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Document 62009CC0484

Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak vom 7. Dezember 2010.
Manuel Carvalho Ferreira Santos gegen Companhia Europeia de Seguros SA.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal da Relação do Porto - Portugal.
Vorabentscheidungsersuchen - Richtlinie 72/166/EWG - Art. 3 Abs. 1 - Richtlinie 84/5/EWG - Art. 2 Abs. 1 - Richtlinie 90/232/EWG - Art. 1 - Anspruch auf Schadensersatz durch die obligatorische Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung - Voraussetzungen für die Begrenzung - Schadensbeitrag - Kein Verschulden der Fahrer - Gefährdungshaftung.
Rechtssache C-484/09.

European Court Reports 2011 I-01821

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2010:745

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

VERICA Trstenjak

vom 7. Dezember 2010(1)

Rechtssache C‑484/09

Manuel Carvalho Ferreira Santos

gegen

Companhia Europeia de Seguros, SA

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal da Relação Porto [Portugal])

„Richtlinien 72/166/EWG, 84/5/EWG und 90/232/EWG – Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung – Regelung der Haftpflicht für Schäden aus Verkehrsunfällen mit Kraftfahrzeugen – Begrenzung des Anspruchs auf Schadensersatz durch die obligatorische Versicherung wegen des Beitrags eines der für einen Unfall verantwortlichen Fahrer zum Schaden – Nichtermittelbarkeit des Unfallverursachungsbeitrags der beiden Fahrer – Gefährdungshaftung“





I –    Einleitung

1.        Das portugiesische Tribunal da Relação Porto hat dem Gerichtshof gemäß Art. 234 EG(2) eine Frage zur Auslegung der Richtlinien 72/166/EWG(3), 84/5/EWG(4) und 90/232/EWG(5) vorgelegt. Das vorlegende Gericht begehrt darin im Wesentlichen Aufschluss darüber, ob die zitierten Richtlinien einer nationalen zivilrechtlichen Regelung entgegenstehen, die es erlaubt, im Fall einer Schadensmitverursachung durch den Geschädigten eine Aufteilung der Haftung entsprechend dem Anteil vorzunehmen, zu dem die von den einzelnen Fahrzeugen ausgehende Betriebsgefahr zu den Schäden beigetragen hat, mit der Folge, dass dies sich mindernd auf die Höhe des Anspruchs auf Schadensersatz des Unfallgeschädigten gegen die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsgesellschaft auswirkt.

2.        Diese Frage stellt sich im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Carvalho und der Companhia Europeia de Seguros, SA, einer Haftpflichtversicherungsgesellschaft, um die vollständige Erstattung des ihm infolge eines Straßenverkehrsunfalls entstandenen Vermögens- und Nichtvermögensschadens. In Anbetracht dessen, dass eine unmittelbare Anwendung der oben genannten nationalen Regelung eine Halbierung der Höhe des Schadensersatzanspruchs zur Folge hätte, erweist sich die aufgeworfene Frage der Vereinbarkeit dieser nationalen Regelung mit dem Unionsrecht als klärungsbedürftig.

II – Normativer Rahmen

A –    Unionsrecht(6)

3.        Ab dem Jahr 1972 hat der Unionsgesetzgeber mit der Angleichung der mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung mittels Richtlinien begonnen.

4.        Die Erste Richtlinie sieht die Beseitigung der Kontrolle der Grünen Karte an den Grenzen und die Einführung einer Haftpflichtversicherung, die die im Gebiet der Gemeinschaft verursachten Schäden deckt, in allen Mitgliedstaaten vor.

5.        Ausgehend von dem Grundsatz, dass die Opfer von Verkehrsunfällen Schadensersatz von einem solventen Schuldner erhalten müssen, wenn die Haftung festgestellt ist, bestimmt Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie:

„Jeder Mitgliedstaat trifft … alle zweckdienlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist. Die Schadensdeckung sowie die Modalitäten dieser Versicherung werden im Rahmen dieser Maßnahmen bestimmt.“

6.        Ferner bestimmt Art. 3 Abs. 2 der Ersten Richtlinie u. a. Folgendes:

„Jeder Mitgliedstaat trifft alle zweckdienlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass der Versicherungsvertrag überdies folgende Schäden deckt:

–        die im Gebiet der anderen Mitgliedstaaten gemäß den Rechtsvorschriften dieser Staaten verursachten Schäden,

…“

7.        Mit der Zweiten Richtlinie wollte der Gemeinschaftsgesetzgeber die unterschiedlichen inhaltlichen Gesichtspunkte dieser Pflichtversicherung angleichen, um den Opfern von Verkehrsunfällen einen Mindestschutz zu verschaffen und die in der Gemeinschaft bestehenden Unterschiede im Umfang dieser Versicherung zu verringern.

8.        In Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie heißt es:

„Jeder Mitgliedstaat trifft zweckdienliche Maßnahmen, damit jede Rechtsvorschrift oder Vertragsklausel in einer nach Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 72/166/EWG ausgestellten Versicherungspolice, mit der die Nutzung oder Führung von Fahrzeugen durch

–        hierzu weder ausdrücklich noch stillschweigend ermächtigte Personen oder

–        Personen, die keinen Führerschein für das betreffende Fahrzeug besitzen, oder

–        Personen, die den gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf Zustand und Sicherheit des betreffenden Fahrzeugs nicht nachgekommen sind, von der Versicherung ausgeschlossen werden, bei der Anwendung von Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 72/166/EWG bezüglich der Ansprüche von bei Unfällen geschädigten Dritten als wirkungslos gilt.

Die im ersten Gedankenstrich genannte Vorschrift oder Klausel kann jedoch gegenüber den Personen geltend gemacht werden, die das Fahrzeug, das den Schaden verursacht hat, freiwillig bestiegen haben, sofern der Versicherer nachweisen kann, dass sie wussten, dass das Fahrzeug gestohlen war.

…“

9.        Die Dritte Richtlinie wurde erlassen, um einige Bestimmungen in Bezug auf die Haftpflichtversicherung klarzustellen, da immer noch erhebliche Unterschiede im Umfang der durch die Versicherung gewährten Deckung bestanden.

10.      Nach der fünften Begründungserwägung der Dritten Richtlinie bestanden insbesondere in einigen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Versicherungspflicht für die Fahrzeuginsassen Lücken. Zum Schutz dieser besonders stark gefährdeten Kategorie potenzieller Geschädigter sollten diese Lücken geschlossen werden.

11.      Schließlich bestimmt Art. 1 der Dritten Richtlinie:

„Unbeschadet des Artikels 2 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Richtlinie 84/5/EWG deckt die in Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 72/166/EWG genannte Versicherung die Haftpflicht für aus der Nutzung eines Fahrzeugs resultierende Personenschäden bei allen Fahrzeuginsassen mit Ausnahme des Fahrers.

…“

12.      Die zuletzt am 8. Oktober 2009 in Kraft getretene Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht(7) konsolidiert nunmehr die oben genannten Richtlinien, die insoweit nicht mehr in Kraft sind. Vor dem Hintergrund, dass die Ereignisse, die Anlass zu dem Ausgangsstreit gegeben haben, sich lange vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie 2009/103 zugetragen haben, sind allein diese Richtlinien auf den Ausgangsfall anwendbar.

B –    Nationales Recht

13.      Die für den Ausgangsfall relevanten Bestimmungen des portugiesischen Código Civil (Bürgerliches Gesetzbuch) lauten wie folgt:

14.      Art. 503 Abs. 1: „Derjenige, der die tatsächliche Herrschaft über ein Landfahrzeug ausübt und dieses im eigenen Interesse und sei es durch einen Beauftragten nutzt, haftet für die Schäden, die aus der dem Fahrzeug eigenen Gefahr herrühren, auch wenn dieses nicht in Betrieb ist.“

15.      Art. 504 Abs. 1: „Die Haftung für durch Fahrzeuge verursachte Schäden kommt Dritten sowie den beförderten Personen zugute.“

16.      Art. 506 Abs. 1: „Entstehen bei einem Zusammenstoß von zwei Fahrzeugen bei beiden oder einem von ihnen Schäden, ohne dass einer der Fahrer den Unfall verschuldet hat, wird die Haftung entsprechend dem Anteil, zu dem die den einzelnen Fahrzeugen eigene Gefahr zu den Schäden beigetragen hat, aufgeteilt; wurden die Schäden ausschließlich von einem der Fahrzeuge verursacht, ohne Verschulden eines der Fahrer, ist nur die für die Schäden verantwortliche Person zum Schadensersatz verpflichtet.“

17.      Art. 506 Abs. 2: „Im Zweifelsfall wird davon ausgegangen, dass beide Fahrzeuge gleichermaßen zu den Schäden beigetragen und beide Fahrer diese gleichermaßen verschuldet haben.“

III – Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

18.      Am 5. August 2000 ereignete sich ein Verkehrsunfall, an dem Herr Carvalho als Fahrer und Halter eines Kraftrads sowie ein Personenkraftwagen, der bei der Companhia Europeia de Seguros, SA haftpflichtversichert war, beteiligt waren. Der Unfall hatte für Herrn Carvalho schwerwiegende Folgen, da er ein Schädelhirntrauma erlitt und seitdem berufsunfähig ist.

