EUR-Lex Access to European Union law

Back to EUR-Lex homepage

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62016CC0281

Schlussanträge der Generalanwältin J. Kokott vom 15. Juni 2017.
Vereniging Hoekschewaards Landschap gegen Staatssecretaris van Economische Zaken.
Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 92/43/EWG – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Durchführungsbeschluss (EU) 2015/72 – Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung in der atlantischen biogeografischen Region – Verkleinerung eines Gebiets – Wissenschaftlicher Irrtum – Gültigkeit.
Rechtssache C-281/16.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2017:476

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 15. Juni 2017 ( 1 )

Rechtssache C‑281/16

Vereniging Hoekschewaards Landschap,

Beteiligte:

Staatssecretaris van Economische Zaken

(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Staatsrat, Niederlande])

„Umweltrecht – Richtlinie 92/43/EWG – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung für die atlantische biogeografische Region – Gültigkeit der Aufnahme des Gebiets Haringvliet in die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung, ohne den Leenheerenpolder einzuschließen – Verkleinerung der Gebietsoberfläche – Potenzialflächen für die Wiederherstellung“

I. Einleitung

1.

Kann ein Mitgliedstaat ein Schutzgebiet nach der Habitatrichtlinie ( 2 ) verkleinern, wenn er seine Strategie zur Wiederherstellung schützenwerter Lebensraumtypen ändert und die fraglichen Flächen nicht mehr benötigt? Diese Frage ist der Ausgangspunkt des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens des niederländischen Raad van State.

2.

Konkret muss der Gerichtshof prüfen, ob ein Durchführungsbeschluss der Kommission, mit dem sie u. a. auf Vorschlag der Niederlande entschieden hat, das betroffene niederländische Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung (im Folgenden: GGB) zu verkleinern, insoweit gültig ist. Diese Entscheidung hat die Kommission auf die Erwägung gestützt, dass den Niederlanden beim ursprünglichen Vorschlag der betreffenden Flächen als Teil des GGB ein „wissenschaftlicher Irrtum“ unterlaufen sei. Daher ist zu erörtern, ob diese Begründung tragfähig ist.

3.

Darüber hinaus sollte der Gerichtshof sich allerdings auch damit beschäftigen, ob die Kommission bei diesem Durchführungsbeschluss ihrer Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV gerecht wurde, ob er überhaupt hinreichend klar ist, um dem Grundsatz der Rechtssicherheit zu genügen, und – allgemeiner – mit den Voraussetzungen einer Gebietsverkleinerung wegen Änderungen in der Strategie der Wiederherstellung von Lebensraumtypen.

II. Rechtlicher Rahmen

4.

Art. 2 Abs. 2 der Habitatrichtlinie legt die übergreifende Zielsetzung fest:

„Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen zielen darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse zu bewahren oder wiederherzustellen.“

5.

Natura 2000, das Netz europäischer Schutzgebiete, wird in Art. 3 Abs. 1 der Habitatrichtlinie definiert:

„Es wird ein kohärentes europäisches ökologisches Netz besonderer Schutzgebiete mit der Bezeichnung ‚Natura 2000‘ errichtet. Dieses Netz besteht aus Gebieten, die die natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I sowie die Habitate der Arten des Anhang[s] II umfassen, und muss den Fortbestand oder gegebenenfalls die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes dieser natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet gewährleisten.

…“

6.

Art. 3 Abs. 2 der Habitatrichtlinie beschreibt die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, sich an Natura 2000 zu beteiligen:

„Jeder Staat trägt im Verhältnis der in seinem Hoheitsgebiet vorhandenen in Abs. 1 genannten natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten zur Errichtung von Natura 2000 bei. Zu diesem Zweck weist er nach den Bestimmungen des Art. 4 Gebiete als besondere Schutzgebiete aus, wobei er den in Abs. 1 genannten Zielen Rechnung trägt.“

7.

Art. 4 der Habitatrichtlinie enthält die konkreten Regelungen zur Gebietsausweisung:

„(1)

Anhand der in Anhang III (Phase 1) festgelegten Kriterien und einschlägiger wissenschaftlicher Informationen legt jeder Mitgliedstaat eine Liste von Gebieten vor, in der die in diesen Gebieten vorkommenden natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I und einheimischen Arten des Anhangs II aufgeführt sind. … Die Mitgliedstaaten schlagen gegebenenfalls die Anpassung dieser Liste im Lichte der Ergebnisse der in Art. 11 genannten Überwachung vor.

(2)

Auf der Grundlage der in Anhang III (Phase 2) festgelegten Kriterien und im Rahmen der neun in Art. 1 Buchst. c) Ziffer iii) erwähnten biogeografischen Regionen sowie des in Art. 2 Abs. 1 genannten Gesamtgebietes erstellt die Kommission jeweils im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten aus den Listen der Mitgliedstaaten den Entwurf einer Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung, …

(3)

(4)

Ist ein Gebiet aufgrund des in Abs. 2 genannten Verfahrens als Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung bezeichnet worden, so weist der betreffende Mitgliedstaat dieses Gebiet so schnell wie möglich – spätestens aber binnen sechs Jahren – als besonderes Schutzgebiet aus und legt dabei die Prioritäten nach Maßgabe der Wichtigkeit dieser Gebiete für die Wahrung oder die Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustandes eines natürlichen Lebensraumtyps des Anhangs I oder einer Art des Anhangs II und für die Kohärenz des Netzes Natura 2000 sowie danach fest, inwieweit diese Gebiete von Schädigung oder Zerstörung bedroht sind.“

8.

Auf der Grundlage der Habitatrichtlinie legte die Kommission mit der Entscheidung 2004/813/EG ( 3 ) für die biogeografische atlantische Region eine erste Liste von GGB fest. In dieser Liste war das Gebiet „Haringvliet“ (Natura-2000-Code NL1000015) mit einer Fläche von 11107 Hektar verzeichnet.

9.

