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Document 62007CC0348

Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro vom 19. November 2008.
Turgay Semen gegen Deutsche Tamoil GmbH.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Landgericht Hamburg - Deutschland.
Richtlinie 86/653/EWG - Art. 17 - Selbständige Handelsvertreter -Beendigung des Vertragsverhältnisses - Ausgleichsanspruch - Bestimmung der Höhe des Ausgleichs.
Rechtssache C-348/07.

European Court Reports 2009 I-02341

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2008:635

Schlußanträge des Generalanwalts

Schlußanträge des Generalanwalts

1. Dieses Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Hamburg betrifft die Umsetzung von Art. 17 der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter(2) (im Folgenden: Richtlinie). Das Landgericht ersucht um die Auslegung von Art. 17, inbesondere die Feststellung, ob und unter welchen Voraussetzungen der Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters auf die Provisionsverluste begrenzt werden kann. Das nationale Gericht benötigt eine solche Auslegung, um zu beurteilen, ob die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften in ihrer Auslegung durch die deutschen Gerichte gegen den in der Richtlinie gewählten Ansatz für die Berechnung des Ausgleichs verstoßen, den ein Handelsvertreter infolge der Beendigung des Vertragsverhältnisses mit dem Unternehmer beanspruchen kann.

I – Sachverhalt, rechtlicher Rahmen, Fragen und Vorfragen.

2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den Herr Turgay Semen (im Folgenden: Kläger) angestrengt hat, der als Handelsvertreter für die Deutsche Tamoil GmbH (im Folgenden: Beklagte) tätig war. Vom 1. November 2001 bis zum 31. Dezember 2005 betrieb der Kläger als Handelsvertreter eine Tankstelle der Beklagten. Die Beklagte gehört zum libyschen Oilinvest‑Konzern, der zusätzlich zu seinem weiten Tankstellennetz in Deutschland weltweit im Geschäft der Erdölsuche und ‑raffinierung tätig ist.

3. Während der Laufzeit seines Vertragsverhältnisses mit der Beklagten erhielt der Kläger Provision auf den von ihm verkauften Kraftstoff. Die Höhe der vom Kläger verdienten Provision hing davon ab, ob die jeweiligen Kunden Kraftstoff über Karten kauften, die sie von der Beklagten erhielten und die Preisnachlässe vorsahen, oder ob sie die üblichen Zahlungsweisen verwendeten.

4. Nach Art. 17 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten zwischen zwei Systemen für die Entschädigung von Handelsvertretern bei Beendigung des Vertragsverhältnisses mit dem Unternehmer wählen. Die Entschädigung kann in der Form des Schadensersatzes (Art. 17 Abs. 3) oder des Ausgleichs (Art. 17 Abs. 2) erfolgen.

5. Deutschland hat das in Art. 17 Abs. 2 beschriebene Ausgleichssystem gewählt. Nach diesem Artikel sowie der einschlägigen deutschen Vorschrift (§ 89b des Handelsgesetzbuchs – HGB) haben Handelsvertreter wie der Kläger unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf einen Ausgleich gegen den Unternehmer infolge der Beendigung des zwischen ihnen bestehenden Vertragsverhältnisses. Die Parteien streiten über die Höhe des Ausgleichsanspruchs und insbesondere darüber, ob die nach deutschem Recht vorgesehene Methode zur Berechnung des Ausgleichs mit der Richtlinie vereinbar ist.

6. Art. 17 Abs. 2 regelt sowohl, unter welchen Voraussetzungen ein Ausgleich zu gewähren ist, als auch, welche Methode bei der Berechnung eines solchen Ausgleichs zu verwenden ist:

„a) Der Handelsvertreter hat Anspruch auf einen Ausgleich, wenn und soweit

– er für den Unternehmer neue Kunden geworben oder die Geschäftsverbindungen mit vorhandenen Kunden wesentlich erweitert hat und der Unternehmer aus den Geschäften mit diesen Kunden noch erhebliche Vorteile zieht und

– die Zahlung eines solchen Ausgleichs unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der dem Handelsvertreter aus Geschäften mit diesen Kunden entgehenden Provisionen, der Billigkeit entspricht. Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass zu diesen Umständen auch die Anwendung oder Nichtanwendung einer Wettbewerbsabrede im Sinne des Artikels 20 gehört.