19.      Da keinem der Unfallbeteiligten ein Verschulden nachgewiesen werden konnte, liegen gemäß den Ausführungen des vorlegenden Gerichts die Voraussetzungen für eine Entschädigungspflicht aufgrund der Gefährdungshaftung nach innerstaatlichem portugiesischem Recht vor. Diese objektive Haftung kommt auch Herrn Carvalho als Unfallopfer zugute.

20.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das portugiesische Recht in Fällen wie dem vorliegenden, in denen der Unfall von keinem der Fahrer verschuldet wurde, die Anwendung der in Art. 506 des Código Civil enthaltenen Regel vorschreibt, der zufolge die an den Geschädigten zu zahlende Entschädigung entsprechend dem Anteil, zu dem er zu dem Ereignis und dem daraus resultierenden Schaden beigetragen hat, gemindert wird, wobei im Zweifelsfall davon ausgegangen wird, dass beide Fahrzeuge gleichermaßen zu den Schäden beigetragen haben. Ist deshalb die Ersatzpflicht des anderen Unfallbeteiligten beschränkt, kann der Geschädigte von der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsgesellschaft des anderen Unfallbeteiligten nur den entsprechend geringeren Betrag verlangen.

21.      Das Tribunal da Relação Porto, das im Ausgangsverfahren über die Höhe der Entschädigung zu entscheiden hat, äußert angesichts der Auslegung, die die Erste, die Zweite und die Dritte Richtlinie in der Rechtsprechung des Gerichtshofs gefunden haben, Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit dieser nationalen Regelung mit dem Unionsrecht. Es hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Verstößt bei einem Zusammenstoß von Fahrzeugen, den keiner der Fahrer verschuldet hat und durch den einem der Fahrer (dem Geschädigten, der eine Entschädigung verlangt) körperliche und materielle Schäden entstanden sind, die Möglichkeit, die Gefährdungshaftung aufzuteilen (Art. 506 Abs. 1 und 2 des Código Civil), mit unmittelbarer Auswirkung auf die Höhe der dem Geschädigten für die aus seinen körperlichen Verletzungen resultierenden Vermögens- und Nichtvermögensschäden zu zahlende Entschädigung (denn diese Aufteilung der Gefährdungshaftung führt zu einer entsprechenden Minderung der Entschädigung) gegen das Gemeinschaftsrecht, insbesondere gegen Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie (72/166/EWG), Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie (84/5/EWG) und Art. 1 der Dritten Richtlinie (90/232/EWG) in der Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften?

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

22.      Der Vorlagebeschluss mit Datum vom 24. November 2009 ist am 30. November 2009 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.

23.      Schriftliche Erklärungen haben die Regierungen der Portugiesischen Republik, der Bundesrepublik Deutschland, der Republik Österreich und der Italienischen Republik sowie die Europäische Kommission innerhalb der in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs genannten Frist eingereicht.

24.      Da keiner der Beteiligten die Eröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt hat, konnten nach der Generalversammlung des Gerichtshofs am 5. Oktober 2010 die Schlussanträge in dieser Rechtssache ausgearbeitet werden.

V –    Wesentliche Argumente der Parteien

A –    Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

25.      Die deutsche Regierung hält das Vorabentscheidungsersuchen für teilweise unzulässig, und zwar insoweit, als die Vorlagefrage auf Art. 1 der Dritten Richtlinie Bezug nimmt. Ihrer Ansicht nach ist diese Bestimmung für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens unerheblich, da sie lediglich die Ausdehnung der Deckungsverpflichtung der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung für Personenschäden auf Fahrzeuginsassen (mit Ausnahme des Fahrers) regele. Dem Ausgangsfall liege jedoch ein Sachverhalt zugrunde, bei dem nicht ein Fahrzeuginsasse, sondern ein Dritter geschädigt worden sei. Die Frage des vorlegenden Gerichts stehe daher, soweit sie die Auslegung des Art. 1 der Dritten Richtlinie betreffe, in keinem Zusammenhang mit dem dem Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegenden Rechtsstreit.

B –    Zur Vorlagefrage selbst

26.      Das Vorbringen der Verfahrensbeteiligten betrifft einerseits den Anwendungsbereich der Richtlinien, andererseits auch die Tragweite des Urteils Candolin u. a.(8).

1.      Zum Anwendungsbereich der Richtlinien

27.      Die portugiesische Regierung trägt vor, dass die fraglichen Richtlinien keine Bestimmungen betreffend die zivilrechtliche Haftung enthielten. Daraus folgt ihrer Ansicht nach, dass die Vorlagefrage nicht relevant im Hinblick auf Art. 506 des Código Civil sei, der sich lediglich darauf beschränke, die Verantwortlichkeit für die Schadensentstehung festzulegen, während die Verbindung zwischen dem Anspruch auf Schadensersatz und der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit in Art. 483 des Código Civil geregelt sei.

28.      Die deutsche, die österreichische und die italienische Regierung machen geltend, sowohl dem Regelungszweck als auch dem Wortlaut der drei Richtlinien sei zu entnehmen, dass diese nicht darauf gerichtet seien, die zivilrechtlichen Haftungsregelungen in den Mitgliedstaaten zu harmonisieren.

29.      Vielmehr habe der Unionsgesetzgeber den Umfang der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung regeln wollen, um durch eine Angleichung bestehender Unterschiede bezüglich des Umfangs dieser Versicherung ein Mindestschutzniveau für die Opfer von Verkehrsunfällen zu gewährleisten. Die fraglichen Richtlinien enthalten nach Ansicht dieser Regierungen keine Regelungen zur Bestimmung der Art der zivilrechtlichen verschuldens- bzw. verschuldensunabhängigen Haftung. Dieser Aspekt bleibe, wie der Gerichtshof im Urteil vom 14. September 2000, Mendes Ferreira und Delgado Correia Ferreira(9) erkannt habe, beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts der Kompetenz der Mitgliedstaaten vorbehalten.

30.      Aus diesen Gründen stelle sich die Frage der Vereinbarkeit der nationalrechtlich bestimmten Zurechnungskriterien der Haftung mit dem Unionsrecht nicht. Darüber setzten die Richtlinien einen von den Mitgliedstaaten geregelten zivilrechtlichen Anspruch auf Schadensersatz voraus. Denn die materiell-rechtliche Haftung bestimme den Umfang der Leistungspflicht der Haftpflichtversicherung, nicht umgekehrt die Haftpflichtversicherung den Umfang der Haftung.

2.      Zur Tragweite des Urteils Candolin u. a.

31.      Die portugiesische Regierung weist darauf hin, dass aus dem Urteil Candolin u. a. hervorgehe, dass die Bestimmungen der fraglichen Richtlinien einem Mitgliedstaat nicht verwehrten, in einer auf allgemeinen und abstrakten Kriterien beruhenden nationalen Regelung eine im Verhältnis zum eigenen Mitverschulden anteilsmäßige Minderung des Entschädigungsanspruchs des Geschädigten vorzusehen. Soweit diese Bestimmungen eine Einzelfallbeurteilung vorschrieben, sei Art. 506 des Código Civil als mit dem Unionsrecht vereinbar anzusehen.

32.      Die deutsche Regierung macht geltend, dass das Urteil Candolin u. a. den Mitgliedstaaten die grundsätzliche Möglichkeit einer Begrenzung auf der Grundlage einer Einzelfallbeurteilung nicht verbiete, sofern diese im Einklang mit dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit stehe, was vorliegend der Fall sei. Der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit sei zugrunde zu legen, dass das Haftungsrecht grundsätzlich auf dem Prinzip basiere, dass der Schädiger nur für den Schaden einzustehen habe, den er auch zurechenbar verursacht habe, im Übrigen jedoch der Geschädigte den Schaden selbst trage. Der Geschädigte könne daher nur für den Schaden Ersatz verlangen, der ihm durch den Schädiger zugefügt worden sei. Für Schäden, für die der Geschädigte selbst verantwortlich sei, könne er hingegen keinen Ersatz verlangen. Entsprechendes gelte auch für die Haftpflichtversicherung, die die Haftpflicht des Schädigers decke. Dies bedeute, dass die Versicherungsgesellschaft nur in dem Umfang leisten müsse, in dem es auch der Schädiger müsste.