Das GGB „Haringvliet“ hat den Schutz der Lebensraumtypen des Anhangs I der Habitat-Richtlinie „Flüsse mit Schlammbänken mit Vegetation des Chenopodion rubri p.p. und des Bidention p.p.“ (Natura-2000-Code 3270) sowie „Feuchte Hochstaudenfluren der planaren und montanen bis alpinen Stufe“ (Natura 2000-Code 6430), der Fischarten Maifisch (Alosa alosa) und Finte (Alosa fallax) sowie der prioritären Art Nordische Wühlmaus (Microtus oeconomus arenicola) zum Gegenstand.

10.

Die Liste der GGB für die biogeografische atlantische Region wurde mittlerweile zehnmal aktualisiert. ( 4 ) Gegenstand des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ist die achte Aktualisierung durch den Durchführungsbeschluss (EU) 2015/72, ( 5 ) in der das Gebiet „Haringvliet“ nur noch mit einer Fläche von 10988 Hektar zu finden ist.

11.

Im vierten Erwägungsgrund des Durchführungsbeschlusses (EU) 2015/72 werden Änderungen der Gebietsdaten angesprochen:

„… Außerdem haben die Mitgliedstaaten Änderungen der gebietsbezogenen Angaben übermittelt, die in der Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung in der atlantischen biogeografischen Region enthalten sind.

12.

Dersechste Erwägungsgrund jenes Durchführungsbeschlusses spricht die Verbesserung der Kenntnisse an:

„Die Kenntnisse über Existenz und Verteilung natürlicher Lebensraumtypen und natürlicher Arten entwickeln sich aufgrund der Überwachung gemäß Art. 11 der Richtlinie 92/43/EWG ständig weiter. Deshalb erfolgten Bewertung und Auswahl von Gebieten auf Unionsebene auf der Grundlage der besten zu der betreffenden Zeit verfügbaren Informationen.“

13.

Diese Erwägungsgründe sind auch z. B. in der zehnten Aktualisierung zu finden.

III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsersuchen

14.

Der in der niederländischen Provinz Südholland belegene Haringvliet ist ein durch einen Damm abgeschlossener Seearm zwischen den Inseln Voorne-Putten und Hoeksche Waard im Norden und der Insel Goeree-Overflakke im Süden. Der Haringvliet steht allein über die Spui, die Oude Maas und den Nieuwe Waterweg noch in Verbindung mit der Nordsee. Der Leenheerenpolder liegt zwischen dem Ort Goudswaard an der Hoeksche Waard und der Spui, einem Seitenarm des Haringvliet. Der Polder hat eine Oberfläche von ungefähr 110 Hektar.

15.

Zur Zeit des Vorschlags, das Gebiet „Haringvliet“ auf die Liste der GGB zu setzen, waren die zuständigen niederländischen Stellen der Ansicht, dass im Leenheerenpolder keine Lebensraumtypen und Arten vorhanden seien, derentwegen der Haringvliet als GGB einzustufen sei, sondern dass dieser Polder für eine Entwicklung zur Wiederherstellung verschiedener zu schützender Lebensraumtypen und Arten geeignet sei. Da sich aus dem Vorstehenden ergibt, dass der Leenheerenpolder nicht wegen der tatsächlich vorkommenden Lebensräume und Arten Teil des vorgeschlagenen Gebiets war, sondern wegen der Möglichkeiten, die dieser Polder für die Wiederherstellung der Natur im Gebiet „Haringvliet“ bot, trug der Polder zur Verwirklichung des dritten Unterkriteriums für die Bestimmung des Erhaltungszustands von Lebensraumtypen und Arten bei, nämlich der Wiederherstellungsmöglichkeit.

16.

Durch Beschluss vom 4. Juli 2013 hat der niederländische Staat das Gebiet „Haringvliet“ als Schutzgebiet gemäß der Habitatrichtlinie ausgewiesen. Der Raad van State hat diesen Beschluss durch Entscheidung vom 1. Oktober 2014 ( 6 ) insoweit für nichtig erklärt, als der Leenheerenpolder nicht in dieses Gebiet einbezogen ist. Er stellte fest, dass der Leenheerenpolder Teil des Gebiets „Haringvliet“ ist, wie dieses in die Liste der GGB aufgenommen wurde. Folglich war die nach Art. 4 Abs. 4 der Habitatrichtlinie bestehende Verpflichtung, diesen Polder als Teil des Habitat-Richtliniengebiets auszuweisen, nicht erfüllt.

17.

Daraufhin übermittelten die niederländischen Stellen der Kommission mit Schreiben vom 30. September 2014 Informationen zur Begründung der Verkleinerung des Gebiets. In diesem Schreiben führten sie aus, dass der Leenheerenpolder derzeit keine Naturwerte umfasse und dass die Pläne, dort Naturwerte zu entwickeln, aufgegeben worden seien. Ferner wurde mitgeteilt, dass die an anderer Stelle in dem Gebiet teilweise erfolgten Entwicklungen ausreichend seien, um die Ziele des Natura-2000-Gebiets „Haringvliet“ zu erreichen. Man habe das Vorhaben, den Leenheerenpolder zu entpoldern, aus politischen, sozialen und haushaltsrechtlichen Gründen aufgegeben. Gleichzeitig wurde mitgeteilt, die niederländischen Stellen würden die Annahme, die Flächen könnten für die Erhaltung und Wiederherstellung von Lebensraumtypen von Bedeutung sein, heute als wissenschaftlichen Irrtum ansehen.

18.

Auch die Kommission legte in einem Schreiben an die niederländischen Stellen vom 24. Oktober 2014 dar, sie sei auf der Grundlage des Schreibens vom 30. September 2014 der Ansicht, dass der ursprüngliche Vorschlag, den Leenheerenpolder in das Gebiet „Haringvliet“ einzubeziehen, als ein wissenschaftlicher Fehler anzusehen sei.

19.

In der Folge erließ die Kommission den streitgegenständlichen Durchführungsbeschluss (EU) 2015/72 vom 3. Dezember 2014 zur Annahme einer achten aktualisierten Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung in der atlantischen biogeografischen Region. In dieser Liste ist das Gebiet „Haringvliet“ weiterhin aufgeführt, doch der Leenheerenpolder ist darin nicht mehr einbezogen.

