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Document 62004CJ0503

Urteil des Gerichtshofes (Zweite Kammer) vom 18. Juli 2007.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Bundesrepublik Deutschland.
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Urteil des Gerichtshofs, durch das eine Vertragsverletzung festgestellt wird - Nichtdurchführung - Art. 228 EG - Maßnahmen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben - Kündigung eines Vertrags.
Rechtssache C-503/04.

Sammlung der Rechtsprechung 2007 I-06153

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2007:432

Rechtssache C-503/04

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Bundesrepublik Deutschland

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Urteil des Gerichtshofs, mit dem die Vertragsverletzung festgestellt wird – Nichtdurchführung – Art. 228 EG – Maßnahmen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben – Kündigung eines Vertrags“

Leitsätze des Urteils

1.        Vertragsverletzungsklage – Urteil des Gerichtshofs, mit dem die Vertragsverletzung festgestellt wird – Verletzung der Verpflichtung zur Durchführung des Urteils – Finanzielle Sanktionen

(Art. 228 Abs. 2 EG)

2.        Rechtsangleichung – Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge – Richtlinie 89/665

(Art. 226 EG und 228 EG; Richtlinie 89/665 des Rates, Art. 3)

3.        Rechtsangleichung – Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge – Richtlinie 89/665

(Art. 226 EG und 228 EG; Richtlinie 89/665 des Rates, Art. 2 Abs. 6 Unterabs. 2)

4.        Rechtsangleichung – Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge – Richtlinie 92/50

(Art. 226 EG; Richtlinie 92/50 des Rates)

5.        Mitgliedstaaten – Verpflichtungen – Verstoß – Rechtfertigung mit der innerstaatlichen Ordnung – Unzulässigkeit

(Art. 226 EG)

1.        Die Klage ist im Rahmen des Verfahrens nach Art. 228 Abs. 2 EG nicht deshalb unzulässig, weil die Kommission nicht mehr die Auferlegung eines Zwangsgelds beantragt. Da der Gerichtshof nämlich befugt ist, eine von der Kommission nicht vorgeschlagene finanzielle Sanktion aufzuerlegen, ist die Klage aufgrund der bloßen Tatsache, dass die Kommission auf einer bestimmten Stufe des Verfahrens vor dem Gerichtshof erklärt, dass ein Zwangsgeld nicht mehr geboten sei, nicht unzulässig.

(vgl. Randnrn. 21-22)

2.        Das besondere Verfahren nach Art. 3 der Richtlinie 89/665 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge, wonach die Kommission gegen einen Mitgliedstaat vorgehen kann, wenn ihres Erachtens ein klarer und eindeutiger Verstoß gegen die Gemeinschaftsvorschriften für das öffentliche Auftragswesen vorliegt, stellt eine vorbeugende Maßnahme dar, die von den Befugnissen der Kommission aus den Art. 226 EG und 228 EG weder abweichen noch sie ersetzen kann.

(vgl. Randnr. 23)

3.        Art. 2 Abs. 6 Unterabs. 2 der Richtlinie 89/665 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge erlaubt den Mitgliedstaaten zwar, die Wirkungen der unter Verstoß gegen die Richtlinien über die Vergabe öffentlicher Aufträge geschlossenen Verträge aufrechtzuerhalten, und schützt somit das berechtigte Vertrauen der Vertragspartner, jedoch kann er nicht, ohne die Tragweite der die Schaffung des Binnenmarkts betreffenden Bestimmungen des EG-Vertrags zu beschränken, dazu führen, dass das Verhalten des Auftraggebers gegenüber Dritten nach Abschluss dieser Verträge als gemeinschaftsrechtskonform anzusehen ist.