33.      Die österreichische und die italienische Regierung sind der Auffassung, dass das Urteil Candolin u. a. im Ausgangsfall keine Anwendung finden könne.

34.      Diese Regierungen weisen darauf hin, aus den Urteilsgründen gehe hervor, dass die Tragweite dieses Urteils sich auf jene Fälle beschränke, in denen Fahrzeuginsassen einen Unfall im Straßenverkehr erlitten. Dies gehe insbesondere aus den Ausführungen bezüglich der Richtlinienziele hervor, allen voran der Dritten Richtlinie. Die österreichische und die italienische Regierung machen darauf aufmerksam, dass die Dritte Richtlinie vor allem mit dem Ziel erlassen worden sei, die Lücken in der Haftpflichtversicherung in einigen Mitgliedstaaten zugunsten von Fahrzeuginsassen zu schließen, um diese besonders schutzbedürftige Gruppe potenzieller Opfer zu schützen. Im Ausgangsfall sei jedoch der Geschädigte der Fahrer selbst.

35.      Darüber hinaus weisen die österreichische und die deutsche Regierung darauf hin, dass, wenn die individuelle Mitverantwortung des Fahrers in die abschließende Beurteilung nicht einfließen würde, die Versicherungsgesellschaft Ansprüche abdecken müsste, die der Geschädigte gegen den ersatzpflichtigen Fahrer eines Fahrzeugs aufgrund seiner Mitverantwortung nach den Prinzipien der nationalen Gefährdungshaftung nicht erfolgreich geltend machen könnte.

36.      Die italienische Regierung erklärt, dass die Erstreckung des Urteils Candolin u. a. auf alle Kategorien von Drittgeschädigten einer Übernahme des Sanktionsgedankens gleichkäme und zwar zulasten der Versicherungsgesellschaft, zumal diese Ersatz für jene Schäden leisten müsste, die der Versicherte nach dem nationalen Schadensersatzrecht nicht zu verantworten habe.

37.      Die Kommission beschränkt sich darauf, geltend zu machen, dass die oben genannten Richtlinien der streitgegenständlichen nationalen Regelung entgegenstünden, zumal die Beschränkung der Entschädigung für das Opfer nicht einmal aus seiner Mitverantwortlichkeit an der Schadensentstehung herrühre, wie es in den Rechtssachen Candolin u. a.(10) und Farrell(11) der Fall gewesen sei, sondern aus einer gleichmäßigen Teilung der Verantwortlichkeit mangels eines Verschuldens des Opfers.

VI – Rechtliche Würdigung

A –    Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

1.      Umdeutung der Vorlagefrage

38.      Die Vorlagefrage ist so formuliert, dass das vorlegende Gericht mit ihr konkret wissen möchte, ob die streitgegenständliche Regelung in Art. 506 Abs. 1 und 2 des portugiesischen Código Civil gegen das Unionsrecht „verstößt“. Indes entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass der Gerichtshof außerhalb von Vertragsverletzungsverfahren nicht befugt ist, über die Vereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit dem Unionsrecht zu befinden. Hierfür sind, erforderlichenfalls nach Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs über Bedeutung und Auslegung des Unionsrechts, die nationalen Gerichte zuständig(12). Die gegenseitige Achtung der jeweiligen Kompetenzen ist die Grundlage für jene Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, die das Vorabentscheidungsverfahren kennzeichnet(13).

39.      Um dem vorlegenden Gericht die Prüfung der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht zu ermöglichen, lässt sich die Vorlagefrage im Sinne eines Ersuchens um Auslegung des Unionsrechts nach Art. 234 Abs. 1 Buchst. b EG umdeuten, und zwar verbunden mit der Frage, ob die in der Vorlagefrage genannten Richtlinienbestimmungen einer Regelung wie der streitgegenständlichen entgegenstehen. Von diesem Verständnis der Vorlagefrage ist im Folgenden auszugehen.

2.      Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage

40.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist insoweit als teilweise unzulässig anzusehen, als das nationale Gericht mit seiner Vorlagefrage um Auslegung von Art. 1 der Dritten Richtlinie ersucht.

41.      Diese Bestimmung ist nämlich bei näherer Betrachtung für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens unerheblich, da sie, wie die deutsche Regierung zutreffend anmerkt, lediglich die Ausdehnung der Deckungsverpflichtung der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung für Personenschäden auf Fahrzeuginsassen mit Ausnahme des Fahrers zum Gegenstand hat. Wie dem fünften Erwägungsgrund zur Dritten Richtlinie zu entnehmen ist, bestanden vor dem Erlass der Richtlinie Lücken in einigen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Versicherungspflicht für die Fahrzeuginsassen, mit der Folge, dass der Unionsgesetzgeber sich veranlasst sah, mittels dieser Richtlinie die fraglichen Lücken zu schließen und diese besonders stark gefährdete Kategorie potenzieller Geschädigter zu schützen. Dies schlug sich in Art. 1 Abs. 1 der Dritten Richtlinie nieder, wonach die in Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie genannte Versicherung die Haftpflicht für aus der Nutzung eines Fahrzeugs resultierende Personenschäden bei allen Fahrzeuginsassen mit Ausnahme des Fahrers deckt. Indes ist darauf hinzuweisen, dass es im Ausgangsfall nicht um die Rechte von Fahrzeuginsassen, sondern offenkundig nur um die Rechte des Fahrers selbst geht. Anhaltspunkte im Vorlagebeschluss dafür, dass andere Fahrzeuginsassen verletzt worden wären, gibt es nämlich nicht.

42.      Es ist in diesem Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, dass der Gerichtshof, sofern die von den nationalen Gerichten vorgelegten Fragen die Auslegung einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts betreffen, grundsätzlich gehalten ist, darüber zu befinden, es sei denn, er soll offensichtlich in Wirklichkeit dazu veranlasst werden, über einen konstruierten Rechtsstreit zu entscheiden oder Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben, die begehrte Auslegung des Gemeinschaftsrechts steht in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Rechtsstreits oder der Gerichtshof verfügt nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind(14).

43.      Angesichts der Tatsache, dass das nationale Gericht nicht dargetan hat, inwiefern die Auslegung von Art. 1 der Dritten Richtlinie im Zusammenhang mit dem Gegenstand des Rechtsstreits steht und somit entscheidungserheblich sein könnte, braucht der Gerichtshof sich meines Erachtens im Rahmen der Auslegung der Richtlinien nicht zu dieser Bestimmung zu äußern.

B –    Untersuchung der Vorlagefrage

1.      Einleitende Anmerkungen

44.      Vor einer Untersuchung der eigentlichen Vorlagefrage sollen zunächst sowohl die Harmonisierungsbemühungen im Bereich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung als auch die hier relevante neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung der Ersten, der Zweiten und der Dritten Richtlinie, um die es in der vorliegenden Rechtssache im Kern geht, kurz dargestellt werden. Diese Darstellung soll einem besseren Verständnis der Problematik der vorliegenden Rechtssache dienen.

a)      Zur Harmonisierung im Bereich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung

45.      Die europaweite Harmonisierung des Leistungsumfangs in der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung wurde durch das im Rahmen des Europarats ausgearbeitete Europäische Übereinkommen über die obligatorische Haftpflichtversicherung vom 20. April 1959 angestoßen(15). Seine wesentlichen Ziele waren die europaweite Einführung der Pflichtversicherung für Personen- und Sachschäden, die Einräumung eines Direktanspruchs des Geschädigten (der sogenannten „action directe“) gegen den Haftpflichtversicherer des Schädigers, die Festschreibung eines europäischen Mindestversicherungsschutzes sowie die Verpflichtung der Vertragsstaaten, einen Entschädigungsfonds einzurichten, der Unfallopfer auch dann entschädigt, wenn ein Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherer nicht zur Verfügung steht. Das Übereinkommen wurde allerdings von wenigen Staaten ratifiziert und erlangte daher keine größere praktische Bedeutung(16). Seine Ziele wurden jedoch später mit der Verabschiedung der ersten drei Richtlinien der Europäischen Union verwirklicht.

