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Document 62016CC0225

Schlussanträge der Generalanwältin E. Sharpston vom 18. Mai 2017.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2017:398

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 18. Mai 2017 ( 1 )

Rechtssache C‑225/16

Mossa Ouhrami

(Vorlage zur Vorabentscheidung des Hoge Raad der Nederlanden [Oberster Gerichtshof der Niederlande])

„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 11 Abs. 2 – Vor dem 24. Dezember 2010 verhängtes Einreiseverbot – Geltungsbeginn – Ausnahme von der Höchstdauer eines Einreiseverbots von fünf Jahren aus Gründen der öffentlichen Ordnung“

1. 

Mit der vorliegenden Vorlage zur Vorabentscheidung des Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) ersucht das vorlegende Gericht um Klärung der Frage, wie die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ( 2 ) (im Folgenden: Rückführungsrichtlinie) und darin insbesondere Art. 11 auszulegen ist.

2. 

Das Ersuchen ist im Zusammenhang mit einem Rechtsmittel vorgelegt worden, das ein Drittstaatsangehöriger gegen seine strafrechtliche Verurteilung und Inhaftierung wegen einer Straftat eingelegt hat, die darin bestand, sich im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats (in den Niederlanden) aufgehalten zu haben, obwohl er wusste, dass er zu einem unerwünschten Drittstaatsangehörigen erklärt worden war, gegen den eine Entscheidung ergangen war, wonach er das Hoheitsgebiet des betreffenden Staates zu verlassen hatte und einem zehnjährigen (Wieder‑)Einreiseverbot unterlag. Ob die strafrechtliche Verurteilung aufrechtzuerhalten oder aufzuheben ist, hängt davon ab, ob das „vor dem 24. Dezember 2010 verhängte Einreiseverbot“ (d. h. ein vor Inkrafttreten der Rückführungsrichtlinie verhängtes Einreiseverbot) ( 3 ) zum Zeitpunkt der Strafverfolgung des Drittstaatenangehörigen noch Geltung hatte. Die Antwort auf diese Frage hängt wiederum von dem anzunehmenden Geltungsbeginn eines Einreiseverbots und der (etwaigen) Auswirkungen der Rückführungsrichtlinie auf die Geltungsdauer eines vor dem 24. Dezember 2010 verhängten Einreiseverbots unter den besonderen Umständen des Einzelfalls ab.

Unionsrecht

Schengen-Besitzstand

3.

Der Schengen-Raum ( 4 ) beruht auf dem Schengener Abkommen von 1985 ( 5 ), mit dem die Vertragsstaaten die Abschaffung sämtlicher Binnengrenzen und die Errichtung einer gemeinsamen Außengrenze vereinbart haben. Innerhalb des Schengen-Raums gelten gemeinsame Regelungen und Verfahren u. a. für Grenzkontrollen.

4.

Das Schengener Informationssystem (im Folgenden: SIS) wurde nach Art. 92 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen (im Folgenden: SDÜ) ( 6 ) eingerichtet. Es ist seither durch das Schengener Informationssystem der zweiten Generation (im Folgenden: SIS II) ersetzt worden, das es den Mitgliedstaaten gestattet, Informationen über Ausschreibungen zur Einreise- oder Aufenthaltsverweigerung in Bezug auf Drittstaatsangehörige zu erhalten ( 7 ).

5.

Art. 24 der Verordnung Nr. 1987/2006 betrifft die Voraussetzungen für Ausschreibungen zur Einreise- oder Aufenthaltsverweigerung. Er sieht Folgendes vor:

„1.   Die Daten zu Drittstaatsangehörigen, die zur Einreise- oder Aufenthaltsverweigerung ausgeschrieben sind, werden aufgrund einer nationalen Ausschreibung eingegeben, die auf einer Entscheidung der zuständigen Verwaltungsbehörden oder Gerichte beruht, …

2.   Eine Ausschreibung wird eingegeben, wenn die Entscheidung nach Absatz 1 auf die Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung oder die nationale Sicherheit gestützt wird, die die Anwesenheit des betreffenden Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats darstellt.

3.   Eine Ausschreibung kann auch eingegeben werden, wenn die Entscheidung nach Absatz 1 darauf beruht, dass der Drittstaatsangehörige ausgewiesen, zurückgewiesen oder abgeschoben worden ist, wobei die Maßnahme nicht aufgehoben oder ausgesetzt worden sein darf, ein Verbot der Einreise oder gegebenenfalls ein Verbot des Aufenthalts enthalten oder davon begleitet sein muss und auf der Nichtbeachtung der nationalen Rechtsvorschriften über die Einreise oder den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen beruhen muss.

…“

6.

Die Richtlinie 2001/40/EG des Rates vom 28. Mai 2001 über die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen über die Rückführung von Drittstaatsangehörigen baut auf den Schengen-Besitzstand auf und hat eine größere Effizienz bei der Vollstreckung von Rückführungsentscheidungen zum Ziel ( 8 ). Im fünften Erwägungsgrund ist ausgeführt, dass sich eine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich der Rückführung von Drittstaatsangehörigen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht vollständig erreichen lasse. Mit der Richtlinie soll daher die Anerkennung von Rückführungsentscheidungen ermöglicht werden, die von einem Mitgliedstaat gegenüber Drittstaatsangehörigen erlassen wurden, die sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten ( 9 ).

Rückführungsrichtlinie

7.

Die Ursprünge der Rückführungsrichtlinie gehen auf zwei Tagungen des Europäischen Rates zurück. Auf der ersten, vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere, wurde ein kohärentes Konzept für Migration und Asyl festgelegt ( 10 ). Auf seiner Tagung am 4. und 5. November 2004 in Brüssel forderte der Europäische Rat zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruhe, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden ( 11 ). Die als Folge dieser politischen Vorgaben erlassene Rückführungsrichtlinie führt eine Reihe von horizontalen Vorschriften ein, die für sämtliche Drittstaatsangehörige gelten, die die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllen ( 12 ). Die durch die Rückführungsrichtlinie eingeführten Normen und Verfahren müssen insbesondere im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts angewendet werden ( 13 ).

8.

Ein übergeordnetes Ziel der Rückführungsrichtlinie ist die Einführung klarer, transparenter und fairer Vorschriften, mit denen „[e]ine wirksame Rückkehrpolitik als notwendiger Bestandteil einer gut geregelten Migrationspolitik … unterlegt werden muss“. Die Abschiebung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats muss im Rahmen eines fairen und transparenten Verfahrens durchgeführt werden ( 14 ). Im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts sollten Entscheidungen gemäß der Rückführungsrichtlinie auf Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden, was bedeutet, dass die Erwägungen über den bloßen Tatbestand des illegalen Aufenthalts hinausreichen sollten ( 15 ). Anerkanntermaßen haben die Mitgliedstaaten allerdings das Recht, die Rückkehr illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger sicherzustellen, unter der Voraussetzung, dass faire und effiziente Asylsysteme vorhanden sind, die den Grundsatz der Nichtzurückweisung in vollem Umfang achten ( 16 ).

9.

Von besonderer Bedeutung ist der 14. Erwägungsgrund. Er stellt Folgendes fest:

„Die Wirkung der einzelstaatlichen Rückführungsmaßnahmen sollte durch die Einführung eines Einreiseverbots, das die Einreise in das Hoheitsgebiet sämtlicher Mitgliedstaaten und den dortigen Aufenthalt verbietet, europäischen Zuschnitt erhalten. Die Dauer des Einreiseverbots sollte in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt werden und im Regelfall fünf Jahre nicht überschreiten. In diesem Zusammenhang sollte der Umstand, dass die betreffenden Drittstaatsangehörigen bereits Gegenstand von mehr als einer Rückkehrentscheidung oder Abschiebungsanordnung gewesen oder während eines Einreiseverbots in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist sind, besonders berücksichtigt werden.“

10.

Folgende Definitionen in Art. 3 sind relevant; danach bezeichnet der Ausdruck

„…

1.

‚Drittstaatsangehörige‘: alle Personen, die nicht Unionsbürger im Sinne von Artikel 17 Absatz 1 des Vertrags sind und die nicht das Gemeinschaftsrecht auf freien Personenverkehr nach Artikel 2 Absatz 5 des Schengener Grenzkodex genießen;

2.

‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;

3.

‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in

deren Herkunftsland oder

ein Transitland gemäß [gemeinschaftlichen] oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder

ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird;

4.

‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;

5.

‚Abschiebung‘: die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedsstaat;

6.

‚Einreiseverbot‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht;

…“

11.

Den Mitgliedstaaten ist das Recht vorbehalten, günstigere Bestimmungen zu erlassen, vorausgesetzt, diese sind mit der Rückführungsrichtlinie vereinbar ( 17 ).

12.