b) Der Ausgleich darf einen Betrag nicht überschreiten, der einem jährlichen Ausgleich entspricht, der aus dem Jahresdurchschnittsbetrag der Vergütungen, die der Handelsvertreter während der letzten fünf Jahre erhalten hat, errechnet wird; ist der Vertrag vor weniger als fünf Jahren geschlossen worden, wird der Ausgleich nach dem Durchschnittsbetrag des entsprechenden Zeitraums ermittelt.

c) Die Gewährung dieses Ausgleichs schließt nicht das Recht des Handelsvertreters aus, Schadensersatzansprüche geltend zu machen.“

7. Art. 89b Abs. 1 HGB, der tatsächlich das der Richtlinie zugrunde gelegte Modell für die Berechnung des Ausgleichs abgab(3), folgt weitgehend dem Wortlaut von Art. 17 Abs. 2:

„Der Handelsvertreter kann von dem Unternehmer nach Beendigung des Vertragsverhältnisses einen angemessenen Ausgleich verlangen, wenn und soweit

1. der Unternehmer aus der Geschäftsverbindung mit neuen Kunden, die der Handelsvertreter geworben hat, auch nach Beendigung des Vertragsverhältnisses erhebliche Vorteile hat,

2. der Handelsvertreter infolge der Beendigung des Vertragsverhältnisses Ansprüche auf Provision verliert, die er bei Fortsetzung desselben aus bereits abgeschlossenen oder künftig zustande kommenden Geschäften mit den von ihm geworbenen Kunden hätte, und

3. die Zahlung eines Ausgleichs unter Berücksichtigung aller Umstände der Billigkeit entspricht.

Der Werbung eines neuen Kunden steht es gleich, wenn der Handelsvertreter die Geschäftsverbindung mit einem Kunden so wesentlich erweitert hat, dass dies wirtschaftlich der Werbung eines neuen Kunden entspricht.“

8. Das vorlegende Gericht stellt in seinem Ersuchen fest, dass nach der Rechtsprechung der deutschen Gerichte zu § 89b HGB die darin genannten Kriterien (nämlich das Verbleiben erheblicher Vorteile beim Unternehmer, der Provisionsverlust für den Handelsvertreter und die Billigkeit jedweder Ausgleichszahlung) als kumulativ und einander begrenzend zu verstehen seien. Das Landgericht Hamburg hat Zweifel, ob die mit diesem Ansatz verbundene Begrenzung des zu gewährenden Ausgleichs mit Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie vereinbar ist, und stellt die beiden folgenden Fragen:

1. Ist es mit Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie vereinbar, dass der Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters durch seine Provisionsverluste infolge der Beendigung des Vertragsverhältnisses begrenzt wird, auch wenn die dem Unternehmer verbleibenden Vorteile höher zu bewerten sind?

2. Gehören hierzu bei einem Konzern, dem der Unternehmer angehört, auch die den Konzerngesellschaften zufließenden Vorteile?

9. Bevor ich auf diese beiden Fragen eingehe, muss ich mich mit einer Vorfrage befassen. In der mündlichen Verhandlung ist im Namen der Beklagten vorgetragen worden, dass aufgrund von Änderungen der deutschen Rechtsprechung, die seit der Vorlage eingetreten seien, das Verfahren vor dem Gerichtshof gegenstandslos geworden sei. Insbesondere hätten Änderungen der nationalen Rechtsprechung zur Definition des „Stammkunden“ in fast allen Fällen zur Folge, dass der errechnete Provisionsverlust den in Art. 17 Abs. 2 Buchst. b festgelegten Höchstbetrag übersteige, so dass sich die Frage, ob auch andere dem Unternehmer zufließende Vorteile berücksichtigt werden könnten, erübrige.

10. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass es nicht zu seinen Aufgaben gemäß Art. 234 EG gehört, Gutachten abzugeben(4) oder hypothetische Fragen zu beantworten(5) . Darüber hinaus hat er es in der Rechtssache Zabala u. a.(6) abgelehnt, über eine Vorlage zu entscheiden, bei der sich das Verfahren vor dem nationalen Gericht dadurch, dass eine Partei die Ansprüche der anderen anerkannt hatte, in der Hauptsache erledigt hatte, und zur Begründung ausgeführt, dass eine Entscheidung für die tatsächliche Entscheidung des Rechtsstreits nicht länger erforderlich sei(7) .