46.      Die Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europäischen Union ist im Bereich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung heute weit fortgeschritten. Inzwischen gibt es für diesen Bereich fünf Richtlinien, die zuletzt durch die Richtlinie 2009/103 konsolidiert worden sind. Diese Richtlinien haben zum einen den Zweck, den freien Personenverkehr mit Kraftfahrzeugen zu erleichtern und einheitliche Rahmenbedingungen für den Binnenmarkt bei der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung zu gewährleisten; zum anderen geht es darum, den versicherungsrechtlichen Schutz von Unfallopfern in der Europäischen Union durch die Schaffung eines einheitlichen Mindeststandards zu verbessern und ihnen eine effektive Durchsetzung ihrer Ersatzansprüche zu ermöglichen.

47.      Die vom Unionsgesetzgeber gesetzten Ziele wurden regelungstechnisch dahin gehend umgesetzt, dass die Erste Richtlinie zunächst einmal die Einführung einer Haftpflichtversicherung, die den im Gebiet der Union entstandenen Schaden deckt, in allen Mitgliedstaaten vorschrieb. Ursprünglich wurde den Mitgliedstaaten die Regelung der Schadensdeckung und der Bedingungen für die Pflichtversicherung überlassen, wodurch einige erhebliche Schutzlücken namentlich für die Fahrzeuginsassen verblieben. Später wurden mit der Zweiten Richtlinie Mindestbestimmungen für den Umfang der vorgeschriebenen Deckung von Sach- und Personenschäden vorgesehen, wodurch es zu einer weiteren Angleichung des Schutzes der Verkehrsteilnehmer in der Europäischen Union kam. Die Dritte Richtlinie erweiterte schließlich den persönlichen Geltungsbereich auf andere Insassen der Kraftfahrzeuge als den Fahrer. Die Vierte Richtlinie(17), die im Ausgangsverfahren nicht anwendbar ist, betrifft im Wesentlichen die Regulierung von Verkehrsunfällen, die sich außerhalb des Herkunftslandes des Geschädigten ereignet haben. Um dem geschädigten Dritten die Geltendmachung seiner Ansprüche zu erleichtern, ist es diesem nach der Vierten Richtlinie gestattet, seinen Schadensersatzanspruch in seinem Wohnsitzstaat gegenüber einem dort bestellten Schadensregulierungsbeauftragten des Versicherungsunternehmens der haftpflichtigen Partei geltend zu machen(18). Schließlich wurde mit der Richtlinie 2005/14/EG(19) das gemeinschaftliche System der Kraftfahrzeugversicherung aktualisiert und verbessert, insbesondere dadurch, dass der in der Vierten Richtlinie vorgesehene Direktanspruch auf sämtliche Geschädigten ausgedehnt wurde.

48.      Diese weit fortgeschrittene gesetzgeberische Tätigkeit auf Unionsebene darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Regelungsbefugnisse und die Umsetzungsspielräume der Mitgliedstaaten im Bereich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung bedingt durch die eingeschränkte und zugleich sektorspezifische Reichweite der Richtlinien weiterhin sehr umfangreich sind, was zur Folge hat, dass zwar Raum für einzelstaatliche Sonderregelungen bestehen bleibt, zugleich aber auch das Risiko zunimmt, dass gerade diese Vielzahl an einzelstaatlichen Regelungen von den Richtlinienvorgaben abweichen und letztlich nicht mehr den unionsrechtlichen Mindeststandards entsprechen.

b)      Die Grenzen der mitgliedstaatlichen Regelungsbefugnis gemäß der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs

49.      Nicht zuletzt deshalb hat der Gerichtshof unter Betonung des in den Richtlinien zum Ausdruck kommenden Opferschutzgedankens(20) die Mitgliedstaaten wiederholt zur Einhaltung jener Mindeststandards angehalten, und zwar immer dann, wenn sich die Gefahr eines Ausschlusses oder einer Begrenzung des Anspruchs auf Schadensersatz seitens der Haftpflichtversicherungsgesellschaften zulasten des geschädigten Dritten konkretisierte. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zeichnet sich infolgedessen durch eine ausgeprägte Kasuistik aus.

50.      Als besonders relevant für die Würdigung der Vorlagefrage erweisen sich die Urteile Candolin u. a. und Farrell, in denen der Gerichtshof den Mitgliedstaaten die unionsrechtlichen Grenzen ihrer Regelungsbefugnis aufgezeigt hat. Darin hat er zunächst einmal an seine bisherige Rechtsprechung erinnert, der zufolge sich „aus dem Zweck der Ersten, der Zweiten und der Dritten Richtlinie und aus ihrem Wortlaut [ergibt], dass sie nicht die Haftpflichtregelungen der Mitgliedstaaten harmonisieren sollen und dass es diesen beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nach wie vor freisteht, die Haftpflicht für Schäden aus Verkehrsunfällen mit Kraftfahrzeugen selbst zu regeln“(21).

51.      Wie der Gerichtshof im Urteil Farrell zutreffend festgestellt hat, gilt es nämlich die Pflicht zum Versicherungsschutz für Fahrzeuginsassen auf der einen und den Umfang ihrer Entschädigung in dem Fall, dass sie Opfer eines durch ein Fahrzeug verursachten Unfalls werden, auf der anderen Seite zu unterscheiden. Erstere ist durch die Gemeinschaftsregelung, Letzterer im Wesentlichen durch das nationale Recht garantiert und festgelegt(22). Vor diesem Hintergrund hätte im Prinzip argumentiert werden können, dass die Bestimmung des Umfangs der Entschädigung der Kompetenz der Mitgliedstaaten vorbehalten ist.

52.      Allerdings hat der Gerichtshof klargestellt, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … bei der Ausübung ihrer Befugnisse das Gemeinschaftsrecht, insbesondere Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie, Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie und Art. 1 der Dritten Richtlinie, beachten [müssen], deren Ziel es ist, sicherzustellen, dass alle verkehrsunfallgeschädigten Fahrzeuginsassen ihre Schäden über die obligatorische Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung ersetzt bekommen können“(23).

53.      Daher hat der Gerichtshof unter Berufung auf das Schutzziel der Richtlinien in den beiden oben genannten Urteilen eindrücklich angemahnt, dass „[d]ie nationalen Vorschriften über den Ersatz von Verkehrsunfallschäden … die genannten Artikel nicht ihrer praktischen Wirksamkeit berauben [dürfen]“(24). Dies wäre nach Auffassung des Gerichtshofs der Fall, „wenn eine auf allgemeinen und abstrakten Kriterien beruhende nationale Regelung dem Fahrzeuginsassen allein wegen seines Beitrags zu dem Schaden den Anspruch auf Schadensersatz durch die obligatorische Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung nähme oder ihn unverhältnismäßig begrenzte“(25). Eine Begrenzung des Umfangs des Schadensersatzes darf nach Ansicht des Gerichtshofs „nur unter außergewöhnlichen Umständen auf der Grundlage einer Einzelfallbeurteilung“ erfolgen(26).

2.      Zur eigentlichen Vorlagefrage

54.      Die beiden Hauptrechtsfragen, die sich in der vorliegenden Rechtssache stellen und im Folgenden zu untersuchen sind, sind die Fragen, (a) ob die streitgegenständliche Regelung in den Anwendungsbereich der Richtlinien fällt und (b) welche konkreten Folgen die oben genannte Rechtsprechung hat.

a)      Anwendbarkeit der Richtlinien

55.      Es erscheint mir unerlässlich, im Vorfeld einer Prüfung der Anwendbarkeit der Richtlinien darauf hinzuweisen, dass das System der Haftpflichtversicherung durch eine Reihe unterschiedlicher Rechtsbeziehungen gekennzeichnet ist, die streng voneinander abzugrenzen sind. Dieses System bildet, insgesamt betrachtet, ein Dreiecksverhältnis zwischen dem geschädigten Dritten, dem versicherten Schädiger und der Versicherungsgesellschaft. Die Rechtsbeziehungen zwischen der Versicherungsgesellschaft und dem Schädiger, der zugleich der Versicherungsnehmer ist, sind Gegenstand des sogenannten „Versicherungs- bzw. Deckungsverhältnisses“, während das sogenannte „Haftpflichtverhältnis“ die Rechtsbeziehungen zwischen dem Schädiger und dem geschädigten Dritten betrifft(27). Davon wiederum zu unterscheiden ist der Direktanspruch, d. h. jener Schadensersatzanspruch, den die Rechtsordnung dem geschädigten Dritten gegen die Versicherungsgesellschaft zuerkennt. Bei der Untersuchung der Frage, ob die streitgegenständliche Regelung in den Anwendungsbereich der Richtlinien fällt, kommt es daher in erster Linie darauf an, zu klären, welches Rechtsverhältnis diese Rechtsnormen genau zu regeln bezwecken.

