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Document 62012CJ0009

    Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 19. Dezember 2013.
    Corman-Collins SA gegen La Maison du Whisky SA.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal de commerce de Verviers - Belgien.
    Gerichtliche Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen - Verordnung (EG) Nr. 44/2001 - Art. 2 - Art. 5 Nr. 1 Buchst. a und b - Besondere Zuständigkeit, wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden - Begriffe ‚Verkauf beweglicher Sachen‘ und ‚Erbringung von Dienstleistungen‘ - Vertriebsvertrag über bewegliche Sachen.
    Rechtssache C-9/12.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2013:860

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

    19. Dezember 2013 ( *1 )

    „Gerichtliche Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen — Verordnung (EG) Nr. 44/2001 — Art. 2 — Art. 5 Nr. 1 Buchst. a und b — Besondere Zuständigkeit, wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden — Begriffe ‚Verkauf beweglicher Sachen‘ und ‚Erbringung von Dienstleistungen‘ — Vertriebsvertrag über bewegliche Sachen“

    In der Rechtssache C‑9/12

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de commerce de Verviers (Belgien), mit Entscheidung vom 20. Dezember 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Januar 2012, in dem Verfahren

    Corman-Collins SA

    gegen

    La Maison du Whisky SA

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, des Richters A. Borg Barthet und der Richterin M. Berger (Berichterstatterin),

    Generalanwalt: N. Jääskinen,

    Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 31. Januar 2013,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der Corman-Collins SA, vertreten durch P. Henry und F. Frederick, avocats,

    der La Maison du Whisky SA, vertreten durch B. Noels und C. Héry, avocats,

    der belgischen Regierung, vertreten durch T. Materne, J.‑C. Halleux und C. Pochet als Bevollmächtigte,

    der schweizerischen Regierung, vertreten durch O. Kjelsen als Bevollmächtigten,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin als Bevollmächtigten,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. April 2013

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 und Art. 5 Nr. 1 Buchst. a und b der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1, im Folgenden: Verordnung).

    2

    Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Corman-Collins SA (im Folgenden: Corman-Collins) mit Sitz in Belgien gegen die La Maison du Whisky SA (im Folgenden: La Maison du Whisky) mit Sitz in Frankreich wegen einer Klage auf Entschädigung aufgrund der Kündigung eines Vertriebsvertrags über bewegliche Sachen, der zwischen diesen Unternehmen bestanden haben soll.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    Art. 2 der Verordnung, der sich in Abschnitt 1 („Allgemeine Vorschriften“) des Kapitels II mit Zuständigkeitsvorschriften befindet, stellt in Abs. 1 den Grundsatz auf, dass „[v]orbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung … Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen [sind]“.

    4

    Art. 3 der Verordnung, der ebenfalls zu Abschnitt 1 des Kapitels II gehört, bestimmt:

    „(1)   Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, können vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nur gemäß den Vorschriften der Abschnitte 2 bis 7 dieses Kapitels verklagt werden.

    (2)   Gegen diese Personen können insbesondere nicht die in Anhang I aufgeführten innerstaatlichen Zuständigkeitsvorschriften geltend gemacht werden.“

    5

    Art. 5 der Verordnung, der zu Abschnitt 2 („Besondere Zuständigkeiten“) des Kapitels II gehört, sieht vor:

    „Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:

    1.

    a)

    wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre;

    b)

    im Sinne dieser Vorschrift – und sofern nichts anderes vereinbart worden ist – ist der Erfüllungsort der Verpflichtung

    für den Verkauf beweglicher Sachen der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem sie nach dem Vertrag geliefert worden sind oder hätten geliefert werden müssen;

    für die Erbringung von Dienstleistungen der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem sie nach dem Vertrag erbracht worden sind oder hätten erbracht werden müssen;

    c)

    ist Buchstabe b) nicht anwendbar, so gilt Buchstabe a);

