatz der Freizügigkeit innerhalb des Schengen-Raums aufstelle und vorsehe, dass keine Grenzkontrollen an den Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten stattfänden, und zum anderen bei einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit eines Mitgliedstaats dieser nach Art. 25 dieses Kodex unter außergewöhnlichen Umständen Kontrollen an allen oder einem Teil seiner Binnengrenzen für einen begrenzten Zeitraum wiedereinführen dürfe.

27

Auch fänden nach Art. 32 des Schengener Grenzkodex bei Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen die einschlägigen Bestimmungen des Titels II dieses Kodex zu den Außengrenzen entsprechende Anwendung. Insoweit sähen nach Art. 5 Abs. 3 des Kodex die Mitgliedstaaten wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen für das unbefugte Überschreiten der Außengrenzen vor. Zudem diene nach Art. 13 des Kodex die Grenzüberwachung der Verhinderung des unbefugten Grenzübertritts und der Veranlassung von Maßnahmen gegen Personen, die die Grenze unerlaubt überschritten hätten, so dass eine Person, die eine Grenze unerlaubt überschritten habe und über kein Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verfüge, aufgegriffen und Verfahren unterzogen werde, die mit der Richtlinie 2008/115 in Einklang stünden.

28

Die Richtlinie 2008/115 verpflichte die Mitgliedstaaten, gegen jeden illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen die Abschiebung anzuordnen, wobei der Drittstaatsangehörige nur in Haft genommen werden dürfe, um seine Rückkehr vorzubereiten oder die Abschiebung durchzuführen, und nur, sofern keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden könnten. Das vorlegende Gericht verweist auf das Urteil vom 7. Juni 2016, Affum (C‑47/15, EU:C:2016:408), in dem der Gerichtshof entschieden habe, dass die Richtlinie 2008/115 der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehe, die allein aufgrund des Umstands der illegalen Einreise über eine Binnengrenze, die zu einem illegalen Aufenthalt führe, die Strafhaft eines Drittstaatsangehörigen zulasse, für den das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückführungsverfahren noch nicht abgeschlossen worden sei.

29

Das vorlegende Gericht führt aus, dass Art. L. 621-2 CESEDA die illegale Einreise in das Hoheitsgebiet mit einer Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe bestrafe, wenn sie auf frischer Tat festgestellt werde.

30

Angesichts dieser Bestimmung stelle sich zunächst die Frage, ob die wiedereingeführte Kontrolle an der Binnengrenze eines Mitgliedstaats der an einer Außengrenze vorgenommenen Kontrolle eines nicht zur Einreise berechtigten Drittstaatsangehörigen, der diese Außengrenze überschreite, gleichzustellen sei, wenn die Kontrolle auf frischer Tat erfolge.

31

Würde diese Frage bejaht, wären nach Ansicht des vorlegenden Gerichts sodann die Modalitäten dieser Kontrolle zu bestimmen. Insoweit ermögliche zum einen Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 den Mitgliedstaaten, an ihren Außengrenzen weiterhin vereinfachte nationale Rückführungsverfahren durchzuführen, ohne alle von dieser Richtlinie vorgesehenen Verfahrensschritte befolgen zu müssen, um die beim Überschreiten dieser Grenzen abgefangenen Drittstaatsangehörigen schneller abschieben zu können. Zum anderen schränke Art. 4 Abs. 4 dieser Richtlinie die Ausübung der in ihrem Art. 2 Abs. 2 Buchst. a vorgesehenen Befugnis durch die Mitgliedstaaten ein, da die Mitgliedstaaten bestimmte Mindestgarantien zu beachten hätten, zu denen insbesondere die in ihren Art. 16 und 17 vorgesehenen Haftbedingungen zählten.

32

Das vorlegende Gericht hegt daher Zweifel, ob ein Mitgliedstaat, der die Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereingeführt habe, diesen Art. 2 Abs. 2 Buchst. a in Anspruch nehmen könne, um einen Drittstaatsangehörigen, der eine solche Grenze illegal überschreite und sich noch nicht im Inland aufgehalten habe, vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 auszuschließen.

33

Würde dies bejaht, stelle sich schließlich die Frage, ob Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sei, dass er unter den tatsächlichen Umständen des vorliegenden Falles der Inhaftierung von Drittstaatsangehörigen nicht entgegenstehe.

34

Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist Art. 32 des Schengener Grenzkodex, wonach bei Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen die einschlägigen Bestimmungen des Titels II (über die Außengrenzen) entsprechend Anwendung finden, dahin auszulegen, dass die wiedereingeführten Kontrollen an einer Binnengrenze eines Mitgliedstaats den an einer Außengrenze durchgeführten Kontrollen bei ihrer Überschreitung durch einen nicht zur Einreise berechtigten Drittstaatsangehörigen gleichzustellen sind?