11. Nichtsdestoweniger hat der Gerichtshof wiederholt betont, dass es „allein Sache der nationalen Gerichte ist, bei denen der Rechtsstreit anhängig ist …, unter Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass ihres Urteils als auch die Erheblichkeit der von ihnen dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen“(8), und dass das „Ersuchen eines nationalen Gerichts … nur zurückgewiesen werden [kann], wenn offensichtlich kein Zusammenhang zwischen der erbetenen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens besteht“(9) .

12. In Änderungen des nationalen Rechts nach Einreichung eines Vorabentscheidungsersuchens ist kein Grund für eine Zurückweisung des Ersuchens gesehen worden; in der Rechtssache CIA Security International(10) hat der Gerichtshof betont, dass sich ein Vorabentscheidungsersuchen nicht deshalb erledigt hat, weil das nationale Recht, das Gegenstand der Vorlage ist, aufgehoben und durch andere nationale Rechtsvorschriften ersetzt worden ist. Noch weniger spricht für die Erledigung in einem Fall wie hier, in dem die möglicherweise eingetretenen Änderungen die Rechtsprechung der nationalen Gerichte betreffen, deren Wirkung bislang nicht völlig sicher ist. Dementsprechend sollte meines Erachtens der Gerichtshof eine Entscheidung über die Vorlagefragen nicht mit der Begründung ablehnen, dass es Sache des nationalen Gerichts sei, die Auswirkungen der neuen nationalen Rechtsprechung auf die Erheblichkeit der Antworten des Gerichtshofs für die endgültige Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu prüfen.

II – Würdigung

Zur ersten Frage

13. Nach dem Ansatz des deutschen Rechts in seiner Auslegung durch die deutschen Gerichte ist der Ausgleichsanspruch eines Handelsvertreters aufgrund einer abschließenden Auslegung des Begriffs der Billigkeit, wonach jeder Ausgleich unbillig ist, soweit er den Provisionsverlust des Handelsvertreters übersteigt, begrenzt. Um zu beurteilen, ob dieser Ansatz mit der Richtlinie vereinbar ist, sind zwei potenziell konkurrierende Grundsätze in Ausgleich zu bringen, die in früheren Fällen zu Art. 17 herausgearbeitet worden sind.

14. Auf der einen Seite hat der Gerichtshof in den Rechtssachen Ingmar(11) und Honyvem(12) festgestellt, dass Art. 17 zwingenden Charakter hat. Der Gerichtshof hat außerdem die Bedeutung von Art. 17 als Mindestschutzstandard für Handelsvertreter unterstrichen und betont, dass nationale Rechtsvorschriften keine Regelungen einführen dürfen, die ein niedrigeres Niveau des Ausgleichs für Handelsvertreter festlegen, als es Art. 17 vorsieht(13) .

15. Auf der anderen Seite hat der Gerichtshof sowohl im Urteil Ingmar als auch im Urteil Honyvem entschieden, dass Art. 17 „keine detaillierten Angaben zur Methode der Berechnung des Ausgleichs wegen Beendigung des Vertragsverhältnisses enthält“(14) und dass innerhalb des durch Art. 17 festgelegten Rahmens „die Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum bei der Wahl der Methoden zur Berechnung des … Ausgleichs … haben“(15) . Dieser Gestaltungsspielraum kann nach Ansicht des Gerichtshofs „insbesondere nach Maßgabe des Kriteriums der Billigkeit“(16) angewandt werden.

16. Obwohl mit Art. 17 ein Mindestschutzniveau für Handelsvertreter festgelegt werden soll, sieht die Richtlinie also offenbar vor, dass der Umfang dieses Schutzes von Staat zu Staat variieren kann, je nachdem, wie die einzelnen Mitgliedstaaten den Begriff der Billigkeit in diesem Zusammenhang auslegen. Nichstdestoweniger kann dieser Gestaltungsspielraum nicht unbegrenzt sein, weil dies den grundlegenden Zielen der Richtlinie zuwiderliefe, nämlich der Harmonisierung der Praktiken der Mitgliedstaaten in Bezug auf Handelsvertreter und der Festlegung eines Mindestschutzniveaus für diese(17) .

