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Document 62013CJ0593
Judgment of the Court (Grand Chamber) of 16 June 2015.#Presidenza del Consiglio dei Ministri and Others v Rina Services SpA and Others.#Request for a preliminary ruling from the Consiglio di Stato.#Request for a preliminary ruling — Articles 49 TFEU, 51 TFEU and 56 TFEU — Freedom of establishment — Connection with the exercise of official authority — Directive 2006/123/EC — Article 14 — Bodies responsible for verifying and certifying that undertakings carrying out public works comply with the conditions laid down by law — National legislation providing that the registered office of such bodies must be situated in Italy.#Case C-593/13.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 16. Juni 2015.
Presidenza del Consiglio dei Ministri u. a. gegen Rina Services SpA u. a.
Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 49 AEUV, 51 AEUV und 56 AEUV – Niederlassungsfreiheit – Beteiligung an der Ausübung öffentlicher Gewalt – Richtlinie 2006/123/EG – Art. 14 – Einrichtungen, die beauftragt sind, die Erfüllung der gesetzlichen Anforderungen durch Unternehmen, die öffentliche Bauaufträge ausführen, zu prüfen und zu zertifizieren – Nationale Vorschrift, nach der solche Einrichtungen ihren satzungsmäßigen Sitz in Italien haben müssen.
Rechtssache C-593/13.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 16. Juni 2015.
Presidenza del Consiglio dei Ministri u. a. gegen Rina Services SpA u. a.
Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 49 AEUV, 51 AEUV und 56 AEUV – Niederlassungsfreiheit – Beteiligung an der Ausübung öffentlicher Gewalt – Richtlinie 2006/123/EG – Art. 14 – Einrichtungen, die beauftragt sind, die Erfüllung der gesetzlichen Anforderungen durch Unternehmen, die öffentliche Bauaufträge ausführen, zu prüfen und zu zertifizieren – Nationale Vorschrift, nach der solche Einrichtungen ihren satzungsmäßigen Sitz in Italien haben müssen.
Rechtssache C-593/13.
Court reports – general
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2015:399
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
16. Juni 2015 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung — Art. 49 AEUV, 51 AEUV und 56 AEUV — Niederlassungsfreiheit — Beteiligung an der Ausübung öffentlicher Gewalt — Richtlinie 2006/123/EG — Art. 14 — Einrichtungen, die beauftragt sind, die Erfüllung der gesetzlichen Anforderungen durch Unternehmen, die öffentliche Bauaufträge ausführen, zu prüfen und zu zertifizieren — Nationale Vorschrift, nach der solche Einrichtungen ihren satzungsmäßigen Sitz in Italien haben müssen“
In der Rechtssache C‑593/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Italien) mit Entscheidung vom 3. Juli 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 20. November 2013, in den Verfahren
Presidenza del Consiglio dei Ministri,
Consiglio di Stato,
Consiglio Superiore dei Lavori Pubblici,
Autorità per la Vigilanza sui Contratti Pubblici di lavori, servizi e forniture,
Conferenza Unificata Stato Regioni,
Ministero dello Sviluppo Economico delle Infrastrutture e dei Trasporti,
Ministero per le Politiche europee,
Ministero dell’Ambiente e della Tutela del Territorio e del Mare,
Ministero per i beni e le attività culturali,
Ministero dell’Economia e delle Finanze,
Ministero degli Affari esteri
gegen
Rina Services SpA,
Rina SpA,
SOA Rina Organismo di Attestazione SpA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten T. von Danwitz und A. Ó Caoimh, der Richter J. Malenovský, A. Arabadjiev (Berichterstatter) und D. Šváby, der Richterin M. Berger sowie der Richter E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund und J. L. da Cruz Vilaça,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. Dezember 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
— |
der Rina Services SpA, der Rina SpA und der SOA Rina Organismo di Attestazione SpA, vertreten durch R. Damonte, G. Giacomini, G. Scuras und G. Demartini, avvocati, |
— |
der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von C. Pluchino und S. Fiorentino, avvocati dello Stato, |
— |
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, |
— |
der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, U. Persson, N. Otte Widgren, L. Swedenborg, F. Sjövall, E. Karlsson und C. Hagerman als Bevollmächtigte, |
