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Document 62011CC0619

Schlussanträge des Generalanwalts P. Mengozzi vom 13. Dezember 2012.
Patricia Dumont de Chassart gegen Office national d’allocations familiales pour travailleurs salariés (ONAFTS).
Vorabentscheidungsersuchen des tribunal du travail de Bruxelles.
Soziale Sicherheit – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Art. 72, 78 Abs. 2 Buchst. b und Art. 79 Abs. 1 Buchst. a – Familienbeihilfen für Waisen – Zusammenrechnung der Versicherungs- und Beschäftigungszeiten – Zeiten, die vom überlebenden Elternteil in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt wurden – Nichtberücksichtigung.
Rechtssache C‑619/11.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2012:805

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PAOLO MENGOZZI

vom 13. Dezember 2012 ( 1 )

Rechtssache C-619/11

Patricia Dumont de Chassart

gegen

Onafts – Office national d’allocations familiales pour travailleurs salariés

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal du travail de Bruxelles [Belgien])

„Soziale Sicherheit — Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 — Art. 79 — Leistungen für Waisen von Arbeitnehmern, für die die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten galten, zulasten des Wohnsitzmitgliedstaats der Waise — Nichtberücksichtigung von Versicherungszeiten, die vom Ehegatten des Verstorbenen in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegt wurden — Ungleichbehandlung“

1. 

Die im vorliegenden Verfahren vom vorlegenden Gericht, dem Tribunal du travail de Bruxelles (Arbeitsgericht Brüssel), zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage betrifft Art. 79 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ( 2 ) (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) und insbesondere den in Buchst. a dieser Bestimmung enthaltenen Verweis auf Art. 72 dieser Verordnung. Diese Bestimmungen wurden durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ( 3 ), die die Verordnung Nr. 1408/71 ab dem 1. Mai 2010 aufgehoben und ersetzt hat, völlig neu gefasst. Die neuen Bestimmungen sind für das vorliegende Verfahren jedoch nicht von Belang.

2. 

Im Ausgangsverfahren ist das vorlegende Gericht mit der Klage von Frau Dumont de Chassart gegen die Entscheidung der belgischen Zentralanstalt für Familienbeihilfen für Arbeitnehmer (Office national d’allocations familiales pour travailleurs salariés, im Folgenden: ONAFTS) befasst, mit der der Antrag der Klägerin auf Gewährung von Familienbeihilfen für Waisen abgelehnt wurde. Der Gerichtshof soll dabei im Wesentlichen klären, ob die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71, die die für die Gewährung der Familienbeihilfen für „Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen“ anwendbaren nationalen Vorschriften festlegen, die Möglichkeit ausschließen, den Grundsatz der Zusammenrechnung unter Berücksichtigung der vom noch lebenden als Arbeitnehmer tätigen Elternteil in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Versicherungszeiten anzuwenden, wenn, wie im vorliegenden Fall, das nationale Recht erlaubt, die vom Letztgenannten zurückgelegten Versicherungszeiten zur Stützung des Antrags auf Familienbeihilfen für Waisen zu berücksichtigen.

3. 

Das Interesse der vorliegenden Rechtssache besteht darin, dass im Gegensatz zum Großteil der Rechtsstreitigkeiten, mit denen der Gerichtshof in diesem Bereich befasst war, diese nicht eine Frage der Zusammenrechnung von gleichzeitig in verschiedenen Mitgliedstaaten geschuldeten Leistungen betreffen ( 4 ), sondern eher die Wechselwirkung zwischen den Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 und dem anwendbaren nationalen Recht.

I – Rechtlicher Rahmen

A – Unionsrecht

4.

Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 findet sich in Titel III Kapitel 7 („Familienleistungen“). Dieser Artikel ist überschrieben mit „Zusammenrechnung der Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Tätigkeit“ und sieht vor:

„Der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften der Erwerb des Leistungsanspruchs von der Zurücklegung von Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Tätigkeit abhängig ist, berücksichtigt, soweit erforderlich, auch Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat, als handelte es sich um Zeiten, die nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften zurückgelegt worden sind.“

5.

Die Art. 78 und 79 dieser Verordnung sind in Titel III Kapitel 8 („Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder von Rentnern und für Waisen“) enthalten.

6.

Art. 78 („Waisen“) der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

„1.   Leistungen im Sinne dieses Artikels sind Familienbeihilfen und gegebenenfalls zusätzliche oder besondere Beihilfen für Waisen.

2.   Die Leistungen für Waisen werden ohne Rücksicht darauf, in welchem Mitgliedstaat die Waisen oder die natürliche oder juristische Person, die ihren Unterhalt bestreitet, wohnen, wie folgt gewährt:

b)

für Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen, für den die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten haben:

i)

nach den Rechtsvorschriften des Staates, in dessen Gebiet die Waisen wohnen, wenn Anspruch auf eine der in Absatz 1 genannten Leistungen — gegebenenfalls unter Berücksichtigung von Artikel 79 Absatz 1 Buchstabe a) — nach den Rechtsvorschriften dieses Staates besteht …“

7.

Art. 79 („Gemeinsame Vorschriften für die Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder von Rentenberechtigten und für Waisen“) der Verordnung sieht vor:

„1.   Die Leistungen nach den Artikeln … 78 werden gemäß den nach diesen Artikeln bestimmten Rechtsvorschriften von dem Träger, der diese Rechtsvorschriften anzuwenden hat, zu seinen Lasten gewährt, als hätten für den Rentner oder den Verstorbenen ausschließlich die Rechtsvorschriften des zuständigen Staates gegolten.

Dabei gilt jedoch Folgendes:

a)

Hängt nach diesen Rechtsvorschriften der Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs von der Dauer der Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten, Zeiten einer selbständigen Tätigkeit oder Wohnzeiten ab, so wird diese Dauer gegebenenfalls unter Berücksichtigung … des Art. 72 ermittelt;

…“

B – Nationales Recht

8.

Art. 56bis Abs. 1 der koordinierten Gesetze über die Familienbeihilfen für Lohnempfänger vom 19. Dezember 1939 (im Folgenden: koordinierte Gesetze) sieht im Wesentlichen vor, dass die Waisen Kinderzulagen für Waisen erhalten, deren verstorbener oder überlebender Elternteil im Laufe der letzten zwölf Monaten vor dem Tod die Bedingungen für die Gewährung von mindestens sechs pauschalen (Grund-)Monatszulagen aufgrund dieser koordinierten Gesetze erfüllt hat.

II – Sachverhalt, nationales Verfahren und Vorlagefrage

9.

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, Frau Dumont de Chassart, ist belgische Staatsangehörige und Witwe von Herrn Descampe, der ebenfalls die belgische Staatsangehörigkeit besaß. Das Paar hat einen Sohn, Diego Descampe, der auch belgischer Staatsangehöriger ist und im Jahr 2000 in Frankreich geboren wurde.

10.

Die Familie lebte mehrere Jahre in Frankreich, wo beide Eltern Arbeitnehmertätigkeiten nachgingen. Insbesondere geht aus den Akten hervor, dass Frau Dumont de Chassart in Frankreich eine Arbeitnehmertätigkeit als Psychologin bei einem Kinderschutzbund vom 28. September 1993 bis zum 31. August 2008 ausübte. Herr Descampe hingegen ging Arbeitnehmertätigkeiten sowohl in Belgien (in den Zeiträumen zwischen 1968 und 1976 und zwischen 1987 und 1998) als auch bis 2002 in Frankreich nach. Ab dem Jahr 2002 übte er jedoch bis zum Zeitpunkt seines Todes am 25. April 2008 keine Arbeitnehmertätigkeit mehr aus und lebte in Frankreich im Vorruhestand, ohne irgendein Einkommen oder eine Vergütung zu beziehen.

11.

Am 31. August 2008, d. h. einige Monate nach dem Tod von Herrn Descampe, zog Frau Dumont de Chassart mit ihrem Sohn nach Belgien um, wo sie, nachdem sie ca. einen Monat gearbeitet hatte, arbeitslos wurde.

12.

Am 13. Oktober 2008 stellte Frau Dumont de Chassart beim ONAFTS einen Antrag auf Gewährung von Familienbeihilfen für Waisen.

13.

Obwohl das ONAFTS ihr am 9. März 2009 bzw. am 6. April 2009 die Familienbeihilfen sowie einen Kindergeldzuschlag für Alleinerziehende rückwirkend bewilligte, lehnte es mit Entscheidung vom 20. Oktober 2009 jedoch ab, Frau Dumont de Chassart die Familienbeihilfen für Waisen zu gewähren. Das ONAFTS begründete seine Entscheidung damit, dass der verstorbene Vater nicht im Lauf der unmittelbar vor dem Tod liegenden zwölf Monate die Bedingungen für die Gewährung von mindestens sechs pauschalen Monatszulagen erfüllt habe, wie es Art. 56bis der koordinierten Gesetze erfordere.

14.

Am 4. Februar 2010 erhob Frau Dumont de Chassart vor dem vorlegenden Gericht Klage, in der sie diese Ablehnung anfocht und dabei geltend machte, das ONAFTS hätte ihr die Beihilfen für Waisen unter Berücksichtigung der von ihr vor dem Tod ihres Ehemanns in Frankreich zurückgelegten Versicherungszeiten gewähren müssen.

15.

Das vorlegende Gericht stellt fest, dass nach dem Wortlaut von Art. 78 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 das Recht des Wohnsitzmitgliedstaats der Waise anwendbar sei und dass daher ab dem 1. September 2008 auf die Situation von Frau Dumont de Chassart belgisches Recht anwendbar sei. Das Gericht ist der Ansicht, dass nach dem Wortlaut von Art. 56bis der koordinierten Gesetze sowohl die Situation des verstorbenen Elternteils als auch die des noch lebenden Elternteils zur Stützung des Antrags auf Kinderzulagen für Waisen geltend gemacht werden könnten. Allerdings könne ein solcher Antrag im vorliegenden Fall nicht auf die Situation des verstorbenen Elternteils gegründet werden, da dieser im Laufe der letzten zwölf Monate vor dem Tod die von Art. 56bis der koordinierten Gesetze vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt habe. Die Situation von Frau Dumont de Chassart hingegen könne nur dann zur Stützung ihres Antrags herangezogen werden, wenn die in Frankreich zurückgelegten Beschäftigungszeiten den in Belgien zurückgelegten gleichgestellt werden könnten. Dies wäre möglich, wenn auf die Situation der Klägerin Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71, der die Zusammenrechnung der Versicherungs- und Beschäftigungszeiten vorsehe, anwendbar wäre.

16.

Allerdings ist nach Ansicht des vorlegenden Gerichts im vorliegenden Fall die Anwendung von Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 auf die Situation von Frau Dumont de Chassart ausgeschlossen, da, wie in der Entscheidung des ONAFTS herausgestellt werde, Art. 79 Abs. 1 dieser Verordnung auf Art. 72 verweise, sich dabei aber ausschließlich auf den verstorbenen als Arbeitnehmer tätigen Elternteil beziehe. Grund dieser Beschränkung des Verweises auf den verstorbenen Elternteil sei, dass der Entstehungstatbestand des Anspruchs auf Familienleistungen für die Waise im Tod des Elternteils bestehe. Daraus folge, dass der persönliche Anwendungsbereich von Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 und folglich des Verweises in dieser Bestimmung auf Art. 72 dieser Verordnung begrenzter sei als der von Art. 56bis der koordinierten Gesetze, der sich dagegen auf die Situation beider Eltern beziehe. Deshalb sei es im vorliegenden Fall nicht möglich, die Situation des noch lebenden als Arbeitnehmer tätigen Elternteils zu berücksichtigen.