Nach Art. 6 Abs. 1 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen ( 18 ). Art. 6 Abs. 6 gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, entsprechend ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften mit einer einzigen behördlichen oder richterlichen Entscheidung eine Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthalts sowie eine Rückkehrentscheidung und/oder eine Entscheidung über eine Abschiebung und/oder ein Einreiseverbot zu erlassen ( 19 ).

13.

Art. 11 bestimmt Folgendes:

„(1)   Rückkehrentscheidungen gehen mit einem Einreiseverbot einher,

a)

falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder

b)

falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde.

In anderen Fällen kann eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen.

(2)   Die Dauer des Einreiseverbots wird in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt.

(3)   Die Mitgliedstaaten prüfen die Aufhebung oder Aussetzung eines Einreiseverbots, wenn Drittstaatsangehörige, gegen die ein Einreiseverbot nach Absatz 1 Unterabsatz 2 verhängt wurde, nachweisen können, dass sie das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter uneingeschränkter Einhaltung einer Rückkehrentscheidung verlassen haben.

…“

Anwendbares nationales Recht

14.

Nach Art. 67 Abs. 1 des Vreemdelingenwet 2000 (niederländisches Ausländergesetz 2000, im Folgenden: Ausländergesetz) kann ein Drittstaatsangehöriger ( 20 ), soweit hier von Belang, für unerwünscht erklärt werden, wenn er i) sich nicht rechtmäßig in den Niederlanden aufhält und er wiederholt nach dem Ausländergesetz strafbare Taten begangen hat, ii) wegen einer Straftat durch Urteil rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren oder mehr verurteilt worden ist oder iii) eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit darstellt. Diese Voraussetzungen können alternativ vorliegen.

15.

Nach Art. 68 Ausländergesetz wird die Unerwünschterklärung auf Antrag des Drittstaatsangehörigen aufgehoben, wenn er sich zehn Jahre ununterbrochen außerhalb der Niederlande aufgehalten hat und in diesem Zeitraum keiner der Gründe nach Art. 67 Abs. 1 Ausländergesetz eingetreten ist.

16.

Das Ausländergesetz wurde zwecks Umsetzung der Rückführungsrichtlinie in die nationale Rechtsordnung geändert. Nach Art. 61 Abs. 1 Ausländergesetz muss ein Drittstaatsangehöriger, der sich nicht oder nicht mehr rechtmäßig in den Niederlanden aufhält, diese innerhalb der Frist des Art. 62 oder des Art. 62c Ausländergesetz von sich aus verlassen. Ferner muss ein Drittstaatsangehöriger, nachdem eine Rückkehrentscheidung gegen ihn ergangen ist, die Niederlande nach Art. 62 Abs. 1 Ausländergesetz von sich aus binnen vier Wochen verlassen.

17.

Die Art. 66a Abs. 1 Ausländergesetz und 6.5a Abs. 5 des Vreemdelingenbesluit 2000 (niederländische Ausländerverordnung 2000, im Folgenden: Ausländerverordnung) wurden speziell in das Gesetz eingefügt, um Art. 11 der Rückführungsrichtlinie in nationales Recht umzusetzen.

18.

Nach Art. 66a Abs. 1 Ausländergesetz wird, soweit hier von Belang, ein Einreiseverbot gegen einen Drittstaatsangehörigen verhängt, der die Niederlande nicht von sich aus innerhalb der dafür geltenden Frist verlassen hat. Nach Art. 66a Abs. 4 Ausländergesetz wird das Einreiseverbot für einen bestimmten Zeitraum von höchstens fünf Jahren verhängt, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar. Der Zeitraum wird ab dem Zeitpunkt berechnet, zu dem der Drittstaatsangehörige die Niederlande tatsächlich verlassen hat.

19.

Nach Art. 66a Abs. 7 Ausländergesetz kann ein Drittstaatsangehöriger, gegen den ein Einreiseverbot verhängt wurde, nicht legal aufhältig sein, wenn er (i) wegen einer Straftat durch Urteil rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren oder mehr verurteilt worden ist, ii) eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit darstellt oder iii) eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt.

20.

Nach Art. 197 des Wetboek van Strafrecht (niederländisches Strafgesetzbuch) in seiner hier anwendbaren Fassung ist ein Drittstaatsangehöriger, der in den Niederlanden verbleibt, obwohl ihm bekannt ist oder nach Sachlage bekannt sein muss, dass er aufgrund einer Gesetzesvorschrift zu einem unerwünschten Drittstaatsangehörigen erklärt worden ist, mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten bedroht. Nach der derzeit geltenden Fassung des besagten Artikels ist ein Drittstaatsangehöriger, der in den Niederlanden verbleibt, obwohl ihm bekannt ist oder nach Sachlage bekannt sein muss, dass er aufgrund einer Gesetzesvorschrift zu einem unerwünschten Drittstaatsangehörigen erklärt worden oder dass gegen ihn nach Art. 66a Abs. 7 Ausländergesetz ein Einreiseverbot verhängt worden ist, ebenfalls mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten bedroht.

21.

Nach Art. 6.6 Abs. 1 Ausländerverordnung wird die Unerwünschterklärung auf Antrag aufgehoben, wenn der Drittstaatsangehörige nicht wegen Gewalt- oder Drogendelikten strafrechtlich verfolgt und zum unerwünschten Drittstaatsangehörigen erklärt wurde und er die Niederlande nach der Unerwünschterklärung verlassen und sich seit dieser für zehn Jahre ununterbrochen außerhalb der Niederlande aufgehalten hat.

Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

22.

Herr Ouhrami ist vermutlich algerischer Staatsangehöriger. Er reiste 1999 in die Niederlande ein, verfügte jedoch zu keinem Zeitpunkt über einen Aufenthaltstitel. Im Zeitraum der Jahre 2000 bis 2002 wurde er in fünf Fällen wegen schweren Diebstahls, Hehlerei und wegen des Besitzes harter Drogen strafrechtlich verfolgt und zu Freiheitsstrafen von insgesamt ungefähr 13 Monaten verurteilt.

23.

Durch Entscheidung vom 22. Oktober 2002 (im Folgenden: Ministerentscheidung) stellte der Minister voor Vreemdelingenzaken en Immigratie (Minister für Ausländer- und Integrationsangelegenheiten) aus diesem Grunde fest, dass Herr Ouhrami eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstelle, und erklärte ihn daher zum unerwünschten Drittstaatsangehörigen. Die Ministerentscheidung hat folgenden Wortlaut:

„Die betroffene Person ist zu insgesamt mehr als sechs Monaten unbedingter Freiheitsstrafe verurteilt worden. Aufgrund dessen ist davon auszugehen, dass die betroffene Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, zumal sie keinen rechtmäßigen Aufenthalt in den Niederlanden nach Art. 8 Buchst. a bis e sowie Art. 1 Ausländergesetz hat.

Rechtsfolgen dieser Entscheidung

Gemäß Art. 6.6 Abs. 1 Ausländerverordnung muss sich die betroffene Person, da sie u. a. aufgrund eines Drogendelikts auf der Grundlage von Art. 67 Ausländergesetz für unerwünscht erklärt wurde, zehn aufeinanderfolgende Jahre ab der Unerwünschterklärung und der Ausreise außerhalb der Niederlande aufhalten“.

24.

Die Ministerentscheidung wurde Herrn Ouhrami am 17. April 2003 zugestellt. Er focht sie nicht an. Die Ministerentscheidung wurde daher am 15. Mai 2003 bestandskräftig.

25.

Obwohl er wusste, dass er zum unerwünschten Drittstaatsangehörigen erklärt worden war, hielt Herr Ouhrami sich entgegen der Ministerentscheidung in den Jahren 2011 und 2012 weiterhin in Amsterdam auf ( 21 ). Dies ist nach Art. 197 Strafgesetzbuch eine Straftat, weshalb Herr Ouhrami zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt wurde.

26.

Zur Begründung der von ihm eingelegten Berufung machte Herr Ouhrami im Berufungsverfahren vor dem Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam, Niederlande) geltend, das in der Rückführungsrichtlinie vorgesehene Rückkehrverfahren sei nicht vollständig durchlaufen worden.

27.

Der Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) prüfte das im Fall des Herrn Ouhrami durchgeführte Rückkehrverfahren. Er wies auf Folgendes hin: i) der Dienst Terugkeer en Vertrek (Amt für Rückführung und Ausreise) habe 26 Ausreisegespräche mit Herrn Ouhrami durchgeführt, ii) er sei den Behörden Algeriens, Marokkos und Tunesiens mehrfach präsentiert worden, aber keines dieser Länder habe positiv geantwortet, iii) über Interpol seien verschiedene Untersuchungen, insbesondere von Fingerabdrücken, durchgeführt worden, iv) es sei versucht worden, bei ihm eine Sprachanalyse durchzuführen, v) die Verfahren des Amts für Rückführung und Ausreise in Bezug auf die Ausweisung seien vollständig durchlaufen worden, aber vi) all dies habe nicht zur Ausweisung von Herrn Ouhrami geführt, da er in keiner Weise kooperativ gewesen sei. Aufgrund dessen entschied der Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam) in seinem Urteil vom 22. November 2013, dass das Rückkehrverfahren vollständig durchlaufen worden sei und dass die gegen Herrn Ouhrami verhängte Freiheitsstrafe aus diesem Grunde nicht gegen die Rückführungsrichtlinie verstoße. Dabei setzte er die Freiheitsstrafe jedoch auf zwei Monate herab.