— |
der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte, |
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. März 2015
folgendes
Urteil
1 |
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49 AEUV, 51 AEUV und 56 AEUV sowie der Art. 14 und 16 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. L 376, S. 36). |
2 |
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen dreier Rechtsstreitigkeiten zwischen der Presidenza del Consiglio dei Ministri, dem Consiglio di Stato, dem Consiglio Superiore dei Lavori Pubblici, der Autorità per la Vigilanza sui Contratti Pubblici di lavori, servizi e forniture, der Conferenza Unificata Stato Regioni, dem Ministero dello Sviluppo Economico delle Infrastrutture e dei Trasporti, dem Ministero per le Politiche europee, dem Ministero dell’Ambiente e della Tutela del Territorio e del Mare, dem Ministero per i beni e le attività culturali, dem Ministero dell’Economia e delle Finanze und dem Ministero degli Affari esteri einerseits und der Rina Services SpA, der Rina SpA bzw. der SOA Rina Organismo di Attestazione SpA andererseits über insbesondere eine nationale Regelung, nach der Gesellschaften, die Zertifizierungseinrichtungen (Società Organismi di Attestazione, im Folgenden: SOA) sind, ihren satzungsmäßigen Sitz in Italien haben müssen. |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 |
In den Erwägungsgründen 1, 7, 16 und 33 der Richtlinie 2006/123 heißt es:
…
…
|
4 |
Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2006/123 bestimmt: „(1) Diese Richtlinie gilt für Dienstleistungen, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer angeboten werden. (2) Diese Richtlinie findet auf folgende Tätigkeiten keine Anwendung: …
…“ |
5 |
Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die Bestimmungen dieser Richtlinie in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr umsetzen. |
6 |
Der in Kapitel III („Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer“) dieser Richtlinie stehende Art. 14 („Unzulässige Anforderungen“) schreibt vor: „Die Mitgliedstaaten dürfen die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet nicht von einer der folgenden Anforderungen abhängig machen:
…
…“ |
7 |
Nach dem ebenfalls in Kapitel III der Richtlinie 2006/123 stehenden Art. 15 („Zu prüfende Anforderungen“) haben die Mitgliedstaaten zu prüfen, ob ihre Rechtsordnungen die in seinem Abs. 2 aufgeführten Anforderungen vorsehen, und sicherzustellen, dass diese Anforderungen die in Abs. 3 dieser Bestimmung genannten Bedingungen der Nichtdiskriminierung, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit erfüllen. |
8 |
Art. 16 („Dienstleistungsfreiheit“) in Kapitel IV („Freier Dienstleistungsverkehr“) der Richtlinie 2006/123 bestimmt: „(1) Die Mitgliedstaaten achten das Recht der Dienstleistungserbringer, Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen ihrer Niederlassung zu erbringen. Der Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung erbracht wird, gewährleistet die freie Aufnahme und freie Ausübung von Dienstleistungstätigkeiten innerhalb seines Hoheitsgebiets. Die Mitgliedstaaten dürfen die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet nicht von Anforderungen abhängig machen, die gegen folgende Grundsätze verstoßen:
(2) Die Mitgliedstaaten dürfen die Dienstleistungsfreiheit eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringers nicht einschränken, indem sie diesen einer der folgenden Anforderungen unterwerfen:
… (3) Der Mitgliedstaat, in den sich der Dienstleistungserbringer begibt, ist nicht daran gehindert, unter Beachtung des Absatzes 1 Anforderungen in Bezug auf die Erbringung von Dienstleistungen zu stellen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit oder des Schutzes der Umwelt gerechtfertigt sind …“ |
Italienisches Recht
9 |
Art. 64 Abs. 1 des Dekrets Nr. 207 des Präsidenten der Republik vom 5. Oktober 2010 zur Durchführung und Anwendung des Decreto legislativo Nr. 163 vom 12. April 2006 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 288 vom 10. Dezember 2010), mit dem das Dekret Nr. 34 des Präsidenten der Republik vom 25. Januar 2000 aufgehoben wurde, sieht vor, dass die SOA in der Rechtsform von Aktiengesellschaften gegründet werden, deren Firma ausdrücklich den Begriff „Zertifizierungseinrichtung“ enthalten muss und die ihren satzungsmäßigen Sitz im Hoheitsgebiet der Italienischen Republik haben müssen. |
