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Document 62016CJ0560

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 7. März 2018.
E.ON Czech Holding AG gegen Michael Dĕdouch u. a.
Vorabentscheidungsersuchen des Nejvyšší soud.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EG) Nr. 44/2001 – Gerichtliche Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen – Ausschließliche Zuständigkeiten – Art. 22 Nr. 2 – Gültigkeit der Beschlüsse der Organe einer Gesellschaft oder juristischen Person mit Sitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats – Ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte dieses Mitgliedstaats – Beschluss der Hauptversammlung einer Gesellschaft, mit dem die zwangsweise Übertragung der Beteiligungen von Minderheitsaktionären der Gesellschaft an den Mehrheitsaktionär angeordnet und zugleich die Höhe der Abfindung festgelegt wird, die der Mehrheitsaktionär den Minderheitsaktionären zu zahlen verpflichtet ist – Gerichtsverfahren zur Überprüfung der Angemessenheit der Abfindung.
Rechtssache C-560/16.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2018:167

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

7. März 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EG) Nr. 44/2001 – Gerichtliche Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen – Ausschließliche Zuständigkeiten – Art. 22 Nr. 2 – Gültigkeit der Beschlüsse der Organe einer Gesellschaft oder juristischen Person mit Sitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats – Ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte dieses Mitgliedstaats – Beschluss der Hauptversammlung einer Gesellschaft, mit dem die zwangsweise Übertragung der Beteiligungen von Minderheitsaktionären der Gesellschaft an den Mehrheitsaktionär angeordnet und zugleich die Höhe der Abfindung festgelegt wird, die der Mehrheitsaktionär den Minderheitsaktionären zu zahlen verpflichtet ist – Gerichtsverfahren zur Überprüfung der Angemessenheit der Abfindung“

In der Rechtssache C‑560/16,

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Nejvyšší soud (Oberstes Gericht, Tschechische Republik) mit Entscheidung vom 20. September 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 4. November 2016, in dem Verfahren

E.ON Czech Holding AG

gegen

Michael Dědouch,

Petr Streitberg,

Pavel Suda,

Beteiligte:

Jihočeská plynárenská, a.s.,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev, S. Rodin und E. Regan,

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der E.ON Czech Holding AG, vertreten durch D. Vosol, advokát,

von Herrn Dědouch, Herrn Streitberg und Herrn Suda, vertreten durch P. Zima, advokát,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Heller und J. Hradil als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. November 2017

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Nr. 1 Buchst. a und Nr. 3 sowie Art. 22 Nr. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der E.ON Czech Holding AG (im Folgenden: E.ON) auf der einen Seite und Michael Dědouch, Petr Streitberg und Pavel Suda auf der anderen Seite wegen der Überprüfung der Angemessenheit der Abfindung, die E.ON den Minderheitsaktionären nach einer zwangsweisen Übertragung ihrer Beteiligungen an der Jihočeská plynárenská, a.s. für ihren Ausschluss zu zahlen verpflichtet ist.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 2, 11 und 12 der Verordnung Nr. 44/2001 lauten:

„(2)

Die Unterschiede zwischen bestimmten einzelstaatlichen Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen erschweren das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts. Es ist daher unerlässlich, Bestimmungen zu erlassen, um die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen zu vereinheitlichen und die Formalitäten im Hinblick auf eine rasche und unkomplizierte Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen aus den durch diese Verordnung gebundenen Mitgliedstaaten zu vereinfachen.

(11)

Die Zuständigkeitsvorschriften müssen in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten, und diese Zuständigkeit muss stets gegeben sein außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. Der Sitz juristischer Personen muss in der Verordnung selbst definiert sein, um die Transparenz der gemeinsamen Vorschriften zu stärken und Kompetenzkonflikte zu vermeiden.