17.

Das vorlegende Gericht stellt sich daher die Frage, ob die sich aus der Wechselwirkung zwischen Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 56bis der koordinierten Gesetze ergebende Situation nicht gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung verstoße. Das Gericht äußert insbesondere Zweifel wegen der Unterscheidung zwischen Waisenkindern von Eltern, die das belgische Staatsgebiet niemals verlassen hätten, um einer beruflichen Tätigkeit in der Union nachzugehen, und Waisenkindern, deren Eltern, die Unionsbürger seien, in einem anderen Mitgliedstaat gewohnt hätten, in dem der noch lebende Elternteil im Laufe des für die belgischen Rechtsvorschriften relevanten Zeitraums gearbeitet habe, während der verstorbene Elternteil keiner Tätigkeit nachgegangen sei. Im Fall der erstgenannten Waisen könnte nämlich der überlebende Elternteil, der im Bezugszeitraum in Belgien gearbeitet habe, neben den Versicherungszeiten des verstorbenen Elternteils auch die eigenen in Belgien zurückgelegten Versicherungszeiten geltend machen, wohingegen für die letztgenannten Waisen die Methode der Zusammenrechnung der Versicherungszeiten nach dieser Auslegung es dem überlebenden Elternteil nicht erlauben würde, die eigenen in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Versicherungszeiten nach Belgien zu „importieren“.

18.

Das vorlegende Gericht hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Verletzt Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 die allgemeinen Grundsätze der Gleichheit und der Nichtdiskriminierung, die u. a. in Art. 14 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, gegebenenfalls in Verbindung mit den Art. 20 AEUV, 45 AEUV und/oder 49 AEUV, verankert sind, wenn er dahin ausgelegt wird, dass die in Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Anrechnungsregeln für die Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Tätigkeit nur für den verstorbenen Elternteil in Betracht kommen, so dass Art. 56bis § 1 der koordinierten Gesetze für den überlebenden Elternteil – unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit, sofern er Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist oder in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fällt –, der in dem in Art. 56bis § 1 der koordinierten Gesetze vorgesehenen Zeitraum von zwölf Monaten in einem anderen Land der Europäischen Union gearbeitet hat, die Möglichkeit des Nachweises ausschließt, dass er die Voraussetzung erfüllt, wonach er als Berechtigter im Sinne von Art. 51 § 3 Nr. 1 der koordinierten Gesetze in den letzten zwölf Monaten vor dem Tod das pauschale Kindergeld für mindestens sechs Monate hätte beanspruchen können, während der überlebende Elternteil, ob belgischer Staatsangehöriger oder Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union, der in dem in Art. 56bis § 1 der koordinierten Gesetze vorgesehenen Zeitraum von zwölf Monaten ausschließlich in Belgien gearbeitet hat, weil er das belgische Hoheitsgebiet möglicherweise nie verlassen hat, berechtigt ist, einen solchen Nachweis zu erbringen?

III – Verfahren vor dem Gerichtshof

19.

Der Vorlagebeschluss ist bei der Kanzlei am 30. November 2011 eingegangen. Schriftliche Erklärungen haben Frau Dumont de Chassart, die belgische Regierung, der Rat und die Europäische Kommission eingereicht.

20.

An der mündlichen Verhandlung, die am 7. November 2012 stattgefunden hat, haben Frau Dumont de Chassart, die belgische Regierung, der Rat und die Europäische Kommission teilgenommen.

IV – Rechtliche Würdigung

21.

Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 die Grundsätze der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung insofern verletzt, als unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens dieser Artikel die Anwendung der Vorschriften über die Anrechnung der Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Tätigkeit in Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 nur in Bezug auf den verstorbenen als Arbeitnehmer tätigen Elternteil zulässt und dadurch ausschließt, dass diese Zeiten für den noch lebenden als Arbeitnehmer tätigen Elternteil, der in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union gearbeitet hat, zur Gewährung von Leistungen für Waisen berücksichtigt werden, obwohl die innerstaatlichen Rechtsvorschriften es erlauben, die Situation des noch lebenden Elternteils zur Stützung des Antrags auf Gewährung dieser Leistungen zu berücksichtigen.

22.

Bevor ich die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage untersuche, ist auf ein einleitend vorgebrachtes Argument der belgischen Regierung betreffend die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71 im vorliegenden Verfahren einzugehen.

A – Zur Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71

23.

Die belgische Regierung macht nämlich einleitend geltend, dass Herr Descampe im April 2002 aufgehört habe, zu arbeiten, und daher zum Zeitpunkt seines Todes, d. h. im April 2008, keinem System der sozialen Sicherheit mehr angeschlossen gewesen sei. Er habe deshalb zum Zeitpunkt seines Todes nicht mehr als Arbeitnehmer oder Selbständiger im Sinne von Art. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 angesehen werden können. Folglich könnten sich seine Rechtsnachfolger nicht auf die von dieser Verordnung verliehenen Rechte berufen.

24.

Hierzu ist festzustellen, dass Art. 2 der Verordnung Nr. 1408/71, der den persönlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung festlegt, in seinem Abs. 1 bestimmt, dass „[d]iese Verordnung … für Arbeitnehmer und Selbständige sowie für Studierende [gilt], für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind …, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene“ ( 5 ).

25.

Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass Herr Descampe Staatsbürger eines Mitgliedstaats (Belgien) ist und dass für ihn aufgrund seiner Arbeitnehmertätigkeit in Frankreich und in Belgien die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten galten. Es wird auch nicht bestritten, dass sowohl die Waise als auch der Ehegatte Familienangehörige und Hinterbliebene im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 sind.

26.

Unter diesen Umständen steht meiner Ansicht nach außer Frage, dass die Verordnung Nr. 1408/71 auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens Anwendung findet.

27.

Was die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71 betrifft, kann der Vollständigkeit halber noch festgestellt werden, dass diese auch zeitlich anwendbar ist, da der Antrag von Frau Dumont de Chassart im Oktober 2008 gestellt wurde, d. h. vor dem Inkrafttreten der neuen Verordnung Nr. 883/2004, die, wie bereits erwähnt, die Verordnung Nr. 1408/71 ab dem 1. Mai 2010 aufgehoben und ersetzt hat ( 6 ).

B – Zur Vorlagefrage

28.

Im Rahmen der Untersuchung der dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht gestellten Vorlagefrage in der Sache ist zunächst festzustellen, dass diese im Wesentlichen die Gültigkeit von Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 im Hinblick auf die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung betrifft. Allerdings darf dabei nicht außer Betracht bleiben, dass die Frage des vorlegenden Gerichts nach der Gültigkeit von einer spezifischen Auslegung von Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ausgeht, d. h. von der in der vorstehenden Nr. 16 genannten restriktiven Auslegung des ONAFTS, die vom vorlegenden Gericht offenbar geteilt wird. Nach dieser Auslegung ist die Zusammenrechnung der vom noch lebenden als Arbeitnehmer tätigen Elternteil zurückgelegten Versicherungszeiten im Wesentlichen ausgeschlossen, da der in Art. 79 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 enthaltene Verweis auf Art. 72 dieser Verordnung auf den verstorbenen als Arbeitnehmer tätigen Elternteil beschränkt sei, auch wenn es die nationalen Rechtsvorschriften erlaubten, die Versicherungszeiten des noch lebenden Elternteils zur Stützung des Antrags auf Familienbeihilfen für Waisen zu berücksichtigen.

29.

Um die Frage des vorlegenden Gerichts sachdienlich zu beantworten, ist von der ständigen Rechtsprechung zu den eigentlichen Zielen der Verordnung Nr. 1408/71 auszugehen. Der Gerichtshof hat nämlich wiederholt entschieden, dass die Verordnung Nr. 1408/71 kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit geschaffen hat, sondern die eigenen nationalen Systeme bestehen lässt und diese nur koordinieren soll ( 7 ). Die mit der Verordnung Nr. 1408/71 getroffene Regelung ist lediglich eine Koordinierungsregelung, die sich u. a. mit der Bestimmung der Rechtsvorschriften befasst, die auf Arbeitnehmer und Selbständige anzuwenden sind, die unter verschiedenen Umständen von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen ( 8 ).

30.

Nach ständiger Rechtsprechung bleiben die Mitgliedstaaten dafür zuständig, die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der sozialen Sicherheit festzulegen und sei es zu verschärfen, sofern die aufgestellten Voraussetzungen keine offene oder versteckte Diskriminierung von Arbeitnehmern der Union bewirken ( 9 ). Außerdem sind die Mitgliedstaaten bei der Festlegung dieser Voraussetzungen nach der Rechtsprechung verpflichtet, das Unionsrecht und insbesondere das mit der Verordnung Nr. 1408/71 verfolgte Ziel sowie die Grundsätze zu beachten, auf die diese Verordnung gestützt ist ( 10 ).

31.

Hierzu hat der Gerichtshof auch klargestellt, dass den Erwägungsgründen 2 und 4 der Verordnung Nr. 1408/71 zufolge das Ziel dieser Verordnung darin besteht, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Selbständigen in der Union zu gewährleisten und dabei die Eigenheiten der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zu berücksichtigen. Wie sich aus den Erwägungsgründen 5, 6 und 10 ergibt, stellt die Verordnung zu diesem Zweck den Grundsatz auf, dass die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer im Rahmen der verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften sicherzustellen ist, wobei das Ziel ist, die Gleichbehandlung aller im Gebiet eines Mitgliedstaats erwerbstätigen Arbeitnehmer und Selbständigen bestmöglich zu gewährleisten und Nachteile für diejenigen, die ihr Recht auf Freizügigkeit wahrnehmen, abzuwenden ( 11 ).

32.

Die vom vorlegenden Gericht in seiner Vorlagefrage angesprochenen Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung stellen daher wesentliche Grundsätze der Verordnung Nr. 1408/71 dar.

33.

Was insbesondere die Leistungen für Waisen betrifft, die den Gegenstand des Rechtsstreits des Ausgangsverfahrens bilden, werden diese in den Art. 78 und 79 der Verordnung, die in deren Titel III, Kapitel 8, enthalten sind, geregelt.

34.

Zu Art. 78 der Verordnung Nr. 1408/71 hat der Gerichtshof schon mehrfach darauf hingewiesen, dass dieser der Bestimmung des Mitgliedstaats dient, nach dessen Recht sich die Gewährung von Leistungen für Waisen regelt; die Leistungen werden dann gemäß dem in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 niedergelegten Grundsatz, dass nur ein nationales Recht anwendbar sein soll, grundsätzlich nach dem Recht allein dieses Mitgliedstaats gewährt. Nach Art. 78 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i werden die in Rede stehenden Leistungen nach dem Recht des Staates gewährt, in dessen Gebiet die Waise des verstorbenen Arbeitnehmers wohnt, wenn für den verstorbenen Arbeitnehmer die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten haben ( 12 ).

35.