2.

Erlauben es unter den gleichen Umständen der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen dieser Kodex und die Richtlinie 2008/115, die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie vorgesehene Befugnis für die Mitgliedstaaten, an ihren Außengrenzen weiterhin vereinfachte nationale Rückführungsverfahren durchzuführen, auf den Fall eines Drittstaatsangehörigen anzuwenden, der eine Grenze überschreitet, an der die Kontrollen wiedereingeführt wurden?

3.

Falls die letztgenannte Frage bejaht wird, stehen dann die Bestimmungen von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 einer nationalen Regelung wie Art. L. 621‑2 CESEDA entgegen, wonach die illegale Einreise eines Drittstaatsangehörigen, für den das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückführungsverfahren noch nicht abgeschlossen worden ist, in das Inland mit Freiheitsstrafe bedroht ist?

Zu den Vorlagefragen

Zu der ersten und der zweiten Frage

35

Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 32 des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen ist, dass er für den Fall eines Drittstaatsangehörigen, der in unmittelbarer Nähe einer Binnengrenze eines Mitgliedstaats aufgegriffen wird, gilt, wenn dieser Mitgliedstaat gemäß Art. 25 dieses Kodex wegen einer ernsthaften Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder seine innere Sicherheit Kontrollen an dieser Grenze wiedereingeführt hat.

36

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass, wie oben in den Rn. 22 und 23 ausgeführt, Herrn Arib, einem marokkanischen Staatsangehörigen, nicht die Einreise in das französische Hoheitsgebiet verweigert wurde, sondern er von den französischen Behörden in unmittelbarer Nähe der französisch-spanischen Grenze nach der Wiedereinführung von Kontrollen an dieser Grenze gemäß Art. 25 des Schengener Grenzkodex kontrolliert und im Anschluss an diese Kontrolle in Polizeigewahrsam genommen wurde, da der Verdacht eines Vergehens nach Art. L. 621‑2 CESEDA, der illegalen Einreise in das französische Hoheitsgebiet, bestand.

37

Insoweit ist erstens festzustellen, dass sich sowohl aus der Definition des Begriffs „illegaler Aufenthalt“ in Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/115 als auch aus dem fünften Erwägungsgrund dieser Richtlinie, nach dem diese „für sämtliche Drittstaatsangehörige [gilt], die die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllen“, ergibt, dass ein Drittstaatsangehöriger, der sich im Anschluss an seine illegale Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats in diesem befindet, ohne die Voraussetzungen für die Einreise oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, deswegen dort illegal aufhältig ist, ohne dass Voraussetzungen für die Mindestdauer einer solchen Anwesenheit oder hinsichtlich der Absicht zum Verbleib in diesem Hoheitsgebiet bestünden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2016, Affum, C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 48 und 59).

38

Ein Drittstaatsangehöriger, der, wie Herr Arib, nach seiner illegalen Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, ohne die Voraussetzungen für die Einreise oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, dort in unmittelbarer Nähe einer der Binnengrenzen dieses Mitgliedstaats abgefangen wird, muss daher als im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats illegal aufhältig angesehen werden.

39

Ein Drittstaatsangehöriger, der sich in einer solchen Lage befindet, fällt nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 – vorbehaltlich des Art. 2 Abs. 2 dieser Richtlinie – in deren Anwendungsbereich. Er ist daher grundsätzlich den darin vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren im Hinblick auf seine Abschiebung zu unterwerfen, sofern sein Aufenthalt nicht gegebenenfalls legalisiert wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2016, Affum, C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 61).

40

Zweitens ist insoweit darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs diese Richtlinie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, auf den das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückführungsverfahren angewandt wurde und der sich entweder ohne einen Rechtfertigungsgrund für seine Nichtrückkehr illegal in dem genannten Hoheitsgebiet aufhält oder unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot erneut in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats eingereist ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2016, Affum, C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 54 und 64).

41

Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten sowie den Antworten in der mündlichen Verhandlung auf die Fragen des Gerichtshofs ergibt sich jedoch, dass Herr Arib sich nicht in einer der vorstehend beschriebenen Situationen befindet.

42

Drittens ist festzustellen, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 den Mitgliedstaaten erlaubt, diese – vorbehaltlich der Bestimmungen in Art. 4 Abs. 4 dieser Richtlinie – in zwei Sonderfällen nicht anzuwenden, nämlich bei Drittstaatsangehörigen, die nach Art. 14 des Schengener Grenzkodex einem Verbot der Einreise über eine Außengrenze eines Mitgliedstaats unterliegen, oder bei Drittstaatsangehörigen, die in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten einer solchen Außengrenze aufgegriffen oder abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten.