(12)

Der Gerichtsstand des Wohnsitzes des Beklagten muss durch alternative Gerichtsstände ergänzt werden, die entweder aufgrund der engen Verbindung zwischen Gericht und Rechtsstreit oder im Interesse einer geordneten Rechtspflege zuzulassen sind.“

4

Art. 1 Abs. 1 der Verordnung sieht vor:

„Diese Verordnung ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. Sie erfasst insbesondere nicht Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten.“

5

Art. 2 Abs. 1 der Verordnung lautet:

„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.“

6

Art. 5 der Verordnung sieht vor:

„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:

1.

a)

wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem das Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre;

3.

wenn eine unerlaubte Handlung oder eine Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder wenn Ansprüche aus einer solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht;

…“

7

Art. 6 der Verordnung Nr. 44/2001 sieht vor:

„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann auch verklagt werden:

1.

wenn mehrere Personen zusammen verklagt werden, vor dem Gericht des Ortes, an dem einer der Beklagten seinen Wohnsitz hat, sofern zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten;

…“

8

Art. 22 der Verordnung bestimmt:

„Ohne Rücksicht auf den Wohnsitz sind ausschließlich zuständig:

2.

für Klagen, welche die Gültigkeit, die Nichtigkeit oder die Auflösung einer Gesellschaft oder juristischen Person oder die Gültigkeit der Beschlüsse ihrer Organe zum Gegenstand haben, die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Gesellschaft oder juristische Person ihren Sitz hat. Bei der Entscheidung darüber, wo der Sitz sich befindet, wendet das Gericht die Vorschriften seines Internationalen Privatrechts an;

…“

Tschechisches Recht

9

§ 183i des Zákon č. 513/1991 Sb., obchodní zákoník (Gesetz Nr. 513/1991, Handelsgesetzbuch), in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung, bestimmt:

„1.   Eine Person, die Inhaber von Beteiligungen an einer Gesellschaft ist, a) deren Nennwertsumme mindestens 90 % des Grundkapitals der Gesellschaft beträgt, oder b) die Beteiligungen ersetzen, deren Nennwertsumme mindestens 90 % des Grundkapitals der Gesellschaft beträgt, oder c) mit denen mindestens 90 % der Stimmrechte der Gesellschaft verbunden sind (im Folgenden: Mehrheitsaktionär), ist berechtigt, den Vorstand zur Einberufung einer Hauptversammlung aufzufordern, in der die Übertragung der übrigen Beteiligungen auf den Mehrheitsaktionär beschlossen wird.

3.   Der Beschluss der Hauptversammlung umfasst auch die Identifizierung des Mehrheitsaktionärs, die Angaben, die nachweisen, dass dieser Aktionär Mehrheitsaktionär ist, sowie die [Festlegung der] Höhe der Abfindung … und der Frist für die Zahlung der Abfindung.“

10

§ 183k des Gesetzes bestimmt:

„1.   Die Inhaber von Beteiligungen sind ab dem Zeitpunkt, an dem sie die Einladung zur Hauptversammlung erhalten, bzw. dem Zeitpunkt, an dem die Einberufung der Hauptversammlung bekannt gegeben wird, berechtigt, bei Gericht die Überprüfung der Angemessenheit der Abfindung zu beantragen; …

3.   Eine Gerichtsentscheidung, die ein Recht auf eine Abfindung in anderer Höhe zuerkennt, ist für den Mehrheitsaktionär und für die Gesellschaft hinsichtlich der Grundlage des zuerkannten Rechts und auch gegenüber den anderen Inhabern von Beteiligungen bindend. …

4.   Die Feststellung der Unangemessenheit der Höhe einer Abfindung bewirkt nicht die Nichtigkeit des Beschlusses der Hauptversammlung gemäß § 183i Abs. 1.

5.   Die Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses der Hauptversammlung gemäß § 131 kann nicht auf die Unangemessenheit der Höhe einer Abfindung gestützt werden.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11

Mit Beschluss vom 8. Dezember 2006 hat die Hauptversammlung der Jihočeská plynárenská entschieden, sämtliche Beteiligungen an dieser Gesellschaft zwangsweise auf ihren Mehrheitsaktionär E.ON zu übertragen.

12

Der Beschluss enthielt Angaben über die Höhe der Abfindung, die E.ON infolge der Übertragung an die Minderheitsaktionäre zu zahlen verpflichtet war.

13

Mit am 26. Januar 2007 eingereichter Klage beantragten die Herren Dědouch, Streitberg und Suda beim Krajský soud v Českých Budějovicích (Regionalgericht Böhmisch Budweis, Tschechische Republik) die Überprüfung der Angemessenheit der Abfindung.