Wenn die genannte Vorschrift die Anwendung von Art. 226 EG unberührt lässt, so gilt das auch für Art. 228 EG, weil sonst die Tragweite der die Schaffung des Binnenmarkts betreffenden Bestimmungen des Vertrags beschränkt würde. Außerdem betrifft diese Vorschrift ihrem Wortlaut nach den Ersatz des Schadens, den eine Person durch einen Rechtsverstoß eines öffentlichen Auftraggebers erlitten hat, und ist wegen ihres spezifischen Charakters nicht so zu verstehen, dass sie auch die Beziehungen zwischen einem Mitgliedstaat und der Gemeinschaft, um die es in den Art. 226 EG und 228 EG geht, regelt.

(vgl. Randnrn. 33-35)

4.        Zwar kann sich der Vertragspartner eines öffentlichen Auftraggebers diesem gegenüber bei der Kündigung eines unter Verstoß gegen die Richtlinie 92/50 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge geschlossenen Vertrags auf die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie auf den Grundsatz pacta sunt servanda und das Grundrecht auf Eigentum berufen, aber ein Mitgliedstaat kann sich keinesfalls auf diese Grundsätze oder dieses Grundrecht berufen, um die Nichtdurchführung eines eine Vertragsverletzung nach Art. 226 EG feststellenden Urteils zu rechtfertigen und sich dadurch seiner gemeinschaftsrechtlichen Verantwortung zu entziehen.

(vgl. Randnr. 36)

5.        Ein Mitgliedstaat kann sich nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen, um die Nichteinhaltung der aus dem Gemeinschaftsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen.

(vgl. Randnr. 38)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

18. Juli 2007(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Urteil des Gerichtshofs, durch das eine Vertragsverletzung festgestellt wird – Nichtdurchführung – Art. 228 EG – Maßnahmen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben – Kündigung eines Vertrags“

In der Rechtssache C‑503/04

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 228 EG, eingereicht am 7. Dezember 2004,

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch B. Schima als Bevollmächtigten, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch W.-D. Plessing und C. Schulze-Bahr als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt H.‑J. Prieß,

Beklagte,

unterstützt durch

Französische Republik, vertreten durch G. de Bergues und J.‑C. Gracia als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Königreich der Niederlande, vertreten durch H. G. Sevenster und D. J. M. de Grave als Bevollmächtigte,

Republik Finnland, vertreten durch T. Pynnä als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Streithelfer,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans (Berichterstatter) sowie der Richter P. Kūris, K. Schiemann, J. Makarczyk und J.‑C. Bonichot,

Generalanwältin: V. Trstenjak,

Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Dezember 2006,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 28. März 2007

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus Art.  228 Abs. 1 EG verstoßen hat, indem sie nicht die Maßnahmen ergriffen hat, die sich aus dem Urteil vom 10. April 2003, Kommission/Deutschland (C‑20/01 und C‑28/01, Slg. 2003, I‑3609), betreffend die Vergabe eines Abwasservertrags durch die Gemeinde Bockhorn (Deutschland) und eines Müllentsorgungsvertrags durch die Stadt Braunschweig (Deutschland) ergeben, und diesen Mitgliedstaat zu verurteilen, an die Kommission auf das Konto Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaft ein Zwangsgeld zu zahlen in Höhe von 31 680 Euro pro Tag des Verzugs bei der Durchführung der Maßnahmen, die erforderlich sind, um dem genannten Urteil hinsichtlich des Vertrags der Gemeinde Bockhorn, und in Höhe von 126 720 Euro pro Tag des Verzugs bei der Durchführung der Maßnahmen, die erforderlich sind, um jenem Urteil hinsichtlich des Vertrags der Stadt Braunschweig nachzukommen, und zwar jeweils von der Verkündung des vorliegenden Urteils bis zur Durchführung der Maßnahmen.

2        Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 6. Juni 2005 sind die Französische Republik, das Königreich der Niederlande und die Republik Finnland als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Bundesrepublik Deutschland zugelassen worden.

 Rechtlicher Rahmen

3        Art. 2 Abs. 6 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer‑ und Bauaufträge (ABl. L 395, S. 33) bestimmt:

„Die Wirkungen der Ausübung der in Absatz 1 genannten Befugnisse auf den nach Zuschlagserteilung des Auftrags geschlossenen Vertrag richten sich nach dem einzelstaatlichen Recht.