i)      Nichterfassung der zivilrechtlichen Haftungsregelungen

56.      Die Richtlinien regeln mehrere Bereiche des Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsrechts. Ihr wesentlicher Regelungsgegenstand kann insofern als typisch für das Haftpflichtversicherungsrecht bezeichnet werden, als es einerseits um den Schutz des Versicherungspflichtigen vor unkalkulierbaren Haftungsrisiken, andererseits aber zumindest auch um den Schutz des geschädigten Dritten geht(28). Letzteres kommt beispielsweise im siebten Erwägungsgrund zur Zweiten Richtlinie zum Ausdruck, wonach sichergestellt werden muss, „dass die Wirkungen bestimmter Ausschlussklauseln im Interesse des Geschädigten auf die Beziehungen zwischen dem Versicherer und dem für den Unfall Verantwortlichen beschränkt bleiben“.

57.      Ungeachtet dieser unbestrittenen Drittschutzwirkung der Richtlinien bleibt ihr Regelungsgegenstand aber – wie die deutsche Regierung zutreffend ausführt(29) – in erster Linie auf das Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsrecht beschränkt, das insoweit das Deckungsverhältnis, d. h. das Verhältnis zwischen der Versicherungsgesellschaft und dem Versicherungsnehmer, regelt.

58.      Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten einen weiten Umsetzungsspielraum einräumt, um die Richtlinienziele zu erreichen. So dürfen sie gemäß Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie „alle zweckdienlichen Maßnahmen“ treffen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist. Dabei gestattet der Unionsgesetzgeber ihnen im Rahmen dieser Maßnahmen, sowohl die „Schadensdeckung“ sowie die „Modalitäten“ dieser Versicherung zu bestimmen. Vorgaben finden sich in den Richtlinien lediglich in Bezug auf die Frage, welche Arten von Schäden die Versicherung zu decken und welchen geschädigten Personen sie Ersatz zu leisten hat.

59.      Weder Wortlaut noch Regelungszweck der Richtlinien weisen auf eine vom Unionsgesetzgeber beabsichtigte Teilharmonisierung des das Verhältnis zwischen dem Versicherungsnehmer und dem Geschädigten regelnden Schadensersatzrechts hin. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, wie Art. 3 Abs. 2 der Ersten Richtlinie eindeutig beweist, aus dem hervorgeht, dass die Frage, ob ein vom Versicherungsvertrag zu deckender Schaden entstanden ist, „gemäß den Rechtsvorschriften dieser Staaten“ zu beantworten ist. Der Wortlaut dieser Bestimmung belegt den ausdrücklichen Willen des Unionsgesetzgebers, das Haftungsrecht weiterhin in der Kompetenz der Mitgliedstaaten zu belassen. Insofern ist der Auffassung der italienischen Regierung(30) zuzustimmen, wonach weder die materiell-rechtlichen Kriterien zur Beurteilung der Haftung für die infolge eines Straßenverkehrsunfalls entstandenen Schadens noch der Umfang der Haftung in den Anwendungsbereich der Richtlinien fallen.

60.      Die oben angeführte ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, der zufolge die Richtlinien keine Harmonisierung der Haftpflichtregelungen der Mitgliedstaaten bezwecken(31), ist daher rechtlich nicht zu beanstanden(32). Dies wird ferner durch das Urteil Mendes Ferreira und Delgado Correia Ferreira(33) bestätigt, in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Richtlinien beispielsweise nichts zur Art der zivilrechtlichen Haftung – Gefährdungs- oder Verschuldenshaftung – sagen, die die Versicherung decken muss. Zu Recht hat daher der Gerichtshof in jenem Urteil gefolgert, dass es in Ermangelung einer gemeinschaftlichen Regelung grundsätzlich die Mitgliedstaaten sind, die für die Wahl der Regelung der Haftpflicht bei Verkehrsunfällen zuständig sind(34). In Anbetracht der Tatsache, dass die streitgegenständliche portugiesische Bestimmung regelungssystematisch dem nationalen zivilrechtlichen Schadensersatzrecht zuzuordnen ist, ist sie als vom Anwendungsbereich der Richtlinien nicht erfasst anzusehen.

61.      Die gegenteilige Auffassung lässt sich auch nicht mit einem Verweis auf die Urteile Candolin u. a. und Farrell vertreten, zumal es in den ihnen zugrunde liegenden Rechtssachen nicht um zivilrechtliche Haftungsregelungen, sondern vielmehr um nationale gesetzliche Bestimmungen ging, die das Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsrecht regelten(35). Diese sahen u. a. vor, dass Ansprüche des Geschädigten gegen die Haftpflichtversicherungsgesellschaft unter bestimmten Bedingungen gemindert bzw. ausgeschlossen werden durften, beispielsweise, wenn er als Fahrzeuginsasse den alkoholisierten Zustand des Fahrzeugführers kannte oder kennen musste bzw. wenn er dadurch einen Schaden erlitt, dass er in einem Fahrzeug mitfuhr, das mit Sitzgelegenheiten für Mitfahrer weder konstruiert noch gebaut war. Die besagten gesetzlichen Bestimmungen hatten den Inhalt des Haftpflichtversicherungsvertrags zum Gegenstand, da sie die Deckungspflicht der Versicherung weitgehend beschränkten, berührten jedoch nicht die zivilrechtliche Haftpflicht selbst. Dies ist auch der Grund, warum etwa in der Rechtssache Candolin u. a. der Schädiger in Einklang mit den einschlägigen nationalen zivilrechtlichen Bestimmungen weiterhin uneingeschränkt entschädigungspflichtig blieb(36). Entsprechendes trifft offenbar auch für die Rechtssache Farrell zu(37). Die Sach- und Rechtslage in der vorliegenden Rechtssache ist insofern anders gelagert und kann nicht mit der in den Rechtssachen Candolin u. a. und Farrell gleichgesetzt werden.

62.      Es lässt sich somit festhalten, dass die Richtlinienbestimmungen nicht darauf abzielen, die zivilrechtlichen Haftungsregelungen zu harmonisieren, und deshalb Letztere jedenfalls nicht unmittelbar den Vorgaben des Unionsrechts unterworfen sind.

ii)    Akzessorietät des Direktanspruchs zu den zivilrechtlichen Haftungsregelungen

63.      Andererseits könnte ein ausschließliches Abstellen auf diese zivilrechtliche Regelung möglicherweise den Blick darauf verstellen, dass Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits gerade nicht der zivilrechtliche Schadensersatzanspruch im Verhältnis zwischen Privaten ist. Vielmehr geht es im Ausgangsrechtsstreit um den gegen die Versicherungsgesellschaft gerichteten Anspruch des Geschädigten. Dieser könnte, anders als der zivilrechtliche Haftungsanspruch, womöglich den Vorgaben des Unionsrechts unterworfen sein.

64.      Dazu ist zuvor zu prüfen, ob dieser Anspruch vom zivilrechtlichen Haftungsanspruch überhaupt logisch und rechtlich trennbar ist. Hiergegen lässt sich einwenden, dass die Forderung gegen die Haftpflichtversicherungsgesellschaft insofern akzessorisch zum zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch ist, als die materiell-rechtliche Haftung den Umfang der Leistungspflicht der Versicherungsgesellschaft bestimmt. Die Aufteilung von Schäden unter kollektiven Versicherungsträgern setzt nämlich die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit für Schäden normalerweise voraus und knüpft an sie an(38). Das Vorliegen der zivilrechtlichen Verantwortlichkeit auf der ersten Stufe ist die Grundvoraussetzung für die Entstehung des Direktanspruchs gegen die Versicherungsgesellschaft auf der zweiten Stufe(39).