14

Im Laufe dieses Verfahrens erhob E.ON eine Einrede der Unzuständigkeit der tschechischen Gerichte, da in Anbetracht ihres Sitzes ausschließlich deutsche Gerichte international zuständig seien.

15

Mit Beschluss vom 26. August 2009 wies der Krajský soud v Českých Budějovicích (Regionalgericht Böhmisch Budweis) diese Einrede mit der Begründung ab, dass die Zuständigkeit der tschechischen Gerichte für die Klage durch Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 begründet werde.

16

E.ON legte gegen diesen Beschluss beim Vrchní soud v Praze (Obergericht Prag, Tschechische Republik) Rechtsmittel ein, der mit Beschluss vom 22. Juni 2010 feststellte, dass es sich um ein Verfahren gemäß Art. 22 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 handele und unter Berücksichtigung des Sitzes der Jihočeská plynárenská die tschechischen Gerichte international zuständig seien.

17

Aufgrund einer von E.ON eingelegten Verfassungsbeschwerde hob der Ústavní soud (Verfassungsgericht, Tschechische Republik) mit Urteil vom 11. September 2012 den Beschluss auf und verwies das Verfahren zurück an den Vrchní soud v Praze (Obergericht Prag).

18

Dieser stellte mit Beschluss vom 2. Mai 2014 fest, dass die tschechischen Gerichte nach Art. 5 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 44/2001 für den Ausgangsrechtsstreit zuständig seien.

19

Gegen diesen Beschluss legte E.ON beim Vorlagegericht Rechtsmittel ein.

20

Unter diesen Umständen hat der Nejvyšší soud (Oberstes Gericht, Tschechische Republik) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist Art. 22 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen, dass er auch Verfahren betreffend die Überprüfung der Angemessenheit der Abfindung umfasst, die der Mehrheitsaktionär an die Minderheitsaktionäre für den Wert ihrer Beteiligungen, die durch einen Beschluss der Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft zwangsweise auf ihn übertragen worden sind (Ausschluss, „squeeze out“), zu zahlen verpflichtet ist, wenn der Beschluss der Hauptversammlung der Aktiengesellschaft die Höhe der angemessenen Abfindung bestimmt und die Gerichtsentscheidung, mit der ein Recht auf eine Abfindung in anderer Höhe zuerkannt worden ist, für den Mehrheitsaktionär und für die Gesellschaft im Hinblick auf die Grundlage des zuerkannten Rechts und auch gegenüber den anderen Inhabern von Beteiligungen bindend ist?

2.

Bei Verneinung der ersten Frage: Ist Art. 5 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen, dass er auch das in der ersten Vorlagefrage beschriebene Verfahren der Überprüfung der Angemessenheit der Abfindung umfasst?

3.

Bei Verneinung der ersten und der zweiten Frage: Ist Art. 5 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen, dass er auch das in der ersten Vorlagefrage beschriebene Verfahren der Überprüfung der Angemessenheit der Abfindung umfasst?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

21

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 22 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass für eine Klage wie die im Ausgangsrechtsstreit, die auf die Überprüfung der Angemessenheit der Abfindung gerichtet ist, die der Mehrheitsaktionär einer Gesellschaft den Minderheitsaktionären im Fall der zwangsweisen Übertragung ihrer Anteile an den Mehrheitsaktionär zu zahlen verpflichtet ist, ausschließlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dem diese Gesellschaft ihren Sitz hat.

22

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Beschluss der Hauptversammlung der Jihočeská plynárenská zwar sowohl die Übertragung der Anteile an den Hauptaktionär als auch die Festlegung der Höhe der den Minderheitsaktionären zu zahlenden Abfindung zum Gegenstand hatte, die Herren Dědouch, Streitberg und Suda in ihrer Klage aber lediglich die Angemessenheit des Betrags anfechten.

23

Falls die Klage zu einer Entscheidung führen sollte, wonach der Betrag nicht angemessen ist, schließt das tschechische Recht ausdrücklich aus, dass diese Entscheidung zur Ungültigkeit des Beschlusses der Hauptversammlung hinsichtlich der Übertragung führt oder dass eine Klage gegen die Gültigkeit des Beschlusses auf diese Entscheidung gestützt werden kann.