Ist der Mitgliedstaat bestimmt, nach dessen Vorschriften die Leistungen für Waisen gewährt werden, sind die Leistungen nach Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 von dem Träger, der diese Rechtsvorschriften anzuwenden hat, zu seinen Lasten zu gewähren, als hätten für den Verstorbenen ausschließlich die Rechtsvorschriften des zuständigen Staates gegolten. Diese Vorschrift sieht daher zum einen vor, zulasten welchen Trägers die Leistungen für Waisen gehen, und betrifft zum anderen die Anwendungsmodalitäten der Rechtsvorschriften, die in Einklang mit dem oben genannten Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts anzuwenden sind, „als“ hätten nur diese für den Verstorbenen gegolten. Diese letztgenannte Regelung stellt meiner Ansicht nach eine Art Garantie für den Einzelnen dar, der sich auf die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 berufen kann, weil er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat. Diese Garantie soll Diskriminierungen ihm gegenüber bei der konkreten Anwendung des anhand des Anknüpfungskriteriums in Art. 78 dieser Verordnung bestimmten Rechts verhindern.

36.

Art. 79 Abs. 1 Buchst. a mildert allerdings den Grundsatz der Anwendung des ermittelten Rechts, „als“ hätte nur dieses für den Verstorbenen gegolten, dadurch ab, dass er für den Fall, dass der Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs nach diesen nationalen Vorschriften von der Dauer der Versicherungszeiten abhängt, die eventuelle Anwendung des in Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Grundsatzes der Zusammenrechnung der in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten vorsieht. Auch diese Vorschrift ist meiner Ansicht nach eine Art Garantie für den Einzelnen, der sich auf diese Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 berufen kann, weil er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat. Sie soll nämlich sicherstellen, dass die Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften, „als“ hätten nur diese für den Verstorbenen gegolten, nicht die Anwendung des in Art. 48 Buchst. a AEUV genannten und in Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 durchgeführten Grundsatzes der Zusammenrechnung ausschließt.

37.

In diesem Zusammenhang meint das vorlegende Gericht, scheinbar in Übereinstimmung mit dem ONAFTS, dass die Bezugnahme in Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 allein auf den verstorbenen als Arbeitnehmer tätigen Elternteil die Möglichkeit ausschließe, den Verweis in Buchst. a des Abs. 1 dieses Artikels auf Art. 72 dieser Verordnung für die Zusammenrechnung der vom noch lebenden als Arbeitnehmer tätigen Elternteil zurückgelegten Versicherungszeiten heranzuziehen, wenn wie im Ausgangsverfahren die nationalen Vorschriften erlaubten, die Situation des noch lebenden Elternteils zur Stützung eines Antrags auf Gewährung von Leistungen für Waisen zu berücksichtigen.

38.

Ich teile diese Auslegung von Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht.

39.

Hierzu ist erstens festzustellen, dass aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 im Allgemeinen und ihres Art. 79 Abs. 1 im Besonderen überhaupt nicht die Voraussetzungen betreffen, die für die Gewährung der Leistungen für Waisen erfüllt sein müssen. Diese Bestimmungen beschränken sich entsprechend den von der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs herausgestellten und in den vorstehenden Nrn. 29 und 31 genannten Funktionen der Verordnung Nr. 1408/71 darauf, Kollisionsnormen vorzusehen, die dazu dienen, den Mitgliedstaat zu bestimmen, dessen Rechtsvorschriften anwendbar sind und dessen Träger für die Leistungen aufkommt, sowie einige Anwendungsmodalitäten dieser Vorschriften zu spezifizieren.

40.

Die Festlegung der Voraussetzungen für die Gewährung der Leistungen für Waisen verbleibt hingegen gemäß der in der vorstehenden Nr. 30 genannten Rechtsprechung in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten.

41.

Daher ergibt sich meiner Meinung nach schon aus der Natur der Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 als Kollissionsnormen, dass diese die nationalen Behörden nicht daran hindern können, Voraussetzungen nach nationalem Recht für die Gewährung von Leistungen für Waisen zu berücksichtigen ( 13 ).

42.

Zweitens ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 im Licht des Art. 48 AEUV auszulegen sind, bei dem es um die Herstellung größtmöglicher Freizügigkeit für die Wanderarbeitnehmer geht ( 14 ).

43.

Hierzu wird im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1408/71 ausgeführt, dass die in der Verordnung enthaltenen Vorschriften zur Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zur Freizügigkeit von Personen gehören und zur Verbesserung von deren Lebensstandard und Arbeitsbedingungen beitragen sollen ( 15 ).

44.

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass man nämlich gleichzeitig über das Ziel der Verordnung Nr. 1408/71 hinausginge und die Zwecke und den Rahmen von Art. 48 AEUV außer Betracht ließe, legte man die Verordnung so aus, dass sie einem Mitgliedstaat verbietet, Arbeitnehmern sowie deren Familienangehörigen einen weiter gehenden sozialen Schutz zu gewähren, als sich aus der Anwendung dieser Verordnung ergibt ( 16 ).

45.

Die unionsrechtlichen Vorschriften zur Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit sind nämlich insbesondere in Anbetracht der mit ihnen verfolgten Ziele – vorbehaltlich ausdrücklich vorgesehener, mit diesen Zielen in Einklang stehender Ausnahmen – so anzuwenden, dass sie dem Wanderarbeitnehmer oder den ihm gegenüber Berechtigten nicht Leistungen aberkennen, die allein nach dem Recht eines Mitgliedstaats gewährt werden ( 17 ). Der Gerichtshof ist daher im Einklang mit diesem Grundsatz stets einer Auslegung der Verordnung Nr. 1408/71 entgegengetreten, die zu einem Verlust von in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats garantierten Vorteilen der sozialen Sicherheit geführt hätte ( 18 ).

46.

Im vorliegenden Fall ist meiner Ansicht nach offensichtlich, dass eine Auslegung von Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71, wie sie vom ONAFTS vorgeschlagen wird und scheinbar vom vorlegenden Gericht geteilt wird, zur Folge hat, dass ein Wanderarbeitnehmer, der wie Frau Dumont de Chassart von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, seinen Anspruch auf Sozialleistungen verliert, der ihm vom anwendbaren nationalen Recht eingeräumt wird. Entsprechend meinen Ausführungen bei anderer Gelegenheit ( 19 ) und den Erwägungen der oben in Nr. 44 angeführten Rechtsprechung stünde ein solches Ergebnis nicht mit dem Geist dieser Verordnung und den Zielen in Einklang, die mit der von Art. 48 AEUV gewollten Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit verfolgt werden.

47.

Außerdem führt eine solche Auslegung, auch wenn sie, wie von der belgischen Regierung in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, keine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit beinhaltet, weil die Vorschriften unabhängig von der Staatsangehörigkeit gelten, zu einer rechtswidrigen Diskriminierung zwischen Arbeitnehmern, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, und solchen, die dies nicht getan haben.

48.

Drittens ist eine Auslegung von Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71, die den noch lebenden als Arbeitnehmer tätigen Elternteil, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, nicht von der Anwendung der Vorschriften über die Zusammenrechnung der Beschäftigungszeiten ausschließt, nicht nur die einzige, die in Einklang mit den Zielen dieser Verordnung steht, sondern sie ist auch dem Wortlaut der Vorschrift getreu.

49.

Zwar bezieht sich Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71, um klarzustellen, wie das nach Art. 78 dieser Verordnung bestimmte Recht anzuwenden ist, auf die Situation des Verstorbenen, doch ist festzustellen, dass Art. 79 Abs. 1 Buchst. a, in dem der Verweis auf den Grundsatz der Zusammenrechnung nach Art. 72 enthalten ist, keinen Verweis auf die Situation des Verstorbenen enthält. Diese Bestimmung enthält keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass der Unionsgesetzgeber die Anwendung des Grundsatzes der Zusammenrechnung ausschließlich auf den Verstorbenen beschränken und somit den noch lebenden als Arbeitnehmer tätigen Elternteil ausschließen wollte, wenn die nationalen Vorschriften die Möglichkeit vorsehen, die vom letztgenannten Elternteil zurückgelegten Versicherungszeiten für die Stützung des Antrags auf Leistungen für Waisen zu berücksichtigen.

50.

Hierzu ist noch festzustellen, dass der Grundsatz der Zusammenrechnung der Versicherungs- Wohn- oder Beschäftigungszeiten unmittelbar im AEU-Vertrag, genauer gesagt in Art. 48 Buchst. a dieses Vertrags, niedergelegt ist und in verschiedenen Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 verwirklicht wird, u. a. in Art. 72 ( 20 ). Der Gerichtshof hat bereits klargestellt, dass es sich um einen der wesentlichen Grundsätze für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten auf Unionsebene handelt, der gewährleisten soll, dass ein Arbeitnehmer, der von dem durch den AEU-Vertrag eingeräumten Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, nicht Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verliert, auf die er Anspruch hätte, wenn er seine Berufslaufbahn in einem einzigen Mitgliedstaat zurücklegen würde, was den Arbeitnehmer der Union davon abhalten könnte, von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, und somit diese Freizügigkeit beeinträchtigen würde ( 21 ).

51.

Im Licht all dieser Erwägungen bin ich daher der Auffassung, dass Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht dahin ausgelegt werden kann, dass er die Anwendung der Vorschriften über die Anrechnung der Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Tätigkeit in Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 nur in Bezug auf den verstorbenen Elternteil zulässt. Die innerstaatlichen Behörden können sich daher nicht auf diesen Artikel berufen, um die in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehene Berücksichtigung der Versicherungszeiten auszuschließen, die vom noch lebenden Elternteil zurückgelegt worden sind, der in einem anderen Land der Union gearbeitet hat und der, wenn er die Voraussetzungen erfüllt, in den Genuss der Vorschriften über die Anrechnung der Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder der Zeiten einer selbständigen Tätigkeit in Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 kommen kann. Im Licht dessen kann Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 daher nicht gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung verstoßen.

52.

Zur Anwendung des Grundsatzes der Zusammenrechnung ist schließlich noch auf das von der belgischen Regierung vorgebrachte und in der mündlichen Verhandlung erörterte Argument einzugehen, wonach die vom noch lebenden als Arbeitnehmer tätigen Elternteil in einem anderen Mitgliedstaat der Union ausgeübte Tätigkeit ausschließlich zur Vervollständigung einer schon in Belgien ausgeübten Versicherungs- oder Beschäftigungszeit oder Zeit einer selbständigen Tätigkeit berücksichtigt werden könne, so dass die Situation von Frau Dumont de Chassart, die im Jahr vor dem Tod ihres Ehemanns ausschließlich in Frankreich gearbeitet habe, in keinem Fall für die Zusammenrechnung nach Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 berücksichtigt werden könne ( 22 ).

53.

Hierzu ist festzustellen, dass der Gerichtshof kürzlich klargestellt hat, dass einer Auslegung des Begriffs der „Zusammenrechnung“ in Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71, die das Bestehen von mindestens zwei in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Zeiten der Erwerbstätigkeit voraussetzt, nicht gefolgt werden kann. Aufgrund dessen kann der Mitgliedstaat des für die Auszahlung einer Leistung zuständigen Trägers nicht vorsehen, dass eine Zeit der Erwerbstätigkeit in seinem Hoheitsgebiet zurückgelegt worden sein muss, und die Zugrundelegung einer einzigen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegten Zeit für den Erwerb eines Anspruchs auf eine Leistung der sozialen Sicherheit ausschließen ( 23 ).

54.

Der Gerichtshof hat nämlich klargestellt, dass der Wortlaut von Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 verlangt, dass im Rahmen der Zusammenrechnung „Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat“ berücksichtigt werden, als handelte es sich um Zeiten, die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Trägers zurückgelegt worden sind.