Abgesehen von dem Fall, in dem eine Entscheidung vor Zuerkennung von Schadensersatz aufgehoben werden muss, kann ein Mitgliedstaat ferner vorsehen, dass nach dem Vertragsschluss im Anschluss an die Zuschlagserteilung die Befugnisse der Nachprüfungsinstanz darauf beschränkt werden, einer durch einen Rechtsverstoß geschädigten Person Schadensersatz zuzuerkennen.“

4        Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 lautet:

„Die Kommission kann das in diesem Artikel vorgesehene Verfahren anwenden, wenn sie vor Abschluss eines Vertrages zu der Auffassung gelangt, dass bei einem Vergabeverfahren im Sinne der Richtlinien 71/305/EWG und 77/62/EWG ein klarer und eindeutiger Verstoß gegen die Gemeinschaftsvorschriften für das öffentliche Auftragswesen vorliegt.“

 Das genannte Urteil Kommission/Deutschland

5        Der Gerichtshof hat in den Nrn. 1 und 2 des Tenors des oben genannten Urteils Kommission/Deutschland für Recht erkannt und entschieden:

„1.      Die Bundesrepublik Deutschland hat bei der Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 15 Absatz 2 und Artikel 16 Absatz 1 der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge [ABl. L 209, S. 1] verstoßen, dass der Abwasservertrag der Gemeinde Bockhorn (Deutschland) nicht ausgeschrieben und das Ergebnis des Vergabeverfahrens nicht im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften bekannt gemacht wurde.

2.      Die Bundesrepublik Deutschland hat bei der Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 8 und 11 Absatz 3 Buchstabe b der Richtlinie 92/50 verstoßen, dass die Stadt Braunschweig (Deutschland) einen Müllentsorgungsvertrag im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Vergabebekanntmachung vergeben hat, obwohl die Voraussetzungen des genannten Artikels 11 Absatz 3 für die freihändige Vergabe ohne gemeinschaftsweite Ausschreibung nicht vorlagen.“

 Das Vorverfahren

6        Mit Schreiben vom 27. Juni 2003 ersuchte die Kommission die deutsche Regierung, ihr die zur Durchführung des genannten Urteils Kommission/Deutschland ergriffenen Maßnahmen mitzuteilen.

7        Da die Kommission die Antwort der deutschen Regierung vom 7. August 2003 für nicht befriedigend hielt, forderte sie die deutschen Behörden am 17. Oktober 2003 auf, sich binnen zwei Monaten zu äußern.

8        Die deutsche Regierung verwies in ihrer Mitteilung vom 23. Dezember 2003 darauf, dass sie die Landesregierung von Niedersachsen Anfang Dezember 2003 in einem Schreiben aufgefordert habe, das geltende Vergaberecht einzuhalten und ihr über die Maßnahmen zu berichten, die dazu beitragen sollten, künftig vergleichbare Verstöße zu vermeiden. Außerdem seien nach § 13 der am 1. Februar 2001 in Kraft getretenen deutschen Vergabeverordnung vom öffentlichen Auftraggeber geschlossene Verträge nichtig, wenn die unterlegenen Bieter nicht spätestens 14 Tage vor Zuschlagserteilung vom Abschluss des genannten Vertrags informiert worden seien. Zudem verlange das Gemeinschaftsrecht keine Kündigung der beiden Verträge, auf die sich das genannte Urteil Kommission/Deutschland bezogen habe.

9        Am 1. April 2004 übermittelte die Kommission der Bundesrepublik Deutschland eine mit Gründen versehene Stellungnahme, auf die die Bundesrepublik Deutschland mit Schreiben vom 7. Juni 2004 antwortete.

10      Da die Bundesrepublik Deutschland nach Ansicht der Kommission nicht die sich aus dem Urteil Kommission/Deutschland ergebenden Maßnahmen ergriffen hat, hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.