24

Folglich erscheint es bei einer wörtlichen Auslegung von Art. 22 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 keineswegs sicher, dass eine solche Klage unter diese Bestimmung fällt, da die darin aufgestellte Zuständigkeitsregel nur auf Klagen zur „Gültigkeit der Beschlüsse [der] Organe“ einer Gesellschaft oder juristischen Person anwendbar ist.

25

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Vorschriften der Verordnung Nr. 44/2001 autonom und unter Bezugnahme auf deren Systematik und Zielsetzungen auszulegen (Urteile vom 13. Juli 2006, Reisch Montage, C‑103/05, EU:C:2006:471, Rn. 29, vom 2. Oktober 2008, Hassett und Doherty, C‑372/07, EU:C:2008:534, Rn. 17, und vom 16. Januar 2014, Kainz, C‑45/13, EU:C:2014:7, Rn. 19).

26

Hinsichtlich der Systematik und des inneren Aufbaus der Verordnung Nr. 44/2001 ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 2 der Verordnung vorgesehene Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Beklagte seinen Wohnsitz hat, die allgemeine Regel darstellt, und dass die genannte Verordnung Regeln über eine besondere oder ausschließliche Zuständigkeit nur als Ausnahme von dieser Regel für abschließend aufgeführte Fälle vorsieht, in denen eine Person vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats – je nach Lage des Falles – verklagt werden kann oder muss (Urteile vom 13. Juli 2006, Reisch Montage, C‑103/05, EU:C:2006:471, Rn. 22, und vom 12. Mai 2011, BVG, C‑144/10, EU:C:2011:300, Rn. 30).

27

Die Regeln über besondere und ausschließliche Zuständigkeiten sind daher eng auszulegen. Die Bestimmungen des Art. 22 der Verordnung Nr. 44/2001 dürfen nämlich als Ausnahme von der Regel nicht weiter ausgelegt werden, als es ihre Zielsetzung erfordert (Urteile vom 2. Oktober 2008, Hassett und Doherty, C‑372/07, EU:C:2008:534, Rn. 18 und 19, sowie vom 12. Mai 2011, BVG, C‑144/10, EU:C:2011:300, Rn. 30).

28

Die Zielsetzung und der Zweck der Verordnung Nr. 44/2001 ergeben sich aus ihren Erwägungsgründen 2 und 11, wonach die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen durch in hohem Maß vorhersehbare Zuständigkeitsvorschriften vereinheitlicht werden sollen. Die Verordnung verfolgt damit einen der Rechtssicherheit dienenden Zweck, der darin besteht, den Rechtsschutz der in der Union ansässigen Personen in der Weise zu verbessern, dass ein Kläger ohne Schwierigkeiten festzustellen vermag, welches Gericht er anrufen kann, und ein Beklagter bei vernünftiger Betrachtung vorhersehen kann, vor welchem Gericht er verklagt werden kann (Urteile vom 23. April 2009, Falco Privatstiftung und Rabitsch, C‑533/07, EU:C:2009:257, Rn. 21 und 22, vom 17. März 2016, Taser International, C‑175/15, EU:C:2016:176, Rn. 32, sowie vom 14. Juli 2016, Granarolo, C‑196/15, EU:C:2016:559, Rn. 16).

29

Außerdem geht aus dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung hervor, dass die Zuständigkeitsregeln, die die Ausnahme von der allgemeinen Regel der Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, auf dessen Hoheitsgebiet der Beklagte seinen Wohnsitz hat, darstellen, diese ergänzen, sofern eine enge Verbindung zwischen dem durch diese Regeln bezeichneten Gericht und dem Rechtsstreit besteht oder um eine geordnete Rechtspflege zu erleichtern.