17. Darüber hinaus heißt es in Art. 17 wörtlich: „Der Handelsvertreter hat Anspruch auf einen Ausgleich, wenn und soweit“ bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind (Hervorhebung nur hier). Die Verwendung der Wortfolge „hat Anspruch“ und die Entscheidungen des Gerichtshofs sowohl in der Rechtssache Ingmar als auch in der Rechtssache Honyvem unterstreichen allesamt den zwingenden Charakter der Regelung und bedeuten, dass die Mitgliedstaaten keine Maßnahmen erlassen dürfen, nach denen einem Handelsvertreter ein Ausgleich versagt würde, obwohl die in diesem Artikel genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

18. Wie ich in der Rechtssache Honyvem dargelegt habe, sind nämlich in Art. 17 Abs. 2 „nicht nur die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Ausgleichs … festgelegt …, sondern auch die für die Berechnung dieses Ausgleichs erforderlichen Gesichtspunkte“(18) . Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Umsetzung ihrer Verpflichtungen aus der Richtlinie müssen deshalb sowohl die betreffenden Voraussetzungen für die Zuerkennung beachten als auch sich an die Aufzählung der Gesichtspunkte halten, die bei der Berechnung des Ausgleichs zu berücksichtigen sind.

19. Demnach ist klar, dass der den Mitgliedstaaten eingeräumte Gestaltungsspielraum innerhalb der Grenzen gilt, die durch die mit Art. 17 Abs. 2 eingeführte Regelung gezogen werden und über die sich die Mitgliedstaaten nicht hinwegsetzen dürfen.

20. Wo also liegen diese zwingenden, durch die mit Art. 17 Abs. 2 eingeführte Regelung auferlegten Grenzen? Im Urteil Honyvem hat der Gerichtshof entschieden, dass eine italienische Regelung, nach der sich die Höhe des Ausgleichs ausschließlich in festen Prozentsätzen der in den vorhergehenden Jahren verdienten Provisionen bemaß, gegen die Richtlinie verstieß, weil Handelsvertreter, die nach einem anderen, auf der Betrachtung der dem Unternehmer zufließenden Vorteile beruhenden Ansatz besser gestellt gewesen wären, danach keinen höheren Ausgleich als diese festen Prozentsätze erhalten konnten(19) . Im Licht dieser Entscheidung und des Wortlauts von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich ist offensichtlich, dass ein verdienstbezogener Ansatz, der die Höhe des Ausgleichsanspruchs an die Vorteile knüpft, die der Unternehmer nach Beendigung des Vertragsverhältnisses aus der Arbeit des Handelsvertreters zieht, ein solches zwingendes Element ist.

21. Aus dem Wortlaut der Richtlinie geht außerdem hervor, dass bei der Ermittlung der Höhe des Ausgleichs der Gedanke der Billigkeit beachtet werden muss und dass dabei die Provisionsverluste des Handelsvertreters infolge der Beendigung des Vertragsverhältnisses mit dem Unternehmer zu berücksichtigen sind.

22. Die Parteien streiten darüber, ob der Billigkeitsgedanke sowohl zur Erhöhung als auch zur Herabsetzung des dem Handelsvertreter zustehenden Ausgleichsanspruchs führen kann. Nach Ansicht des Klägers richtet sich die Höhe des Ausgleichs vorrangig nach den vom Unternehmer gezogenen Vorteilen und ist der Provisionsverlust nur als ein Element der Billigkeitsprüfung heranzuziehen, das eine Erhöhung oder eine Herabsetzung des Ausgleichs bewirkt. Die italienische Regierung vertritt ebenfalls die Auffassung, dass der Billigkeitsgedanke sowohl als Untergrenze wirke, die den Ausgleich erhöhen könne, als auch als Obergrenze, die ihn herabsetzen könne. Die Beklagte ist demgegenüber der Meinung, dass die in Art. 17 Abs. 2 Buchst. a aufgezählten Elemente kumulativ seien und einander begrenzten und dass jedes als Obergrenze wirke, die den Ausgleichsanspruch auf den niedrigsten der drei Beträge begrenze.