20.

Mit Beschluss vom 28. April 2015 haben die zuständigen niederländischen Stellen sodann das Gebiet „Haringvliet“ als Schutzgebiet nach der Habitatrichtlinie ausgewiesen. Wieder ist der Leenheerenpolder nicht in dieses einbezogen. Gegen diese Ausweisung wendet sich die Vereniging Hoekschewaards Landschap vor dem Raad van State.

21.

Dieses Gericht geht davon aus, dass die Gebietsausweisung den Durchführungsbeschluss umsetzt, hat allerdings Zweifel, ob die Kommission zu Recht die Verkleinerung des Gebiets „Haringvliet“ um den Leenheerenpolder akzeptiert hat. Es legt dem Gerichtshof daher die folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:

Ist der Durchführungsbeschluss 2015/72 gültig, soweit darin das Gebiet „Haringvliet“ (NL1000015) in die Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung in der atlantischen biogeografischen Region aufgenommen wird, der Leenheerenpolder jedoch nicht darin einbezogen ist?

22.

Vor dem Gerichtshof haben sich die Vereniging Hoekschewaards Landschap, das Königreich der Niederlande und die Europäische Kommission schriftlich und in der Verhandlung vom 11. Mai 2017 mündlich geäußert.

IV. Rechtliche Würdigung

23.

Die Prüfung der Gültigkeit des Durchführungsbeschlusses, soweit darin die Kommission entscheidet, das GGB „Haringvliet“ um den Leenheerenpolder zu verkleinern, erfordert zunächst die Darstellung des Verfahrens und der Voraussetzungen einer Gebietsverkleinerung (dazu unter A), bevor die Gründe erörtert werden können, auf die die Kommission sich stützt (dazu unter B). Darüber hinaus halte ich einige Anmerkungen zur Form der Kommissionsentscheidung für geboten (dazu unter C). Um den dem Ausgangsstreit zugrunde liegenden Konflikt zu beenden, ist es schließlich notwendig, die Bedingungen zu erläutern, unter denen ein Gebiet wie der Leenheerenpolder aus einem GGB herausgenommen werden kann (dazu unter D).

A. Verfahren und Rechtsgrundlage einer Gebietsreduzierung

24.

Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Aufhebung der Klassifizierung eines in die Liste der GGB aufgenommenen Gebiets in Ermangelung einer besonderen Regelung nach dem gleichen Verfahren durchzuführen ist wie die Aufnahme des Gebiets in die Liste. ( 7 ) Dieses Verfahren muss auch auf die Verkleinerung eines GGB Anwendung finden.

25.

Folglich bedarf es zunächst eines Vorschlags des betreffenden Mitgliedstaats nach Art. 4 Abs. 1 der Habitatrichtlinie, über den anschließend die Kommission gemäß Art. 4 Abs. 2 entscheidet.

26.

Insoweit ergibt sich zwar aus den in Art. 4 Abs. 1 der Habitatrichtlinie vorgesehenen Vorschriften über das Verfahren zur Bestimmung der Gebiete, die auf die Liste der GGB aufgenommen werden könnten, dass die Mitgliedstaaten bei Vorschlägen von Gebieten über einen gewissen Spielraum verfügen, doch müssen sie dabei die in der Richtlinie festgelegten Kriterien beachten. ( 8 )

27.

Das bedeutete für die erstmalige Erstellung der Liste von GGB, dass die Kommission über ein umfassendes Verzeichnis der Gebiete verfügen musste, denen auf nationaler Ebene erhebliche ökologische Bedeutung für das Ziel der Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im Sinne der Richtlinie zukommt. ( 9 ) Nur auf diese Weise ist das in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Habitatrichtlinie gesetzte Ziel zu erreichen, einen günstigen Erhaltungszustand dieser natürlichen Lebensraumtypen und Habitate der Arten in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet, das sich über eine oder mehrere Binnengrenzen der Union erstrecken kann, zu wahren oder wiederherzustellen. Wie sich nämlich aus Art. 1 Buchst. e und i in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie ergibt, ist für die Beurteilung des Erhaltungszustands eines natürlichen Lebensraums oder einer Art auf das gesamte europäische Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der AEUV Geltung hat, abzustellen. ( 10 )

28.

Diese Rechtsprechung muss auch für die Verkleinerung von GGB maßgeblich sein. Weil die Aufnahme eines Gebiets in die Liste die Vermutung begründet, es sei in seiner Gesamtheit für das Ziel der Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im Sinne der Richtlinie von Bedeutung, setzt der Vorschlag eines Mitgliedstaats, bestimmte Gebiete von der Liste zu streichen oder sie zu verkleinern, den Nachweis voraus, dass den fraglichen Flächen auf nationaler Ebene keine erhebliche ökologische Bedeutung zukommt. Und die Kommission darf den Vorschlag nur annehmen bzw. umsetzen, wenn sie zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Flächen auch aus der Perspektive der gesamten Union nicht erforderlich sind.

B. Materiellrechtliche Prüfung der Kommissionsentscheidung über die Gebietsverkleinerung

29.

Die Kommission begründet in einem Schriftwechsel mit den niederländischen Stellen ihre Entscheidung, die Fläche des GGB „Haringvliet“ um den Leenheerenpolder zu verkleinern, mit einem wissenschaftlichen Irrtum der Niederlande beim ursprünglichen Vorschlag des GGB. Diese Begründung überzeugt allerdings nicht.

1.  Zum wissenschaftlichen Irrtum

30.

Die Möglichkeit, ein GGB aufgrund eines wissenschaftlichen Irrtums zu verkleinern oder insgesamt von der Liste der GGB zu streichen, folgt nach Auffassung der Kommission aus einem Urteil des Gerichtshofs zu einem Vogelschutzgebiet in der französischen Region Poitou. In diesem Fall akzeptierte der Gerichtshof das Vorbringen des Mitgliedstaats, dass die Ausweisung bestimmter Flächen irrtümlich erfolgt war. Der Mitgliedstaat wies nämlich nach, dass unmittelbar vor der Mitteilung des Gebiets an die Kommission aufgrund einer Umweltverträglichkeitsprüfung eine positive Entscheidung über ein Straßenbauvorhaben auf den fraglichen Flächen getroffen worden war. ( 11 )

31.