65.      Dies entspricht auch der in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen wohl vorherrschenden Dogmatik, der zufolge der Direktanspruch durch den Umfang der Haftung des Schädigers bestimmt wird(40). Durch diese Ausgestaltung wird der mit dem Direktanspruch bezweckte Schutz des Geschädigten auch nicht etwa unbillig verkürzt, denn der Direktanspruch soll den Unfallgeschädigten insbesondere vor der Zahlungsunfähigkeit des Schädigers bewahren und ihm mit der Versicherungsgesellschaft einen solventen Schuldner zur Verfügung stellen. Vergegenwärtigt man sich dieses materiell-rechtlichen Schutzanliegens, so wird es deutlich, dass der Direktanspruch keineswegs auf eine Loslösung von und eine Ausweitung der zivilrechtlich vorgesehen Haftung des Schädigers abzielt.

66.      Andererseits darf nicht verkannt werden, dass es sich bei dem Direktanspruch gegen die Versicherungsgesellschaft um einen Anspruch mit selbständigem Rechtscharakter handelt, der durch eigene Wertungen geprägt ist(41). Während im Fall des zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs der Gedanke des Ausgleichs für eine erlittene Benachteiligung im Vordergrund steht (iustitia commutativa)(42), ist der gegen die Versicherungsgesellschaft gerichtete Anspruch zumindest auch vom Gedanken der Risikoverteilung, der Solidarität und damit letztlich von Elementen der distributiven Gerechtigkeit (iustitia distributiva) im aristotelischen Sinne(43) geprägt(44). Leitgedanke der sogenannten „action directe“ ist nämlich die Absicherung und der Schutz des in der Regel schwächeren Geschädigten(45).

67.      Eine Abtrennung des Anspruchs des Geschädigten gegen die Versicherungsgesellschaft vom zivilrechtlichen Haftungsanspruch würde allerdings zu kaum nachvollziehbaren Wertungswidersprüchen führen, insbesondere wenn der Anspruch gegen die Versicherungsgesellschaft über das hinausginge, was der materiell-rechtliche Haftungsanspruch umfasste. Würde beispielsweise ein eventuelles Mitverschulden des Geschädigten nur bei der zivilrechtlichen Schadensbemessung, nicht jedoch bei der Beurteilung der Leistungspflicht der Versicherungsgesellschaft Berücksichtigung finden, müsste die Haftpflichtversicherung – worauf die österreichische(46) und die deutsche(47) Regierung zu Recht hinweisen – Ansprüche abdecken, die der Geschädigte gegen den ersatzpflichtigen Fahrer eines Fahrzeugs aufgrund seiner Mitverantwortung nach den Grundsätzen der nationalen Gefährdungshaftung nicht erfolgreich geltend machen könnte. Indes weist nichts in den Richtlinien darauf hin, dass bezweckt sein soll, dem Geschädigten mittels der Haftpflichtversicherung weiter gehende Ansprüche zu vermitteln, als sie gegen den Schädiger aus der Haftung bestünden, die von der Haftpflichtversicherung gedeckt wird.

68.      Dem Geschädigten einen umfassenderen Schadensersatzanspruch zu gewähren als vom materiell-rechtlichen Haftungsrecht vorgesehen, scheint zudem weder geeignet noch angemessen und erst recht nicht vom Unionsgesetzgeber gewollt zu sein, um das im dritten Erwägungsgrund der Ersten Richtlinie erwähnte Ziel des freien Verkehrs von Kraftfahrzeugen und Personen innerhalb der Union zu verwirklichen. Die Richtlinien wurden auf der Basis jener Rechtsgrundlagen erlassen, die eine Rechtsangleichung ermöglichen sollen, und zwar im Interesse einer für die Errichtung des Gemeinsamen Marktes notwendigen Verwirklichung des freien Waren- und Personenverkehrs. Die im zweiten Erwägungsgrund der Ersten Richtlinie erwähnten „Unterschiede in den einzelnen mitgliedstaatlichen Vorschriften, die den freien Verkehr von Kraftfahrzeugen und Personen innerhalb der Gemeinschaft behindern“, werden indes nicht dadurch beseitigt, dass sichergestellt wird, dass der Direktanspruch gegen die Versicherungsgesellschaft unabhängig von einer möglicherweise anzurechnenden zivilrechtlichen Mithaftung des Geschädigten wegen Verschuldens oder Gefährdung – beispielsweise eine mit der Benutzung eines Kraftrads typischerweise verbundene Betriebsgefahr – stets in voller Höhe anerkannt wird. Darauf läuft nämlich das Begehren von Herrn Carvalho letztlich hinaus.

69.      Die Privilegierung des Geschädigten, die dadurch entstünde, dass dieser im Verhältnis zur Versicherungsgesellschaft besser gestellt würde, als wenn er seinen Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger selbst durchsetzen müsste, würde nicht dazu beitragen, die typischen Beschränkungen, die sich aus den unterschiedlichen versicherungsrechtlichen Regeln (z.B. Haftungsausschlüsse zugunsten der Haftpflichtversicherungsgesellschaften) ergeben und auf die die Richtlinien eigentlich abzielen, zu beseitigen. Darauf allein ist der Regelungsgegenstand der Richtlinien beschränkt(48). Die eventuelle Minderung bzw. der eventuelle Ausschluss von Schadensersatzansprüchen aufgrund der Wertungen des nationalen zivilrechtlichen Haftungsrechts stellt keine „Behinderung“ des freien Waren- und Personenverkehrs dar, die mit den Richtlinien behoben werden sollte. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Verschiedenheit der mitgliedstaatlichen Haftungsregelungen als ein Umstand, der beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts letztlich in Kauf zu nehmen ist.

70.      Die Einräumung eines umfassenderen Schadensersatzanspruchs als vom materiell-rechtlichen Haftungsrecht vorgesehen würde demnach deutlich über das hinausgehen, was der Unionsgesetzgeber als geeignet und angemessen erachtet hat, um das Ziel des freien Verkehrs von Kraftfahrzeugen und Personen zu erreichen. Angesichts dieser klaren Rechtslage erscheint mir eine Auslegung der Richtlinien, mit Hilfe deren einer eventuellen Kürzung bzw. eines Ausschlusses des Direktanspruchs gegen die Versicherungsgesellschaft entgegengetreten werden könnte, ausgeschlossen. Zwar hat der Gerichtshof in den Urteilen Candolin u. a. und Farrell zu Recht betont, dass „[d]ie nationalen Vorschriften über den Ersatz von Verkehrsunfallschäden … die genannten Artikel nicht ihrer praktischen Wirksamkeit berauben [dürfen]“(49). Allerdings könnte diese Aussage nicht zuletzt wegen ihrer allgemeinen Formulierung bei einer oberflächlichen Lektüre leicht zu Missverständnissen verleiten. Erst bei verständiger Auslegung dieses Satzes, unter Berücksichtigung der jeweils zu würdigenden Sach- und Rechtslage, wird nämlich deutlich, dass der Gerichtshof sich bei seinen Überlegungen ausschließlich auf solche nationalen gesetzlichen Bestimmungen bezog, die das Deckungsverhältnis zwischen Versicherungsgesellschaft und Versicherungsnehmer regelten, und zwar dergestalt, dass Ansprüche des Geschädigten gegen die Versicherungsgesellschaft in bestimmten Fallkonstellationen gemindert oder gar ausgeschlossen wurden(50). Die Ausführungen des Gerichtshofs bezogen sich somit allein auf das Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsrecht, das auch Regelungsgegenstand der Richtlinien ist, jedoch keineswegs auf das nationale Haftungsrecht. Die Aufforderung der italienischen Regierung, bei der Untersuchung der vorliegenden Rechtssache beide Rechtsmaterien klar auseinanderzuhalten(51), ist insofern gerechtfertigt.

71.      Würde man den oben angeführten Satz aus den Urteilen Candolin u. a. und Farrell weit verstehen, und zwar dahin gehend, dass auch die nationalen Haftungsregelungen miterfasst sind, wäre damit ein erheblicher Eingriff in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten verbunden. Denn damit stünde jede nationale Haftungsregelung, die den Umfang des zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs eines Geschädigten bestimmt, automatisch unter dem Vorbehalt der Vereinbarkeit mit den Kriterien der Candolin-Rechtsprechung(52), was das Gebot der Rechtssicherheit untergraben würde(53), zumal Haftpflichtversicherer außerstande wären, im Voraus festzustellen, für welche Schäden sie in welchem Umfang aufkommen müssten. Ein solches Ergebnis wäre aus rechtspraktischer Perspektive nicht hinnehmbar.