23. Meines Erachtens legt die Wendung „wenn und soweit“ nahe, dass der Billigkeitsgedanke als Höchstgrenze für den Ausgleich wirken soll und nicht als ein Faktor, der ihn auch über den Betrag hinaus erhöhen kann, der sich aus der Berechnung der dem Unternehmer zufließenden Vorteile ergibt. Ob der Billigkeitsgedanke insoweit nur als Obergrenze oder sowohl als Unter‑ wie auch als Obergrenze wirkt, ist gleichwohl für die Fragen, mit denen der Gerichtshof im vorliegenden Fall befasst ist, nicht entscheidend. Nach der Richtlinie steht fest, dass der Ausgleich nicht über das hinausgehen kann, was als billig angesehen wird. Die Parteien streiten vor allem darüber, ob der Gestaltungsspielraum, den der Gerichtshof den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Berechnung des Ausgleichs und insbesondere den Billigkeitsgedanken zuerkannt hat, das Recht umfasst, Billigkeit dahin zu definieren, dass sie eine Begrenzung des Ausgleichs auf die Höhe der Provisionsverluste einschließt. Es geht um die Frage nach dem Inhalt des Billigkeitsgedankens, die Methode zur Berechnung einer der Billigkeit entsprechenden Obergrenze sozusagen. Ob der Billigkeitsgedanke auch als Untergrenze wirken kann, berührt diese Frage nicht.

24. Wie also passt der deutsche Ansatz, der die Definition der Billigkeit auf diese Art und Weise begrenzt, zu den oben genannten zwingenden Elementen der Richtlinie? Wie bereits festgestellt, hat das HGB in seiner Auslegung durch die deutschen Gerichte jeglichen Ausgleich, der über den Provisionsverlust des Handelsvertreters hinausgeht, als unbillig angesehen. Wie die Beklagte darlegt, beruht dieser Ansatz auf dem Gedanken, dass ein Handelsvertreter durch den Ausgleich nicht besser gestellt werden soll, als er es bei Fortsetzung des Vertragsverhältnisses gewesen wäre. Der Kläger und die italienische Regierung sind der Ansicht, dass dieser Ansatz dem Handelsvertreter einen Anspruch nehme, der ihm durch die Richtlinie eingeräumt werde, nämlich einen Anspruch auf einen Ausgleich, der unter allen Umständen und nicht nur im Licht der Provisionsverluste der Billigkeit entspreche. Darüber hinaus darf die Anwendung des Billigkeitsgedankens selbstverständlich nicht dazu führen, dass dem in der Richtlinie verankerten und insbesondere in Art. 17 Abs. 2 Buchst. a erster Gedankenstrich zum Ausdruck gebrachten verdienstbezogenen Ansatz jegliche praktische Wirksamkeit genommen wird.

25. Soll der Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Bemessung der Billigkeit einen Sinn haben, müssen die Mitgliedstaaten allerdings in der Lage sein, den Billigkeitsgedanken zur Kappung des Ausgleichs entsprechend ihren nationalen Vorstellungen zu der Frage, was billig ist, zu nutzen, sofern sie dabei nicht gegen die oben umrissenen zwingenden Elemente der mit Art. 17 Abs. 2 eingeführten Regelung verstoßen.

26. Den Billigkeitsgedanken dahin auszulegen, dass er einen Ausgleich ausschließt, der über die Provisionsverluste hinausgeht, verstößt ganz offensichtlich nicht gegen die Verpflichtung, die Höhe der dem Handelsvertreter entgangenen Provisionen zu berücksichtigen. Die Richtlinie lässt auch keinen Zweifel daran, dass bei der Bemessung der Billigkeit alle Umstände zu berücksichtigen sind. Mit der Begrenzung des Ausgleichs auf die Höhe des Provisionsverlusts wird jedoch lediglich ein Urteil in Bezug auf das relative Gewicht verschiedener Umstände zum Ausdruck gebracht und keine Entscheidung, die zu berücksichtigenden Umstände zu ignorieren; sie ist grundsätzlich nicht als Verstoß gegen die Richtlinie anzusehen.