28.

Herr Ouhrami legte hiergegen Revision zum vorlegenden Gericht ein. Ohne das Urteil in dem Punkt anzugreifen, dass das Rückkehrverfahren vollständig durchlaufen worden sei, machte er geltend, die im Jahr 2002 erlassene Ministerentscheidung, mit der er zum unerwünschten Drittstaatsangehörigen erklärt worden war, sei als ein Einreiseverbot anzusehen, das zum Zeitpunkt des Erlasses oder aber doch spätestens mit seiner Kenntnisnahme hiervon wirksam geworden sei. Da Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie vorsehe, dass ein Einreiseverbot die Dauer von fünf Jahren grundsätzlich nicht überschreiten solle, sei davon auszugehen, dass das Einreiseverbot in den Jahren 2011/2012 nicht mehr gegolten habe.

29.

Das vorlegende Gericht führt aus, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei eine vor dem Inkrafttreten der Rückführungsrichtlinie erlassene Unerwünschterklärung einem Einreiseverbot im Sinne von Art. 3 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie gleichwertig, und nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie dürfe seine (Höchst‑)Dauer fünf Jahre grundsätzlich nicht überschreiten ( 22 ). Damit stelle sich die Frage, wann der besagte Zeitraum beginne. Nach Art. 66a Abs. 4 Ausländergesetz sei die Dauer eines Einreiseverbots von dem Zeitpunkt an zu rechnen, in dem der Drittstaatsangehörige die Niederlande tatsächlich verlassen habe.

30.

Vor diesem Hintergrund stellt das vorlegende Gericht die Frage, ob Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie nicht nur eine Bestimmung hinsichtlich der Geltungsdauer eines Einreiseverbots enthalte, sondern auch den Beginn dieses Zeitraums betreffe. Es vertritt den Standpunkt, dass einem Einreiseverbot seiner Natur nach erst dann Bedeutung zukommen könne, nachdem der Drittstaatsangehörige das Land verlassen habe.

31.

Das vorlegende Gericht führt aus, dass, wenn der Geltungsbeginn des Einreiseverbots vom Zeitpunkt der Ausreise aus dem nationalen Hoheitsgebiet abweiche, die Frage entstünde, ob die Ministerentscheidung zum Zeitpunkt der Verurteilung des Herrn Ouhrami zu einer Freiheitsstrafe noch rechtlich wirksam war.

32.

Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und folgende Vorabentscheidungsfragen zu stellen:

33.

Im Namen von Herrn Ouhrami sowie von Dänemark, den Niederlanden, der Schweiz und von der Europäischen Kommission wurden schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme der Schweiz haben alle obigen Beteiligten in der Sitzung vom 16. März 2017 mündliche Ausführungen gemacht.

Würdigung

Vorbemerkungen

34.

Die Rückführungsrichtlinie stellt eine Weiterentwicklung von Bestimmungen des Schengen-Besitzstands im Verhältnis zu Drittstaatsangehörigen dar, die die Einreisevoraussetzungen nach dem Schengener Grenzkodex nicht oder nicht mehr erfüllen ( 23 ). Die Rückführungsrichtlinie ersetzt die Art. 23 und 24 SDÜ im Hinblick auf die Rückführung von Drittstaatsangehörigen, die die in dem Hoheitsgebiet der Vertragsparteien des Schengener Abkommens geltenden Voraussetzungen für einen kurzfristigen Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllen ( 24 ).

35.

In diesem Zusammenhang legt die Rückführungsrichtlinie gemeinsame Normen, Verfahren und rechtliche Garantien fest, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise anzuwenden sind ( 25 ). Die „Europäisierung“ der Auswirkungen der nationalen Rückführungsmaßnahmen soll die Glaubwürdigkeit einer echten europäischen Rückkehrpolitik stärken ( 26 ).

36.

Aus der in Art. 3 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie niedergelegten Definition des Begriffs „illegaler Aufenthalt“ geht hervor, dass „jeder Drittstaatsangehörige, der sich, ohne die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet, schon allein deswegen dort illegal aufhältig ist, ohne dass Voraussetzungen für die Mindestdauer einer solchen Anwesenheit oder hinsichtlich der Absicht zum Verbleib in diesem Hoheitsgebiet bestünden“ ( 27 ). Es ist zunächst einmal Sache der Mitgliedstaaten, nach Maßgabe ihres nationalen Rechts festzulegen, worin diese Voraussetzungen bestehen, und somit zu bestimmen, ob der Aufenthalt einer bestimmten Person auf ihrem Hoheitsgebiet rechtmäßig oder illegal ist ( 28 ). Das Zusammenwirken der Rückführungsrichtlinie mit dem Schengen-Besitzstand sowie die Systematik dieser Richtlinie unterstreichen den europäischen Zuschnitt von Rückkehrentscheidungen und Einreiseverboten, die zur Sicherstellung einer wirksamen Rückkehrpolitik erlassen werden.

37.

Rückkehrentscheidungen verpflichten illegal auf dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ( 29 ) aufhältige Drittstaatsangehörige zur „Rückkehr“, d. h. zur Rückreise in ihr Herkunftsland, in ein Transitland oder in ein anderes Drittland ( 30 ). Hieraus folgt, dass der Drittstaatsangehörige nicht im Hoheitsgebiet des Erlass-Mitgliedstaats bleiben darf. Andere Mitgliedstaaten können Rückkehrentscheidungen gemäß der Richtlinie 2001/40 anerkennen und vollstrecken.

38.

Ein Einreiseverbot darf nicht isoliert erlassen werden, sondern geht mit einer Rückkehrentscheidung einher ( 31 ). Aus dem Wortlaut des 14. Erwägungsgrundes und aus Art. 3 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie geht eindeutig hervor, dass ein Einreiseverbot, auch wenn es nur von einem Mitgliedstaat verhängt worden ist, die Einreise in das Hoheitsgebiet sämtlicher Mitgliedstaaten und den dortigen Aufenthalt verbietet. Die Wirkung der nationalen Rückführungsmaßnahmen erhält somit einen europäischen Zuschnitt ( 32 ). Dieser europäische Zuschnitt von Einreiseverboten ist auch daraus klar ersichtlich, dass dann, wenn ein Mitgliedstaat erwägt, einen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung für Drittstaatsangehörige auszustellen, gegen die ein Einreiseverbot eines anderen Mitgliedstaats besteht, er zunächst den Mitgliedstaat, der das Einreiseverbot verhängt hat, zu konsultieren und dessen Interessen zu berücksichtigen hat ( 33 ). In diesem Zusammenhang ist es von großer Bedeutung, dass die Mitgliedstaaten über das SIS II unmittelbaren Zugang zu Informationen über Einreiseverbote anderer Mitgliedstaaten haben ( 34 ).

39.

Aus dem oben Ausgeführten folgt, dass Einreiseverbote nationaler Behörden ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Rückführungsrichtlinie einen europäischen Zuschnitt erhalten haben und daher den Bestimmungen dieser Richtlinie genügen müssen.

40.

Die vorliegende Rechtssache betrifft ein „vor dem 24. Dezember 2010 verhängtes Einreiseverbot“, d. h. eine einem Einreiseverbot gleichwertige nationale Maßnahme, die von einem Mitgliedstaat vor der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie erlassen wurde.

41.

Der Gerichtshof hat sich in seiner Rechtsprechung bereits mit der Thematik der zeitlichen Wirkungen der Rückführungsrichtlinie befasst. Im Urteil Filev und Osmani hat der Gerichtshof es als ständige Rechtsprechung angesehen, dass neue Vorschriften, soweit nichts Abweichendes bestimmt ist, unmittelbar für die künftigen Auswirkungen eines Sachverhalts, der unter der Geltung der alten Vorschrift entstanden ist, gelten ( 35 ). Daraus ergibt sich, dass die Rückführungsrichtlinie „auf nach dem Zeitpunkt, ab dem sie in dem betreffenden Mitgliedstaat anwendbar war, eingetretene Wirkungen von Einreiseverboten, die gemäß den vor diesem Zeitpunkt geltenden innerstaatlichen Vorschriften erlassen wurden, Anwendung findet“ ( 36 ). Daher ist bei der Beurteilung, „ob die Aufrechterhaltung der Wirkung derartiger Verbote insbesondere hinsichtlich der in Art. 11 Abs. 2 der [Rückführungsrichtlinie] für Einreiseverbote vorgesehenen Höchstdauer von grundsätzlich fünf Jahren mit dieser Bestimmung vereinbar ist, auch der Zeitraum zu berücksichtigen, in dem dieses Verbot in Kraft war, bevor die [Rückführungsrichtlinie] anwendbar war“ ( 37 ).