43

Wie oben in Rn. 36 festgestellt, unterlag Herr Arib keinem Einreiseverbot für das französische Hoheitsgebiet. Er kann folglich jedenfalls nicht unter den ersten der beiden Fälle von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 fallen.

44

Es ist daher zu bestimmen, ob ein Drittstaatsangehöriger, der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats illegal aufhältig ist und der in unmittelbarer Nähe einer Binnengrenze dieses Mitgliedstaats aufgegriffen wurde, unter den zweiten Fall von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 fällt, wenn der betreffende Mitgliedstaat nach Art. 25 des Schengener Grenzkodex wegen einer schweren Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder seiner inneren Sicherheit Kontrollen an dieser Grenze wiedereingeführt hat.

45

Als Erstes ist insoweit festzustellen, dass sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die beiden Fälle von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 ausschließlich auf das Überschreiten einer Außengrenze eines Mitgliedstaats, wie in Art. 2 des Schengener Grenzkodex definiert, beziehen und somit nicht das Überschreiten einer gemeinsamen Grenze von Mitgliedstaaten, die zum Schengen-Raum gehören, betreffen (Urteil vom 7. Juni 2016, Affum, C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 69).

46

Genauer gesagt setzt der zweite Fall von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 einen unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang zwischen dem Aufgreifen oder dem Abfangen des Drittstaatsangehörigen und dem Überschreiten einer Außengrenze voraus. Er betrifft also Drittstaatsangehörige, die von den zuständigen Behörden zum Zeitpunkt des illegalen Überschreitens einer Außengrenze selbst oder nach dem Übertritt in der Nähe dieser Grenze aufgegriffen oder abgefangen worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2016, Affum, C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 72).

47

Daher ist Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen, dass er es den Mitgliedstaaten nicht erlaubt, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige wegen ihrer illegalen Einreise über eine Binnengrenze vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie auszuschließen (Urteil vom 7. Juni 2016, Affum, C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 69 und 77).

48

Als Zweites ist jedoch festzustellen, ob der Umstand, dass ein Mitgliedstaat nach Art. 25 des Schengener Grenzkodex Kontrollen an seinen Binnengrenzen wiedereingeführt hat, den Fall eines Drittstaatsangehörigen, der im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats illegal aufhältig ist und in der Nähe einer solchen Binnengrenze aufgegriffen wurde, unter Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 fallen lassen kann.

49

Art. 25 des Schengener Grenzkodex gestattet einem Mitgliedstaat bei einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit dieses Mitgliedstaats unter außergewöhnlichen Umständen die Wiedereinführung von Kontrollen an allen oder bestimmten Abschnitten seiner Binnengrenzen für einen begrenzten Zeitraum. Nach Art. 32 dieses Kodex finden bei Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen die einschlägigen Bestimmungen dieses Kodex über die Außengrenzen entsprechend Anwendung.

50

Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Ausnahme als Abweichung vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie eng auszulegen ist.

51

Wie sich bereits aus den Rn. 45 und 47 des vorliegenden Urteils ergibt, bezieht sich diese Vorschrift jedoch nach ihrem eigenen, insoweit eindeutig formulierten Wortlaut auf die Situation eines Drittstaatsangehörigen, der sich an einer „Außengrenze“ eines Mitgliedstaats oder in unmittelbarer Nähe einer solchen Außengrenze befindet. Es gibt folglich darin keinen Hinweis darauf, dass einer solchen Situation die eines Drittstaatsangehörigen gleichgestellt werden könnte, der sich an einer Binnengrenze befindet, an der nach Art. 25 des Schengener Grenzkodex Kontrollen wiedereingeführt worden sind, oder in unmittelbarer Nähe einer solchen Binnengrenze, obwohl zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Richtlinie die Art. 23 und 28 der Verordnung Nr. 562/2006 bereits vorsahen, dass zum einen die Mitgliedstaaten unter außergewöhnlichen Umständen bei einer ernsthaften Bedrohung ihrer öffentlichen Ordnung oder ihrer inneren Sicherheit Kontrollen wiedereinführen durften und zum anderen in einem solchen Fall die einschlägigen Bestimmungen dieser Verordnung in Bezug auf die Außengrenzen entsprechend Anwendung finden.