 Zur Klage

 Klagegegenstand

11      Nachdem die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Klagebeantwortung darauf hingewiesen hatte, dass der von der Gemeinde Bockhorn geschlossene Vertrag über Abwasserbeseitigung am 28. Februar 2005 rückabgewickelt werden würde, hat die Kommission in ihrer Erwiderung erklärt, dass sie weder ihre Klage noch ihren auf Auferlegung eines Zwangsgelds gerichteten Antrag aufrechterhalte, soweit dieser Vertrag betroffen sei.

12      Da die Kommission somit ihre Klage teilweise zurückgenommen hat, braucht diese nur insoweit geprüft zu werden, als sie sich auf den Müllentsorgungsvertrag der Stadt Braunschweig bezieht.

 Zur Zulässigkeit

13      Die Bundesrepublik Deutschland macht erstens ein fehlendes Rechtsschutzinteresse der Kommission geltend, denn diese habe es versäumt, einen Antrag auf Auslegung des Urteils nach Art. 102 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu stellen. Der Rechtsstreit über die Frage, welche Folgen sich aus dem Urteil Kommission/Deutschland ergäben, hätte durch einen Antrag auf Auslegung des Urteils und nicht im Wege einer Klage nach Art. 228 EG entschieden werden können und müssen.

14      Dieser Auffassung kann jedoch nicht gefolgt werden.

15      Der Gerichtshof hat nämlich im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 226 EG nur festzustellen, dass eine gemeinschaftsrechtliche Vorschrift verletzt worden ist. Nach Art. 228 Abs. 1 EG hat danach der betreffende Mitgliedstaat die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. November 2004, Kommission/Deutschland, C‑126/03, Slg. 2004, I‑11197, Randnr. 26). Da die Frage, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um einem Urteil in einem Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EG nachzukommen, mit dem Gegenstand eines solchen Urteils nichts zu tun hat, kann diese Frage nicht Gegenstand eines Antrags auf Auslegung dieses Urteils sein (vgl. in diesem Sinne auch Beschluss vom 20. April 1988, Maindiaux u. a./WSA u. a., 146/85 und 431/85 – Auslegung, Slg. 1988, 2003, Randnr. 6).

16      Außerdem ist es gerade bei einer Klage nach Art. 228 Abs. 2 EG Sache des Mitgliedstaats, der die Schritte zu ergreifen hat, die sich seiner Ansicht nach aus dem die Vertragsverletzung feststellenden Urteil ergeben, die Angemessenheit dieser Schritte zu rechtfertigen, wenn sie von der Kommission in Frage gestellt werden.

17      Zweitens beantragt die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Gegenerwiderung, unterstützt vom Königreich der Niederlande, das Verfahren gemäß Art. 92 § 2 der Verfahrensordnung einzustellen, weil die Klage gegenstandslos geworden sei, nachdem mit Wirkung vom 10. Juli 2005 auch der von der Stadt Braunschweig geschlossene Müllentsorgungsvertrag gekündigt worden sei.

18      Die Kommission antwortet in ihren Erklärungen zu den Streithilfeanträgen der Französischen Republik, des Königreichs der Niederlande und der Republik Finnland, dass sie weiterhin ein Interesse daran habe, durch den Gerichtshof klären zu lassen, ob die Bundesrepublik Deutschland zum Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme nach Art. 228 EG gesetzt worden sei, dem Urteil vom 10. April 2003 (Kommission/Deutschland) bereits nachgekommen sei. Die Auferlegung eines Zwangsgelds sei jedoch nicht mehr erforderlich.

19      Dazu ist zu bemerken, dass der maßgebende Zeitpunkt für die Beurteilung einer Vertragsverletzung im Sinne von Art. 228 EG nach ständiger Rechtsprechung am Ende der Frist liegt, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme, die nach dieser Bestimmung abgegeben wird, gesetzt wurde (Urteil vom 18. Juli 2006, Kommission/Italien, C‑119/04, Slg. 2006, I‑6885, Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20      Im vorliegenden Fall war in der mit Gründen versehenen Stellungnahme, die die deutschen Behörden, wie sich aus dem Eingangsstempel ergibt, am 1. April 2004 erhalten haben, eine Frist von zwei Monaten genannt. Der maßgebende Zeitpunkt für die Beurteilung einer Vertragsverletzung nach Art. 228 EG ist daher der 1. Juni 2004. Zu diesem Zeitpunkt war der Müllentsorgungsvertrag der Stadt Braunschweig aber noch nicht gekündigt worden.