72.      Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die Akzessorietät des Direktanspruchs des Geschädigten gegen die Haftpflichtversicherungsgesellschaft zum zivilrechtlichen Haftungsanspruch einer Trennung des Direktanspruchs entgegensteht, so dass Letzterer weder unmittelbar noch infolge einer an Sinn und Zweck der Richtlinie orientierten Auslegung in den Anwendungsbereich der Richtlinien fällt.

iii) Zwischenergebnis

73.      Aus alledem ergibt sich, dass die streitgegenständliche nationale Regelung nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinien fällt. Infolgedessen stehen die Richtlinien ihr auch nicht entgegen.

b)       Übertragbarkeit der Candolin-Rechtsprechung

74.      Die vorstehende Untersuchung hat ergeben, dass die Sach- und Rechtslage in der vorliegenden Rechtssache sich in wesentlichen Punkten von der in den Rechtssachen Candolin u. a. und Farrell unterscheidet. Diese Urteile betrafen einen Bereich, der noch dem Anwendungsbereich und damit der harmonisierenden Wirkung der Richtlinien, nämlich für das Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsrecht, unterstand. Dies ist hier nicht der Fall, da das zivilrechtliche Haftungsrecht ja gerade ausdrücklich ausgenommen ist. Eine Auslegung der Richtlinien, mit Hilfe deren einer eventuellen Kürzung bzw. eines Ausschlusses des Direktanspruchs gegen die Versicherungsgesellschaft entgegengetreten werden könnte, kommt aus den bereits angeführten Gründen auch nicht in Betracht. Eine Übertragbarkeit dieser Rechtsprechung auf die vorliegende Rechtssache scheidet infolgedessen aus.

C –    Schlussfolgerung

75.      Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Erste, die Zweite und die Dritte Richtlinie einer nationalen zivilrechtlichen Regelung wie der des Art. 506 des portugiesischen Código Civil nicht entgegenstehen, die in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens dazu führt, dass der Anspruch des Geschädigten aus Gefährdungshaftung bei Nichtermittelbarkeit des Unfallverursachungsbeitrags pauschal um die Hälfte gekürzt wird.

VII – Ergebnis

76.      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die vom Tribunal da Relação Porto gestellte Vorlagefrage wie folgt zu antworten:

Die Erste Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht, die Zweite Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Dritte Richtlinie 90/232/EWG des Rates vom 14. Mai 1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung stehen einer nationalen zivilrechtlichen Regelung nicht entgegen, die in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der es zu einem Zusammenstoß von Fahrzeugen gekommen ist, wobei keinem der Fahrer Verschulden nachzuweisen ist und einem der Fahrer durch diesen Unfall körperliche und materielle Schäden entstanden sind, dazu führt, dass der Anspruch des Geschädigten aus Gefährdungshaftung pauschal um die Hälfte gekürzt wird.


1 – Originalsprache der Schlussanträge: Deutsch


      Verfahrenssprache: Portugiesisch


2 – Das Vorabentscheidungsverfahren ist gemäß dem Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 13. Dezember 2007 (ABl. C 306, S. 1) nunmehr in Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union geregelt.


3 – Erste Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. L 103, S. 1, im Folgenden: Erste Richtlinie).


4 – Zweite Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. L 8, S. 17, im Folgenden: Zweite Richtlinie).


5 – Dritte Richtlinie 90/232/EWG des Rates vom 14. Mai 1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. L 129, S. 33, im Folgenden: Dritte Richtlinie).


6 – In Anlehnung an die im EUV und im AEUV verwendeten Bezeichnungen wird der Begriff „Unionsrecht“ als Gesamtbegriff für Gemeinschaftsrecht und Unionsrecht verwendet. Soweit es im Folgenden auf einzelne primärrechtliche Bestimmungen ankommt, werden die ratione temporis geltenden Vorschriften angeführt.


7 – ABl. L 263, S. 11.


8 – Urteil vom 30. Juni 2005 (C‑537/03, Slg. 2005, I–5745).


9 – Urteil vom 14. September 2000, Mendes Ferreira und Delgado Correia Ferreira (C‑348/98, Slg. 2000, I‑5711, Randnr. 29).


10 – Oben in Fn. 8 angeführt.


11 – Urteil vom 19. April 2007 (C‑356/05, Slg. 2007, I‑3067).


12 – Urteile vom 22. März 1990, Triveneta u. a./Kommission (C‑347/87, Slg. 1990, I‑1083, Randnr. 16), und vom 21. Oktober 2010, Padawan (C‑467/08, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 61).


13 – Vgl. zum arbeitsteiligen Verhältnis zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten im Zusammenhang mit der Auslegung und der Anwendung des Unionsrechts meine Schlussanträge vom 6. Juli 2010 in der Rechtssache Pénzügyi Lízing (C‑137/08, Urteil vom 9. November 2010, Slg. 2010, I-0000)..


14 – Vgl. Urteile vom 7. Januar 2003, BIAO (C‑306/99, Slg. 2003, I‑1, Randnr. 89), vom 14. Dezember 2006, Confederación Española de Empresarios de Estaciones de Servicio (C‑217/05, Slg. 2006, I‑11987, Randnr. 17), und vom 22. Dezember 2008, Les Vergers du Vieux Tauves (C‑48/07, Slg. 2008, I‑10627, Randnr. 17).


15 – Vgl. Reichert-Facilidades, F., „Europäisches Versicherungsvertragsrecht?“, Festschrift für Ulrich Drobnig zum siebzigsten Geburtstag (hrsg. von Jürgen Basedow/Klaus J. Hopt/Hein Kötz), Tübingen 1998, S. 127.


16 – Vgl. Lemor, U., Kommentar zur Kraftfahrtversicherung (hrsg. von Hans Feyock/Peter Jacobsen/Ulf Lemor), 3. Aufl., München 2009, 1. Teil, Randnr. 5.


17 – Richtlinie 2000/26/EG vom 16. Mai 2000 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG des Rates (ABl. L 181, S. 65).


18 – Wie Schauer, M., „Bemerkungen zur Umsetzung der 4. Kfz-Haftpflicht-Richtlinie im österreichischen Recht“, Recht und Risiko – Festschrift für Helmut Kollhosser, Band I (Versicherungsrecht), Karlsruhe 2004, S. 293, zutreffend erklärt, bestand das Ziel der Vierten Richtlinie darin, dem Geschädigten die Chance zu geben, die Schadensregulierung in seinem Wohnsitzstaat durchführen zu können. Die Vierte Richtlinie führte dadurch eine beträchtliche Verbesserung des Geschädigtenschutzes bei Auslandsunfällen herbei.


19 – Richtlinie 2005/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 zur Änderung der Richtlinien 72/166/EWG, 84/5/EWG, 88/357/EWG und 90/232/EWG des Rates sowie der Richtlinie 2000/26/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. L 149, S. 14).


20 – Vgl. Urteile Candolin u. a. (oben in Fn. 8 angeführt, Randnr. 18) und vom 28. März 1996, Ruiz Bernáldez (C‑129/94, Slg. 1996, I‑1829, Randnr. 20).


21 – Urteile Candolin u. a. (oben in Fn. 8 angeführt, Randnr. 24) und Farrell (oben in Fn. 11 angeführt, Randnr. 33). Vgl. bereits Urteil Mendes Ferreira und Delgado Correia Ferreira (oben in Fn. 9 angeführt, Randnrn. 23 und 29). Vgl. ferner zur Auslegung der Ersten, der Zweiten und der Dritten Richtlinie mit Wirkung für die EFTA/EWR-Staaten die (dem Homogenitätsgebot im EWR-Recht entsprechende) Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs, u. a. Urteile vom 14. Juni 2001, Helgadóttir (E-7/00, Randnr. 30), und vom 20. Juni 2008, Nguyen (E-8/07, Randnr. 24). Die Richtlinien sind gemäß Nrn. 8, 9 und 19 in Anhang IX zum EWR-Abkommen auch für die EFTA/EWR-Staaten anwendbar.


22 – Urteil Farrell (oben in Fn. 11 angeführt, Randnr. 32).


23 – Urteil Candolin u. a. (oben in Fn. 8 angeführt, Randnr. 27).


24 – Ebd. (Randnr. 28) und Urteil Farrell (oben in Fn. 11 angeführt, Randnr. 34). Diese Rechtsprechung lässt sich auf eine ähnliche Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs zurückverfolgen, und zwar auf das Urteil vom 17. November 1999, Storebrand und Finanger (E-1/99, Report of EFTA Court 1999, 119, Randnr. 29), auf die Generalanwalt Geelhoed wohl seine Überlegungen in den Schlussanträgen vom 10. März 2005 in der Rechtssache Candolin u. a. gestützt hat.