27. Ebenso wenig wird durch einen solchen Ansatz für sich genommen die verdienstbezogene Voraussetzung, dass der Ausgleich mit den künftigen Gewinnen des Unternehmers in Verbindung stehen muss, verletzt, sofern der Begriff des Provisionsverlusts so ausgelegt wird, dass derartige Gewinne berücksichtigt werden können. Vielfach werden die Provisionsverluste des Handelsvertreters während der Laufzeit des Vertragsverhältnisses die Gewinne des Unternehmers widerspiegeln. Das muss aber nicht immer der Fall sein. Nach dem Bericht der Kommission über die Anwendung von Art. 17 und wie der Prozessbevollmächtigte der Beklagten in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, werden die Provisionsverluste des Handelsvertreters nach der deutschen Regelung für die Zwecke des Ausgleichs auf der Grundlage der Provisionen berechnet, die er in den letzten zwölf Monaten des Vertragsverhältnisses verdient hat. Die in der Endphase des Vertragsverhältnisses erzielten Provisionen werden in der Regel eine gute Richtschnur für die dem Unternehmer zufließenden Gewinne und die Provisionsverluste des Handelsvertreters nach Beendigung des Vertragsverhältnisses sein. Nach der mit Art. 17 Abs. 2 eingeführten Regelung ist der Ausgleich jedoch im Hinblick auf künftige Gewinne des Unternehmers und Verluste des Handelsvertreters zu berechnen. Dem Wortlaut von Art. 17 Abs. 2 ist eindeutig zu entnehmen, dass diese Ausrichtung an der Zukunft zwingend ist. In der Vergangenheit erzielte Provisionen können immer nur als Indiz für solche künftigen Gewinne und Verluste dienen.

28. Werden der Berechnung in der Vergangenheit verdiente Provisionen zugrunde gelegt, spiegelt dies unter bestimmten Umständen nicht die tatsächlich erzielten künftigen Gewinne und Verluste wider, z. B. wenn der Handelsvertreter eine größere und erfolgreiche Marketingkampagne durchführt, kurz bevor das Vertragsverhältnis endet, oder wenn der Preis des im Namen des Unternehmers verkauften Erzeugnisses kurz vor oder kurz nach Beendigung des Vertragsverhältnisses stark steigt.(20) Unter solchen Umständen muss eine Berechnung des Ausgleichs, der die Endphase des Vertragsverhältnisses zugrunde gelegt wird, dergestalt angepasst werden, dass sie die tatsächlich erzielten künftigen Gewinne und Verluste widerspiegelt. Die Definition der „Provisionsverluste“ muss deshalb so flexibel sein, dass gewährleistet ist, dass im Ausgleichsanspruch die künftigen Gewinne und Verluste des Unternehmers bzw. Handelsvertreters tatsächlich zum Ausdruck kommen, und dass dementsprechend berücksichtigt werden kann, wenn nach Beendigung des Vertragsverhältnisses andere Umstände herrschen als vorher. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu entscheiden, ob in Anbetracht der Tatsache, dass die Berechnung des Ausgleichs zwingend zukunftsgerichtet sein muss, der deutsche Ansatz insbesondere in Bezug auf die Definition der „Provisionsverluste“ insoweit flexibel genug ist.

Zur zweiten Frage

29. Bei der zweiten Frage geht es darum, ob im Fall eines konzernangehörigen Unternehmers auch die den Konzerngesellschaften zufließenden Vorteile zu den Vorteilen gehören, die bei der Berechnung des Ausgleichs nach Art. 17 der Richtlinie zu berücksichtigen sind.

30. Nach Auffassung des Klägers liegen die Vorteile des Unternehmers auch darin, dass seine libysche Muttergesellschaft Gewinne von ihrer Tochtergesellschaft, dem Unternehmer, beziehe, die sie verwende, um den Umsatz zu steigern, Steuern zu sparen und ihre Gewinne zu erhöhen.

31. Die deutsche Regierung trägt vor, dass weder mit § 89b HGB noch mit Art. 17 der Richtlinie die Frage nach der Beziehung zwischen Mutter‑ und Tochtergesellschaften geregelt werden solle. Solche Fragen könnten bei der Billigkeitsprüfung zum Tragen kommen, aber es sei Sache der nationalen Stellen, in Ausübung ihres Ermessens zu entscheiden, ob und wie die Einkünfte anderer Gesellschaften zu berücksichtigen seien, die zum selben Konzern gehörten wie der Unternehmer.