    …“

    Belgisches Recht

    6

    Die Loi du 27 juillet 1961 relative à la résiliation unilatérale des concessions de vente exclusive à durée indéterminée (Gesetz vom 27. Juli 1961 über die einseitige Kündigung unbefristeter Alleinvertriebsverträge) (Moniteur belge vom 5. Oktober 1961, S. 7518) in der durch die Loi du 13 avril 1971 relative à la résiliation unilatérale des concessions de vente (Gesetz vom 13. April 1971 über die einseitige Kündigung der Vertriebsverträge) (Moniteur belge vom 21. April 1971, S. 4996) geänderten Fassung (im Folgenden: belgisches Gesetz vom 27. Juli 1961) definiert den „Vertriebsvertrag“ in Art. 1 § 2 als „jede Vereinbarung, aufgrund deren ein Lizenzgeber einem oder mehreren Vertragshändlern das Recht vorbehält, im eigenen Namen und für eigene Rechnung Erzeugnisse, die er herstellt oder verteilt, zu vertreiben“.

    7

    Art. 4 dieses Gesetzes sieht vor:

    „Bei Kündigung eines Vertriebsvertrags mit Wirkung im gesamten oder in einem Teil des belgischen Staatsgebietes kann der geschädigte Vertragshändler auf jeden Fall den Lizenzgeber in Belgien entweder vor den Richter seines eigenen Wohnsitzes oder vor den Richter des Wohnsitzes oder des Sitzes des Lizenzgebers laden.

    Wird die Streitsache vor ein belgisches Gericht gebracht, wird dieses Gericht ausschließlich das belgische Gesetz anwenden.“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    8

    Corman-Collins und La Maison du Whisky unterhielten ungefähr zehn Jahre lang Geschäftsbeziehungen, in deren Rahmen Corman-Collins bei La Maison du Whisky verschiedene Marken Whisky kaufte, die sie in Frankreich in Empfang nahm, um sie in Belgien weiterzuverkaufen.

    9

    Während dieses gesamten Zeitraums benutzte Corman-Collins die Bezeichnung „Maison du Whisky Belgique“ und eine Internetseite mit dem Domainnamen „www.whisky.be“, ohne dass La Maison du Whisky darauf reagiert hätte. Außerdem wurde die Anschrift von Corman-Collins in der von einer Zweigniederlassung von La Maison du Whisky herausgegebenen Zeitschrift Whisky Magazine genannt.

    10

    Im Dezember 2010 untersagte La Maison du Whisky Corman-Collins die Benutzung der Bezeichnung „Maison du Whisky Belgique“ und ließ die Seite www.whisky.be schließen. Im Februar 2011 informierte sie Corman-Collins, dass sie ab 1. April bzw. 1. September 2011 den Alleinvertrieb zweier Marken ihrer Erzeugnisse einer anderen Gesellschaft übertragen werde, über die Corman-Collins künftig ihre Bestellungen aufgeben solle.

    11

    Corman-Collins verklagte La Maison du Whisky vor dem Tribunal de commerce de Verviers auf der Grundlage des belgischen Gesetzes vom 27. Juli 1961 auf Zahlung von Schadensersatz wegen Nichteinhaltung der Kündigungsfrist und einer Zusatzentschädigung.

    12

    La Maison du Whisky machte die örtliche Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts geltend und begründete dies damit, dass nach Art. 2 der Verordnung die französischen Gerichte zuständig seien. Corman-Collins hielt diesem Einwand Art. 4 des erwähnten belgischen Gesetzes entgegen.

    13

    In diesem Zusammenhang streiten die Parteien des Ausgangsverfahrens darüber, wie ihre geschäftlichen Beziehungen zu qualifizieren sind. Nach Ansicht von Corman-Collins geht es um einen Vertriebsvertrag, während La Maison du Whisky geltend macht, es handele sich um einfache Kaufverträge, die auf der Grundlage wöchentlicher Bestellungen nach den von Corman-Collins geäußerten Wünschen abgeschlossen worden seien.