42.

Demgemäß hat der Gerichtshof im Fall eines vor dem 24. Dezember 2010 verhängten unbefristeten Einreiseverbots, das die Rechtssache Filev und Osmani betraf, entschieden, dass die Rückführungsrichtlinie es verbiete, die Wirkungen dieses Einreiseverbots über die in Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie vorgesehene Höchstdauer des Verbots von fünf Jahren hinaus aufrechtzuerhalten, es sei denn, dieses Einreiseverbot ist gegen Drittstaatsangehörige verhängt worden, die eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellen ( 38 ).

43.

Diese Rechtsprechung ist offensichtlich der Ausgangspunkt für die Prüfung der durch die vorliegende Rechtssache aufgeworfenen Fragen, nämlich die Frage nach dem Geltungsbeginn eines Einreiseverbots und nach den Voraussetzungen, unter denen ein vor dem 24. Dezember 2010 verhängtes Einreiseverbot die Dauer von fünf Jahren überschreiten darf. Durch diese Rechtsprechung werden die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen jedoch nicht bereits selbst beantwortet.

Zur ersten Frage

44.

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen klären lassen, wie Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie betreffend den Geltungsbeginn des Einreiseverbots auszulegen ist.

45.

Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung darf die Dauer von Einreiseverboten fünf Jahre grundsätzlich nicht überschreiten. Die Bestimmung gibt den Anfangszeitpunkt dieses Zeitraums jedoch nicht ausdrücklich an. Die dänische Regierung vertritt daher die Ansicht, dieser Zeitpunkt sei von den Mitgliedstaaten in ihrem jeweiligen einzelstaatlichen Recht festzulegen.

46.

Diese Auffassung teile ich nicht.

47.

Sowohl aus dem europäischen Zuschnitt der Rückkehrpolitik ( 39 ) als auch aus den Zielen der Rückführungsrichtlinie, nämlich „[der] Festlegung gemeinsamer Vorschriften zu Fragen der Rückkehr, der Abschiebung, … und der Einreiseverbote“ ( 40 ), folgt, dass es bei der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie eines kohärenten Konzepts bedarf.

48.

Dieses kohärente Konzept ist insbesondere im Zusammenhang mit dem Schengen-Raum, durch den eine einzige gemeinsame Außengrenze geschaffen wird, von großer Bedeutung. Daraus folgt, dass bei der Einstufung eines Rechtsakts als zu einem Bereich des Schengen-Besitzstands gehörend oder als eine Weiterentwicklung desselben die erforderliche Kohärenz dieses Besitzstands und die Notwendigkeit, diese Kohärenz bei dessen möglicher Entwicklung zu wahren, zu berücksichtigen sind ( 41 ). Der Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Rückkehrentscheidungen und Einreiseverbote scheint derzeit unvollkommen zu sein ( 42 ). Tatsächlich hat die Europäische Kommission in der mündlichen Verhandlung erläutert, dass es verschiedene Verbesserungsvorschläge gebe ( 43 ), und zwar insbesondere dahin gehend, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, in allen Fällen, in denen ein Einreiseverbot verhängt worden ist, eine Ausschreibung zur Einreise- oder Aufenthaltsverweigerung in das SIS II einzugeben ( 44 ). Ein derartiger Informationsaustausch ist von entscheidender Bedeutung, um die gemeinsame Außengrenze zu verwalten, und er muss auf der Grundlage präziser und zuverlässiger Daten stattfinden. Im Fall von Einreiseverboten liegt es nahe, dass diese Informationen sowohl die Dauer als auch den Geltungsbeginn des Verbots umfassen sollten.

49.

In diesem Zusammenhang geht aus dem Wortlaut der Rückführungsrichtlinie außerdem eindeutig hervor, dass durch die Richtlinie die Dauer von Einreiseverboten harmonisiert werden soll. Deshalb ist mit Ausnahme der Fälle, in denen der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt, eine Höchstdauer von fünf Jahren festgelegt. Uneinheitliches Handeln in diesem Punkt würde die Erreichung der angegebenen Ziele der Rückführungsrichtlinie, die unionsweite Wirkung von Einreiseverboten und die Verwaltung des Schengen-Raumes, gefährden. Hinzunehmen, dass ein Einreiseverbot, dessen Rechtsgrundlage durch ein auf Unionsebene harmonisiertes Regelwerk gebildet wird, je nach den von den Mitgliedstaaten durch ihre nationalen Gesetzgebungsorgane getroffenen Entscheidungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten seine Wirkung entfaltet, würde das effiziente Funktionieren des Schengen-Raumes unterminieren.

50.

An dieser Stelle möchte ich hervorheben, dass Art. 3 Abs. 6 und Art. 11 der Rückführungsrichtlinie, in denen der Begriff eines „Einreiseverbots“ definiert ist, nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten verweisen. Ein Einreiseverbot ist daher eindeutig ein autonom auszulegender Begriff des Unionsrechts. Aus den Erfordernissen einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts und „des Gleichheitsgrundsatzes folgt nämlich, dass die Begriffe einer Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontexts der Vorschrift und des mit der Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss“ ( 45 ).

51.

Dieser Grundsatz gilt auch für die konstitutiven Bestandteile eines Einreiseverbots, nämlich seine zeitliche Dimension (Geltungsbeginn und Dauer), seine räumliche Dimension (Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats) und seine rechtliche Dimension (Verbot der Einreise und des Aufenthalts im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats).

52.

Daher erachte ich das Schweigen des Unionsgesetzgebers zu diesem Punkt nicht als eine absichtlich und ausdrücklich so getroffene Entscheidung. Vielmehr handelt es sich um eine Lücke, die der Gerichtshof unter Berücksichtigung des Wortlauts, der Systematik und des Zwecks der Rückführungsrichtlinie füllen darf. Dem Unionsgesetzgeber bleibt es selbstverständlich unbenommen, die vom Gerichtshof gefundene Lösung abzuändern, sollte er dies z. B. als wünschenswert erachten, um die Effizienz des SIS II zu steigern und damit den Schengen-Besitzstand zu stärken.

53.

Dem Gerichtshof sind mehrere mögliche Anfangszeitpunkte vorgeschlagen worden. Herr Ouhrami macht geltend, Geltungsbeginn eines Einreiseverbots sollte der Zeitpunkt sein, an dem es der betroffenen Person bekannt gegeben werde. Die Niederlande, die Schweiz und die Kommission machen geltend, dass Geltungsbeginn der Zeitpunkt sein sollte, an dem der Drittstaatsangehörige tatsächlich aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausreise. Dänemark hat in der mündlichen Verhandlung erläutert, dass ein Einreiseverbot nach dänischem Recht wirksam werde, sobald der Drittstaatsangehörige tatsächlich das Land verlasse, aber der Anfangszeitpunkt für die Berechnung der Dauer des Einreiseverbots der erste Tag des ersten Monats nach der Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus dem Land sei. Es ließen sich nahezu unendlich viele weitere Anknüpfungspunkte denken: der Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung, der Zeitpunkt des Eintritts der Unanfechtbarkeit der Entscheidung, der Zeitpunkt der tatsächlichen Ausreise des Drittstaatsangehörigen, der Zeitpunkt seiner Inhaftierung zu Zwecken der Abschiebung, der Zeitpunkt seines nachweislichen Eintreffens in einem Drittstaat usw. Ein weiterer möglicher Zeitpunkt wäre der Zeitpunkt der Eingabe einer Ausschreibung zur Einreise- oder Aufenthaltsverweigerung in das SIS II ( 46 ).

54.

Die Ergebnisse meiner eigenen informellen Recherche, die in der mündlichen Verhandlung von der Kommission bestätigt worden sind, gehen dahin, dass die von den Mitgliedstaaten diesbezüglich gefundenen Lösungen erheblich voneinander abweichen. In der Rechtsetzung der Mitgliedstaaten finden sich folgende drei immer wieder gewählte Anknüpfungspunkte, nämlich i) der Zeitpunkt der Bekanntgabe des Einreiseverbots, ii) der Zeitpunkt des Eintritts der Unanfechtbarkeit des Einreiseverbots und iii) der Zeitpunkt der tatsächlichen Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus dem Hoheitsgebiet des fraglichen Mitgliedstaats.

55.