55.

Gemäß ihrer in den vorhergehenden Nrn. 29 und 31 genannten Ziele sieht die Verordnung Nr. 1408/71 nämlich ein System vor, das es erlaubt, für die Wanderarbeitnehmer und ihre Rechtsnachfolger die Zusammenrechnung „aller Zeiten“ sicherzustellen, die von den verschiedenen nationalen Vorschriften berücksichtigt werden, sei es für die Entstehung und die Beibehaltung des Anspruchs auf Leistungen oder für deren Berechnung.

56.

Folglich kann der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, im vorliegenden Fall Belgiens, für die Gewährung einer Familienleistung nicht verlangen, dass neben einer Beschäftigungszeit oder der Zeit einer Tätigkeit, die in einem anderen Staat ausgeübt wurde, im vorliegenden Fall Frankreich, eine weitere Versicherungszeit im Inland zurückgelegt wurde.

57.

Entgegen dem Vortrag der belgischen Regierung in der mündlichen Verhandlung kann die vom Gerichtshof im Urteil Bergström ( 24 ) vorgenommene Auslegung des Begriffs der Zusammenrechnung weder durch Randnr. 43 des Urteils Perez Garcia u. a. ( 25 ), aus dem überhaupt nicht hervorgeht, dass die Anwendung von Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 die Zurücklegung einer Versicherungszeit oder Zeit der Tätigkeit in dem Staat, dem die Gewährung der Familienleistung obliegt, voraussetzt, noch durch die Urteile Coonan und Vigier ( 26 ), die überhaupt nicht die Gewährung von Familienleistungen betreffen, in Frage gestellt werden.

58.

Im Übrigen ist schließlich noch festzustellen, dass eine Lösung, die die Anwendung des Grundsatzes der Zusammenrechnung nach Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 auch auf den noch lebenden Elternteil erlaubt, in Einklang steht mit der von Belgien getroffenen Entscheidung, diesen Grundsatz gerade in Fällen von Familienleistungen anzuwenden. Diese Entscheidung wird ausdrücklich in Anhang VI Buchst. A Nr. 7 („Besondere Bestimmungen über die Anwendung der Rechtsvorschriften bestimmter Mitgliedstaaten“) der Verordnung Nr. 1408/71 bestätigt ( 27 ).

V – Ergebnis

59.

Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich vor, die Vorlagefrage des Tribunal du travail de Bruxelles wie folgt zu beantworten:

Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 verletzt nicht die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung, da er unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nicht dahin ausgelegt werden kann, dass die Vorschriften über die Anrechnung der Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder der Zeiten einer selbständigen Tätigkeit in Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 allein unter Berücksichtigung der vom verstorbenen als Arbeitnehmer tätigen Elternteil zurückgelegten Versicherungszeiten angewendet werden und somit ausschließen, dass die vom noch lebenden Elternteil zurückgelegten Zeiten berücksichtigt werden, der in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union gearbeitet hat, wenn die einschlägigen innerstaatlichen Vorschriften die Möglichkeit vorsehen, auch die Versicherungszeiten des noch lebenden Elternteils zur Stützung des Antrags auf Leistungen für Waisen zu berücksichtigen.


( 1 ) Originalsprache: Italienisch.

( 2 ) Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, wie sie durch die Verordnung (EG) Nr. 592/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 (ABl. L 177, S. 1) geändert worden ist. Der hier angeführte Titel ist der Titel der konsolidierten Fassung der Verordnung.

( 3 ) Die Verordnung Nr. 1408/71 wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1) zum 1. Mai 2010 aufgehoben und ersetzt, dem Zeitpunkt, zu dem die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (ABl. L 284, S. 1) in Kraft getreten ist.

( 4 ) Vgl. (nur beispielhaft) Urteile vom 12. Juni 1980, Laterza (733/79, Slg. 1980, 1915), vom 24. November 1983, D’Amario, (320/82, Slg. 1983, 3811), vom 27. Februar 1997, Bastos Moriana u. a. (C-59/95, Slg. 1997, I-1071), vom 24. September 2002, Martínez Domínguez u. a. (C-471/99, Slg. 2002, I-7835), und vom 20. Oktober 2011, Perez Garcia u. a. (C-225/10, Slg. 2011, I-10111).

( 5 ) Hervorhebung nur hier. Der Text dieser Vorschrift wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 307/1999 des Rates vom 8. Februar 1999 erweitert, indem die Worte „sowie für Studierende“ in den ersten Halbsatz der Vorschrift aufgenommen wurden; vgl. ABl. L 38, S. 1.

( 6 ) Siehe oben, Nr. 1 und Fn. 3.

( 7 ) Vgl. u. a. Urteile vom 5. Juli 1988, Borowitz (21/87, Slg. 1988, 3715, Randnr. 23), vom 3. April 2008, Chuck (C-331/06, Slg. 2008, I-1957, Randnr. 27), und vom 21. Juli 2011, Stewart (C-503/09, Slg. 2011, I-6497, Randnrn. 75 bis 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 8 ) Vgl. u. a. Urteile vom 9. März 2006, Piatkowski (C-493/04, Slg. 2006, I-2369, Randnr. 20), vom 18. Juli 2006, Nikula (C-50/05, Slg. 2006, I-7029, Randnr. 20), vom 3. April 2008, Derouin (C-103/06, Slg. 2008, I-1853, Randnr. 20), und vom 3. März 2011, Tomaszewska (C-440/09, Slg. 2011, I-1033, Randnr. 25).

( 9 ) Vgl. u. a. Urteile vom 20. September 1994, Drake (C-12/93, Slg. 1994, I-4337, Randnr. 27), vom 20. Februar 1997, Martínez Losada u. a. (C-88/95, C-102/95 und C-103/95, Slg. 1997, I-869, Randnr. 43), vom 20. Januar 2005, Salgado Alonso (C-306/03, Slg. 2005, I-705, Randnr. 27), sowie Tomaszewska (oben in Fn. 8 angeführt, Randnr. 24).

( 10 ) Vgl. Urteil Tomaszewska (oben in Fn. 8 angeführt, Randnr. 27).

( 11 ) Vgl. Randnr. 28 des Urteils Tomaszewska, Randnr. 19 des Urteils Piatkowski sowie Randnr. 20 des Urteils Derouin (alle oben in Fn. 8 angeführt).

( 12 ) Vgl. u. a. Urteile Bastos Moriana u. a. (Randnr. 15) sowie Martínez Domínguez u. a. (Randnr. 23), beide oben in Fn. 4 angeführt.

( 13 ) Vgl. entsprechend meine Ausführungen in Nr. 51 meiner Schlussanträge in der Rechtssache C-208/07, von Chamier-Glisczinski (Urteil vom 16. Juli 2009, Slg. 2009, I-6095).

( 14 ) Vgl. aus jüngster Zeit Urteil vom 12. Juni 2012, Hudzinski (C-611/10 und C-612/10, Randnr. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). In diesem Sinne vgl. auch die Urteile vom 9. November 2006, Nemec (C-205/05, Slg. 2006, I-10745, Randnrn. 37 f.), und vom 20. Mai 2008, Bosmann (C-352/06, Slg. 2008, I-3827, Randnr. 29).

( 15 ) Vgl. Urteile Bosmann (Randnr. 30) sowie Hudzinski (Randnr. 54), beide oben in Fn. 14 angeführt.

( 16 ) Vgl. Urteile von Chamier-Glisczinski (oben in Fn. 13 angeführt, Randnr. 56) und Hudzinski (oben in Fn. 14 angeführt, Randnr. 55).

( 17 ) Vgl. Urteile vom 6. März 1979, Rossi (100/78, Slg. 1979, 831, Randnr. 14), vom 30. Juni 2011, da Silva Martins (C-388/09, Slg. 2011, I-5737, Randnr. 75), sowie Hudzinski (oben in Fn. 14 angeführt, Randnr. 56).

( 18 ) Vgl. u. a. Urteile vom 9. Dezember 1993, Lepore und Scamuffa (C-45/92 und C-46/92, Slg. 1993, I-6497, Randnr. 21), vom 4. Oktober 1991, Paraschi (C-349/87, Slg. 1991, I-4501, Randnr. 22), vom 30. März 1993, de Wit (C-282/91, Slg. 1993, I-1221, Randnrn. 16 f.), und vom 5. Oktober 1994, van Munster (C-165/91, Slg. 1994, I-4661, Randnr. 27). Vgl. außerdem Urteile vom 9. Oktober 1997, Naranjo Arjona u. a. (C-31/96 bis C-33/96, Slg. 1997, I-5501, Randnr. 20), vom 17. Dezember 1998, Grajera Rodríguez (C-153/97, Slg. 1998, I-8645, Randnr. 17), sowie Nemec (oben in Fn. 14 angeführt, Randnrn. 37 f.).

( 19 ) Vgl. Nr. 56 meiner Schlussanträge in der Rechtssache von Chamier-Glisczinski (oben in Fn. 13 angeführt).

( 20 ) Der Grundsatz der Zusammenrechnung ist in der Verordnung Nr. 1408/71 z. B. in den Art. 18, 38, 45, 64 und 67 umgesetzt. In der neuen Verordnung Nr. 883/2004 (oben in Fn. 3 angeführt) ist dieses nunmehr in einer Bestimmung von allgemeinem Charakter (Art. 6) anerkannt.

( 21 ) Vgl. entsprechend Urteil Tomaszewska (oben in Fn. 8 angeführt, Randnr. 30), sowie Urteile vom 26. Oktober 1995, Moscato (C-481/93, Slg. 1995, I-3525, Randnr. 28), und Salgado Alonso (oben in Fn. 9 angeführt, Randnr. 29).

( 22 ) Zur Stützung ihres Arguments verweist die belgische Regierung auch auf Art. 15 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, wie sie durch die Verordnung Nr. 101/2008 der Kommission vom 4. Februar 2008 (ABl. L 31, S. 15) geändert worden ist. Dieser in Titel IV, Kapitel 1, enthaltene Artikel („Allgemeine Vorschriften für die Zusammenrechnung der Zeiten“) der Verordnung Nr. 574/72 belege die von der belgischen Regierung vertretene Auffassung, da dieser sich auf die „Hinzurechnung“ der Versicherungs- oder Wohnzeiten, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt worden seien, beziehe, um die Versicherungszeiten zu „ergänzen“. Dieser Artikel kann jedoch nicht zur Stützung des Vorbringens der belgischen Regierung herangezogen werden. Aus Abs. 1 dieses Artikels geht nämlich ausdrücklich hervor, dass dieser für bestimmte Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 gilt, insbesondere für jene, die die Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft, Invalidität, Alter und Tod (Renten) betreffen, sowie Leistungen im Fall von Tod oder Arbeitslosigkeit, aber nicht für jene, die Familienleistungen betreffen. In den ausdrücklich in diesem Artikel genannten Vorschriften sind nämlich diejenigen, die Familienleistungen betreffen, nicht enthalten, und insbesondere wird dort weder auf Art. 72 noch auf Art. 79 der Verordnung Nr. 1408/71 verwiesen.

( 23 ) Vgl. Urteil vom 15. Dezember 2011, Bergström (C-257/10, Slg. 2011, I-13227, Randnrn. 39 bis 44, insbesondere Randnrn. 39 f.).

( 24 ) Oben in Fn. 23 angeführt.