Daraus leitet die Kommission ab, dass der Schutzstatus von Flächen auch aufgehoben werden kann, wenn die ursprüngliche Entscheidung über den Schutz auf der Annahme beruhte, dass dort Lebensraumtypen oder Lebensräume von Arten vorkommen, die nach der Habitatrichtlinie zu schützen sind, diese dort aber tatsächlich weder vorkamen noch sich zwischenzeitlich entwickelt haben. ( 12 )

32.

Bei genauerer Betrachtung stützt das Urteil zum Vogelschutzgebiet im Poitou diese Schlussfolgerungen der Kommission allerdings nicht. Dort ging es nämlich nicht um einen Irrtum des Mitgliedstaats bei der Identifizierung des Gebiets, sondern um einen Fehler in der Kommunikation mit der Kommission, vergleichbar mit einem Schreibfehler, durch den eine Willensäußerung verfälscht wird. Soweit ein Irrtum eintrat, lag dieser bei der Kommission, die durch den Kartografierungsfehler über die Absichten des Mitgliedstaats getäuscht wurde.

33.

Gleichwohl ist die Auffassung der Kommission zu den Konsequenzen wissenschaftlicher Irrtümer prinzipiell plausibel. Flächen, auf denen entgegen ursprünglicher Annahmen geschützte Lebensraumtypen oder Arten nicht vorkommen, können den erwarteten Beitrag zur Herstellung eines günstigen Erhaltungszustands nicht bewirken. Hier kann allerdings dahinstehen, inwieweit diese Auffassung und die konkreten Bedingungen, die die Kommission in diesem Zusammenhang stellt, letztlich berechtigt sind.

34.

Denn ein solcher Irrtum ist im vorliegenden Fall nicht erkennbar.

35.

Vielmehr wussten die Niederlande von Anfang an um die Eigenschaften des Leenheerenpolders und haben ihn trotzdem in das GGB integriert, weil sie ursprünglich planten, in diesem Polder schutzwürdige Lebensräume unter Gezeiteneinfluss zu entwickeln. Nach dem Vorabentscheidungsersuchen ist der Leenheerenpolder für eine solche Entwicklung besonders gut geeignet, weil er nach einer Beseitigung des Sommerdeichs zum Fluss Spui einer besonders starken Gezeitendynamik ausgesetzt wäre. Die Möglichkeit einer solchen Entwicklung besteht nach wie vor, doch die Niederlande haben diesen Plan mittlerweile aufgegeben.

2.  Zum Prognoseirrtum

36.

Die Kommission vertritt jedoch die Auffassung, der Irrtum liege im vorliegenden Verfahren darin, dass die Niederlande zunächst annahmen, die geplanten Maßnahmen im Leenheerenpolder seien notwendig, um einen günstigen Erhaltungszustand bestimmter Lebensraumtypen und Arten zu erreichen. Im Licht jüngerer Entwicklungen habe sich jedoch gezeigt, dass dieses Ziel auch ohne die fraglichen Maßnahmen erreichbar sei.

37.

Diese Argumentation überzeugt mich nicht, denn der Vorschlag einer Gebietsverkleinerung stützt sich – wie sogar die Niederlande in der mündlichen Verhandlung vortrugen – gerade nicht auf einen Irrtum.

38.

Zwar teilten die niederländischen Stellen der Kommission am 30. September 2014 mit, sie würden die Annahme, der Leenheerenpolder könnte für die Erhaltung und Wiederherstellung von Lebensraumtypen von Bedeutung sein, heute als wissenschaftlichen Irrtum ansehen. Doch es steht außer Streit, dass diese Flächen weiterhin geeignet sind, zur Wiederherstellung von schutzwürdigen Lebensräumen beizutragen. Die Behauptung eines wissenschaftlichen Irrtums scheint vielmehr ausschließlich darauf zurückzugehen, dass die Kommission zuvor, in einem Schreiben vom 10. September 2014, eine Verkleinerung des GGB „Haringvliet“ abgelehnt und die niederländischen Stellen aufgefordert hat, darzulegen, warum die ursprüngliche Aufnahme des Leenheerenpolders in das GGB nunmehr als wissenschaftlicher Irrtum angesehen wird.

39.

Die tatsächliche Begründung der niederländischen Stellen ist, dass die Pläne für Wiederherstellungsmaßnahmen im Leenheerenpolder im Jahr 2011 aus politischen, sozialen und Haushaltsgründen unter Berücksichtigung der Erhaltungsziele des besonderen Schutzgebiets „Haringvliet“ aufgegeben wurden. Es gebe anderweitig in dem Gebiet ausreichende Möglichkeiten für die Wiederherstellung und Vergrößerung von Lebensräumen. Anschließend werden verschiedene Maßnahmen erwähnt.

40.

Darin liegt kein Irrtum über das Wiederherstellungspotenzial, sondern eine Neuorientierung der Entwicklungsziele innerhalb des GGB „Haringvliet“. Diese hat die Kommission nicht gewürdigt, als sie der Gebietsverkleinerung zustimmte. Sie hat daher insbesondere versäumt, zu prüfen, ob der Leenheerenpolder in diesem Licht aus der Perspektive der gesamten Union für das Ziel eines günstigen Erhaltungszustands nicht mehr erforderlich ist.

41.

Folglich rechtfertigt die Begründung der Kommission die Verkleinerung des GGB „Haringvliet“ nicht.

3.  Zwischenergebnis

42.

Somit greifen die Zweifel des Raad van State an der Entscheidung der Kommission über die Verkleinerung des GGB „Haringvliet“ durch. Die Begründung der Kommission kann ihre Entscheidung über die Verkleinerung des GGB „Haringvliet“ nicht rechtfertigen. Der Durchführungsbeschluss ist daher rechtswidrig und für nichtig zu erklären, soweit er das GGB verkleinert.

C. Zu den formalen Mängeln des Durchführungsbeschlusses

43.