Alle gewählten Anknüpfungspunkte haben den Vorteil der Festlegung eines konkreten Zeitpunkts, zu dem das Einreiseverbot seine Wirkungen entfaltet. Meines Erachtens hat die Wahl des Zeitpunkts der Bekanntgabe den Nachteil, dass die Rechtswirkungen des Einreiseverbots an einen Zeitpunkt geknüpft werden, an dem die betreffende Maßnahme noch nicht unanfechtbar ist (und daher wenigstens theoretisch noch abgeändert oder sogar für nichtig erklärt werden könnte). Wählt man den Zeitpunkt des Eintritts der Unanfechtbarkeit als maßgeblich aus, werden die Rechtswirkungen einer Maßnahme europäischem Zuschnitts, die das Hoheitsgebiet sämtlicher Mitgliedstaaten betrifft, mit einem Zeitpunkt verknüpft, der von nationalen Verfahrensvorschriften abhängt. Diese können sich von Rechtssystem zu Rechtssystem erheblich unterscheiden.

56.

Außerdem bleibt bei den obigen beiden Anknüpfungspunkten unberücksichtigt, dass Einreiseverbote keine isolierten Maßnahmen darstellen, sondern stets mit einer Rückkehrentscheidung einhergehen, wie sich aus dem Wortlaut der Art. 3 Abs. 6 und 11 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie ergibt. Demnach besteht der erste Verfahrensschritt im Erlass einer Rückkehrentscheidung, die den Drittstaatsangehörigen rechtlich zur „Rückkehr“ verpflichtet. Die zweite Maßnahme, der Erlass eines Einreiseverbots, erfolgt nur wahlweise. Sie kann nach Art. 6 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie zu demselben Zeitpunkt wie die erste Maßnahme erlassen werden. Von dem Einreiseverbot geht eine doppelte Rechtswirkung aus: i) ein Verbot der Einreise und ii) ein Verbot des Aufenthalts nach einer erfolgten zweiten illegalen Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten. Die Rechtswirkungen des Einreiseverbots können erst dann eintreten, wenn die Rückkehrentscheidung befolgt wurde. Bis dahin bestimmt sich der illegale Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen nach den Wirkungen der Rückkehrentscheidung.

57.

Demnach würde eine Festlegung dahin gehend, dass ein Einreiseverbot zum Zeitpunkt seiner Bekanntgabe oder des Eintritts seiner Unanfechtbarkeit wirksam wird, die Logik der europäischen Rückkehrpolitik auf den Kopf stellen. Außerdem würde eine solche Festlegung die Effizienz der Rückkehrpolitik beeinträchtigen, da ein illegal im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhältiger Drittstaatsangehöriger sich den Rechtswirkungen eines Einreiseverbots schlicht dadurch entziehen könnte, dass er es unterließe, die Rückkehrentscheidung während der Dauer des Einreiseverbots zu befolgen. Dies würde Drittstaatsangehörige dazu ermuntern, Rückkehrentscheidungen keine Folge zu leisten, wogegen es doch eines der erklärten Ziele der Rückführungsrichtlinie ist, die freiwillige Rückkehr der Rückführung vorzuziehen ( 47 ).

58.

Der dritte denkbare Anknüpfungspunkt besteht darin, den Zeitpunkt der tatsächlichen Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten als den Geltungsbeginn des Einreiseverbots zu behandeln. Im Folgenden gehe ich von der Annahme aus, dass die Rückkehrentscheidung und das einhergehende Einreiseverbot dem Drittstaatsangehörigen ordnungsgemäß bekannt gegeben wurden und nach nationalem Recht unanfechtbar geworden sind.

59.

Dieser Ansatz findet im Zweck, in der Systematik und im Wortlaut der Rückführungsrichtlinie sowie in der Rechtsnatur von Einreiseverboten eine Stütze. Wie ich bereits dargelegt habe, handelt es sich bei Einreiseverboten nicht um isolierte Maßnahmen; vielmehr gehen sie stets mit einer Rückkehrentscheidung einher ( 48 ). Nimmt man dies mit der Verwendung des Begriffs „Einreise“ zusammen, ist daher davon auszugehen, dass der Drittstaatsangehörige das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zunächst verlassen muss. Erst und nur dann wird das Einreiseverbot (bei dem es sich tatsächlich um ein Wiedereinreiseverbot handelt) wirksam.

60.

Die Rechtsetzungsgeschichte der Rückführungsrichtlinie bestätigt diese Beurteilung. In der englischen, französischen, deutschen und einigen weiteren Sprachfassungen wird im Vorschlag der Kommission ( 49 ), im Vorschlag des Rates ( 50 ) und im Bericht des Europäischen Parlaments ( 51 ) überall der Begriff „Wiedereinreiseverbot“ verwendet. Der Begriff „Einreiseverbot“ ist erst zu einem späteren Zeitpunkt in Erscheinung getreten ( 52 ). Letzterer Begriff wurde in der endgültigen Textfassung beibehalten. Der Ausgangsbegriff („Wiedereinreiseverbot“) findet sich jedoch offenbar in den der Richtlinienumsetzung dienenden Vorschriften mancher Mitgliedstaaten ( 53 ).

61.

Die nach dem Erlass der Rückführungsrichtlinie im Bereich der europäischen Rückkehrpolitik verabschiedeten Texte bestätigen, dass der Unionsgesetzgeber als Geltungsbeginn von Einreiseverboten den Zeitpunkt festlegen wollte, an dem der Drittstaatsangehörige aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats tatsächlich ausreist. Die jüngste Empfehlung bestätigt, dass die Mitgliedstaaten die Einreiseverbote voll ausschöpfen und sicherstellen sollten, dass „die Einreiseverbote ab dem Tag gelten, an dem die Drittstaatsangehörigen die EU verlassen, damit ihre tatsächliche Dauer nicht über Gebühr verkürzt wird“ ( 54 ). Das Rückkehr-Handbuch der Kommission folgt einem ähnlichen Konzept: „Der Zeitpunkt, zu dem die Uhr zu ticken beginnt …, muss im Voraus bestimmt werden: Normalerweise setzt das Ticken der Uhr im Moment der Ausreise oder Rückführung in ein Drittland und [noch] nicht am Tag der Verhängung des Einreiseverbots ein, da das Einreiseverbot für die EU seine Wirkung nicht entfalten kann, solange die betreffende Person das Hoheitsgebiet der EU nicht verlassen hat“. Das Handbuch berücksichtigt auch die „[Fälle], in denen es praktisch unmöglich ist, im Voraus ein konkretes Ausreisedatum fest[zu]setzen“. In diesen Fällen „können die Mitgliedstaaten ein anderes Datum verwenden (wie z. B. das Ausstellungsdatum)“ ( 55 ). In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission erklärt, das Rückkehr-Handbuch solle nicht dahin ausgelegt werden, dass der Geltungsbeginn eines Einreiseverbots grundsätzlich ein anderer als der Zeitpunkt der Ausreise des Drittstaatsangehörigen sei. Nur in Ausnahmefällen, in denen nicht festgestellt werden könne, wann der Drittstaatsangehörige tatsächlich aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausgereist sei, sei ein anderer Zeitpunkt als der Geltungsbeginn des Einreiseverbots zu verwenden ( 56 ).

62.

Zweck der Rückführungsrichtlinie ist es, eine wirksame Rückkehrpolitik, die auf gemeinsamen, klaren und transparenten Normen beruht, festzulegen und den Rückkehrmaßnahmen einen europäischen Zuschnitt zu geben, indem ein Einreiseverbot verhängt wird, das die Einreise in das Hoheitsgebiet aller Mitgliedstaaten und den dortigen Aufenthalt verbietet. Dies legt auch nahe, dass Geltungsbeginn eines Einreiseverbots der Zeitpunkt der Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten sein sollte. Ein solcher Ansatz verwendet einen Zeitpunkt, der an einen objektiv feststellbaren tatsächlichen Umstand (die Ausreise) und nicht an Verfahrensvorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats anknüpft ( 57 ). Er kann Drittstaatsangehörige auch dazu veranlassen, Rückkehrentscheidungen zu befolgen.

63.

Ich gelange daher zu dem Ergebnis, dass Geltungsbeginn der Dauer eines Einreiseverbots im Sinne des Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie der Zeitpunkt sein sollte, an dem der Drittstaatsangehörige tatsächlich aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausreist.

Zur zweiten Frage

64.

Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts ist nur dann von Belang, wenn der Gerichtshof dahin entscheiden sollte, dass der Geltungsbeginn eines Einreiseverbots ein anderer als der der Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ist. Ich habe soeben ausgeführt, dass dies meines Erachtens nicht der Fall ist. Der Vollständigkeit halber werde ich die zweite Frage dennoch prüfen.

65.