21      Außerdem ist die Klage entgegen dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland in der mündlichen Verhandlung auch nicht deshalb unzulässig, weil die Kommission nicht mehr die Auferlegung eines Zwangsgelds beantragt.

22      Da der Gerichtshof nämlich befugt ist, eine von der Kommission nicht vorgeschlagene finanzielle Sanktion aufzuerlegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juli 2005, Kommission/Frankreich, C‑304/02, Slg. 2005, I‑6263, Randnr. 90), ist die Klage aufgrund der bloßen Tatsache, dass die Kommission auf einer bestimmten Stufe des Verfahrens vor dem Gerichtshof erklärt, dass ein Zwangsgeld nicht mehr geboten sei, nicht unzulässig.

23      Zu der auf Art. 3 der Richtlinie 89/665 gestützten Einrede der Unzulässigkeit, auf die die Generalanwältin in Nr. 44 ihrer Schlussanträge hinweist, ist zu bemerken, dass das in dieser Vorschrift vorgesehene besondere Verfahren eine vorbeugende Maßnahme darstellt, die von den Befugnissen der Kommission aus den Art. 226 EG und 228 EG weder abweichen noch sie ersetzen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juni 2005, Kommission/Griechenland, C‑394/02, Slg. 2005, I‑4713, Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24      Die Klage ist nach alledem zulässig.

 Zur Begründetheit

25      Nach Ansicht der Kommission hat die Bundesrepublik keine ausreichenden Maßnahmen ergriffen, um dem Urteil vom 10. April 2003 (Kommission/Deutschland) nachzukommen, denn die Bundesrepublik Deutschland habe bis zum Ablauf der Frist, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden sei, den von der Stadt Braunschweig geschlossenen Müllentsorgungsvertrag nicht aufheben lassen.

26      Die Bundesrepublik Deutschland verweist auf den in der Mitteilung der Bundesregierung vom 23. Dezember 2003 dargelegten Standpunkt, dass eine Kündigung der von dem genannten Urteil betroffenen Verträge nicht erforderlich gewesen sei und die in dieser Mitteilung angeführten Maßnahmen ausreichten, um dem Urteil nachzukommen.

27      Dazu ist zu bemerken, dass die Stadt Braunschweig und die Braunschweigischen Kohlebergwerke – wie sich aus Randnr. 12 des Urteils vom 10. April 2003 (Kommission/Deutschland) ergibt – einen Vertrag geschlossen hatten, wonach Letzteren ab Juni/Juli 1999 für die Dauer von 30 Jahren Restabfall zur thermischen Behandlung zur Verfügung gestellt werden sollte.

28      Die von der deutschen Regierung in ihrer Mitteilung vom 23. Dezember 2003 angeführten Maßnahmen waren, wie die Generalanwältin in Nr. 72 ihrer Schlussanträge bemerkt, ausschließlich darauf angelegt, den Abschluss neuer Verträge zu verhindern, die ähnliche Vertragsverstöße dargestellt hätten wie die, die im genannten Urteil festgestellt wurden. Sie haben jedoch nicht verhindert, dass der von der Stadt Braunschweig geschlossene Vertrag über den 1. Juni 2004 hinaus weiterhin voll seine Wirkungen entfaltete.

29      Da dieser Vertrag nicht zum 1. Juni 2004 gekündigt worden war, bestand die Vertragsverletzung zu diesem Zeitpunkt noch weiter. Die durch die Missachtung der Richtlinie 92/50 erfolgte Beeinträchtigung des freien Dienstleistungsverkehrs dauert nämlich während der gesamten Dauer der Erfüllung der unter Verstoß gegen diese Richtlinie geschlossenen Verträge fort (Urteil vom 10. April 2003, Kommission/Deutschland, Randnr. 36). Außerdem hätte die Vertragsverletzung zum genannten Zeitpunkt angesichts der vorgesehenen langen Dauer des fraglichen Vertrags noch jahrzehntelang fortwähren können.