Ergänzend möchte ich anmerken, dass der Durchführungsbeschluss, soweit er eine Entscheidung über die Verkleinerung des GGB „Haringvliet“ enthält, auch aus anderen Gründen rechtswidrig ist, nämlich weil er den Grundsatz der Rechtssicherheit verletzt und seine Begründung ohne Kenntnis der Kommunikation zwischen der Kommission und den niederländischen Stellen nicht erkennbar ist.

1.  Zum Grundsatz der Rechtssicherheit

44.

Eine Unionsregelung muss nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit den Betroffenen ermöglichen, ihre Rechte und Pflichten eindeutig zu erkennen und sich darauf einstellen zu können. ( 13 ) Da die Veränderung des Umfangs eines GGB die Rechte und Pflichten von Landnutzern, aber auch von betroffenen Dritten, insbesondere von Umweltverbänden, ( 14 ) berühren kann, muss sie hinreichend klar erkennbar sein.

45.

Für sich allein fehlt dem Durchführungsbeschluss diese Klarheit. Denn er enthält keinen ausdrücklichen Hinweis darauf, noch nicht einmal eine Codierung, dass das GGB „Haringvliet“ verändert wurde. Nur aus einem Vergleich mit der zuvor geltenden Fassung der Liste ergibt sich, dass seine Fläche geringer ist als zuvor. Dieser Vergleich drängt sich allerdings nicht auf, weil die aktualisierte Liste alle, also mehrere Tausend GGB der atlantischen biogeografischen Region enthält. Niemand wird aber alle aufgeführten Gebiete auf eine Veränderung ihrer Größe überprüfen.

46.

Daher fehlt dem Durchführungsbeschluss im Hinblick auf die Verkleinerung des GGB „Harinvliet“ um den Leenheerenpolder die notwendige Klarheit.

2.  Zur Begründungspflicht

47.

Außerdem sind die Rechtsakte der Union nach Art. 296 Abs. 2 AEUV mit einer Begründung zu versehen. Diese muss die Überlegungen des Urhebers des Rechtsakts so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die getroffene Maßnahme entnehmen können und der Gerichtshof seine Kontrolle ausüben kann. Sie muss jedoch nicht sämtliche rechtlich oder tatsächlich erheblichen Gesichtspunkte enthalten. Die Beachtung der Begründungspflicht ist im Übrigen nicht nur anhand des Wortlauts des Rechtsakts zu beurteilen, sondern auch anhand seines Kontexts und sämtlicher Rechtsvorschriften, die das betreffende Gebiet regeln. ( 15 ) Daher kommt es nicht nur auf die Erwägungsgründe an, sondern auch auf den weiteren Kontext der fraglichen Maßnahme. ( 16 )

48.

Folglich ist es nicht notwendig, alle Änderungen der GGB der atlantischen biogeografischen Region im jeweiligen Beschluss zu begründen, wenn erkennbar ist, wo diese Gründe zu finden sind. Dementsprechend war die Begründung der ursprünglichen Festlegung der Gemeinschaftsliste nicht grundsätzlich zu beanstanden, weil die Gründe sich letztlich aus den Standarddatenbögen der einzelnen Gebiete ergeben mussten.

49.

Im vorliegenden Fall ist dagegen leider festzustellen, dass im Durchführungsbeschluss schon der Ansatz einer Begründung fehlt, weil die Entscheidung über die Verkleinerung des GGB „Haringvliet“ im Durchführungsbeschluss kaum erkennbar ist. Der Durchführungsbeschluss gibt somit gar keinen Anlass, sich mit dem Kontext zu beschäftigen und dadurch – möglicherweise – von dem oben diskutierten Schriftwechsel zur Gebietsverkleinerung zu erfahren.

50.

Dass in diesem Fall die Niederlande als betroffener Mitgliedstaat unterrichtet waren und anscheinend viele Betroffene von niederländischen Stellen über den Vorgang informiert wurden, kann den Begründungsmangel nicht beseitigen. Denn diese zufälligen Entwicklungen können nicht garantieren, dass alle Betroffenen von den Gründen erfahren konnten.

D. Zu den Bedingungen der Verkleinerung eines GGB um Potenzialflächen für Wiederherstellungsmaßnahmen

51.

Aus den bisherigen Überlegungen folgt allerdings nicht, dass die Verkleinerung eines GGB unter den Umständen des vorliegenden Falls ausgeschlossen wäre. Zwar können dafür die bisher vom Gerichtshof anerkannten Fälle, nämlich ein Kommunikationsfehler im Zusammenhang mit der Identifizierung des Gebiets ( 17 ) oder seine unvermeidbare Verschlechterung, ( 18 ) nicht in Anspruch genommen werden. Genauso wenig greift der von der Kommission entwickelte Fall eines wissenschaftlichen Irrtums über die Eigenschaften des Gebiets. Doch an dem vorliegenden – eher atypischen – Fall zeigt sich die Notwendigkeit, eine weitere Möglichkeit der Gebietsverkleinerung anzuerkennen.

1.  Zur Verpflichtung, Potenzialflächen für Wiederherstellungsmaßnahmen zu schützen

52.

Ausgangspunkt dafür muss der ursprüngliche Grund für die Integration des Leenheerenpolders in das GGB „Haringvliet“ sein. Dieser lag nicht im Schutz bestehender schutzwürdiger Vorkommen von Lebensraumtypen oder Arten, sondern im Potenzial dieser Fläche, dort solche Vorkommen zu entwickeln.

a)  Die Verpflichtung zu Wiederherstellungsmaßnahmen

53.