32. Nach Ansicht der Kommission sind bei der Berechnung der vom Unternehmer gezogenen Vorteile im Sinne von Art. 17 andere Gesellschaften desselben Konzerns grundsätzlich nicht zu berücksichtigen, es sei denn, die vertragliche Verpflichtung des Handelsvertreters habe auch darin bestanden, Geschäftsverbindungen Dritter mit anderen konzernangehörigen Gesellschaften zu begründen oder zu erweitern. Relevant seien bei der Berechnung des Ausgleichs gemäß Art. 17 Abs. 2 Buchst. a die Vorteile durch Umsätze mit Kunden, die der Handelsvertreter geworben habe, oder die sich aus der Erweiterung der Geschäftsverbindung mit vorhandenen Kunden durch den Handelsvertreter ergeben hätten. Daran zeige sich, dass Art. 17 Abs. 2 Buchst. a auf das Vertragsverhältnis abstelle. Da der Ausgleich an diese Vorgänge des Werbens neuer Kunden für den Unternehmer oder der Erweiterung der Geschäftsverbindung mit den bereits vorhandenen Kunden des Unternehmers geknüpft sei, bestehe kein Grund, andere Vorteile als die, die der Unternehmer selbst erlangt habe, zu berücksichtigen, es sei denn, die Verpflichtung des Handelsvertreters habe sich darauf erstreckt, ähnliche Arbeiten für andere Unternehmen auszuführen, die zur Muttergesellschaft des Unternehmers gehörten.

33. Die Beklagte trägt darüber hinaus vor, dass unkontrollierbare und verfehlte Wirkungen zu befürchten wären, wenn der Handelsvertreter Ansprüche auf Beteiligung am Gewinn von Gesellschaften erheben könnte, mit denen er kein Vertragsverhältnis habe, und erklärt, es gebe keinen Grund dafür, warum ein deutscher Tankstellenpächter an den Erlösen einer Muttergesellschaft beteiligt sein sollte, die in Libyen Erdöl fördere.

34. Die italienische Regierung meint, obwohl die Berechnung der Vorteile im Sinne von Art. 17 grundsätzlich auf die vom Unternehmer gezogenen Vorteile begrenzt sein müsse, sprächen infolge des in Art. 4 der Richtlinie aufgestellten Gebots von Treu und Glauben Gründe für die Annahme, dass Methoden verfügbar sein müssten, um die Verletzung dieses Gebots zu verhindern, wenn der Unternehmer versuche, den an den Handelsvertreter zu zahlenden Ausgleich zu begrenzen, indem er Vorteile aus der Tätigkeit des Handelsvertreters auf andere Konzerngesellschaften übertrage. Wie die italienische Regierung jedoch selbst bemerkt, kann dies durch einen Schadensersatzanspruch erreicht werden.

35. Es steht außer Zweifel, dass Art. 17 Abs. 2 in erster Linie auf die Vorteile des Unternehmers zielt, die sich aus Tätigkeiten des Handelsvertreters im Rahmen eines zwischen ihnen bestehenden Vertragsverhältnisses ergeben. Die Richtlinie nimmt ausdrücklich auf die Kunden des Unternehmers und die vom Unternehmer gezogenen Vorteile Bezug. Sie erwähnt keine anderen Vorteile, die berücksichtigt werden können. Dem Gemeinschaftsgesetzgeber hätte es freigestanden, Vorteile einzubeziehen, die anderen, mit dem Unternehmer verbundenen Gesellschaften zufließen, hat dies aber anscheinend nicht getan. Darüber hinaus spricht der vertragliche Ursprung des Ausgleichsanspruchs gegen die Anerkennung von Ausgleichsansprüchen gegenüber Rechtssubjekten, mit denen der Handelsvertreter kein Vertragsverhältnis hatte.