    14

    Wie das Tribunal de commerce de Verviers in der Vorlageentscheidung ausdrücklich feststellt, „bestand zwischen [Corman-Collins und La Maison du Whisky] ein mündlicher Vertrag“ und „kann die rechtliche Beziehung zwischen den Parteien [nach dem belgischen Gesetz vom 27. Juli 1961] als Vertriebsvertrag qualifiziert werden, da die Klägerin berechtigt war, die von der Beklagten erworbenen Erzeugnisse auf dem belgischen Markt weiterzuverkaufen“.

    15

    Dieses Gericht hegt jedoch Zweifel, ob die Möglichkeit bestehe, seine Zuständigkeit auf die Regelung nach Art. 4 des belgischen Gesetzes vom 27. Juli 1961 zu stützen. Nach Art. 2 der Verordnung, der seiner Ansicht nach auf den konkreten Sachverhalt anwendbar ist, müssten die französischen Gerichte zuständig sein, aber man könne auch Art. 5 Nr. 1 der Verordnung anwenden. In Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs fragt sich das Gericht insoweit, ob ein Vertriebsvertrag als Vertrag über den Verkauf beweglicher Sachen und/oder als Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen im Sinne von Art. 5 Nr. 1 Buchst. b der Verordnung zu qualifizieren ist. Sollte ein solcher Vertragstyp weder als das eine noch als das andere qualifiziert werden können, müsse bestimmt werden, welche streitige Verpflichtung im Sinne von Art. 5 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liege.

    16

    Aufgrund dieser Erwägungen hat das Tribunal de commerce de Verviers das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    1.

    Ist Art. 2 der Verordnung, gegebenenfalls in Verbindung mit Art. 5 Nr. 1 Buchst. a oder b, dahin auszulegen, dass er einer Zuständigkeitsnorm wie der in Art. 4 des belgischen Gesetzes vom 27. Juli 1961 entgegensteht, die für den Fall, dass der Vertragshändler in Belgien ansässig ist und die Lizenz ihre Wirkung vollständig oder teilweise in Belgien entfaltet, unabhängig vom Ort der Niederlassung des Lizenzgebers die Zuständigkeit der belgischen Gerichte vorsieht, wenn der Lizenzgeber Beklagter ist?

    2.

    Ist Art. 5 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung dahin auszulegen, dass er auf einen Vertriebsvertrag über bewegliche Sachen anwendbar ist, aufgrund dessen eine Partei von der anderen Produkte erwirbt, um diese im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu verkaufen?

    3.

    Falls diese Frage verneint wird: Ist Art. 5 Nr. 1 Buchst. b der Verordnung dahin auszulegen, dass er auf einen Vertriebsvertrag wie den vorliegend zwischen den Parteien geschlossenen anwendbar ist?

    4.

    Falls die beiden vorstehenden Fragen verneint werden: Ist die streitige Verpflichtung im Fall der Kündigung eines Vertriebsvertrags eine Verpflichtung des Verkäufers/Lizenzgebers oder des Käufers/Vertragshändlers?

    Zu den Vorlagefragen

    Zur ersten Frage

    17

    Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Vorschriften der Verordnung in einem Fall, in dem der im Rechtsstreit beklagte Lizenzgeber seinen (Wohn-)Sitz in einem anderen als dem Mitgliedstaat hat, in dem sich der Sitz des angerufenen Gerichts befindet, der Anwendung einer innerstaatlichen Zuständigkeitsvorschrift wie der in Art. 4 des belgischen Gesetzes vom 27. Juli 1961 entgegenstehen, wonach die nationalen Gerichte für die Entscheidung eines Rechtsstreits über die Kündigung eines Vertriebsvertrags zuständig sind, wenn der Vertragshändler im Inland ansässig ist.

    18

    Was erstens den Anwendungsbereich der Verordnung betrifft, geht aus ihrem zweiten Erwägungsgrund hervor, dass sie u. a. bezweckt, die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen zu vereinheitlichen, wobei nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Anwendung dieser Vorschriften einen Auslandsbezug des Rechtsstreits erfordert (vgl. u. a. Urteil vom 17. November 2011, Hypoteční banka, C-327/10, Slg. 2011, I-11543, Randnr. 29).