( 25 ) Oben in Fn. 4 angeführt.

( 26 ) Urteile vom 24. April 1980, Coonan (110/79, Slg. 1980, 1445), und vom 27. Januar 1981, Vigier (70/80, Slg. 1981, 229).

( 27 ) Darin heißt es ausdrücklich, dass „[b]ei der Anwendung des Artikels 72 und des Artikels 79 Absatz 1 Buchstabe a) der Verordnung … nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegte Beschäftigungs- und/oder Versicherungszeiten in den Fällen angerechnet [werden], in denen nach den belgischen Rechtsvorschriften der Leistungsanspruch der Voraussetzung unterliegt, dass in einem bestimmten früheren Zeitraum die Voraussetzungen für den Anspruch auf Familienbeihilfen im Rahmen des Systems für Arbeitnehmer erfüllt wurden“.

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Schlußanträge des Generalanwalts

Schlußanträge des Generalanwalts

1. Die im vorliegenden Verfahren vom vorlegenden Gericht, dem Tribunal du travail de Bruxelles (Arbeitsgericht Brüssel), zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage betrifft Art. 79 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71(2) (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) und insbesondere den in Buchst. a dieser Bestimmung enthaltenen Verweis auf Art. 72 dieser Verordnung. Diese Bestimmungen wurden durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004(3), die die Verordnung Nr. 1408/71 ab dem 1. Mai 2010 aufgehoben und ersetzt hat, völlig neu gefasst. Die neuen Bestimmungen sind für das vorliegende Verfahren jedoch nicht von Belang.

2. Im Ausgangsverfahren ist das vorlegende Gericht mit der Klage von Frau Dumont de Chassart gegen die Entscheidung der belgischen Zentralanstalt für Familienbeihilfen für Arbeitnehmer ( Office national d’allocations familiales pour travailleurs salariés , im Folgenden: ONAFTS) befasst, mit der der Antrag der Klägerin auf Gewährung von Familienbeihilfen für Waisen abgelehnt wurde. Der Gerichtshof soll dabei im Wesentlichen klären, ob die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71, die die für die Gewährung der Familienbeihilfen für „Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen“ anwendbaren nationalen Vorschriften festlegen, die Möglichkeit ausschließen, den Grundsatz der Zusammenrechnung unter Berücksichtigung der vom noch lebenden als Arbeitnehmer tätigen Elternteil in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Versicherungszeiten anzuwenden, wenn, wie im vorliegenden Fall, das nationale Recht erlaubt, die vom Letztgenannten zurückgelegten Versicherungszeiten zur Stützung des Antrags auf Familienbeihilfen für Waisen zu berücksichtigen.

3. Das Interesse der vorliegenden Rechtssache besteht darin, dass im Gegensatz zum Großteil der Rechtsstreitigkeiten, mit denen der Gerichtshof in diesem Bereich befasst war, diese nicht eine Frage der Zusammenrechnung von gleichzeitig in verschiedenen Mitgliedstaaten geschuldeten Leistungen betreffen(4), sondern eher die Wechselwirkung zwischen den Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 und dem anwendbaren nationalen Recht.

I – Rechtlicher Rahmen

A – Unionsrecht

4. Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 findet sich in Titel III Kapitel 7 („Familienleistungen“). Dieser Artikel ist überschrieben mit „Zusammenrechnung der Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Tätigkeit“ und sieht vor:

„Der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften der Erwerb des Leistungsanspruchs von der Zurücklegung von Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Tätigkeit abhängig ist, berücksichtigt, soweit erforderlich, auch Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat, als handelte es sich um Zeiten, die nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften zurückgelegt worden sind.“

5. Die Art. 78 und 79 dieser Verordnung sind in Titel III Kapitel 8 („Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder von Rentnern und für Waisen“) enthalten.

6. Art. 78 („Waisen“) der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

„1. Leistungen im Sinne dieses Artikels sind Familienbeihilfen und gegebenenfalls zusätzliche oder besondere Beihilfen für Waisen.

2. Die Leistungen für Waisen werden ohne Rücksicht darauf, in welchem Mitgliedstaat die Waisen oder die natürliche oder juristische Person, die ihren Unterhalt bestreitet, wohnen, wie folgt gewährt:

b) für Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen, für den die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten haben:

i) nach den Rechtsvorschriften des Staates, in dessen Gebiet die Waisen wohnen, wenn Anspruch auf eine der in Absatz 1 genannten Leistungen — gegebenenfalls unter Berücksichtigung von Artikel 79 Absatz 1 Buchstabe a) — nach den Rechtsvorschriften dieses Staates besteht …“

7. Art. 79 („Gemeinsame Vorschriften für die Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder von Rentenberechtigten und für Waisen“) der Verordnung sieht vor:

„1. Die Leistungen nach den Artikeln … 78 werden gemäß den nach diesen Artikeln bestimmten Rechtsvorschriften von dem Träger, der diese Rechtsvorschriften anzuwenden hat, zu seinen Lasten gewährt, als hätten für den Rentner oder den Verstorbenen ausschließlich die Rechtsvorschriften des zuständigen Staates gegolten.

Dabei gilt jedoch Folgendes:

a) Hängt nach diesen Rechtsvorschriften der Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs von der Dauer der Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten, Zeiten einer selbständigen Tätigkeit oder Wohnzeiten ab, so wird diese Dauer gegebenenfalls unter Berücksichtigung … des Art. 72 ermittelt;

…“

B – Nationales Recht

8. Art. 56bis Abs. 1 der koordinierten Gesetze über die Familienbeihilfen für Lohnempfänger vom 19. Dezember 1939 (im Folgenden: koordinierte Gesetze) sieht im Wesentlichen vor, dass die Waisen Kinderzulagen für Waisen erhalten, deren verstorbener oder überlebender Elternteil im Laufe der letzten zwölf Monaten vor dem Tod die Bedingungen für die Gewährung von mindestens sechs pauschalen (Grund-)Monatszulagen aufgrund dieser koordinierten Gesetze erfüllt hat.

II – Sachverhalt, nationales Verfahren und Vorlagefrage

9. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, Frau Dumont de Chassart, ist belgische Staatsangehörige und Witwe von Herrn Descampe, der ebenfalls die belgische Staatsangehörigkeit besaß. Das Paar hat einen Sohn, Diego Descampe, der auch belgischer Staatsangehöriger ist und im Jahr 2000 in Frankreich geboren wurde.

10. Die Familie lebte mehrere Jahre in Frankreich, wo beide Eltern Arbeitnehmertätigkeiten nachgingen. Insbesondere geht aus den Akten hervor, dass Frau Dumont de Chassart in Frankreich eine Arbeitnehmertätigkeit als Psychologin bei einem Kinderschutzbund vom 28. September 1993 bis zum 31. August 2008 ausübte. Herr Descampe hingegen ging Arbeitnehmertätigkeiten sowohl in Belgien (in den Zeiträumen zwischen 1968 und 1976 und zwischen 1987 und 1998) als auch bis 2002 in Frankreich nach. Ab dem Jahr 2002 übte er jedoch bis zum Zeitpunkt seines Todes am 25. April 2008 keine Arbeitnehmertätigkeit mehr aus und lebte in Frankreich im Vorruhestand, ohne irgendein Einkommen oder eine Vergütung zu beziehen.

11. Am 31. August 2008, d. h. einige Monate nach dem Tod von Herrn Descampe, zog Frau Dumont de Chassart mit ihrem Sohn nach Belgien um, wo sie, nachdem sie ca. einen Monat gearbeitet hatte, arbeitslos wurde.

12. Am 13. Oktober 2008 stellte Frau Dumont de Chassart beim ONAFTS einen Antrag auf Gewährung von Familienbeihilfen für Waisen.

13. Obwohl das ONAFTS ihr am 9. März 2009 bzw. am 6. April 2009 die Familienbeihilfen sowie einen Kindergeldzuschlag für Alleinerziehende rückwirkend bewilligte, lehnte es mit Entscheidung vom 20. Oktober 2009 jedoch ab, Frau Dumont de Chassart die Familienbeihilfen für Waisen zu gewähren. Das ONAFTS begründete seine Entscheidung damit, dass der verstorbene Vater nicht im Lauf der unmittelbar vor dem Tod liegenden zwölf Monate die Bedingungen für die Gewährung von mindestens sechs pauschalen Monatszulagen erfüllt habe, wie es Art. 56bis der koordinierten Gesetze erfordere.

14. Am 4. Februar 2010 erhob Frau Dumont de Chassart vor dem vorlegenden Gericht Klage, in der sie diese Ablehnung anfocht und dabei geltend machte, das ONAFTS hätte ihr die Beihilfen für Waisen unter Berücksichtigung der von ihr vor dem Tod ihres Ehemanns in Frankreich zurückgelegten Versicherungszeiten gewähren müssen.

15. Das vorlegende Gericht stellt fest, dass nach dem Wortlaut von Art. 78 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 das Recht des Wohnsitzmitgliedstaats der Waise anwendbar sei und dass daher ab dem 1. September 2008 auf die Situation von Frau Dumont de Chassart belgisches Recht anwendbar sei. Das Gericht ist der Ansicht, dass nach dem Wortlaut von Art. 56bis der koordinierten Gesetze sowohl die Situation des verstorbenen Elternteils als auch die des noch lebenden Elternteils zur Stützung des Antrags auf Kinderzulagen für Waisen geltend gemacht werden könnten. Allerdings könne ein solcher Antrag im vorliegenden Fall nicht auf die Situation des verstorbenen Elternteils gegründet werden, da dieser im Laufe der letzten zwölf Monate vor dem Tod die von Art. 56bis der koordinierten Gesetze vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt habe. Die Situation von Frau Dumont de Chassart hingegen könne nur dann zur Stützung ihres Antrags herangezogen werden, wenn die in Frankreich zurückgelegten Beschäftigungszeiten den in Belgien zurückgelegten gleichgestellt werden könnten. Dies wäre möglich, wenn auf die Situation der Klägerin Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71, der die Zusammenrechnung der Versicherungs- und Beschäftigungszeiten vorsehe, anwendbar wäre.

16. Allerdings ist nach Ansicht des vorlegenden Gerichts im vorliegenden Fall die Anwendung von Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 auf die Situation von Frau Dumont de Chassart ausgeschlossen, da, wie in der Entscheidung des ONAFTS herausgestellt werde, Art. 79 Abs. 1 dieser Verordnung auf Art. 72 verweise, sich dabei aber ausschließlich auf den verstorbenen als Arbeitnehmer tätigen Elternteil beziehe. Grund dieser Beschränkung des Verweises auf den verstorbenen Elternteil sei, dass der Entstehungstatbestand des Anspruchs auf Familienleistungen für die Waise im Tod des Elternteils bestehe. Daraus folge, dass der persönliche Anwendungsbereich von Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 und folglich des Verweises in dieser Bestimmung auf Art. 72 dieser Verordnung begrenzter sei als der von Art. 56bis der koordinierten Gesetze, der sich dagegen auf die Situation beider Eltern beziehe. Deshalb sei es im vorliegenden Fall nicht möglich, die Situation des noch lebenden als Arbeitnehmer tätigen Elternteils zu berücksichtigen.