36. Andererseits sind die Mitgliedstaaten bei ihrer Prüfung, ob der zu gewährende Ausgleich der Billigkeit entspricht, zur Berücksichtigung „aller Umstände“ verpflichtet. Mit „Umständen“ können in diesem Fall jedoch nicht alle denkbaren Tatsachen gemeint sein, sondern nur solche Faktoren, die für das Vertragsverhältnis zwischen dem Handelsvertreter und dem Unternehmer von Bedeutung sind. Inwieweit aufgrund des Vertrags zwischen Handelsvertreter und Unternehmer eine Beziehung zwischen dem Handelsvertreter einer Tochtergesellschaft und deren Muttergesellschaft angenommen werden kann, ist eine Frage, die nach nationalem Recht und im Hinblick auf das jeweilige Vertragsverhältnis des Handelsvertreters mit dem Unternehmer und die möglichen Verbindungen dieses Verhältnisses mit der Muttergesellschaft im Einzelfall zu entscheiden ist. Begründet das nationale Recht keine solche Beziehung zwischen dem Handelsvertreter und der Muttergesellschaft seines Unternehmers, können die der Muttergesellschaft zufließenden Gewinne nicht als Umstand im Sinne von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a angesehen werden.

37. Diese Gründe sprechen gegen die Schlussfolgerung, dass die von anderen, demselben Konzern wie der Unternehmer angehörenden Gesellschaften erlangten Vorteile bei der Berechnung des Ausgleichs im Sinne von Art. 17 Abs. 2 Buchst. a zu berücksichtigen sind.

III – Ergebnis

38. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom nationalen Gericht vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1. Nationale Rechtsvorschriften, die den Ausgleichsanspruch eines Handelsvertreters auf seine Provisionsverluste infolge der Beendigung des Vertragsverhältnisses mit dem Unternehmer begrenzen, verstoßen für sich genommen nicht gegen den verdienstbezogenen und zukunftsgerichteten Ansatz, den die mit Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter eingeführte Regelung vorschreibt, sofern die Methode zur Berechnung der Provisionsverluste die nach Beendigung des Vertragsverhältnisses tatsächlich eingetretenen Provisionsverluste widerspiegelt, um die Vorteile zu berücksichtigen, die der Unternehmer aus der Tätigkeit des Handelsvertreters zieht.

2. Art. 17 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 86/653 schreibt nicht vor, bei der Berechnung des Ausgleichs die Vorteile zu berücksichtigen, die anderen Gesellschaften eines Konzerns als derjenigen zufließen, mit der der Handelsvertreter ein Vertragsverhältnis hatte.

(1) .

(2) ABl. L 382, S. 7.

(3)  – Vgl. Bericht der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über die Anwendung von Artikel 17 der Richtlinie zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter (86/653/EWG), Brüssel, den 23.7.1996, KOM(96) 364 endg., S. 1 bis 3.

(4)  – Urteil vom 16. Dezember 1981, Foglia Novello (II) (244/80, Slg. 1981, 3045, Randnr. 18).

(5)  – Urteil vom 28. September 2006, Gasparini u. a. (C‑467/04, Slg. 2006, I‑9199).

(6)  – Urteil vom 15. Juni 1995 (Verbundene Rechtssachen C‑422/93, C‑423/93 und C‑424/93, Slg. 1995, I‑1567).

(7)  – Ebd., Randnrn. 28 und 29.

(8)  – Urteil vom 16. Juli 1998, ICI (C‑264/96, Slg. 1998, I‑4695, Randnr. 15).

(9)  – Ebd.

(10)  – Urteil vom 15. Dezember 1994 (C‑194/94, Slg. 1996, I‑2201).

(11)  – Urteil vom 9. November 2000 (C‑381/98, Slg. 2000, I‑6007, Randnrn. 21 und 22).

(12)  – Urteil vom 23. März 2006 (C‑465/04, Slg. 2006, I‑2879).

(13)  – Ebd., Randnr. 28.

(14)  – Ebd., Randnr. 34.

(15)  – Urteil Ingmar, Randnr. 21.

(16)  – Urteil Honyvem, Randnr. 36.

(17)  – Dabei handelt es sich um die in den Erwägungsgründen der Richtlinie angeführten Ziele.

(18)  – Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Honyvem, Nr. 41.

(19)  – Urteil Honyvem, Randnr. 29.

(20)  – Dies nicht zu berücksichtigen, könnte sogar opportunistisches Verhalten des Unternehmers in Bezug auf die Frage fördern, wann er das Vertragsverhältnis beenden soll.

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