30

Die Regeln zur ausschließlichen Zuständigkeit nach Art. 22 der Verordnung Nr. 44/2001 zielen insbesondere darauf ab, die von ihnen erfassten Fälle denjenigen Gerichten vorzubehalten, die eine sachliche und rechtliche Nähe zum Fall aufweisen (vgl. Urteil vom 13. Juli 2006, GAT, C‑4/03, EU:C:2006:457, Rn. 21, zu Art. 16 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen [ABl. 1972, L 299, S. 32], dessen Bestimmungen im Wesentlichen mit denen des Art. 22 der Verordnung Nr. 44/2001 identisch sind), mithin den Gerichten eines Mitgliedstaats eine ausschließliche Zuständigkeit in besonderen Fällen zuzuweisen, in denen sie im Hinblick auf den betroffenen Bereich wegen des besonders engen Zusammenhangs zwischen diesen Rechtsstreitigkeiten und dem genannten Mitgliedstaat am besten in der Lage sind, über die darunter fallenden Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden (Urteil vom 12. Mai 2011, BVG, C‑144/10, EU:C:2011:300, Rn. 36).

31

So verfolgt Art. 22 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 hauptsächlich den Zweck, die Zuständigkeit an einem Ort zu lokalisieren, um einander widersprechende Entscheidungen über das Bestehen von Gesellschaften und die Gültigkeit der Beschlüsse ihrer Organe zu verhindern (Urteil vom 2. Oktober 2008, Hassett und Doherty, C‑372/07, EU:C:2008:534, Rn. 20).

32

Tatsächlich erscheinen die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem die Gesellschaft ihren Sitz hat, am besten in der Lage, über die entsprechenden Streitigkeiten zu entscheiden, vor allem deswegen, weil die Förmlichkeiten der Publizität für die Gesellschaft in diesem Staat erfüllt werden. Die ausschließliche Zuständigkeit ist diesen Gerichten daher im Interesse einer geordneten Rechtspflege zugewiesen worden (Urteil vom 2. Oktober 2008, Hassett und Doherty, C‑372/07, EU:C:2008:534, Rn. 21).

33

Allerdings hat der Gerichtshof geurteilt, dass sich daraus nicht herleiten lässt, dass es für die Anwendung von Art. 22 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 ausreicht, dass eine Klage in irgendeinem Zusammenhang mit einer von einem Gesellschaftsorgan erlassenen Entscheidung steht (Urteil vom 2. Oktober 2008, Hassett und Doherty, C‑372/07, EU:C:2008:534, Rn. 22), und dass sein Anwendungsbereich nur solche Rechtsstreitigkeiten erfasst, in denen eine Partei die Gültigkeit eines Beschlusses des Organs einer Gesellschaft im Hinblick auf das geltende Gesellschaftsrecht oder die satzungsmäßigen Vorschriften über das Funktionieren der Organe dieser Gesellschaft anficht (Urteile vom 2. Oktober 2008, Hassett und Doherty, C‑372/07, EU:C:2008:534, Rn. 26, sowie vom 23. Oktober 2014, flyLAL-Lithuanian Airlines, C‑302/13, EU:C:2014:2319, Rn. 40).

34

Vorliegend kann gemäß dem tschechischen Recht ein Verfahren, wie es im Ausgangsrechtsstreit in Rede steht, zwar ausdrücklich nicht zur Ungültigerklärung eines Beschlusses der Hauptversammlung einer Gesellschaft zur zwangsweisen Übereignung der Anteile ihrer Minderheitsaktionäre an ihren Mehrheitsaktionär führen. Gleichwohl steht fest, dass im Einklang mit den Anforderungen einer autonomen Auslegung und einheitlichen Anwendung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 44/2001 die Reichweite des Art. 22 Nr. 2 nicht von Entscheidungen abhängen darf, die im nationalen Recht eines Mitgliedstaats getroffen wurden.

35

Zum einen hat das Verfahren seinen Ursprung in der Anfechtung des Betrags der Abfindung für eine solche Übertragung, und zum anderen hat es zum Ziel, die Angemessenheit dieses Betrags zu überprüfen.

36

Daraus folgt im Hinblick auf Art. 22 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001, dass ein Verfahren, wie es im Ausgangsrechtsstreit in Rede steht, die Überprüfung der teilweisen Gültigkeit des Beschlusses eines Organs einer Gesellschaft zum Gegenstand hat und daher dem Wortlaut der Bestimmung nach geeignet ist, in ihren Anwendungsbereich zu fallen.