Eine Verpflichtung zum Vorschlag solcher „Potenzialflächen für Wiederherstellungsmaßnahmen“ als GGB lässt sich Art. 4 Abs. 1 Satz 1 und Anhang III (Phase 1) der Habitatrichtlinie höchstens mittelbar entnehmen. Nach Art. 4 Abs. 1 Satz 1 sollen die Mitgliedstaaten angeben, welche zu schützenden Lebensraumtypen und Arten in dem jeweils vorgeschlagenen Gebiet vorkommen. Dies könnte man dahin gehend verstehen, dass nur tatsächlich existierende Vorkommen einen Gebietsvorschlag rechtfertigen können. Anhang III (Phase 1) sieht bei der Bewertung von Gebieten jedoch auch vor, die Möglichkeit einer Wiederherstellung von Vorkommen einzubeziehen. Darüber hinaus verlangt Art. 4 Abs. 4, bei der Ausweisung eines GGB als besonderes Schutzgebiet Prioritäten nach Maßgabe der Wichtigkeit des Gebiets insbesondere für die Wiederherstellung von Lebensraumtypen und Arten festzulegen.

54.

Die Einbeziehung von Potenzialflächen für Wiederherstellungsmaßnahmen in die Identifikation von GGB entspricht dem Ziel von Art. 2 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 1 der Habitatrichtlinie, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse wiederherzustellen. Falls die bestehenden Vorkommen von Lebensraumtypen oder Arten nicht ausreichen, um einen günstigen Erhaltungszustand zu gewährleisten, müssen entsprechende Vorkommen wiederhergestellt werden.

b)  Zur Bedeutung des Erhaltungszustands

55.

Das bedeutet allerdings nicht, dass alle Potenzialflächen für Wiederherstellungsmaßnahmen in Bezug auf geschützte Lebensraumtypen oder Arten als GGB vorgeschlagen und in die Gemeinschaftsliste aufgenommen werden müssten.

56.

Entscheidender Maßstab dafür, ob eine solche Fläche genutzt werden muss, ist vielmehr der Erhaltungszustand der betreffenden Lebensraumtypen oder Arten. Nach den Definitionen des Art. 1 Buchst. e und i der Habitatrichtlinie setzt ein günstiger Erhaltungszustand im Wesentlichen voraus, dass die jeweiligen Vorkommen dauerhaft zumindest stabil sind.

57.

Solange und soweit der Erhaltungszustand bereits günstig ist, die jeweiligen Vorkommen also dauerhaft stabil sind oder sogar zunehmen, besteht keine Verpflichtung zu Wiederherstellungsmaßnahmen oder zur Einbeziehung von Potenzialflächen für Wiederherstellungsmaßnahmen in die Gebietsvorschläge. Kann dagegen ein ungünstiger Erhaltungszustand nur durch die Ausschöpfung eines bestimmten Wiederherstellungspotenzials verbessert werden, so wäre es kaum zu rechtfertigen, auf entsprechende Maßnahmen und die entsprechenden Flächen zu verzichten.

58.

Oftmals wird die Situation allerdings nicht so eindeutig sein. Zwischen wissenschaftlicher Unsicherheit über den Erhaltungszustand von Lebensraumtypen oder Arten einerseits und über die Wirksamkeit von Wiederherstellungsmaßnahmen andererseits ist bereits viel Raum für schwierige Prognoseentscheidungen. Wenn mehrere Möglichkeiten zur Wiederherstellung von Vorkommen bestehen, dürfte außerdem häufig ein Auswahlermessen zwischen diesen Optionen bestehen, das im Wesentlichen den innerstaatlichen Stellen zukommt. Daher erscheint es eher unwahrscheinlich, dass in der Praxis bestimmte Wiederherstellungsmaßnahmen geboten sind. Und es ist prinzipiell auch möglich, die Strategie zur Wiederherstellung von Lebensraumtypen und Arten im Laufe der Zeit zu ändern.

c)  Zur Beurteilungsebene des Erhaltungszustands

59.

Im vorliegenden Verfahren wurde insbesondere erörtert, ob ein günstiger Erhaltungszustand auf der Ebene der Union, des Mitgliedstaats oder des jeweiligen Gebiets zu gewährleisten ist. Insofern ergibt sich aus den Definitionen des Art. 1 Buchst. e und i sowie Art. 2 der Habitatrichtlinie, dass diese auf einen günstigen Erhaltungszustand in der gesamten Union abzielt. Dies muss letztlich der primäre Maßstab der Kommissionsentscheidung sein.

60.

Der Mitgliedstaat kann dagegen in der Regel die Lage in der gesamten Union nicht abschließend beurteilen. ( 19 ) Er muss bei dem Vorschlag einer Gebietsverkleinerung vor allem prüfen, ob den auszuschließenden Flächen auf nationaler Ebene erhebliche ökologische Bedeutung für das Ziel der Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im Sinne der Richtlinie zukommt. Dabei mag es aber sinnvoll sein, etwaig vorliegende Erkenntnisse über die europäische Ebene zu berücksichtigen, falls diese bereits zeigen, dass jedenfalls aus europäischer Perspektive ein Verzicht auf die Flächen nicht möglich ist.

61.

Der Erhaltungszustand von Lebensraumtypen und Arten innerhalb von bestimmten Gebieten kann aber ebenfalls von besonderem Interesse sein, wenn dieser dort ungünstig ist. In diesem Fall könnte der Verzicht auf Wiederherstellungsmaßnahmen, die den Erhaltungszustand verbessern könnten, das Verschlechterungsverbot des Art. 6 Abs. 2 der Habitatrichtlinie verletzen. ( 20 ) Denn es wäre zu befürchten, dass sich der Zustand der betreffenden Lebensraumtypen oder Arten in dem Gebiet ohne Wiederherstellungsmaßnahmen verschlechtert. Dies kann insbesondere bei der Prüfung einer Gebietsverkleinerung nicht unbeachtet bleiben.

62.

Auch in Bezug auf einzelne Gebiete müssen allerdings selbst bei ungünstigem Erhaltungszustand nicht zwingend alle Wiederherstellungspotenziale wahrgenommen und in das Gebiet integriert werden. Denn in der Regel dürften gerade bei großen Gebieten wie dem GGB „Haringvliet“ unterschiedliche Wiederherstellungsmaßnahmen in Frage kommen, so dass den Mitgliedstaaten und im Prinzip auch der Kommission ein Auswahlermessen zukommt.

63.