25 – Urteile Candolin u. a. (oben in Fn. 8 angeführt, Randnr. 29) und Farrell (oben in Fn. 11 angeführt, Randnr. 35).


26 – Urteile Candolin u. a. (oben in Fn. 8 angeführt, Randnr. 30) und Farrell (oben in Fn. 11 angeführt, Randnr. 35).


27 – Vgl. dazu Baumann, H., „Zur Überwindung des Trennungsprinzips im System von Haftpflicht und Haftpflichtversicherung“, Festgabe Zivilrechtslehrer 1934/1935 (hrsg. von Walther Hadding), Berlin 1999, S. 13.


28 – Vgl. Looschelders, D., Münchener Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz (hrsg. von Theo Langheid/Manfred Wandt), 1. Aufl. 2010, Band 1, Kapitel 1, Randnr. 117, von Bar, C., „Das Trennungsprinzip und die Geschichte des Wandels der Haftpflichtversicherung“, Archiv für die civilistische Praxis, 1981, Nr. 181, S. 326.


29 – Vgl. Randnr. 10 des Schriftsatzes der deutschen Regierung.


30 – Vgl. Randnr. 13 des Schriftsatzes der italienischen Regierung.


31 – Siehe Nr. 50 dieser Schlussanträge.


32 – Als weiteres Indiz für diese Auffassung ist in diesem Zusammenhang der Umstand zu bewerten, dass der 13. Erwägungsgrund der (hier nicht anwendbaren) Vierten Richtlinie ausdrücklich besagt, dass „das im konkreten Fall anzuwendende materielle Recht [durch die Richtlinienbestimmungen] nicht geändert [wird]“. Schauer, M., a. a. O. (Fn. 18), S. 294, sieht darin einen Anhaltspunkt dafür, dass die Vierte Richtlinie nichts am anwendbaren Haftpflichtrecht ändere.


33 – Oben in Fn. 9 angeführt.


34 – Ebd., Randnr. 28.


35 – In der Rechtssache Candolin u. a. standen die Regelungen des finnischen Gesetzes über Kraftfahrzeugversicherung (liikennevakuutuslaki) zur Diskussion. In der Rechtssache Farrell wiederum ging es um Regelungen betreffend die Pflichtversicherung, die im irischen Straßenverkehrsgesetz (Road Traffic Act) und in der Straßenverkehrsordnung (Road Traffic Regulations) kodifiziert waren.


36 – In der Rechtssache Candolin u. a. blieb der beklagte Fahrer (Herr Ruokoranta) des Fahrzeugs ungeachtet der Tatsache, dass die Mitinsassen dessen Trunkenheit hätten bemerken müssen, gemäß den einschlägigen nationalen Bestimmungen weiterhin schadensersatzpflichtig. Aus Randnr. 12 des Urteils geht nämlich hervor, dass der Beklagte vom Gericht des ersten Rechtszugs zur Zahlung von Schadensersatz an die Kläger verurteilt wurde. Den Nrn. 20 und 23 der Schlussanträge von Generalanwalt Geelhoed in jener Rechtssache ist außerdem zu entnehmen, dass die Entschädigungen, die er aufgrund des verursachten Schadens zu zahlen hatte, nicht gemindert wurden.


37 – Aus Randnr. 1.4 des Vorlagebeschlusses in der Rechtssache Farrell sowie aus Nr. 14 der Schlussanträge von Generalanwältin Stix-Hackl vom 5. Oktober 2006 geht hervor, dass die Klägerin mit ihrer Schadensersatzklage obsiegte. Lediglich die Schadensbewertung wurde bis zur mündlichen Verhandlung vertagt.


38 – Vgl. Jansen, N., Die Struktur des Haftungsrechts, Tübingen 2003, S. 115.


39 – Vgl. Basedow, J./Fock, T., in: Europäisches Versicherungsvertragsrecht (hrsg. von Jürgen Basedow/Till Fock), Tübingen 2002, Band I, S. 54, die den Anspruch auf Geldleistung gegen die Versicherung vom Eintritt des Schadensfalls abhängig machen.


40 – Vgl. Basedow, J./Fock, T., a. a. O. (Fn. 39), S. 108 f. Vgl. ebenfalls in Europäisches Versicherungsvertragsrecht (hrsg. von Jürgen Basedow/Till Fock), Tübingen 2002, z. B. zu Spanien Schlenker, S., Band II, S. 1098, zu Italien D’Usseaux, F. B., Band I, S. 727 f., zu Griechenland Papathoma-Baetge, A., Band I, S. 636, und zu Österreich Lemmel, U., Band II, S. 1098.


41 – Vgl. Basedow, J./Fock, T., a. a. O. (Fn. 39), S. 108 f.


42 – Vgl. Jansen, N., a. a. O. (Fn. 38), S. 61, 112, 115, der darauf hinweist, dass Schadensersatznormen darauf beruhen, dass ein für den Schaden Verantwortlicher diesen auszugleichen hat. Schiemann, G., Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, Buch 2, Recht der Schuldverhältnisse, §§ 249-254 (Schadensersatzrecht), Vorbemerkung zu §§ 249 ff., erklärt, dass es die allgemeine Funktion des Schadensersatzes sei, dem Geschädigten aus Gründen der ausgleichenden Gerechtigkeit ein Surrogat für seinen Verlust zu gewähren. Dieses Surrogat müsse so bemessen sein, dass es möglichst zu einem Zustand hypothetischer Schadensfreiheit führe, dem Geschädigten aber nichts darüber hinaus gewähre.


43 – Der griechische Philosoph Aristoteles hat in seinem Werk Nikomachische Ethik (Buch V) beide Arten von Gerechtigkeit voneinander abgegrenzt und dabei den Gerechtigkeitsbegriff maßgeblich geprägt. Siehe dazu meine Schlussanträge vom 11. Mai 2010, Padawan (Urteil oben in Fn. 12 angeführt, Nr. 74).


44 – Vgl. Jansen, N., a. a. O. (Fn. 38), S. 114, der auf die Verteilung von Haftungslasten unter kollektiven Schadensträgern, also unter Versicherungen und sozialen Sicherheitssystemen, aufmerksam macht. Häufig sei es tatsächlich der Fall, dass an einem Schadensersatzprozess weder der Schädiger noch der Geschädigte beteiligt seien. Stattdessen gehe der Kläger häufig gegen den Haftpflichtversicherer des Schädigers vor. Schadensersatzprozesse und Haftungsnormen scheinen daher nach Ansicht des Autors wirtschaftlich nicht den Ausgleich zwischen einem Schädiger und einem Geschädigten, sondern die Verteilung eines Schadens auf zwei kollektive Schadensträger zum Gegenstand zu haben. Basedow, J./Fock, T., a. a. O. (Fn. 39), S. 6, erklären, dass die Privatversicherung, soweit es um die Übernahme von Risiken im Rahmen eines Versicherungsverhältnisses gehe, teilweise in Konkurrenz zu den in den Mitgliedstaaten der Union häufig sehr stark ausgebauten sozialen Sicherungssystemen trete. Die gegenseitige Nähe zeige sich insbesondere an den auch im privaten Versicherungswesen in vielen Rechtsordnungen bekannten Versicherungspflichten.


45 – Vgl. Mansel, H.-P., Direktansprüche gegen Haftpflichtversicherer, Heidelberg 1986; Lüttringhaus, J. D., „Der Direktanspruch im vergemeinschafteten IPR und IZVR“, Versicherungsrecht, 4/2010, S. 183, 186.


46 – Vgl. Randnr. 13 des Schriftsatzes der österreichischen Regierung.


47 – Vgl. Randnr. 20 des Schriftsatzes der deutschen Regierung.


48 – Siehe Nr. 57 dieser Schlussanträge.


49 – Siehe Nr. 53 dieser Schlussanträge.


50 – Siehe Nr. 61 dieser Schlussanträge.


51 – Vgl. Randnr. 11 des Schriftsatzes der italienischen Regierung.


52 – Siehe Nr. 53 dieser Schlussanträge.


53 – Origer, P.-C., Assurance et Responsabilité: bulletin de l’AIDA, Association internationale de droit des assurances, Section Luxembourg, 2006, Nr. 9, S. 167, kritisiert beispielsweise, dass der Gerichtshof im Urteil Candolin u. a. nicht klargestellt habe, was unter einer „verhältnismäßigen Kürzung der Entschädigung“ zu verstehen sei, so dass die Rechtsunsicherheit nicht beseitigt worden sei.

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