52

Zweitens hat der Gerichtshof zu dem von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 verfolgten Zweck bereits festgestellt, dass dieser darin besteht, den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, an ihren Außengrenzen weiterhin vereinfachte nationale Rückführungsverfahren durchzuführen, ohne alle von der Richtlinie vorgesehenen Verfahrensschritte befolgen zu müssen, um die beim Überschreiten einer solchen Grenze aufgegriffenen Drittstaatsangehörigen schneller abschieben zu können (Urteil vom 7. Juni 2016, Affum, C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 74).

53

Insoweit behandelt Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 das Abfangen oder Aufgreifen in unmittelbarer Nähe einer Außengrenze eines Mitgliedstaats, das in Art. 13 des Schengener Grenzkodex geregelt wird, und den Erlass eines Einreiseverbots im Sinne von Art. 14 dieses Kodex gleich.

54

Während nämlich, wie Art. 14 Abs. 4 des Schengener Grenzkodex bestätigt, eine Verweigerung der Einreise in das Hoheitsgebiet des Schengen-Raumes vermeiden soll, dass der von ihr betroffene Drittstaatsangehörige dieses Hoheitsgebiet betritt, ermöglicht auch das Aufgreifen oder Abfangen eines solchen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen bei der Überschreitung einer Außengrenze oder in unmittelbarer Nähe einer solchen Grenze den zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht des Ortes, wo dieser Drittstaatsangehörige aufgegriffen wurde, leicht und rasch die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um zu vermeiden, dass er in diesem Hoheitsgebiet bleibt, indem er unverzüglich an die Außengrenze verbracht wird, die er illegal überschritten hat.

55

Unter solchen Umständen, die namentlich durch die Nähe einer Außengrenze gekennzeichnet sind, kann es gerechtfertigt sein, einem Mitgliedstaat zu gestatten, nicht alle in der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Verfahrensschritte zu befolgen, um die Rückkehr von Drittstaatsangehörigen, die in seinem Hoheitsgebiet illegal aufhältig sind, in ein Drittland zu beschleunigen.

56

Umgekehrt hat die bloße Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen eines Mitgliedstaats nicht zur Folge, dass ein Drittstaatsangehöriger, der illegal aufhältig ist und beim Überschreiten dieser Grenze oder in deren unmittelbarer Nähe aufgegriffen wird, dadurch, dass er unverzüglich an eine Außengrenze verbracht wird, schneller und leichter aus dem Hoheitsgebiet des Schengen-Raumes ausgewiesen werden könnte, als wenn er am gleichen Ort bei einer Polizeikontrolle im Sinne von Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex aufgegriffen worden wäre, ohne dass an diesen Grenzen Kontrollen wiedereingeführt worden wären.

57

Anders als die deutsche Regierung sinngemäß vorbringt, wird eine solche Schlussfolgerung nicht dadurch in Frage gestellt, dass Pflichten der Beförderungsunternehmer nach Anhang V Teil A Nr. 2 des Schengener Grenzkodex und Art. 26 des SDÜ berücksichtigt werden.

58

Selbst wenn solche Pflichten nach Art. 32 dieses Kodex auch bei einer Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen gelten sollten, ist festzustellen, dass Anhang V Teil A Nr. 2 des Schengener Grenzkodex und Art. 26 des SDÜ zur Folge haben, dass für die Beförderungsunternehmer die Pflicht, den von ihnen beförderten Drittstaatsangehörigen zurückzubringen, nur entsteht, wenn diesem die Einreise verweigert wird, nicht aber, wenn dieser Drittstaatsangehörige, wie Herr Arib, nach dem illegalen Grenzübertritt aufgegriffen oder abgefangen wird.

59

Daraus ergibt sich für den von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 angestrebten Zweck, dass in der Situation eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der in unmittelbarer Nähe einer Binnengrenze aufgegriffen wird, nicht danach zu unterscheiden ist, ob an dieser Grenze Kontrollen wiedereingeführt wurden oder nicht.

60

Drittens wird die Notwendigkeit einer restriktiven Auslegung von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 auch durch eine Betrachtung des Zusammenhangs, in den sich diese Bestimmung einfügt, insbesondere durch eine systematische Betrachtung des Schengener Grenzkodex, bestätigt.

61

Insoweit ist zunächst festzustellen, dass, wie sich aus diesem Kodex ergibt, eine Binnengrenze, an der nach Art. 25 des Kodex von einem Mitgliedstaat Kontrollen wiedereingeführt worden sind, nicht mit einer Außengrenze im Sinne dieses Kodex gleichbedeutend ist.