Mit der zweiten Frage soll im Wesentlichen geklärt werden, ob ein vor dem 24. Dezember 2010 verhängtes Einreiseverbot die in Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie niedergelegte Höchstdauer von fünf Jahren überschreiten darf, wenn es befristet ist, unanfechtbar geworden ist und mit der Begründung erlassen wurde, dass der Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstelle.

66.

Nach Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Rückführungsrichtlinie darf die Dauer eines Einreiseverbots fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige „eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt“.

67.

Im Urteil Filev und Osmani hat der Gerichtshof diese Regel auf vor dem 24. Dezember 2010 verhängte Einreiseverbote ausgedehnt. Er entschied, dass Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie einer Ausdehnung der Wirkungen von vor dem 24. Dezember 2010 verhängten Einreiseverboten über die in dieser Bestimmung festgelegte Höchstdauer hinaus entgegensteht, es sei denn, ein solches Einreiseverbot ist gegen einen Drittstaatsangehörigen verhängt worden, der eine „schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit“ darstellt ( 58 ).

68.

Daher geht sowohl aus dem Wortlaut des Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie als auch aus der Rechtsprechung eindeutig hervor, dass ein vor dem 24. Dezember 2010 verhängtes Einreiseverbot die in dieser Vorschrift grundsätzlich festgelegte Höchstdauer von fünf Jahren überschreiten darf. Es ist jedoch zu untersuchen, unter welchen Voraussetzungen eine solche Überschreitung möglich ist.

69.

Ein Mitgliedstaat darf von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, wenn der Drittstaatsangehörige eine „Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit“ darstellt. In der vorliegenden Rechtssache ist die „öffentliche Ordnung“ der einschlägige und maßgebende Begriff ( 59 ). Dieser Begriff ist im konkreten Zusammenhang mit der Rückführungsrichtlinie anhand seines Wortlauts, seines Zwecks, seiner Systematik und seines Kontexts auszulegen ( 60 ).

70.

Den Mitgliedstaaten steht es im Wesentlichen weiterhin frei, nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung erfordert ( 61 ). Ich bin jedoch der Auffassung, dass eine Ausnahme wie die in Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Rückführungsrichtlinie niedergelegte nicht allein deshalb weit auszulegen ist, weil sie Personen betrifft, die innerhalb der Europäischen Union kein Aufenthaltsrecht haben, sondern vielmehr eng. Ferner fallen Drittstaatsangehörige (einschließlich solcher, die illegal im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhältig sind), für die das Unionsrecht gilt, genau aus diesem Grund in den Anwendungsbereich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Die durch die Charta garantierten Grundrechte sind in Bezug auf alle Personen, die in ihren Anwendungsbereich fallen, gleichermaßen zu beachten. Worin die Anforderungen der öffentlichen Ordnung zu sehen sind, kann daher nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Kontrolle durch die Organe der Union bestimmt werden ( 62 ).

71.

Alle Strafvorschriften gehören in dem Sinne zur öffentlichen Ordnung, dass sie zwingendes Recht darstellen. Ein Verstoß gegen diese Vorschriften führt somit zu einer Störung der öffentlichen Ordnung der Mitgliedstaaten. Das Ausmaß dieser Störung wird je nach Art der begangenen Handlung mehr oder weniger schwer wiegen. Der Schweregrad der Strafe, die der nationale Gesetzgeber als Sanktion für das verbotene Verhalten vorgesehen hat, spiegelt normalerweise die der Störung zugemessenen Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung wider. Der Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats ist daher mit einem Verstoß gegen die öffentliche Ordnung gleichzusetzen ( 63 ).

72.

Die bloße Tatsache jedoch, dass ein solches Handeln per definitionem gegen die öffentliche Ordnung verstößt, reicht nicht aus, die Verhängung eines die Dauer von fünf Jahren überschreitenden Einreiseverbots zu rechtfertigen. Zwei zusätzliche Voraussetzungen müssen erfüllt sein. Erstens muss eine „schwerwiegende Gefahr“ für die öffentliche Ordnung vorliegen. Zweitens ist die Dauer des Einreiseverbots, wie sich aus dem 14. Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie eindeutig ergibt, unter angemessener Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls festzulegen.

73.

Ich lege den Begriff „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ so aus, dass die öffentliche Ordnung durch einen möglichen zukünftigen Verstoß des Drittstaatsangehörigen bedroht ist ( 64 ). Durch die Verwendung des Adjektivs „schwerwiegend“ bringt der Unionsgesetzgeber zum Ausdruck, dass die Schwelle zur Rechtfertigung eines die Dauer von fünf Jahren überschreitenden Einreiseverbots höher liegt als die Schwelle für die Herabsetzung der Frist für die freiwillige Ausreise nach Art. 7 Abs. 4 derselben Richtlinie ( 65 ). Nicht jeder (frühere) Straftäter stellt eine (zukünftige) „schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung“ im Sinne des Art. 11 Abs. 2 dar ( 66 ). Die nationalen Behörden müssen eine Prüfung der anzunehmenden zukünftigen Gefahr, die von der fraglichen Person für die Gesellschaft ausgeht, durchführen. Die Beweislast dafür, dass mit Wahrscheinlichkeit von einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung auszugehen ist, liegt dann, wenn ein längeres Einreiseverbot verhängt werden soll, bei dem Mitgliedstaat, der sich auf die Ausnahme stützen möchte. Das Verfahren muss „im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts- und des Völkerrechts“ ( 67 ) durchgeführt werden.

74.

Die Prüfung muss konkret erfolgen, d. h. „in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls“, mithin „auf Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien“ durchgeführt werden, „was bedeutet, dass die Erwägungen über den bloßen Tatbestand des illegalen Aufenthalts hinausreichen sollten“ ( 68 ). Demnach darf sich ein Mitgliedstaat bei der Feststellung, ob eine „schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung“ vorliegt, nicht auf eine allgemeine Praxis und auf bloße Vermutungen stützen. Das Erfordernis einer Einzelfallprüfung und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichten den Mitgliedstaat, das persönliche Verhalten des Drittstaatsangehörigen angemessen zu berücksichtigen und die anzunehmende Gefahr, die von diesem Verhalten zukünftig für die öffentliche Ordnung ausgeht, in die Beurteilung einzubeziehen. Daraus folgt, dass der Umstand, dass ein Drittstaatsangehöriger verdächtigt wird, eine nach nationalem Recht strafbare Handlung begangen zu haben, oder wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde, allein nicht rechtfertigen kann, dass dieser Drittstaatsangehörige als eine „schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung“ im Sinne von Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie anzusehen ist ( 69 ). Das Vorliegen mehrerer Vorstrafen kann jedoch ausreichen, um sich auf die Ausnahme in Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie zu berufen, soweit diese Vorstrafen ein verfestigtes Verhaltensmuster bei der betroffenen Person belegen.

75.

Ein weiterer Aspekt ist die Frage, ob die Dauer eines fünf Jahre überschreitenden Einreiseverbots, das mit der Begründung einer „schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit und die nationale Sicherheit“ verhängt wird, einer Begrenzung unterliegt.

76.

Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie schweigt hierzu. Der Gerichtshof scheint die Möglichkeit der Verhängung eines unbefristeten Einreiseverbots nach seiner Rechtsprechung zu akzeptieren. Im Urteil Filev und Osmani hat der Gerichtshof entschieden, dass „Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 es verbietet, die Wirkungen unbefristeter Einreiseverbote …, die vor dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115 verhängt wurden, über die in dieser Bestimmung vorgesehene Höchstdauer des Verbots hinaus aufrechtzuerhalten, es sei denn, diese Verbote wurden gegen Drittstaatsangehörige verhängt, die eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellen“ ( 70 ). Im Umkehrschluss (argumentum e contrario) würde dies jedenfalls in Bezug auf vor dem 24. Dezember 2010 verhängte Einreiseverbote nahelegen, dass dann, wenn ein Drittstaatsangehöriger eine solche Gefahr darstellt, die Aufrechterhaltung der Wirkungen eines unbefristeten Einreiseverbots möglich ist.

77.

Ich teile diese Auffassung nicht. Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie ist im Licht ihres Art. 3 Nr. 6 auszulegen, der ein Einreiseverbot als eine behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme definiert, die für einen „bestimmten Zeitraum“ erlassen wird. Damit ist die Möglichkeit des Erlasses unbefristeter Einreiseverbote meines Erachtens ausgeschlossen ( 71 ). Im Fall vor dem 24. Dezember 2010 verhängter unbefristeter Einreiseverbote werden die nationalen Behörden den betreffenden Fall also gegebenenfalls erneut aufzugreifen, ihn im Licht des Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie zu prüfen und eine angemessene Geltungsdauer des Einreiseverbots festzulegen haben. Dem Gerichtshof sind jedoch keine möglichen Varianten hinsichtlich der Dauer von Einreiseverboten vorgetragen worden, weshalb ich mich zu dieser Frage nicht äußere.