17. Das vorlegende Gericht stellt sich daher die Frage, ob die sich aus der Wechselwirkung zwischen Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 56bis der koordinierten Gesetze ergebende Situation nicht gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung verstoße. Das Gericht äußert insbesondere Zweifel wegen der Unterscheidung zwischen Waisenkindern von Eltern, die das belgische Staatsgebiet niemals verlassen hätten, um einer beruflichen Tätigkeit in der Union nachzugehen, und Waisenkindern, deren Eltern, die Unionsbürger seien, in einem anderen Mitgliedstaat gewohnt hätten, in dem der noch lebende Elternteil im Laufe des für die belgischen Rechtsvorschriften relevanten Zeitraums gearbeitet habe, während der verstorbene Elternteil keiner Tätigkeit nachgegangen sei. Im Fall der erstgenannten Waisen könnte nämlich der überlebende Elternteil, der im Bezugszeitraum in Belgien gearbeitet habe, neben den Versicherungszeiten des verstorbenen Elternteils auch die eigenen in Belgien zurückgelegten Versicherungszeiten geltend machen, wohingegen für die letztgenannten Waisen die Methode der Zusammenrechnung der Versicherungszeiten nach dieser Auslegung es dem überlebenden Elternteil nicht erlauben würde, die eigenen in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Versicherungszeiten nach Belgien zu „importieren“.

18. Das vorlegende Gericht hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Verletzt Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 die allgemeinen Grundsätze der Gleichheit und der Nichtdiskriminierung, die u. a. in Art. 14 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, gegebenenfalls in Verbindung mit den Art. 20 AEUV, 45 AEUV und/oder 49 AEUV, verankert sind, wenn er dahin ausgelegt wird, dass die in Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Anrechnungsregeln für die Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Tätigkeit nur für den verstorbenen Elternteil in Betracht kommen, so dass Art. 56bis § 1 der koordinierten Gesetze für den überlebenden Elternteil – unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit, sofern er Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist oder in den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fällt –, der in dem in Art. 56bis § 1 der koordinierten Gesetze vorgesehenen Zeitraum von zwölf Monaten in einem anderen Land der Europäischen Union gearbeitet hat, die Möglichkeit des Nachweises ausschließt, dass er die Voraussetzung erfüllt, wonach er als Berechtigter im Sinne von Art. 51 § 3 Nr. 1 der koordinierten Gesetze in den letzten zwölf Monaten vor dem Tod das pauschale Kindergeld für mindestens sechs Monate hätte beanspruchen können, während der überlebende Elternteil, ob belgischer Staatsangehöriger oder Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union, der in dem in Art. 56bis § 1 der koordinierten Gesetze vorgesehenen Zeitraum von zwölf Monaten ausschließlich in Belgien gearbeitet hat, weil er das belgische Hoheitsgebiet möglicherweise nie verlassen hat, berechtigt ist, einen solchen Nachweis zu erbringen?

III – Verfahren vor dem Gerichtshof

19. Der Vorlagebeschluss ist bei der Kanzlei am 30. November 2011 eingegangen. Schriftliche Erklärungen haben Frau Dumont de Chassart, die belgische Regierung, der Rat und die Europäische Kommission eingereicht.

20. An der mündlichen Verhandlung, die am 7. November 2012 stattgefunden hat, haben Frau Dumont de Chassart, die belgische Regierung, der Rat und die Europäische Kommission teilgenommen.

IV – Rechtliche Würdigung

21. Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 die Grundsätze der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung insofern verletzt, als unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens dieser Artikel die Anwendung der Vorschriften über die Anrechnung der Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Tätigkeit in Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 nur in Bezug auf den verstorbenen als Arbeitnehmer tätigen Elternteil zulässt und dadurch ausschließt, dass diese Zeiten für den noch lebenden als Arbeitnehmer tätigen Elternteil, der in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union gearbeitet hat, zur Gewährung von Leistungen für Waisen berücksichtigt werden, obwohl die innerstaatlichen Rechtsvorschriften es erlauben, die Situation des noch lebenden Elternteils zur Stützung des Antrags auf Gewährung dieser Leistungen zu berücksichtigen.

22. Bevor ich die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage untersuche, ist auf ein einleitend vorgebrachtes Argument der belgischen Regierung betreffend die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71 im vorliegenden Verfahren einzugehen.

A – Zur Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71

23. Die belgische Regierung macht nämlich einleitend geltend, dass Herr Descampe im April 2002 aufgehört habe, zu arbeiten, und daher zum Zeitpunkt seines Todes, d. h. im April 2008, keinem System der sozialen Sicherheit mehr angeschlossen gewesen sei. Er habe deshalb zum Zeitpunkt seines Todes nicht mehr als Arbeitnehmer oder Selbständiger im Sinne von Art. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 angesehen werden können. Folglich könnten sich seine Rechtsnachfolger nicht auf die von dieser Verordnung verliehenen Rechte berufen.

24. Hierzu ist festzustellen, dass Art. 2 der Verordnung Nr. 1408/71, der den persönlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung festlegt, in seinem Abs. 1 bestimmt, dass „[d]iese Verordnung … für Arbeitnehmer und Selbständige sowie für Studierende [gilt], für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten , soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind …, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene“(5) .

25. Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass Herr Descampe Staatsbürger eines Mitgliedstaats (Belgien) ist und dass für ihn aufgrund seiner Arbeitnehmertätigkeit in Frankreich und in Belgien die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten galten . Es wird auch nicht bestritten, dass sowohl die Waise als auch der Ehegatte Familienangehörige und Hinterbliebene im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 sind.

26. Unter diesen Umständen steht meiner Ansicht nach außer Frage, dass die Verordnung Nr. 1408/71 auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens Anwendung findet.

27. Was die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71 betrifft, kann der Vollständigkeit halber noch festgestellt werden, dass diese auch zeitlich anwendbar ist, da der Antrag von Frau Dumont de Chassart im Oktober 2008 gestellt wurde, d. h. vor dem Inkrafttreten der neuen Verordnung Nr. 883/2004, die, wie bereits erwähnt, die Verordnung Nr. 1408/71 ab dem 1. Mai 2010 aufgehoben und ersetzt hat(6) .

B – Zur Vorlagefrage

28. Im Rahmen der Untersuchung der dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht gestellten Vorlagefrage in der Sache ist zunächst festzustellen, dass diese im Wesentlichen die Gültigkeit von Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 im Hinblick auf die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung betrifft. Allerdings darf dabei nicht außer Betracht bleiben, dass die Frage des vorlegenden Gerichts nach der Gültigkeit von einer spezifischen Auslegung von Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ausgeht, d. h. von der in der vorstehenden Nr. 16 genannten restriktiven Auslegung des ONAFTS, die vom vorlegenden Gericht offenbar geteilt wird. Nach dieser Auslegung ist die Zusammenrechnung der vom noch lebenden als Arbeitnehmer tätigen Elternteil zurückgelegten Versicherungszeiten im Wesentlichen ausgeschlossen, da der in Art. 79 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 enthaltene Verweis auf Art. 72 dieser Verordnung auf den verstorbenen als Arbeitnehmer tätigen Elternteil beschränkt sei, auch wenn es die nationalen Rechtsvorschriften erlaubten, die Versicherungszeiten des noch lebenden Elternteils zur Stützung des Antrags auf Familienbeihilfen für Waisen zu berücksichtigen.

29. Um die Frage des vorlegenden Gerichts sachdienlich zu beantworten, ist von der ständigen Rechtsprechung zu den eigentlichen Zielen der Verordnung Nr. 1408/71 auszugehen. Der Gerichtshof hat nämlich wiederholt entschieden, dass die Verordnung Nr. 1408/71 kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit geschaffen hat, sondern die eigenen nationalen Systeme bestehen lässt und diese nur koordinieren soll(7) . Die mit der Verordnung Nr. 1408/71 getroffene Regelung ist lediglich eine Koordinierungsregelung, die sich u. a. mit der Bestimmung der Rechtsvorschriften befasst, die auf Arbeitnehmer und Selbständige anzuwenden sind, die unter verschiedenen Umständen von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen(8) .

30. Nach ständiger Rechtsprechung bleiben die Mitgliedstaaten dafür zuständig, die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der sozialen Sicherheit festzulegen und sei es zu verschärfen, sofern die aufgestellten Voraussetzungen keine offene oder versteckte Diskriminierung von Arbeitnehmern der Union bewirken(9) . Außerdem sind die Mitgliedstaaten bei der Festlegung dieser Voraussetzungen nach der Rechtsprechung verpflichtet, das Unionsrecht und insbesondere das mit der Verordnung Nr. 1408/71 verfolgte Ziel sowie die Grundsätze zu beachten, auf die diese Verordnung gestützt ist(10) .

31. Hierzu hat der Gerichtshof auch klargestellt, dass den Erwägungsgründen 2 und 4 der Verordnung Nr. 1408/71 zufolge das Ziel dieser Verordnung darin besteht, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Selbständigen in der Union zu gewährleisten und dabei die Eigenheiten der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zu berücksichtigen. Wie sich aus den Erwägungsgründen 5, 6 und 10 ergibt, stellt die Verordnung zu diesem Zweck den Grundsatz auf, dass die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer im Rahmen der verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften sicherzustellen ist, wobei das Ziel ist, die Gleichbehandlung aller im Gebiet eines Mitgliedstaats erwerbstätigen Arbeitnehmer und Selbständigen bestmöglich zu gewährleisten und Nachteile für diejenigen, die ihr Recht auf Freizügigkeit wahrnehmen, abzuwenden(11) .

32. Die vom vorlegenden Gericht in seiner Vorlagefrage angesprochenen Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung stellen daher wesentliche Grundsätze der Verordnung Nr. 1408/71 dar.

33. Was insbesondere die Leistungen für Waisen betrifft, die den Gegenstand des Rechtsstreits des Ausgangsverfahrens bilden, werden diese in den Art. 78 und 79 der Verordnung, die in deren Titel III, Kapitel 8, enthalten sind, geregelt.

34. Zu Art. 78 der Verordnung Nr. 1408/71 hat der Gerichtshof schon mehrfach darauf hingewiesen, dass dieser der Bestimmung des Mitgliedstaats dient, nach dessen Recht sich die Gewährung von Leistungen für Waisen regelt; die Leistungen werden dann gemäß dem in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 niedergelegten Grundsatz, dass nur ein nationales Recht anwendbar sein soll, grundsätzlich nach dem Recht allein dieses Mitgliedstaats gewährt. Nach Art. 78 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i werden die in Rede stehenden Leistungen nach dem Recht des Staates gewährt, in dessen Gebiet die Waise des verstorbenen Arbeitnehmers wohnt, wenn für den verstorbenen Arbeitnehmer die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten haben(12) .

35. Ist der Mitgliedstaat bestimmt, nach dessen Vorschriften die Leistungen für Waisen gewährt werden, sind die Leistungen nach Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 von dem Träger, der diese Rechtsvorschriften anzuwenden hat, zu seinen Lasten zu gewähren, als hätten für den Verstorbenen ausschließlich die Rechtsvorschriften des zuständigen Staates gegolten. Diese Vorschrift sieht daher zum einen vor, zulasten welchen Trägers die Leistungen für Waisen gehen, und betrifft zum anderen die Anwendungsmodalitäten der Rechtsvorschriften, die in Einklang mit dem oben genannten Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts anzuwenden sind, „als“ hätten nur diese für den Verstorbenen gegolten. Diese letztgenannte Regelung stellt meiner Ansicht nach eine Art Garantie für den Einzelnen dar, der sich auf die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 berufen kann, weil er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat. Diese Garantie soll Diskriminierungen ihm gegenüber bei der konkreten Anwendung des anhand des Anknüpfungskriteriums in Art. 78 dieser Verordnung bestimmten Rechts verhindern.