62

Nach Art. 2 des Schengener Grenzkodex schließen nämlich die Begriffe „Binnengrenzen“ und „Außengrenzen“ einander aus. Art. 32 dieses Kodex sieht aber lediglich vor, dass bei der Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen durch einen Mitgliedstaat nur die einschlägigen Bestimmungen dieses Kodex über die Außengrenzen entsprechend Anwendung finden. Dagegen sieht Art. 32 des Kodex, wie der Generalanwalt sinngemäß in Nr. 52 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht vor, dass in einem solchen Fall Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 Anwendung findet. Bereits der Wortlaut des Schengener Grenzkodex steht daher dem entgegen, dass für die Zwecke dieser Richtlinie eine Binnengrenze, an der nach Art. 25 dieses Kodex Kontrollen wiedereingeführt worden sind, einer Außengrenze gleichgesetzt wird.

63

Sodann trifft es, wie das vorlegende Gericht hervorhebt, zu, dass Art. 5 Abs. 3 des Schengener Grenzkodex die Mitgliedstaaten verpflichtet, für das unbefugte Überschreiten der Außengrenzen außerhalb der Grenzübergangsstellen oder der festgesetzten Verkehrsstunden Sanktionen vorzusehen, die wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind.

64

Unabhängig davon, ob diese Bestimmung eine bei Wiedereinführung einer Grenzkontrolle durch einen Mitgliedstaat an seinen Binnengrenzen entsprechend anwendbare einschlägige Bestimmung im Sinne von Art. 32 des Schengener Grenzkodex ist, ist jedoch in jedem Fall festzustellen, dass mit dieser Bestimmung keineswegs eine Änderung der von der Richtlinie 2008/115 geschaffenen gemeinsamen Normen und Verfahren beabsichtigt wird, wie dies im Übrigen in Art. 13 Abs. 1 dieses Kodex ausdrücklich bestätigt wird, der vorsieht, dass Maßnahmen gegen Personen veranlasst werden müssen, die eine Außengrenze unerlaubt überschritten haben, und dass diese Personen, wenn sie nicht über ein Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verfügen, aufzugreifen und Verfahren zu unterziehen sind, die mit der Richtlinie 2008/115 in Einklang stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2016, Affum, C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 90).

65

Art. 13 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex soll daher das Verhältnis zwischen der Grenzüberwachung und der Durchführung der in der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Rückführungsverfahren klarstellen (Urteil vom 26. Juli 2017, Jafari, C‑646/16, EU:C:2017:586, Rn. 69). Daraus ergibt sich, dass die von den Mitgliedstaaten namentlich im Einklang mit Art. 5 Abs. 3 des Schengener Grenzkodex zur Gewährleistung der Effektivität der Grenzüberwachung ergriffenen Maßnahmen nicht die Wirkung haben können, die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus dieser Richtlinie zu ändern.

66

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2008/115 den Mitgliedstaaten nicht die Befugnis nimmt, die Verwirklichung anderer Straftatbestände als solcher, die nur eine illegale Einreise zum Gegenstand haben, mit einer Freiheitsstrafe zu ahnden, und zwar auch in Fällen, in denen das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückführungsverfahren noch nicht abgeschlossen worden ist (Urteil vom7. Juni 2016, Affum, C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 65). Daher steht diese Richtlinie auch nicht der Inhaftierung oder polizeilichen Ingewahrsamnahme eines Drittstaatsangehörigen entgegen, der illegal aufhältig ist, wenn solche Maßnahmen aus dem Grund erlassen werden, dass dieser Staatsangehörige verdächtigt wird, ein anderes Vergehen als nur die illegale Einreise in das Hoheitsgebiet begangen zu haben, vor allem ein Vergehen, das die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats bedrohen kann.

67

Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 32 des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen ist, dass er nicht für den Fall eines Drittstaatsangehörigen gilt, der in unmittelbarer Nähe einer Binnengrenze aufgegriffen wird und der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats illegal aufhältig ist, auch wenn dieser Mitgliedstaat gemäß Art. 25 dieses Kodex wegen einer ernsthaften Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder seine innere Sicherheit Kontrollen an dieser Grenze wiedereingeführt hat.

Zur dritten Frage

68

Angesichts der Antwort auf die erste und die zweite Frage ist die dritte Frage nicht zu beantworten.

Kosten

69

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Verbindung mit Art. 32 der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) ist dahin auszulegen, dass er nicht für den Fall eines Drittstaatsangehörigen gilt, der in unmittelbarer Nähe einer Binnengrenze aufgegriffen wird und der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats illegal aufhältig ist, auch wenn dieser Mitgliedstaat gemäß Art. 25 dieses Kodex wegen einer ernsthaften Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder seine innere Sicherheit Kontrollen an dieser Grenze wiedereingeführt hat.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

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