Ergänzend ist schließlich anzumerken, dass zumindest bei einer Gebietsverkleinerung wegen der fehlenden Bedeutung bestimmter Flächen für die Gewährleistung eines günstigen Erhaltungszustands die von den niederländischen Stellen angeführten politischen, sozialen und haushaltsrechtlichen Gründe keine Rolle spielen dürfen. ( 21 ) Derartige Gründe könnten höchstens bedeutsam werden, wenn die Gebietsverkleinerung notwendig wird, um auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 4 der Habitatrichtlinie ein GGB zu verkleinern, damit bestimmte Pläne oder Projekte durchgeführt werden können. Dann müssten allerdings konkrete Projekte oder Pläne in Aussicht genommen und alle weiteren Bedingungen dieser Bestimmung beachtet werden.

2.  Zum Kontrollmaßstab bei einer Gebietsverkleinerung

64.

Für die unionsrichterliche Kontrolle der Entscheidung, ein GGB zu verkleinern, ist das insoweit bestehende Ermessen von zentraler Bedeutung.

65.

Sowohl der Vorschlag des Mitgliedstaats als auch die Entscheidung der Kommission sind regelmäßig von erheblicher tatsächlicher und wissenschaftlicher Komplexität gekennzeichnet.

66.

Wenn die Organe der Union solche Entscheidungen treffen müssen, ist ihnen in der Regel ein weiter Ermessensspielraum einzuräumen. ( 22 ) Dies muss im vorliegenden Fall insbesondere für die Entscheidung der Kommission gelten.

67.

Die Ausübung dieses Ermessens ist jedoch nicht der gerichtlichen Kontrolle entzogen. Der Unionsrichter muss im Rahmen dieser Kontrolle feststellen, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, ob der Sachverhalt von der Kommission zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung dieses Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen. Insbesondere dann, wenn sich eine Partei darauf beruft, das zuständige Organ habe einen offensichtlichen Ermessensfehler begangen, hat der Unionsrichter zu kontrollieren, ob dieses Organ sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls untersucht hat, auf die die daraus gezogenen Schlussfolgerungen gestützt sind. ( 23 )

68.

Bei der Untersuchung aller relevanten Umstände ist zu beachten, dass der Vorschlag von Potenzialflächen zur Wiederherstellung von Lebensräumen und/oder Artvorkommen durch den Mitgliedstaat und die Annahme des Vorschlags durch die Kommission eine Vermutung begründen, dass diese Flächen und die ins Auge gefassten Wiederherstellungsmaßnahmen für einen günstigen Erhaltungszustand der betreffenden Lebensraumtypen und Arten erforderlich sind.

69.

Daher muss der Mitgliedstaat beim Vorschlag einer Gebietsverkleinerung um solche Flächen die Vermutung der Notwendigkeit der Wiederherstellungsmaßnahmen widerlegen. Dafür würde eine bloße Behauptung nicht ausreichen, wie sie in den Informationen der zuständigen niederländischen Stellen enthalten war, auf die sich die Kommission stützte, als sie über die Gebietsverkleinerung entschied. Vielmehr müsste der Mitgliedstaat schlüssig und auf Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse darlegen, warum er der Auffassung ist, dass ein guter Erhaltungszustand auch ohne diese Flächen und die entsprechenden Maßnahmen gewährleistet werden kann oder künftig erreicht werden wird.

70.

Insbesondere solange noch nicht feststeht, dass der Erhaltungszustand der fraglichen Lebensraumtypen und Arten innerhalb des betroffenen GGB günstig ist, kann das Auswahlermessen hinsichtlich des Schutzes von Wiederherstellungspotenzialen im GGB sogar gänzlich entfallen. In diesem Fall darf der Mitgliedstaat in der Regel aufgrund des Verschlechterungsverbots des Art. 6 Abs. 2 der Habitatrichtlinie den Flächen, die wegen ihres Wiederherstellungspotenzials in das GGB integriert wurden, ihre ökologische Bedeutung für das Ziel der Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen noch nicht absprechen. Denn es ist nicht auszuschließen, dass sie noch benötigt werden, wenn sich zeigt, dass andere Wiederherstellungsmaßnahmen nicht ausreichen. Daher dürfen sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht ihren Schutzstatus verlieren.

71.

Die Kommission darf einem mitgliedstaatlichen Vorschlag einer Gebietsverkleinerung nur folgen, wenn der Mitgliedstaat sie mit ausreichenden, wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen davon überzeugt, dass den fraglichen Flächen aus nationaler Sicht keine erhebliche Bedeutung für das Ziel der Erhaltung der natürlichen Lebensräume und Arten zukommt, und auch aus der Perspektive der gesamten Union nichts dagegen spricht, das Gebiet um diese Flächen zu verkleinern.

3.  Zwischenergebnis

72.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Kommission gemäß Art. 4 der Habitatrichtlinie auf Vorschlag des zuständigen Mitgliedstaats ein GGB verkleinern kann, wenn die betreffenden Flächen ausschließlich im Hinblick auf zukünftige Maßnahmen zur Wiederherstellung von Lebensraumtypen und/oder Artvorkommen Teil des GGB sind und der Mitgliedstaat Informationen übermittelt, die es der Kommission erlauben, festzustellen, dass Maßnahmen auf diesen Flächen nicht nötig sind, um einen günstigen Erhaltungszustand der betreffenden Lebensraumtypen und/oder Arten zu gewährleisten.

V. Ergebnis

73.

Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, das Vorabentscheidungsersuchen wie folgt zu beantworten:

1)

Der Durchführungsbeschluss (EU) 2015/72 der Kommission vom 3. Dezember 2014 zur Annahme einer achten aktualisierten Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung in der atlantischen biogeografischen Region ist ungültig, soweit in das Gebiet „Haringvliet“ (NL1000015) der Leenheerenpolder nicht mehr einbezogen ist.

2)

Die Kommission kann gemäß Art. 4 der Richtlinie 92/43/EWG zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen auf Vorschlag des zuständigen Mitgliedstaats ein Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung verkleinern, wenn die betreffenden Flächen ausschließlich im Hinblick auf zukünftige Maßnahmen zur Wiederherstellung von Lebensraumtypen und/oder Artvorkommen Teil des Gebiets sind und der Mitgliedstaat Informationen übermittelt, die es der Kommission erlauben, festzustellen, dass Maßnahmen auf diesen Flächen nicht nötig sind, um einen günstigen Erhaltungszustand der betreffenden Lebensraumtypen und/oder Arten zu gewährleisten.