30      Nach alledem kann in einer Situation wie hier nicht davon die Rede sein, dass die Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf den von der Stadt Braunschweig geschlossenen Vertrag am 1. Juni 2004 die sich aus dem Urteil vom 10. April 2003 (Kommission/Deutschland) ergebenden Maßnahmen ergriffen hatte.

31      Die Bundesrepublik Deutschland trägt jedoch mit Unterstützung der Französischen Republik, des Königreichs der Niederlande und der Republik Finnland vor, dass Art. 2 Abs. 6 Unterabs. 2 der Richtlinie 89/665 – wonach ein Mitgliedstaat in seinen Rechtsvorschriften vorsehen könne, dass nach dem Vertragsschluss im Anschluss an die Zuschlagserteilung die Erhebung einer Klage nur zur Gewährung von Schadensersatz führen könne, so dass jede Möglichkeit, diesen Vertrag zu kündigen, ausgeschlossen sei – dagegen spreche, dass die Feststellung einer Vertragsverletzung nach Art. 226 EG bei einem solchen Vertrag zu der Verpflichtung führe, diesen zu kündigen. Dagegen sprechen nach Ansicht der genannten Mitgliedstaaten auch die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, der Grundsatz pacta sunt servanda, das Grundrecht auf Eigentum, Art. 295 EG und die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur zeitlichen Beschränkung der Wirkungen eines Urteils.

32      Diesem Vorbringen kann jedoch nicht gefolgt werden.

33      Erstens hat der Gerichtshof bereits zu Art. 2 Abs. 6 Unterabs. 2 der Richtlinie 89/665 festgestellt, dass diese Bestimmung den Mitgliedstaaten zwar erlaubt, die Wirkungen der unter Verstoß gegen die Richtlinien über die Vergabe öffentlicher Aufträge geschlossenen Verträge aufrechtzuerhalten, und somit das berechtigte Vertrauen der Vertragspartner schützt, sie jedoch nicht, ohne die Tragweite der die Schaffung des Binnenmarkts betreffenden Bestimmungen des EG-Vertrags zu beschränken, dazu führen kann, dass das Verhalten des Auftraggebers gegenüber Dritten nach Abschluss dieser Verträge als gemeinschaftsrechtskonform anzusehen ist (Urteil vom 10. April 2003, Kommission/Deutschland, Randnr. 39).

34      Wenn Art. 2 Abs. 6 Unterabs. 2 der Richtlinie 89/665 die Anwendung von Art. 226 EG unberührt lässt, so gilt das auch für Art. 228 EG, weil sonst in einem Fall wie dem vorliegenden die Tragweite der die Schaffung des Binnenmarkts betreffenden Bestimmungen des Vertrags beschränkt würde.

35      Außerdem betrifft Art. 2 Abs. 6 Unterabs. 2 der Richtlinie 89/665 – die sicherstellen soll, dass in allen Mitgliedstaaten bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die nationalen Vorschriften, die in Umsetzung dieses Rechts ergangen sind, Möglichkeiten einer wirksamen und raschen Nachprüfung bestehen, um die tatsächliche Anwendung der Richtlinien über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge zu gewährleisten (Urteil vom 12. Dezember 2002, Universale-Bau u. a., C‑470/99, Slg. 2002, I‑11617, Randnr. 71) – seinem Wortlaut nach den Ersatz des Schadens, den eine Person durch einen Rechtsverstoß eines öffentlichen Auftraggebers erlitten hat. Diese Vorschrift ist wegen ihres spezifischen Charakters nicht so zu verstehen, dass sie auch die Beziehungen zwischen einem Mitgliedstaat und der Gemeinschaft, um die es in den Art. 226 EG und 228 EG geht, regelt.