    19

    Nach dem achten Erwägungsgrund der Verordnung sollten die in der Verordnung enthaltenen gemeinsamen Vorschriften grundsätzlich dann Anwendung finden, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat.

    20

    Was zweitens die Zuständigkeitsvorschriften der Verordnung anbelangt, sieht die allgemeine Zuständigkeitsvorschrift des Art. 2 der Verordnung vor, dass im Fall eines Beklagten, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, die Gerichte dieses Staates zuständig sind.

    21

    Nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung sind die einzigen zulässigen Ausnahmen von dieser Grundregel jene gemäß den Vorschriften der Abschnitte 2 bis 7 des Kapitels I der Verordnung. Art. 3 Abs. 1 schließt somit stillschweigend, aber notwendigerweise die Anwendung innerstaatlicher Zuständigkeitsvorschriften aus. Dies wird durch Art. 3 Abs. 2 bestätigt, der auf eine nicht abschließende Liste innerstaatlicher Zuständigkeitsvorschriften, die nicht geltend gemacht werden können, verweist.

    22

    Daher müssen die in der Verordnung vorgesehenen Zuständigkeitsvorschriften grundsätzlich zur Anwendung kommen und Vorrang vor den innerstaatlichen Zuständigkeitsvorschriften haben, wenn ein Rechtsstreit mit Auslandsbezug in den materiellen Anwendungsbereich der Verordnung fällt, was hier außer Streit steht, und wenn der Beklagte seinen (Wohn-)Sitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, was im Ausgangsverfahren der Fall ist.

    23

    Somit ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 2 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass er, wenn der Beklagte seinen (Wohn-)Sitz in einem anderen als dem Mitgliedstaat hat, in dem sich der Sitz des mit dem Rechtsstreit befassten Gerichts befindet, der Anwendung einer innerstaatlichen Zuständigkeitsvorschrift wie der in Art. 4 des belgischen Gesetzes vom 27. Juli 1961 entgegensteht.

    Zur zweiten und zur dritten Frage

    24

    Mit diesen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Nr. 1 Buchst. b der Verordnung, der Verträge über den Verkauf beweglicher Sachen und Verträge über die Erbringung von Dienstleistungen betrifft, auf einen Vertriebsvertrag anwendbar ist oder ob bei einem solchen Vertragstyp das Gericht, das für die Entscheidung über eine auf einen solchen Vertrag gestützte Klage zuständig ist, nach Art. 5 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung zu bestimmen ist.

    25

    Zur Beantwortung der Vorlagefragen ist zunächst der Begriff „Vertriebsvertrag“ zu klären.

    26

    Wie der Generalanwalt in Nr. 40 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, handelt es sich bei dem Begriff „Vertriebsvertrag“, den das vorlegende Gericht in seinen Vorlagefragen verwendet, um einen Begriff, der nicht im Unionsrecht definiert ist und der auf unterschiedliche Sachverhalte im Recht der Mitgliedstaaten verweisen kann.

    27

    Doch wie verschiedenartig die Vertriebsverträge in der Geschäftspraxis auch sein mögen, die in ihnen vorgesehenen Verpflichtungen knüpfen an den Zweck dieses Vertragstyps an, der darin besteht, den Vertrieb der Erzeugnisse des Lizenzgebers zu gewährleisten. Zu diesem Zweck verpflichtet sich der Lizenzgeber, dem von ihm hierzu ausgewählten Vertragshändler die Waren zu verkaufen, die Letzterer zur Befriedigung der Nachfrage seiner Kundschaft bestellt, während sich der Vertragshändler verpflichtet, dem Lizenzgeber die in Zukunft von ihm benötigten Waren abzukaufen.

    28

    Im Recht der Mitgliedstaaten ist allgemein anerkannt, dass es sich beim Vertriebsvertrag um einen Rahmenvertrag handelt, der die künftig für die Beziehungen zwischen dem Lizenzgeber und dem Vertragshändler geltenden allgemeinen Regeln über ihre Liefer- und/oder Bezugsverpflichtungen aufstellt und die nachfolgenden Kaufverträge vorbereitet. Wie der Generalanwalt in Nr. 41 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sehen die Parteien häufig auch besondere Klauseln über den Vertrieb der vom Lizenzgeber verkauften Waren durch den Vertragshändler vor.