37

Unter diesen Umständen muss ein Gericht, das angerufen wurde, um die Gültigkeit eines Beschlusses des Organs einer Gesellschaft zu überprüfen, soweit dieser sich auf die Festlegung der Höhe der Abfindung bezieht, entscheiden, ob die Höhe angemessen ist, und den Beschluss gegebenenfalls in diesem Punkt aufheben und einen anderen Betrag für die Abfindung festlegen.

38

Außerdem stimmt eine Auslegung des Art. 22 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001, die zur Anwendung der Bestimmung auf ein Verfahren führt, wie es im Ausgangsstreit in Rede steht, mit der hauptsächlichen Zielsetzung dieser Bestimmung überein und bewirkt keine Auswertung ihres Anwendungsbereichs über das hinaus, was für diese Zielsetzung nötig ist.

39

In dieser Hinsicht ist eine enge Verbindung der Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet Jihočeská plynárenská ihren Sitz hat, hier die tschechischen Gerichte, und dem Ausgangsrechtsstreit offensichtlich.

40

Abgesehen davon, dass Jihočeská plynárenská eine Gesellschaft tschechischen Rechts ist, geht aus der dem Gerichtshof übermittelten Akte hervor, dass der Beschluss der Hauptversammlung zur Festlegung der Höhe der Abfindung, der Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, wie auch die damit im Zusammenhang stehenden Handlungen und Formalitäten gemäß tschechischem Recht und auf Tschechisch gefasst bzw. vorgenommen wurden.

41

Es ist ebenso unbestritten, dass das zuständige Gericht auf das Ausgangsverfahren tschechisches Recht anwenden muss.

42

Folglich sind unter Berücksichtigung der engen Verbindung zwischen dem Ausgangsrechtsstreit und den tschechischen Gerichten diese am besten geeignet, um über eine Klage auf Überprüfung der teilweisen Gültigkeit des besagten Beschlusses zu entscheiden, und dient es der geordneten Rechtspflege, ihnen nach Art. 22 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 die ausschließliche Zuständigkeit zuzuweisen.

43

Eine ausschließliche Zuständigkeit der tschechischen Gerichte entspricht außerdem den mit der Verordnung Nr. 44/2001 verfolgten Zielen der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsregeln und der Rechtssicherheit. Wie der Generalanwalt in Nr. 35 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, müssen die Aktionäre einer Gesellschaft und vor allem der Hauptaktionär nämlich damit rechnen, dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Gesellschaft ihren Sitz hat, für einen internen Rechtsstreit der Gesellschaft, bei dem es um die Überprüfung der teilweisen Gültigkeit eines Beschlusses eines Organs der Gesellschaft geht, zuständig sind.

44

Da der Hauptaktionär einer Gesellschaft während ihres Bestehens wechseln kann, könnten außerdem mit der Anwendung der allgemeinen Zuständigkeitsregel nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 zugunsten der Gerichte des Mitgliedstaats, auf dessen Hoheitsgebiet der Beklagte seinen Wohnsitz hat, auf eine Situation wie die im Ausgangsrechtsstreit die besagten Ziele nicht verwirklicht werden.

45

Unter diesen Umständen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 22 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass für eine Klage wie die im Ausgangsrechtsstreit, die auf die Überprüfung der Angemessenheit der Abfindung gerichtet ist, die der Mehrheitsaktionär einer Gesellschaft den Minderheitsaktionären im Fall der zwangsweisen Übertragung ihrer Anteile an den Mehrheitsaktionär zu zahlen verpflichtet ist, ausschließlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dem diese Gesellschaft ihren Sitz hat.

Zur zweiten und zur dritten Frage

46

Angesichts der Antwort auf die erste Frage brauchen die zweite und die dritte Frage nicht beantwortet zu werden.

Kosten

47

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 22 Nr. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass für eine Klage wie die im Ausgangsrechtsstreit, die auf die Überprüfung der Angemessenheit der Abfindung gerichtet ist, die der Mehrheitsaktionär einer Gesellschaft den Minderheitsaktionären im Fall der zwangsweisen Übertragung ihrer Anteile an den Mehrheitsaktionär zu zahlen verpflichtet ist, ausschließlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dem diese Gesellschaft ihren Sitz hat.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Tschechisch.

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