Sachverhalt der Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
10 |
Die Rina SpA ist die Holdinggesellschaft der Rina-Gruppe. Diese Gesellschaft hat ihren Sitz in Genua (Italien). |
11 |
Die Rina Services SpA ist eine zur Rina-Gruppe gehörende Aktiengesellschaft ebenfalls mit Sitz in Genua. Ihr Gesellschaftszweck besteht in der Erbringung von Zertifizierungsdienstleistungen nach der Qualität UNI CEI EN 45000. |
12 |
Auch bei der SOA Rina Organismo di Attestazione SpA handelt es sich um eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Genua. Sie übt die Tätigkeit der Zertifizierung und der Durchführung technischer Kontrollen in Bezug auf die Organisation und Produktion von Bauunternehmen aus. Die Anteile an dieser Gesellschaft werden zu 99 % von der Rina SpA und zu 1 % von der Rina Services SpA gehalten. |
13 |
Diese drei Gesellschaften erhoben beim Tribunale amministrativo regionale per il Lazio Klagen, mit denen sie insbesondere die Rechtmäßigkeit von Art. 64 Abs. 1 des Dekrets Nr. 207 des Präsidenten der Republik vom 5. Oktober 2010 zur Durchführung und Anwendung des Decreto legislativo Nr. 163 vom 12. April 2006 in Abrede stellten, soweit sich danach der satzungsmäßige Sitz der SOA im Hoheitsgebiet der Italienischen Republik befinden muss. |
14 |
Mit Urteilen vom 13. Dezember 2011 gab dieses Gericht den Klagen insbesondere mit der Begründung statt, dass die Anforderung hinsichtlich des satzungsmäßigen Sitzes gegen die Art. 14 und 16 der Richtlinie 2006/123 verstoße. |
15 |
Gegen diese Urteile legten die Kläger der Ausgangsverfahren Berufung beim Consiglio di Stato ein, mit der sie insbesondere geltend machten, dass die von den SOA ausgeübte Tätigkeit mit der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 51 AEUV verbunden und daher dem Anwendungsbereich sowohl der Richtlinie 2006/123 als auch der Art. 49 AEUV und 56 AEUV entzogen sei. |
16 |
Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
|
Zu den Vorlagefragen
Zur zweiten Frage
17 |
Mit seiner zweiten Frage, die zuerst zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 51 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass die von den SOA ausgeübten Zertifizierungstätigkeiten mit der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne dieser Bestimmung verbunden sind. |
18 |
Es ist festzustellen, dass der Gerichtshof eine dahin gehende Frage, die ihm vom Consiglio di Stato zur Vorabentscheidung vorgelegt worden war, bereits in seinem Urteil SOA Nazionale Costruttori (C‑327/12, EU:C:2013:827) beantwortet hat. |
19 |
In Rn. 52 dieses Urteils ist der Gerichtshof zu der Schlussfolgerung gelangt, dass in Anbetracht der Ausführungen in den Rn. 28 bis 35 des Urteils, d. h. insbesondere der Tatsache, dass die SOA gewinnorientierte Unternehmen sind, die unter Wettbewerbsbedingungen tätig sind und keinerlei Entscheidungsgewalt haben, die mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse verknüpft wäre, die Zertifizierungstätigkeiten der SOA nicht unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 51 AEUV verbunden sind. |
20 |
Der Gerichtshof hat in Rn. 54 des genannten Urteils besonders hervorgehoben, dass die von den SOA vorgenommene Prüfung der technischen und finanziellen Leistungsfähigkeit der zertifizierungspflichtigen Unternehmen, der Richtigkeit und des Inhalts der Erklärungen, Bescheinigungen und Unterlagen, die von den Personen, denen das Zertifikat erteilt wird, vorgelegt worden sind, sowie des Fortbestehens der Voraussetzungen hinsichtlich der persönlichen Lage des Bewerbers oder Bieters nicht als Tätigkeit angesehen werden kann, die Ausfluss der Entscheidungsautonomie wäre, die der Ausübung hoheitlicher Befugnisse eigen ist, da diese Prüfung gänzlich durch den nationalen Regelungsrahmen bestimmt wird. In derselben Randnummer dieses Urteils hat der Gerichtshof weiter festgestellt, dass diese Prüfung unter unmittelbarer staatlicher Aufsicht erfolgt und den öffentlichen Auftraggebern ihre Aufgabe bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge erleichtern soll, da sie diese Stellen in die Lage versetzen soll, ihre Aufgabe in genauer und eingehender Kenntnis sowohl der technischen als auch der finanziellen Leistungsfähigkeit der Bieter zu erfüllen. |