    29

    Die Beantwortung der zweiten und der dritten Frage hat, soweit diese Fragen die Anwendung von Art. 5 Nr. 1 der Verordnung auf einen Vertriebsvertrag betreffen, unter Bezugnahme auf einen Standardvertrag mit solchen Verpflichtungen zu erfolgen, wobei nach der Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof, auf der das Verfahren gemäß Art. 267 AEUV beruht, die Würdigung des Sachverhalts in die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts fällt (vgl. u. a. Beschluss vom 14. November 2013, Krejci Lager & Umschlagbetrieb, C‑469/12, Randnr. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    30

    Was sodann die Bestimmung des Gerichts betrifft, das für die Entscheidung eines Rechtsstreits über einen Vertriebsvertrag im oben erläuterten Sinne zuständig ist, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die in der Verordnung verwendeten Begriffe grundsätzlich autonom auszulegen sind, wobei in erster Linie die Systematik und die Ziele der Verordnung zu berücksichtigen sind, um deren einheitliche Anwendung in allen Mitgliedstaaten zu sichern (vgl. u. a. Urteil vom 14. März 2013, Česká spořitelna, C‑419/11, Randnr. 25).

    31

    Zu der in Art. 5 Nr. 1 der Verordnung vorgesehenen Regel eines besonderen Gerichtsstands für vertragliche Streitigkeiten, die die grundsätzliche Regel des Gerichtsstands des Wohnsitzes des Beklagten ergänzt, hat der Gerichtshof entschieden, dass sie dem Ziel der räumlichen Nähe entspricht und ihren Grund in der engen Verknüpfung zwischen dem Vertrag und dem zur Entscheidung berufenen Gericht hat (Urteil vom 11. März 2010, Wood Floor Solutions Andreas Domberger, C-19/09, Slg. 2010, I-2121, Randnr. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    32

    Ferner hat der Gerichtshof zum Erfüllungsort der Verpflichtungen aus Verträgen über den Verkauf beweglicher Sachen ausgeführt, dass die Verordnung dieses Anknüpfungskriterium in ihrem Art. 5 Nr. 1 Buchst. b erster Gedankenstrich autonom definiert, um die Ziele der Vereinheitlichung der Gerichtsstandsregeln und der Vorhersehbarkeit zu stärken (Urteil Wood Floor Solutions Andreas Domberger, Randnr. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dies sind auch die Ziele von Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Verordnung, da die in dieser Verordnung für Verträge über den Verkauf beweglicher Sachen und die Erbringung von Dienstleistungen vorgesehenen besonderen Zuständigkeitsregeln dieselbe Entstehungsgeschichte haben, dasselbe Ziel verfolgen und denselben Platz in dem mit der Verordnung errichteten System einnehmen (Urteil Wood Floor Solutions Andreas Domberger, Randnr. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    33

    Unter Berücksichtigung dieser Ziele ist zu klären, ob ein Vertriebsvertrag in eine der beiden in Art. 5 Nr. 1 Buchst. b der Verordnung genannten Kategorien von Verträgen fällt.

    34

    Hierzu hat der Gerichtshof ausgeführt, dass für die Einstufung eines Vertrags im Hinblick auf diese Bestimmung auf die für den fraglichen Vertrag charakteristische Verpflichtung abzustellen ist (Urteil vom 25. Februar 2010, Car Trim, C-381/08, Slg. 2010, I-1255, Randnrn. 31 und 32).

    35

    Dementsprechend hat der Gerichtshof festgestellt, dass ein Vertrag, dessen charakteristische Verpflichtung die Lieferung eines Gegenstands ist, als „Verkauf beweglicher Sachen“ im Sinne von Art. 5 Nr. 1 Buchst. b erster Gedankenstrich der Verordnung einzustufen ist (Urteil Car Trim, Randnr. 32).