36. Art. 79 Abs. 1 Buchst. a mildert allerdings den Grundsatz der Anwendung des ermittelten Rechts, „als“ hätte nur dieses für den Verstorbenen gegolten, dadurch ab, dass er für den Fall, dass der Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs nach diesen nationalen Vorschriften von der Dauer der Versicherungszeiten abhängt, die eventuelle Anwendung des in Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Grundsatzes der Zusammenrechnung der in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten vorsieht. Auch diese Vorschrift ist meiner Ansicht nach eine Art Garantie für den Einzelnen, der sich auf diese Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 berufen kann, weil er von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat. Sie soll nämlich sicherstellen, dass die Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften, „als“ hätten nur diese für den Verstorbenen gegolten, nicht die Anwendung des in Art. 48 Buchst. a AEUV genannten und in Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 durchgeführten Grundsatzes der Zusammenrechnung ausschließt.

37. In diesem Zusammenhang meint das vorlegende Gericht, scheinbar in Übereinstimmung mit dem ONAFTS, dass die Bezugnahme in Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 allein auf den verstorbenen als Arbeitnehmer tätigen Elternteil die Möglichkeit ausschließe, den Verweis in Buchst. a des Abs. 1 dieses Artikels auf Art. 72 dieser Verordnung für die Zusammenrechnung der vom noch lebenden als Arbeitnehmer tätigen Elternteil zurückgelegten Versicherungszeiten heranzuziehen, wenn wie im Ausgangsverfahren die nationalen Vorschriften erlaubten, die Situation des noch lebenden Elternteils zur Stützung eines Antrags auf Gewährung von Leistungen für Waisen zu berücksichtigen.

38. Ich teile diese Auslegung von Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht.

39. Hierzu ist erstens festzustellen, dass aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 im Allgemeinen und ihres Art. 79 Abs. 1 im Besonderen überhaupt nicht die Voraussetzungen betreffen, die für die Gewährung der Leistungen für Waisen erfüllt sein müssen. Diese Bestimmungen beschränken sich entsprechend den von der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs herausgestellten und in den vorstehenden Nrn. 29 und 31 genannten Funktionen der Verordnung Nr. 1408/71 darauf, Kollisionsnormen vorzusehen, die dazu dienen, den Mitgliedstaat zu bestimmen, dessen Rechtsvorschriften anwendbar sind und dessen Träger für die Leistungen aufkommt, sowie einige Anwendungsmodalitäten dieser Vorschriften zu spezifizieren.

40. Die Festlegung der Voraussetzungen für die Gewährung der Leistungen für Waisen verbleibt hingegen gemäß der in der vorstehenden Nr. 30 genannten Rechtsprechung in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten.

41. Daher ergibt sich meiner Meinung nach schon aus der Natur der Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 als Kollissionsnormen, dass diese die nationalen Behörden nicht daran hindern können, Voraussetzungen nach nationalem Recht für die Gewährung von Leistungen für Waisen zu berücksichtigen(13) .

42. Zweitens ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 im Licht des Art. 48 AEUV auszulegen sind, bei dem es um die Herstellung größtmöglicher Freizügigkeit für die Wanderarbeitnehmer geht(14) .

43. Hierzu wird im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1408/71 ausgeführt, dass die in der Verordnung enthaltenen Vorschriften zur Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zur Freizügigkeit von Personen gehören und zur Verbesserung von deren Lebensstandard und Arbeitsbedingungen beitragen sollen(15) .

44. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass man nämlich gleichzeitig über das Ziel der Verordnung Nr. 1408/71 hinausginge und die Zwecke und den Rahmen von Art. 48 AEUV außer Betracht ließe, legte man die Verordnung so aus, dass sie einem Mitgliedstaat verbietet, Arbeitnehmern sowie deren Familienangehörigen einen weiter gehenden sozialen Schutz zu gewähren, als sich aus der Anwendung dieser Verordnung ergibt(16) .

45. Die unionsrechtlichen Vorschriften zur Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit sind nämlich insbesondere in Anbetracht der mit ihnen verfolgten Ziele – vorbehaltlich ausdrücklich vorgesehener, mit diesen Zielen in Einklang stehender Ausnahmen – so anzuwenden, dass sie dem Wanderarbeitnehmer oder den ihm gegenüber Berechtigten nicht Leistungen aberkennen, die allein nach dem Recht eines Mitgliedstaats gewährt werden(17) . Der Gerichtshof ist daher im Einklang mit diesem Grundsatz stets einer Auslegung der Verordnung Nr. 1408/71 entgegengetreten, die zu einem Verlust von in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats garantierten Vorteilen der sozialen Sicherheit geführt hätte(18) .

46. Im vorliegenden Fall ist meiner Ansicht nach offensichtlich, dass eine Auslegung von Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71, wie sie vom ONAFTS vorgeschlagen wird und scheinbar vom vorlegenden Gericht geteilt wird, zur Folge hat, dass ein Wanderarbeitnehmer, der wie Frau Dumont de Chassart von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, seinen Anspruch auf Sozialleistungen verliert, der ihm vom anwendbaren nationalen Recht eingeräumt wird. Entsprechend meinen Ausführungen bei anderer Gelegenheit(19) und den Erwägungen der oben in Nr. 44 angeführten Rechtsprechung stünde ein solches Ergebnis nicht mit dem Geist dieser Verordnung und den Zielen in Einklang, die mit der von Art. 48 AEUV gewollten Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit verfolgt werden.

47. Außerdem führt eine solche Auslegung, auch wenn sie, wie von der belgischen Regierung in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, keine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit beinhaltet, weil die Vorschriften unabhängig von der Staatsangehörigkeit gelten, zu einer rechtswidrigen Diskriminierung zwischen Arbeitnehmern, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, und solchen, die dies nicht getan haben.

48. Drittens ist eine Auslegung von Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71, die den noch lebenden als Arbeitnehmer tätigen Elternteil, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, nicht von der Anwendung der Vorschriften über die Zusammenrechnung der Beschäftigungszeiten ausschließt, nicht nur die einzige, die in Einklang mit den Zielen dieser Verordnung steht, sondern sie ist auch dem Wortlaut der Vorschrift getreu.

49. Zwar bezieht sich Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71, um klarzustellen, wie das nach Art. 78 dieser Verordnung bestimmte Recht anzuwenden ist, auf die Situation des Verstorbenen, doch ist festzustellen, dass Art. 79 Abs. 1 Buchst. a, in dem der Verweis auf den Grundsatz der Zusammenrechnung nach Art. 72 enthalten ist, keinen Verweis auf die Situation des Verstorbenen enthält. Diese Bestimmung enthält keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass der Unionsgesetzgeber die Anwendung des Grundsatzes der Zusammenrechnung ausschließlich auf den Verstorbenen beschränken und somit den noch lebenden als Arbeitnehmer tätigen Elternteil ausschließen wollte, wenn die nationalen Vorschriften die Möglichkeit vorsehen, die vom letztgenannten Elternteil zurückgelegten Versicherungszeiten für die Stützung des Antrags auf Leistungen für Waisen zu berücksichtigen.

50. Hierzu ist noch festzustellen, dass der Grundsatz der Zusammenrechnung der Versicherungs- Wohn- oder Beschäftigungszeiten unmittelbar im AEU-Vertrag, genauer gesagt in Art. 48 Buchst. a dieses Vertrags, niedergelegt ist und in verschiedenen Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 verwirklicht wird, u. a. in Art. 72(20) . Der Gerichtshof hat bereits klargestellt, dass es sich um einen der wesentlichen Grundsätze für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten auf Unionsebene handelt, der gewährleisten soll, dass ein Arbeitnehmer, der von dem durch den AEU-Vertrag eingeräumten Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, nicht Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verliert, auf die er Anspruch hätte, wenn er seine Berufslaufbahn in einem einzigen Mitgliedstaat zurücklegen würde, was den Arbeitnehmer der Union davon abhalten könnte, von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, und somit diese Freizügigkeit beeinträchtigen würde(21) .

51. Im Licht all dieser Erwägungen bin ich daher der Auffassung, dass Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht dahin ausgelegt werden kann, dass er die Anwendung der Vorschriften über die Anrechnung der Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Tätigkeit in Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 nur in Bezug auf den verstorbenen Elternteil zulässt. Die innerstaatlichen Behörden können sich daher nicht auf diesen Artikel berufen, um die in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehene Berücksichtigung der Versicherungszeiten auszuschließen, die vom noch lebenden Elternteil zurückgelegt worden sind, der in einem anderen Land der Union gearbeitet hat und der, wenn er die Voraussetzungen erfüllt, in den Genuss der Vorschriften über die Anrechnung der Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder der Zeiten einer selbständigen Tätigkeit in Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 kommen kann. Im Licht dessen kann Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 daher nicht gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung verstoßen.

52. Zur Anwendung des Grundsatzes der Zusammenrechnung ist schließlich noch auf das von der belgischen Regierung vorgebrachte und in der mündlichen Verhandlung erörterte Argument einzugehen, wonach die vom noch lebenden als Arbeitnehmer tätigen Elternteil in einem anderen Mitgliedstaat der Union ausgeübte Tätigkeit ausschließlich zur Vervollständigung einer schon in Belgien ausgeübten Versicherungs- oder Beschäftigungszeit oder Zeit einer selbständigen Tätigkeit berücksichtigt werden könne, so dass die Situation von Frau Dumont de Chassart, die im Jahr vor dem Tod ihres Ehemanns ausschließlich in Frankreich gearbeitet habe, in keinem Fall für die Zusammenrechnung nach Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 berücksichtigt werden könne(22) .

53. Hierzu ist festzustellen, dass der Gerichtshof kürzlich klargestellt hat, dass einer Auslegung des Begriffs der „Zusammenrechnung“ in Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71, die das Bestehen von mindestens zwei in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Zeiten der Erwerbstätigkeit voraussetzt, nicht gefolgt werden kann. Aufgrund dessen kann der Mitgliedstaat des für die Auszahlung einer Leistung zuständigen Trägers nicht vorsehen, dass eine Zeit der Erwerbstätigkeit in seinem Hoheitsgebiet zurückgelegt worden sein muss, und die Zugrundelegung einer einzigen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegten Zeit für den Erwerb eines Anspruchs auf eine Leistung der sozialen Sicherheit ausschließen(23) .

54. Der Gerichtshof hat nämlich klargestellt, dass der Wortlaut von Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 verlangt, dass im Rahmen der Zusammenrechnung „Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat“ berücksichtigt werden, als handelte es sich um Zeiten, die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Trägers zurückgelegt worden sind.

55. Gemäß ihrer in den vorhergehenden Nrn. 29 und 31 genannten Ziele sieht die Verordnung Nr. 1408/71 nämlich ein System vor, das es erlaubt, für die Wanderarbeitnehmer und ihre Rechtsnachfolger die Zusammenrechnung „aller Zeiten“ sicherzustellen, die von den verschiedenen nationalen Vorschriften berücksichtigt werden, sei es für die Entstehung und die Beibehaltung des Anspruchs auf Leistungen oder für deren Berechnung.