21 |
Im vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen führt das vorlegende Gericht keinerlei Änderung der Art der von den SOA ausgeübten Tätigkeiten an, die seit den dem Urteil SOA Nazionale Costruttori (C‑327/12, EU:C:2013:827) zugrunde liegenden Vorgängen eingetreten wäre. |
22 |
Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 51 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung niedergelegte Ausnahme vom Niederlassungsrecht nicht auf Zertifizierungstätigkeiten von Gesellschaften Anwendung findet, die Zertifizierungseinrichtungen sind. |
Zur ersten Frage
23 |
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht unter Bezugnahme auf mehrere Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere die Art. 49 AEUV und 56 AEUV sowie die in der Richtlinie 2006/123 enthaltenen Grundsätze, geklärt wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach die SOA ihren satzungsmäßigen Sitz im Inland haben müssen. |
24 |
Hierzu ist festzustellen, dass Zertifizierungsdienstleistungen in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2006/123 fallen; sie sind zudem im 33. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ausdrücklich genannt, in dem von dieser erfasste Tätigkeiten beispielhaft aufgeführt sind. |
25 |
Im vorliegenden Fall fällt die in den Ausgangsverfahren fragliche Anforderung in Bezug auf den Sitz der Zertifizierungseinrichtungen unter Art. 14 der Richtlinie 2006/123. Zum einen beruht sie nämlich, soweit danach die SOA verpflichtet sind, ihren satzungsmäßigen Sitz im Inland zu begründen, direkt auf dem satzungsmäßigen Sitz des Dienstleistungserbringers im Sinne von Art. 14 Nr. 1, und zum anderen beschränkt sie mit der Verpflichtung zur Begründung der Hauptniederlassung im Inland die Freiheit des Dienstleistungserbringers im Sinne von Nr. 3 dieser Bestimmung, zwischen einer Hauptniederlassung und einer Zweigniederlassung zu wählen. |
26 |
Art. 14 der Richtlinie 2006/123 untersagt den Mitgliedstaaten, die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet von einer der in seinen Nrn. 1 bis 8 aufgezählten Anforderungen abhängig zu machen, und verpflichtet sie damit, diese Anforderungen vorrangig und systematisch zu beseitigen. |
27 |
Die Italienische Republik macht indessen geltend, die Anforderung, dass die SOA ihren satzungsmäßigen Sitz im Inland haben müssen, sei durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, die Wirksamkeit der Kontrollen der Tätigkeiten der SOA durch die Behörden zu gewährleisten. |
28 |
Hierzu ist mit der Republik Polen und der Kommission darauf zu verweisen, dass die in Art. 14 der Richtlinie 2006/123 aufgezählten Anforderungen, zu denen die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung gehört, keiner Rechtfertigung zugänglich sind. |
29 |
Das folgt sowohl aus dem Wortlaut dieses Artikels als auch aus der Systematik der Richtlinie 2006/123. |
30 |
Zum einen ergibt sich nämlich aus der Überschrift von Art. 14, dass die in seinen Nrn. 1 bis 8 aufgezählten Anforderungen „unzulässig“ sind. Außerdem enthält der Wortlaut dieses Artikels nichts, was darauf hindeuten würde, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit hätten, die Beibehaltung dieser Anforderungen in ihren nationalen Rechtsvorschriften zu rechtfertigen. |
31 |
Zum anderen beruht die Systematik der Richtlinie 2006/123 hinsichtlich der Niederlassungsfreiheit auf einer klaren Unterscheidung zwischen den unzulässigen und den einer Prüfung unterliegenden Anforderungen. Während Erstere in Art. 14 dieser Richtlinie geregelt sind, sind die Zweiten Gegenstand der Bestimmungen ihres Art. 15. |
32 |
Was speziell die einer Prüfung unterliegenden Anforderungen angeht, haben die Mitgliedstaaten nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123 zu prüfen, ob ihre Rechtsordnungen eine der in Abs. 2 dieses Artikels aufgeführten Anforderungen vorsehen, und sicherzustellen, dass diese Anforderungen die Bedingungen der Nichtdiskriminierung, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit nach Abs. 3 dieses Artikels erfüllen. |
33 |