    36

    So eingestuft werden kann eine ständige Geschäftsbeziehung zwischen zwei Wirtschaftsteilnehmern, wenn sich diese Beziehung auf aufeinanderfolgende Verträge beschränkt, die jeweils die Lieferung und die Abholung beweglicher Sachen zum Gegenstand haben. Diese Einstufung entspricht jedoch nicht der Systematik eines typischen Vertriebsvertrags, der in einem von zwei Wirtschaftsteilnehmern für die Zukunft geschlossenen Rahmenvertrag besteht, der Liefer- und Bezugsverpflichtungen zum Gegenstand hat und spezifische Vertragsklauseln über den Vertrieb der vom Lizenzgeber verkauften Waren durch den Vertragshändler enthält.

    37

    Zur Frage, ob ein Vertriebsvertrag als ein Vertrag über die „Erbringung von Dienstleistungen“ im Sinne von Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Verordnung eingestuft werden kann, ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Dienstleistungen“ im Sinne dieser Vorschrift nach der Definition des Gerichtshofs zumindest bedeutet, dass die Partei, die sie erbringt, eine bestimmte Tätigkeit gegen Entgelt durchführt (Urteil vom 23. April 2009, Falco Privatstiftung und Rabitsch, C-533/07, Slg. 2009, I-3327, Randnr. 29).

    38

    Das erste Kriterium dieser Definition, nämlich das Vorliegen einer Tätigkeit, erfordert nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Vornahme positiver Handlungen und schließt bloße Unterlassungen aus (vgl. in diesem Sinne Urteil Falco Privatstiftung und Rabitsch, Randnrn. 29 bis 31). Dieses Kriterium entspricht bei einem Vertriebsvertrag der charakteristischen Leistung, die der Vertragshändler erbringt, der durch die Gewährleistung des Vertriebs der Erzeugnisse des Lizenzgebers an der Förderung der Verbreitung dieser Erzeugnisse mitwirkt. Dank der ihm nach dem Vertriebsvertrag zustehenden Beschaffungsgarantie und gegebenenfalls dank seiner Beteiligung an der Geschäftsstrategie des Lizenzgebers, insbesondere an Aktionen zur Absatzförderung – Umstände, deren Feststellung in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fällt –, ist der Vertragshändler in der Lage, den Kunden Dienstleistungen und Vorteile zu bieten, die ein einfacher Wiederverkäufer nicht bieten kann, und somit für die Erzeugnisse des Lizenzgebers einen größeren Anteil am lokalen Markt zu erobern.

    39

    Zum zweiten Kriterium, nämlich dem für eine Tätigkeit gewährten Entgelt, ist zu betonen, dass dieses Entgelt nicht im engen Sinn als Zahlung eines Geldbetrags zu verstehen ist. Eine solche Einschränkung ist nämlich weder durch den sehr allgemeinen Wortlaut des Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Verordnung geboten, noch steht sie im Einklang mit den von dieser Vorschrift verfolgten Zielen der räumlichen Nähe und der Vereinheitlichung, auf die in den Randnrn. 30 bis 32 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist.

    40

    Hierbei ist der Umstand zu berücksichtigen, dass der Vertriebsvertrag auf einer Auswahl des Vertragshändlers durch den Lizenzgeber beruht. Diese Auswahl, die ein Charakteristikum dieses Vertragstyps ist, verschafft dem Vertragshändler einen Wettbewerbsvorteil, weil er als Einziger das Recht haben wird, die Erzeugnisse des Lizenzgebers in einem bestimmten Gebiet zu verkaufen, oder zumindest, weil dieses Recht nur einer beschränkten Zahl von Vertragshändlern zustehen wird. Außerdem sieht der Vertriebsvertrag oft vor, dass dem Vertragshändler Hilfe in Form von Zugang zu Werbematerial, Vermittlung von Know‑how durch Fortbildungsmaßnahmen oder auch Zahlungserleichterungen gewährt wird. Die Summe dieser Vorteile, deren Vorliegen das mit der Tatsachenfeststellung befasste Gericht zu überprüfen hat, stellt für den Vertragshändler einen wirtschaftlichen Wert dar, der als Entgelt angesehen werden kann.