78.

Ich gelange zu dem Ergebnis, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, nach Maßgabe der nationalen Verfahrensvorschriften festzustellen, ob die nationalen Behörden zum Zeitpunkt des Erlasses des vor dem 24. Dezember 2010 verhängten Einreiseverbots das persönliche Verhalten des betreffenden Drittstaatsangehörigen geprüft haben und auf dieser Grundlage zu dem Ergebnis gelangt sind, dass der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. In diesem Zusammenhang kann das Vorliegen mehrerer Vorstrafen ausreichen, um sich auf die Ausnahme des Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie berufen zu können, sofern diese Vorstrafen die Verfestigung eines bestimmten Verhaltensmusters bei der betroffenen Person belegen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu überprüfen, dass das Verfahren im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts durchgeführt wurde.

Ergebnis

79.

Nach alledem bin ich der Auffassung, dass der Gerichtshof die vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) vorgelegten Fragen wie folgt beantworten sollte:

Als Anfangszeitpunkt der Geltungsdauer eines Einreiseverbots im Sinne des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger sollte der Zeitpunkt der tatsächlichen Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten angesehen werden.

Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass ein vor dem 24. Dezember 2010 verhängtes Einreiseverbot die Höchstdauer von fünf Jahren überschreiten darf, wenn die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Es ist Sache des nationalen Gerichts, gemäß den nationalen Verfahrensvorschriften festzustellen, ob die nationalen Behörden zum Zeitpunkt des Erlasses des vor dem 24. Dezember 2010 verhängten Einreiseverbots das persönliche Verhalten des betreffenden Drittstaatsangehörigen geprüft haben und zu der Feststellung gelangt sind, dass er eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. In diesem Zusammenhang kann eine Mehrheit von Vorstrafen ausreichen, um sich auf die Ausnahme des Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 berufen zu können, sofern diese Vorstrafen ein verfestigtes Verhaltensmuster bei der betroffenen Person belegen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu überprüfen, dass das Verfahren im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts durchgeführt wurde.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) ABl. 2008, L 348, S. 98.

( 3 ) Dies ist der Begriff, der von der Europäischen Kommission in der Empfehlung der Kommission vom 1. Oktober 2015 für ein gemeinsames „Rückkehr-Handbuch“, das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist, C(2015) 6250 final, Anhang 1, S. 73, und ähnlich in der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zur Rückkehrpolitik der EU, 28. März 2014, COM(2014) 199 final, S. 32, verwendet wird.

( 4 ) Der Schengen-Besitzstand im Sinne des Art. 1 Abs. 2 des Beschlusses des Rates 1999/435/EG vom 20. Mai 1999 (ABl. 2000, L 239, S. 1). Der „Schengen-Raum“ umfasst die meisten Mitgliedstaaten der Union, wobei Bulgarien, Kroatien, Zypern, Irland, Rumänien und das Vereinigte Königreich ausgenommen sind. Island, Norwegen, die Schweiz und Liechtenstein sind dem Schengen-Raum ebenfalls beigetreten.

( 5 ) Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13).

( 6 ) Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19).

( 7 ) Verordnung (EG) Nr. 1987/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten Generation (im Folgenden: SIS II) (ABl. 2006, L 381, S. 4), zehnter Erwägungsgrund. Das SIS II ist in allen Mitgliedstaaten der Union und dem Schengen-Raum angegliederten Ländern im Einsatz. In Bulgarien, Irland, Rumänien und im Vereinigten Königreich kommt das SIS II nur im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit zum Einsatz.

( 8 ) ABl. 2001, L 149, S. 34, siehe dritter Erwägungsgrund. Dieser Richtlinie folgte die Entscheidung 2004/191/EG des Rates vom 23. Februar 2004 zur Festlegung der Kriterien und praktischen Einzelheiten zum Ausgleich finanzieller Ungleichgewichte aufgrund der Anwendung der Richtlinie 2001/40/EG über die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen über die Rückführung von Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 60, S. 55) nach.

( 9 ) Art. 1.

( 10 ) Erster Erwägungsgrund.

( 11 ) Zweiter Erwägungsgrund.

( 12 ) Fünfter Erwägungsgrund.

( 13 ) 24. Erwägungsgrund und Art. 1.

( 14 ) Vierter Erwägungsgrund.

( 15 ) Sechster Erwägungsgrund.

( 16 ) Achter Erwägungsgrund.

( 17 ) Art. 4.

( 18 ) Diese Verpflichtung gilt vorbehaltlich der in Art. 6 Abs. 2 bis 5 aufgeführten Ausnahmen. Keine dieser Ausnahmen dürfte für das auf einzelstaatlicher Ebene geführte Verfahren relevant sein, das den Anlass für diese Vorlage zur Vorabentscheidung gegeben hat.

( 19 ) Unbeschadet der nach Kapitel III und nach anderen einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts und des einzelstaatlichen Rechts verfügbaren Verfahrensgarantien.

( 20 ) In den niederländischen Rechtsvorschriften wird der Begriff „ausländischer Staatsangehöriger“ verwendet. In den vorliegenden Schlussanträgen bezeichne ich eine solche Person im Rahmen meiner Prüfung als „Drittstaatsangehörigen“ (d. h. mit dem in der Rückführungsrichtlinie verwendeten Begriff).

( 21 ) Die Vorlage zur Vorabentscheidung enthält keine Angaben über den Aufenthalt von Herrn Ouhrami in den Jahren 2003 und 2011. In der mündlichen Verhandlung hat sein Verfahrensbevollmächtigter erklärt, dass Herr Ouhrami seines Wissens die Niederlande nie verlassen habe.

( 22 ) Vgl. Urteil vom 19. September 2013, Filev und Osmani (C‑297/12, EU:C:2013:569, Rn. 26 ff.).

( 23 ) Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1). Diese Verordnung ersetzte die damit aufgehobene Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1), durch die ihrerseits die Art. 2 bis 8 SDÜ mit Wirkung ab dem 13. Oktober 2006 aufgehoben worden waren. Siehe ferner die Erwägungsgründe 25 bis 30 der Rückführungsrichtlinie.

( 24 ) Vgl. Art. 21.

( 25 ) Siehe in diesem Sinne die Erwägungsgründe 2 und 11 sowie Art. 1. Vgl. auch Urteil vom 5. Juni 2014, Mahdi (C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 38).

( 26 ) Vgl. dahin gehend den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 1. September 2005 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, KOM(2005) 391 endgültig (im Folgenden: Vorschlag der Kommission), S. 8.

( 27 ) Vgl. Urteil vom 7. Juni 2016, Affum (C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 48).

( 28 ) Die Voraussetzungen einer Einreise nach Art. 5 der Verordnung 2016/399 müssen dabei bedacht und berücksichtigt werden. Die weite Begriffsbestimmung in Art. 3 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie erfasst alle Drittstaatsangehörigen, die nicht über ein Recht zum Aufenthalt in einem Mitgliedstaat verfügen. Das nationale Recht der Mitgliedstaaten in diesem Bereich muss die (z. B.) Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen durch Unionsrecht verliehenen Rechte, das Recht auf Familienzusammenführung und die Rechte von langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen achten. Siehe hierzu jeweils die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77), die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12) und die Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung von langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44).

( 29 ) Der von der Rückführungsrichtlinie zur Bestimmung ihres räumlichen Anwendungsbereichs verwendete Begriff „Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten“ ist ungenau. Die Rückführungsrichtlinie gilt nicht für das Vereinigte Königreich und Irland. Umgekehrt gilt sie für Dänemark (ungeachtet der Sonderstellung dieses Mitgliedstaats in diesem Bereich des Unionsrechts) und für die dem Schengen-Raum angegliederten Länder (Island, Norwegen, die Schweiz und Liechtenstein). Siehe in diesem Sinne die Erwägungsgründe 25 bis 30 und Art. 23. Bezugnahmen auf das „Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten“ sind daher dementsprechend zu verstehen.

( 30 ) Art. 3 Abs. 3 und 4 der Rückführungsrichtlinie.

( 31 ) Art. 11 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie.

( 32 ) 14. Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie. Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Oktober 2015, Celaj (C‑290/14, EU:C:2015:640, Rn. 24).

( 33 ) Gemäß Art. 25 SDÜ. Vgl. auch Art. 11 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie.

( 34 ) 18. Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie.

( 35 ) Urteil vom 19. September 2013 (C‑297/12, EU:C:2013:569, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 36 ) Vgl. ebd., Rn. 41.

( 37 ) Vgl. ebd., Rn. 42.

( 38 ) Vgl. ebd., Rn. 44.

( 39 ) Siehe oben, Nrn. 35 bis 39.

( 40 ) Erwägungsgründe 5 und 20. Siehe auch den Vorschlag der Kommission, S. 5.