56. Folglich kann der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, im vorliegenden Fall Belgiens, für die Gewährung einer Familienleistung nicht verlangen, dass neben einer Beschäftigungszeit oder der Zeit einer Tätigkeit, die in einem anderen Staat ausgeübt wurde, im vorliegenden Fall Frankreich, eine weitere Versicherungszeit im Inland zurückgelegt wurde.

57. Entgegen dem Vortrag der belgischen Regierung in der mündlichen Verhandlung kann die vom Gerichtshof im Urteil Bergström(24) vorgenommene Auslegung des Begriffs der Zusammenrechnung weder durch Randnr. 43 des Urteils Perez Garcia u. a.(25), aus dem überhaupt nicht hervorgeht, dass die Anwendung von Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 die Zurücklegung einer Versicherungszeit oder Zeit der Tätigkeit in dem Staat, dem die Gewährung der Familienleistung obliegt, voraussetzt, noch durch die Urteile Coonan und Vigier(26), die überhaupt nicht die Gewährung von Familienleistungen betreffen, in Frage gestellt werden.

58. Im Übrigen ist schließlich noch festzustellen, dass eine Lösung, die die Anwendung des Grundsatzes der Zusammenrechnung nach Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 auch auf den noch lebenden Elternteil erlaubt, in Einklang steht mit der von Belgien getroffenen Entscheidung, diesen Grundsatz gerade in Fällen von Familienleistungen anzuwenden. Diese Entscheidung wird ausdrücklich in Anhang VI Buchst. A Nr. 7 („Besondere Bestimmungen über die Anwendung der Rechtsvorschriften bestimmter Mitgliedstaaten“) der Verordnung Nr. 1408/71 bestätigt(27) .

V – Ergebnis

59. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich vor, die Vorlagefrage des Tribunal du travail de Bruxelles wie folgt zu beantworten:

Art. 79 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 verletzt nicht die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung, da er unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nicht dahin ausgelegt werden kann, dass die Vorschriften über die Anrechnung der Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder der Zeiten einer selbständigen Tätigkeit in Art. 72 der Verordnung Nr. 1408/71 allein unter Berücksichtigung der vom verstorbenen als Arbeitnehmer tätigen Elternteil zurückgelegten Versicherungszeiten angewendet werden und somit ausschließen, dass die vom noch lebenden Elternteil zurückgelegten Zeiten berücksichtigt werden, der in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union gearbeitet hat, wenn die einschlägigen innerstaatlichen Vorschriften die Möglichkeit vorsehen, auch die Versicherungszeiten des noch lebenden Elternteils zur Stützung des Antrags auf Leistungen für Waisen zu berücksichtigen.

(1) .

(2) – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, wie sie durch die Verordnung (EG) Nr. 592/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 (ABl. L 177, S. 1) geändert worden ist. Der hier angeführte Titel ist der Titel der konsolidierten Fassung der Verordnung.

(3) – Die Verordnung Nr. 1408/71 wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1) zum 1. Mai 2010 aufgehoben und ersetzt, dem Zeitpunkt, zu dem die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (ABl. L 284, S. 1) in Kraft getreten ist.

(4) – Vgl. (nur beispielhaft) Urteile vom 12. Juni 1980, Laterza (733/79, Slg. 1980, 1915), vom 24. November 1983, D’Amario, (320/82, Slg. 1983, 3811), vom 27. Februar 1997, Bastos Moriana u. a. (C-59/95, Slg. 1997, I-1071), vom 24. September 2002, Martínez Domínguez u. a. (C-471/99, Slg. 2002, I-7835), und vom 20. Oktober 2011, Perez Garcia u. a. (C-225/10, Slg. 2011, I-10111).

(5) – Hervorhebung nur hier. Der Text dieser Vorschrift wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 307/1999 des Rates vom 8. Februar 1999 erweitert, indem die Worte „sowie für Studierende“ in den ersten Halbsatz der Vorschrift aufgenommen wurden; vgl. ABl. L 38, S. 1.

(6) – Siehe oben, Nr. 1 und Fn. 3.

(7) – Vgl. u. a. Urteile vom 5. Juli 1988, Borowitz (21/87, Slg. 1988, 3715, Randnr. 23), vom 3. April 2008, Chuck (C-331/06, Slg. 2008, I-1957, Randnr. 27), und vom 21. Juli 2011, Stewart (C-503/09, Slg. 2011, I-6497, Randnrn. 75 bis 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

(8) – Vgl. u. a. Urteile vom 9. März 2006, Piatkowski (C-493/04, Slg. 2006, I-2369, Randnr. 20), vom 18. Juli 2006, Nikula (C-50/05, Slg. 2006, I-7029, Randnr. 20), vom 3. April 2008, Derouin (C-103/06, Slg. 2008, I-1853, Randnr. 20), und vom 3. März 2011, Tomaszewska (C-440/09, Slg. 2011, I-1033, Randnr. 25).

(9) – Vgl. u. a. Urteile vom 20. September 1994, Drake (C-12/93, Slg. 1994, I-4337, Randnr. 27), vom 20. Februar 1997, Martínez Losada u. a. (C-88/95, C-102/95 und C-103/95, Slg. 1997, I-869, Randnr. 43), vom 20. Januar 2005, Salgado Alonso (C-306/03, Slg. 2005, I-705, Randnr. 27), sowie Tomaszewska (oben in Fn. 8 angeführt, Randnr. 24).

(10) – Vgl. Urteil Tomaszewska (oben in Fn. 8 angeführt, Randnr. 27).

(11) – Vgl. Randnr. 28 des Urteils Tomaszewska, Randnr. 19 des Urteils Piatkowski sowie Randnr. 20 des Urteils Derouin (alle oben in Fn. 8 angeführt).

(12) – Vgl. u. a. Urteile Bastos Moriana u. a. (Randnr. 15) sowie Martínez Domínguez u. a. (Randnr. 23), beide oben in Fn. 4 angeführt.

(13) – Vgl. entsprechend meine Ausführungen in Nr. 51 meiner Schlussanträge in der Rechtssache C-208/07, von Chamier-Glisczinski (Urteil vom 16. Juli 2009, Slg. 2009, I-6095).

(14) – Vgl. aus jüngster Zeit Urteil vom 12. Juni 2012, Hudzinski (C-611/10 und C-612/10, Randnr. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). In diesem Sinne vgl. auch die Urteile vom 9. November 2006, Nemec (C-205/05, Slg. 2006, I-10745, Randnrn. 37 f.), und vom 20. Mai 2008, Bosmann (C-352/06, Slg. 2008, I-3827, Randnr. 29).

(15) – Vgl. Urteile Bosmann (Randnr. 30) sowie Hudzinski (Randnr. 54), beide oben in Fn. 14 angeführt.

(16) – Vgl. Urteile von Chamier-Glisczinski (oben in Fn. 13 angeführt, Randnr. 56) und Hudzinski (oben in Fn. 14 angeführt, Randnr. 55).

(17) – Vgl. Urteile vom 6. März 1979, Rossi (100/78, Slg. 1979, 831, Randnr. 14), vom 30. Juni 2011, da Silva Martins (C-388/09, Slg. 2011, I-5737, Randnr. 75), sowie Hudzinski (oben in Fn. 14 angeführt, Randnr. 56).

(18) – Vgl. u. a. Urteile vom 9. Dezember 1993, Lepore und Scamuffa (C-45/92 und C-46/92, Slg. 1993, I-6497, Randnr. 21), vom 4. Oktober 1991, Paraschi (C-349/87, Slg. 1991, I-4501, Randnr. 22), vom 30. März 1993, de Wit (C-282/91, Slg. 1993, I-1221, Randnrn. 16 f.), und vom 5. Oktober 1994, van Munster (C-165/91, Slg. 1994, I-4661, Randnr. 27). Vgl. außerdem Urteile vom 9. Oktober 1997, Naranjo Arjona u. a. (C-31/96 bis C-33/96, Slg. 1997, I-5501, Randnr. 20), vom 17. Dezember 1998, Grajera Rodríguez (C-153/97, Slg. 1998, I-8645, Randnr. 17), sowie Nemec (oben in Fn. 14 angeführt, Randnrn. 37 f.).

(19) – Vgl. Nr. 56 meiner Schlussanträge in der Rechtssache von Chamier-Glisczinski (oben in Fn. 13 angeführt).

(20) – Der Grundsatz der Zusammenrechnung ist in der Verordnung Nr. 1408/71 z. B. in den Art. 18, 38, 45, 64 und 67 umgesetzt. In der neuen Verordnung Nr. 883/2004 (oben in Fn. 3 angeführt) ist dieses nunmehr in einer Bestimmung von allgemeinem Charakter (Art. 6) anerkannt.

(21) – Vgl. entsprechend Urteil Tomaszewska (oben in Fn. 8 angeführt, Randnr. 30), sowie Urteile vom 26. Oktober 1995, Moscato (C-481/93, Slg. 1995, I-3525, Randnr. 28), und Salgado Alonso (oben in Fn. 9 angeführt, Randnr. 29).

(22) – Zur Stützung ihres Arguments verweist die belgische Regierung auch auf Art. 15 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, wie sie durch die Verordnung Nr. 101/2008 der Kommission vom 4. Februar 2008 (ABl. L 31, S. 15) geändert worden ist. Dieser in Titel IV, Kapitel 1, enthaltene Artikel („Allgemeine Vorschriften für die Zusammenrechnung der Zeiten“) der Verordnung Nr. 574/72 belege die von der belgischen Regierung vertretene Auffassung, da dieser sich auf die „Hinzurechnung“ der Versicherungs- oder Wohnzeiten, die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegt worden seien, beziehe, um die Versicherungszeiten zu „ergänzen“. Dieser Artikel kann jedoch nicht zur Stützung des Vorbringens der belgischen Regierung herangezogen werden. Aus Abs. 1 dieses Artikels geht nämlich ausdrücklich hervor, dass dieser für bestimmte Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 gilt, insbesondere für jene, die die Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft, Invalidität, Alter und Tod (Renten) betreffen, sowie Leistungen im Fall von Tod oder Arbeitslosigkeit, aber nicht für jene, die Familienleistungen betreffen. In den ausdrücklich in diesem Artikel genannten Vorschriften sind nämlich diejenigen, die Familienleistungen betreffen, nicht enthalten, und insbesondere wird dort weder auf Art. 72 noch auf Art. 79 der Verordnung Nr. 1408/71 verwiesen.

(23) – Vgl. Urteil vom 15. Dezember 2011, Bergström (C-257/10, Slg. 2011, I-13227, Randnrn. 39 bis 44, insbesondere Randnrn. 39 f.).

(24) – Oben in Fn. 23 angeführt.

(25) – Oben in Fn. 4 angeführt.

(26) – Urteile vom 24. April 1980, Coonan (110/79, Slg. 1980, 1445), und vom 27. Januar 1981, Vigier (70/80, Slg. 1981, 229).

(27) – Darin heißt es ausdrücklich, dass „[b]ei der Anwendung des Artikels 72 und des Artikels 79 Absatz 1 Buchstabe a) der Verordnung … nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegte Beschäftigungs- und/oder Versicherungszeiten in den Fällen angerechnet [werden], in denen nach den belgischen Rechtsvorschriften der Leistungsanspruch der Voraussetzung unterliegt, dass in einem bestimmten früheren Zeitraum die Voraussetzungen für den Anspruch auf Familienbeihilfen im Rahmen des Systems für Arbeitnehmer erfüllt wurden“.

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