( 1 ) Originalsprache: Deutsch.

( 2 ) Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7).

( 3 ) Entscheidung vom 7. Dezember 2004 gemäß der Richtlinie 92/43/EWG des Rates zur Verabschiedung der Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung in der atlantischen biogeografischen Region (ABl. 2004, L 387, S. 1).

( 4 ) Zuletzt durch den Durchführungsbeschluss (EU) 2016/2335 der Kommission vom 9. Dezember 2016 zur Annahme einer zehnten aktualisierten Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung in der atlantischen biogeografischen Region (ABl. 2016, L 353, S. 533).

( 5 ) Durchführungsbeschluss vom 3. Dezember 2014 zur Annahme einer achten aktualisierten Liste von Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung in der atlantischen biogeografischen Region (ABl. 2015, L 18, S. 385).

( 6 ) ECLI:NL:RVS:2014:3543.

( 7 ) Urteil vom 3. April 2014, Cascina Tre Pini (C‑301/12, EU:C:2014:214, Rn. 26).

( 8 ) Urteile vom 11. September 2001, Kommission/Irland (C‑67/99, EU:C:2001:432, Rn. 33), Kommission/Deutschland (C‑71/99, EU:C:2001:433, Rn. 26) und Kommission/Frankreich (C‑220/99, EU:C:2001:434, Rn. 30), sowie vom 3. April 2014, Cascina Tre Pini (C‑301/12, EU:C:2014:214, Rn. 27).

( 9 ) Urteile vom 7. November 2000, First Corporate Shipping (C‑371/98, EU:C:2000:600, Rn. 22), sowie vom 11. September 2001, Kommission/Irland (C‑67/99, EU:C:2001:432, Rn. 34), Kommission/Deutschland (C‑71/99, EU:C:2001:433, Rn. 27) und Kommission/Frankreich (C‑220/99, EU:C:2001:434, Rn. 31).

( 10 ) Urteile vom 7. November 2000, First Corporate Shipping (C‑371/98, EU:C:2000:600, Rn. 23), sowie vom 11. September 2001, Kommission/Irland (C‑67/99, EU:C:2001:432, Rn. 35), Kommission/Deutschland (C‑71/99, EU:C:2001:433, Rn. 28) und Kommission/Frankreich (C‑220/99, EU:C:2001:434, Rn. 32).

( 11 ) Urteil vom 25. November 1999, Kommission/Frankreich (Poitou) (C‑96/98, EU:C:1999:580, Rn. 54).

( 12 ) Siehe die „Note to the Members of the Habitats Committee“ vom 21. Juni 2005, Anlage 4 zum Schriftsatz der Kommission (zugänglich unter http://www.eea.europa.eu/themes/biodiversity/document-library/natura-2000/reporting-guidelines-for-natura-2000/reference-documents-relevant-for-the/habcomm2005-updating-of-the-natura).

( 13 ) Urteile vom 21. Juni 2007, ROM-projecten (C‑158/06, EU:C:2007:370, Rn. 25), und vom 10. März 2009, Heinrich (C‑345/06, EU:C:2009:140, Rn. 44).

( 14 ) Vgl. Urteile vom 7. Dezember 2000, Kommission/Frankreich (C‑374/98, EU:C:2000:670, Rn. 54), vom 7. September 2004, Waddenvereniging und Vogelbeschermingsvereniging (C‑127/02, EU:C:2004:482, Rn. 66 und 69), und vom 8. November 2016, Lesoochranárske zoskupenie VLK (C‑243/15, EU:C:2016:838, insbesondere Rn. 44).

( 15 ) Siehe etwa Urteile vom 19. November 2013, Kommission/Rat (C‑63/12, EU:C:2013:752, Rn. 98 und 99), und vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a. (C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 70).

( 16 ) Illustrativ Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a. (C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 71).

( 17 ) Urteil vom 25. November 1999, Kommission/Frankreich (Poitou) (C‑96/98, EU:C:1999:580, Rn. 52 bis 55).

( 18 ) Urteil vom 3. April 2014, Cascina Tre Pini (C‑301/12, EU:C:2014:214, Rn. 27, 30 und 32 bis 34).

( 19 ) Urteil vom 7. November 2000, First Corporate Shipping (C‑371/98, EU:C:2000:600, Rn. 23).

( 20 ) Siehe in diesem Sinne das Urteil vom 20. Oktober 2005, Kommission/Vereinigtes Königreich (Gibraltar, C‑6/04, EU:C:2005:626, Rn. 34).

( 21 ) Urteil vom 7. November 2000, First Corporate Shipping (C‑371/98, EU:C:2000:600, Rn. 23 und 24).

( 22 ) Urteile vom 9. September 2004, Spanien/Kommission (C‑304/01, EU:C:2004:495, Rn. 23), vom 18. Juli 2007, Industrias Químicas del Vallés/Kommission (C‑326/05 P, EU:C:2007:443, Rn. 75), vom 22. Dezember 2010, Gowan Comércio Internacional e Serviços (C‑77/09, EU:C:2010:803, Rn. 82), vom 19. Dezember 2012, Brookfield New Zealand und Elaris/CPVO und Schniga (C‑534/10 P, EU:C:2012:813, Rn. 50), vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a. (C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 68), und vom 8. September 2016, Borealis u. a. (C‑180/15, EU:C:2016:647, Rn. 45).

( 23 ) Urteile vom 18. Juli 2007, Industrias Químicas del Vallés/Kommission (C‑326/05 P, EU:C:2007:443, Rn. 76 und 77), vom 6. November 2008, Niederlande/Kommission (C‑405/07 P, EU:C:2008:613, Rn. 55 und 56), sowie vom 9. Juli 2015, Deutschland/Kommission (C‑360/14 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:457, Rn. 37).

Top