( 41 ) Urteil vom 26. Oktober 2010, Vereinigtes Königreich/Rat (C‑482/08, EU:C:2010:631, Rn. 48).

( 42 ) Denn während sich z. B. die Richtlinie 2001/40 mit der gegenseitigen Anerkennung von Ausweisungsentscheidungen, darunter Rückkehrentscheidungen, befasst, besteht derzeit keine Verpflichtung für einen Mitgliedstaat, andere Mitgliedstaaten von der Existenz einer solchen Entscheidung durch Eingabe einer Ausschreibung zur Einreise- oder Aufenthaltsverweigerung in das SIS II zu unterrichten.

( 43 ) Siehe u. a. den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Nutzung des Schengener Informationssystems für die Rückkehr illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger vom 21. Dezember 2016, COM(2016) 881 final, den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems (SIS) im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 515/2014 und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1986/2006, des Beschlusses 2007/533/JI des Rates und des Beschlusses 2010/261/EU der Kommission vom 21. Dezember 2016, COM(2016) 883 final, den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Einreise-/Ausreisesystem (EES) zur Erfassung der Ein- und Ausreisedaten sowie der Einreiseverweigerungsdaten von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und zur Festlegung der Bedingungen für den Zugang zum EES zu Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungszwecken und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 767/2008 und der Verordnung (EU) Nr. 1077/2011 vom 6. April 2016, COM(2016) 194 final, und die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über eine wirksamere Rückkehrpolitik in der Europäischen Union – ein neuer Aktionsplan, 2. März 2017, COM(2017) 200 final.

( 44 ) Vorschlag vom 21. Dezember 2016 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems (SIS) im Bereich der Grenzkontrollen, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 515/2014 und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1987/2006, COM(2016) 882 final, S. 4.

( 45 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 17. Juli 2008, Kozlowski (C‑66/08, EU:C:2008:437, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 46 ) Während dies mit dem europaweiten Funktionskonzept des SIS II im Einklang stehen mag, besteht derzeit keine Verpflichtung eines Mitgliedstaats, in Bezug auf ein Einreiseverbot eine Ausschreibung zur Einreise- oder Aufenthaltsverweigerung in dieses System einzugeben. Siehe Art. 24 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1987/2006.

( 47 ) Zehnter Erwägungsgrund.

( 48 ) Siehe oben, Nr. 56.

( 49 ) Vgl. Art. 3 Buchst. g und Art. 9.

( 50 ) Rat der Europäischen Union, Vorschlag vom 6. Oktober 2006 für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, 13451/06, Art. 2 Buchst. g und Art. 9 der vorgeschlagenen Richtlinie.

( 51 ) Europäisches Parlament, Bericht betreffend den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, A6‑0339/2007 final, Art. 9 der vorgeschlagenen Richtlinie.

( 52 ) Siehe z. B. den nach den Erörterungen vom 7. Februar 2008 geänderten Vorschlag des Rates, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger vom 15. Februar 2008, 6541/08, Art. 3 Buchst. g und Art. 9.

( 53 ) Vgl. z. B. in Frankreich Art. L. 511-1 des Code d’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile (Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt ausländischer Staatsangehöriger und über das Asylrecht), worin der Begriff „interdiction de retour“ (Wiedereinreiseverbot) verwendet wird, und in Polen die Art. 318 bis 320 des Ustawa o Cudzoziemcach (Ausländergesetz), worin ebenfalls der Begriff „Wiedereinreiseverbot“ Verwendung findet.

( 54 ) Empfehlung der Kommission vom 7. März 2017 für eine wirksamere Gestaltung der Rückkehr im Rahmen der Durchführung der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, C(2017) 1600, Nr. 24.

( 55 ) Empfehlung der Kommission vom 1. Oktober 2015 für ein gemeinsames „Rückkehr-Handbuch“, das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Durchführung rückkehrbezogener Aufgaben heranzuziehen ist, C(2015) 6250 final, Anhang, S. 60 ff. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gehen von Empfehlungen ungeachtet dessen, dass sie keine rechtliche Bindung entfalten sollen, doch bestimmte Rechtswirkungen aus. Die nationalen Gerichte sind z. B. verpflichtet, die Empfehlungen bei der Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu berücksichtigen, insbesondere dann, wenn sie Aufschluss über die Auslegung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften geben, die zu ihrer Durchführung erlassen wurden, oder wenn sie verbindliche Vorschriften des Unionsrechts ergänzen sollen. Siehe in diesem Sinne Urteil vom 15. September 2016, Koninklijke KPN u. a. (C‑28/15, EU:C:2016:692, Rn. 41).

( 56 ) Ich weise hier darauf hin, dass das Reisedokument eines Drittstaatsangehörigen innerhalb des Schengen-Raums bei der Ausreise nach Maßgabe des Art. 8 des Schengener Grenzkodex (Verordnung Nr. 2016/399) abgestempelt wird. In Mitgliedstaaten, die nicht dem Schengen-Raum angehören, dürfte das nationale Recht eine ähnliche Bestimmung enthalten. Daher müsste der Drittstaatsangehörige, vorausgesetzt, er ist nicht heimlich ausgereist, nachweisen können, wann das Einreiseverbot zu gelten begonnen hat.

( 57 ) Damit das SIS II Wirksamkeit entfalten kann, ist es erforderlich, dass die Mitgliedstaaten, wie in Art. 24 der Verordnung Nr. 1987/2006 vorgesehen, in Bezug auf Einreiseverbote Ausschreibungen zur Einreise- oder Aufenthaltsverweigerung selbst dann eingeben, wenn ihnen der tatsächliche Zeitpunkt der Ausreise des Drittstaatsangehörigen noch nicht bekannt ist. So wird es in den Niederlanden derzeit tatsächlich praktiziert, wie in der mündlichen Verhandlung erläutert worden ist.

( 58 ) Vgl. ebd., Rn. 44.

( 59 ) In der englischen Fassung der Rückführungsrichtlinie wird der Begriff „public policy“ verwendet, während sich in der französischen und in anderen Sprachfassungen der Begriff „ordre public“ findet. Ich habe mich mit diesem Unterschied im Wortlaut bereits in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:94, Nrn. 28 bis 33) befasst. Wie in Nr. 33 der besagten Schlussanträge erläutert, „wird klar, dass der Begriff ‚public policy‘ hier als Äquivalent des französischen Begriffs ‚ordre public‘ verwendet wird“. Aus Gründen der vereinfachten Handhabung orientiere ich mich hier trotzdem an dem Begriff „public policy“, d. h. an dem in der englischen Fassung der Rückführungsrichtlinie verwendeten Begriff.

( 60 ) Siehe meine Schlussanträge in der Rechtssache Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:94, Nr. 57).

( 61 ) Urteil vom 11. Juni 2015, Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 48).

( 62 ) Siehe meine Schlussanträge in der Rechtssache Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:94, Nrn. 46 und 59).

( 63 ) Siehe meine Schlussanträge in der Rechtssache Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:94, Nrn. 61 und 62).

( 64 ) Vgl. Nr. 39.

( 65 ) Das Adjektiv „schwerwiegend“ war im Vorschlag der Kommission nicht enthalten. Es wurde dem Text der Rückführungsrichtlinie im Zuge des Rechtsetzungsverfahrens hinzugefügt, und zwar auf einen im Jahr 2008 von Belgien unterbreiteten Vorschlag hin. Siehe in diesem Sinne den nach den Erörterungen vom 7. Februar 2008 geänderten Vorschlag des Rates, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, 6541/08, Art. 9 Abs. 2 des Richtlinientexts, wie er in dem besagten Vorschlag enthalten ist, und Fn. 52.

( 66 ) Siehe meine Schlussanträge in der Rechtssache Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:94, Nr. 62) und entsprechend Urteil vom 27. Oktober 1977, Bouchereau (30/77, EU:C:1977:172, Rn. 27).

( 67 ) Art. 1 der Rückführungsrichtlinie.

( 68 ) Erwägungsgrund 14 bzw. 6 der Rückführungsrichtlinie.

( 69 ) Urteil vom 11. Juni 2015, Zh. und O. (C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 50).

( 70 ) Urteil vom 19. September 2013 (C‑297/12, EU:C:2013:569, Rn. 44).

( 71 ) Ein Einreiseverbot kommt nie als isolierte Maßnahme vor, sondern geht stets mit einer Rückkehrentscheidung einher. Selbst wenn Letztere nicht vollstreckt wird, könnte sie nach einer nationalen Fristenregelung ihre Geltung durch Zeitablauf verlieren. Aus diesem Grund bezweifle ich, dass, wie Herr Ouhrami vorgetragen hat, ein auf einen Drittstaatsangehörigen, der das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nie verlässt, angewendetes Einreiseverbot ein „Einreiseverbot von ewiger Dauer“ sein kann.

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