Dazu ist den Abs. 5 und 6 von Art. 15 der Richtlinie 2006/123 zu entnehmen, dass es den Mitgliedstaaten gestattet ist, Anforderungen der in Abs. 2 dieses Artikels genannten Art beizubehalten oder gegebenenfalls einzuführen, sofern diese Anforderungen den Bedingungen der Nichtdiskriminierung, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit nach Abs. 3 dieser Bestimmung entsprechen. |
34 |
Außerdem sieht Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 hinsichtlich des freien Dienstleistungsverkehrs vor, dass ein Mitgliedstaat, in den sich ein Dienstleistungserbringer zum Zweck der Erbringung seiner Dienstleistungen begibt, Anforderungen in Bezug auf die Erbringung von Dienstleistungen stellen kann, wenn diese Anforderungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit oder des Schutzes der Umwelt gerechtfertigt sind und Abs. 1 dieses Artikels genügen. |
35 |
Diese Möglichkeit ist jedoch für die in Art. 14 der Richtlinie 2006/123 aufgezählten „unzulässigen“ Anforderungen nicht vorgesehen. |
36 |
Diese Feststellung wird durch Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 nicht in Frage gestellt, wonach die Mitgliedstaaten deren Bestimmungen „in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr um[setzen]“. |
37 |
Insoweit ist mit der Republik Polen darauf hinzuweisen, dass eine Auslegung von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 dahin, dass es den Mitgliedstaaten gestattet ist, eine nach Art. 14 dieser Richtlinie unzulässige Anforderung auf der Grundlage des Primärrechts zu rechtfertigen, dieser Bestimmung jede praktische Wirksamkeit dadurch nehmen würde, dass sie die von ihr angestrebte Harmonisierung letztlich untergraben würde. |
38 |
Eine solche Auslegung liefe nämlich der Feststellung des Unionsgesetzgebers im sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/123 zuwider, dass Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit insbesondere wegen der besonders großen Komplexität der Handhabung dieser Beschränkungen von Fall zu Fall nicht allein durch die direkte Anwendung von Art. 49 AEUV beseitigt werden können. Mit der Annahme, dass die nach Art. 14 dieser Richtlinie „unzulässigen“ Anforderungen gleichwohl einer Rechtfertigung auf der Grundlage des Primärrechts zugänglich wären, würde eine solche einzelfallbezogene Prüfungsmöglichkeit nach dem AEU-Vertrag für alle Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit wiedereingeführt werden. |
39 |
Außerdem ist zu beachten, dass Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 einer Auslegung ihres Art. 14 dahin, dass die in dieser Bestimmung aufgezählten unzulässigen Anforderungen einer Rechtfertigung unzugänglich sind, nicht entgegensteht. Denn mit einem solchen Verbot ohne Rechtfertigungsmöglichkeit soll sichergestellt werden, dass bestimmte Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit, bei denen der Unionsgesetzgeber und der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung davon ausgehen, dass sie das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts in gravierender Weise beeinträchtigen, systematisch und schnell beseitigt werden können. Dieser Zweck steht mit dem AEU-Vertrag in Einklang. |
40 |
So gestattet zwar Art. 52 Abs. 1 AEUV den Mitgliedstaaten, nationale Maßnahmen, die eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit begründen, mit einem der in ihm genannten Gründe zu rechtfertigen, doch bedeutet das nicht, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass eines Aktes des Sekundärrechts wie der Richtlinie 2006/123, die eine im AEU-Vertrag verankerte Grundfreiheit konkretisiert, nicht bestimmte Ausnahmen beschränken könnte, zumal wenn, wie im vorliegenden Fall, mit der betreffenden Bestimmung des Sekundärrechts lediglich eine ständige Rechtsprechung übernommen wird, nach der eine Anforderung, wie die in den Ausgangsverfahren fragliche, mit den Grundfreiheiten, auf die sich die Wirtschaftsteilnehmer berufen können, unvereinbar ist (vgl. dazu etwa Urteil Kommission/Frankreich, C‑334/94, EU:C:1996:90, Rn. 19). |
41 |
Unter diesen Umständen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 14 der Richtlinie 2006/123 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach die SOA ihren satzungsmäßigen Sitz im Inland haben müssen. |
Kosten
42 |
Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: |
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Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.