36      Zweitens ist zu den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie dem Grundsatz pacta sunt servanda und dem Grundrecht auf Eigentum zu bemerken, dass sich ein Mitgliedstaat – wenn diese Grundsätze und dieses Grundrecht auch dem öffentlichen Auftraggeber gegenüber von dessen Vertragspartner bei einer Kündigung des Vertrags geltend gemacht werden können – keinesfalls auf diese Möglichkeit berufen kann, um die Nichtdurchführung eines eine Vertragsverletzung nach Art. 226 EG feststellenden Urteils zu rechtfertigen und sich dadurch seiner gemeinschaftsrechtlichen Verantwortung zu entziehen (vgl. entsprechend Urteil vom 17. April 2007, AGM‑COS.MET, C‑470/03, Slg. 2007, I‑0000, Randnr. 72).

37      Drittens ist in Bezug auf Art. 295 EG – „Dieser Vertrag lässt die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt“ – daran zu erinnern, dass dieser Artikel nicht dazu führt, dass die in den Mitgliedstaaten bestehende Eigentumsordnung den Grundprinzipien des Vertrags entzogen ist (Urteil vom 13. Mai 2003, Kommission/Spanien, C‑463/00, Slg. 2003, I‑4581, Randnr. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Besonderheiten einer in einem Mitgliedstaat bestehenden Eigentumsregelung können also das Fortbestehen einer Vertragsverletzung in Form einer der Richtlinie 92/50 zuwiderlaufenden Beeinträchtigung des freien Dienstleistungsverkehrs nicht rechtfertigen.

38      Im Übrigen kann sich ein Mitgliedstaat nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen, um die Nichteinhaltung der aus dem Gemeinschaftsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen (Urteil Kommission/Italien, Randnr. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Viertens genügt es in Bezug auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur zeitlichen Beschränkung der Wirkungen eines Urteils, festzustellen, dass diese Beschränkung auf keinen Fall die Nichtdurchführung eines eine Vertragsverletzung nach Art. 226 EG feststellenden Urteils rechtfertigt.

40      Hinsichtlich des von der Stadt Braunschweig geschlossenen Vertrags ist zwar festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland am 1. Juni 2004 nicht die Maßnahmen ergriffen hatte, die sich aus dem Urteil vom 10. April 2003 (Kommission/Deutschland) ergeben, jedoch gilt diese Feststellung für den Zeitpunkt der Prüfung des Sachverhalts durch den Gerichtshof nicht mehr. Daraus folgt, dass die Verhängung eines Zwangsgelds, die die Kommission im Übrigen nicht mehr beantragt, nicht gerechtfertigt wäre.

41      Außerdem ist es unter den Umständen des vorliegenden Falles nicht erforderlich, die Zahlung eines Pauschalbetrags aufzuerlegen.

42      Daher ist festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 228 EG verstoßen hat, indem sie bei Ablauf der von der Kommission gemäß dieser Vorschrift in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist nicht die Maßnahmen ergriffen hat, die sich aus dem Urteil vom 10. April 2003 (Kommission/Deutschland) in Bezug auf die Vergabe eines Müllentsorgungsvertrags durch die Stadt Braunschweig ergeben.

 Kosten

43      Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen im Wesentlichen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem entsprechenden Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen. Gemäß Art. 69 § 4 Unterabs. 1 der Verfahrensordnung haben die Französische Republik, das Königreich der Niederlande und die Republik Finnland, die dem Verfahren als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten zu tragen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Bundesrepublik Deutschland hat gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 228 EG verstoßen, indem sie bei Ablauf der von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften gemäß dieser Vorschrift in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist nicht die Maßnahmen ergriffen hat, die sich aus dem Urteil vom 10. April 2003, Kommission/Deutschland (C‑20/01 und C‑28/01), in Bezug auf die Vergabe eines Müllentsorgungsvertrags durch die Stadt Braunschweig (Deutschland) ergeben.

2.      Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten.

3.      Die Französische Republik, das Königreich der Niederlande und die Republik Finnland tragen ihre eigenen Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.

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