    41

    Daher kann ein Vertriebsvertrag, der die in den Randnrn. 27 und 28 des vorliegenden Urteils erläuterten typischen Verpflichtungen umfasst, für die Zwecke der Anwendung der Zuständigkeitsvorschrift des Art. 5 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Verordnung als Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen eingestuft werden.

    42

    Diese Einstufung schließt die Anwendung der Zuständigkeitsvorschrift des Art. 5 Nr. 1 Buchst. a auf einen Vertriebsvertrag aus. Denn aufgrund der in Art. 5 Nr. 1 Buchst. c aufgestellten Rangordnung zwischen Buchst. a und Buchst. b greift die Zuständigkeitsvorschrift des Art. 5 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung nur alternativ und nur dann, wenn die Zuständigkeitsregeln des Art. 5 Nr. 1 Buchst. b der Verordnung nicht einschlägig sind.

    43

    Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 5 Nr. 1 Buchst. b der Verordnung dahin auszulegen ist, dass die im zweiten Gedankenstrich dieser Bestimmung enthaltene Zuständigkeitsvorschrift für Rechtsstreitigkeiten in Bezug auf Verträge über die Erbringung von Dienstleistungen im Fall einer Klage anwendbar ist, mit der ein in einem Mitgliedstaat ansässiger Kläger gegenüber einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Beklagten Ansprüche aus einem Vertriebsvertrag geltend macht, wobei Voraussetzung ist, dass der zwischen den Parteien bestehende Vertrag besondere Klauseln über den Vertrieb der vom Lizenzgeber verkauften Waren durch den Vertragshändler enthält. Es obliegt dem nationalen Gericht, zu prüfen, ob dies in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit der Fall ist.

    Zur vierten Frage

    44

    Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, welche streitige Verpflichtung im Fall eines Rechtsstreits wegen Kündigung eines Vertriebsvertrags der Klage zugrunde liegt.

    45

    Vor dem Hintergrund der Begründung der Vorlageentscheidung betrifft diese Frage die Auslegung von Art. 5 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung.

    46

    Angesichts der Beantwortung der zweiten und der dritten Frage ist diese Frage nicht zu beantworten.

    Kosten

    47

    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

     

    1.

    Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass er, wenn der Beklagte seinen (Wohn-)Sitz in einem anderen als dem Mitgliedstaat hat, in dem sich der Sitz des mit dem Rechtsstreit befassten Gerichts befindet, der Anwendung einer innerstaatlichen Zuständigkeitsvorschrift wie der in Art. 4 der Loi du 27 juillet 1961 relative à la résiliation unilatérale des concessions de vente exclusive à durée indéterminée (Gesetz vom 27. Juli 1961 über die einseitige Kündigung unbefristeter Alleinvertriebsverträge) in der durch die Loi du 13 avril 1971 relative à la résiliation unilatérale des concessions de vente (Gesetz vom 13. April 1971 über die einseitige Kündigung der Vertriebsverträge) geänderten Fassung entgegensteht.

     

    2.

    Art. 5 Nr. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 44/2001 ist dahin auszulegen, dass die im zweiten Gedankenstrich dieser Bestimmung enthaltene Zuständigkeitsvorschrift für Rechtsstreitigkeiten in Bezug auf Verträge über die Erbringung von Dienstleistungen im Fall einer Klage anwendbar ist, mit der ein in einem Mitgliedstaat ansässiger Kläger gegenüber einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Beklagten Ansprüche aus einem Vertriebsvertrag geltend macht, wobei Voraussetzung ist, dass der zwischen den Parteien bestehende Vertrag besondere Klauseln über den Vertrieb der vom Lizenzgeber verkauften Waren durch den Vertragshändler enthält. Es obliegt dem nationalen Gericht, zu prüfen, ob dies in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit der Fall ist.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

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