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Document 61996CC0129

Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs vom 24. April 1997.
Inter-Environnement Wallonie ASBL gegen Région wallonne.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Conseil d'Etat - Belgien.
Richtlinie 91/156/EWG - Umsetzungsfrist - Wirkungen - Abfallbegriff.
Rechtssache C-129/96.

European Court Reports 1997 I-07411

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1997:216

61996C0129

Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs vom 24. April 1997. - Inter-Environnement Wallonie ASBL gegen Région wallonne. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Conseil d'Etat - Belgien. - Richtlinie 91/156/EWG - Umsetzungsfrist - Wirkungen - Abfallbegriff. - Rechtssache C-129/96.

Sammlung der Rechtsprechung 1997 Seite I-07411


Schlußanträge des Generalanwalts


1 Im Ausgangsverfahren beantragt die Inter-Environnement Wallonie ASBL (nachstehend: Inter-Environnement) beim belgischen Conseil d'État, den Erlaß der Wallonischen Regionalexekutive vom 9. April 1992 über giftige oder gefährliche Abfälle (im folgenden: Erlaß) für nichtig zu erklären. In seinem Urteil vom 29. März 1996, mit dem er um Vorabentscheidung ersucht, hat der Conseil d'État bereits über fünf der sechs Anträge von Inter-Environnement entschieden und eine Reihe von Bestimmungen des Erlasses für nichtig erklärt. Der verbleibende Antrag von Inter-Environnement hat den Conseil d'État veranlasst, den Gerichtshof um Entscheidung von zwei Fragen des Gemeinschaftsrechts zu ersuchen, deren erste die Befugnis des Conseil d'État betrifft, die Rechtmässigkeit einer innerstaatlichen Maßnahme zu überprüfen, die vor Ablauf der Frist für die Umsetzung einer Richtlinie getroffen worden war, während es bei der zweiten um den Anwendungsbereich des Begriffes "Abfälle" im Abfallrecht der Gemeinschaft, und zwar in bezug auf solche Stoffe geht, die in einem industriellen Produktionsprozeß erzeugt oder verwendet werden.

2 Die Klage von Inter-Environnement befasst sich speziell mit Artikel 5 § 1 des nationalen Erlasses, wo es heisst:

"Die Ansiedlung und der Betrieb einer speziellen Anlage für die Zusammenstellung, Vorbehandlung, Beseitigung oder Verwertung von giftigen oder gefährlichen Abfällen, die nicht in einen industriellen Produktionsprozeß eingegliedert ist und in der Abfälle von Drittpersonen aufbereitet werden, bedürfen einer Genehmigung."

3 Nach Ansicht von Inter-Environnement nimmt diese Bestimmung zu Unrecht giftige oder gefährliche Stoffe, die in einen industriellen Produktionsprozeß eingegliedert sind, vom Erfordernis der Genehmigung aus. Die Klage gliedert sich in zwei Teile.

4 Inter-Environnement macht zunächst geltend, Artikel 5 § 1 des Erlasses verletze Artikel 11 der Richtlinie 75/442/EWG des Rates über Abfälle(1) in der Fassung der Richtlinie 91/156/EWG (alle künftigen Hinweise auf die Richtlinie 75/442 beziehen sich auf diese Neufassung)(2) sowie auf Artikel 3 der Richtlinie 91/689/EWG des Rates über gefährliche Abfälle(3).

5 Das Urteil des Conseil d'État kommt zu dem Ergebnis, daß Artikel 5 § 1 des Erlasses nicht im Einklang mit diesen Bestimmungen stehe. Die Artikel 9 und 10 der Richtlinie 75/442 regeln die Voraussetzungen für die Genehmigung von Anlagen und Unternehmen, die die unter die Richtlinie fallenden Beseitigungs- oder Verwertungsmaßnahmen durchführen. Artikel 11 der Richtlinie gestattet es den Mitgliedstaaten, Anlagen oder Unternehmen, die die Beseitigung ihrer eigenen Abfälle am Gestehungsort sicherstellen (Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe a) oder Abfälle verwerten (Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe b), von der Genehmigungspflicht freizustellen. Diese Freistellung kann jedoch nur dann erfolgen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfuellt sind: "Die zuständigen Behörden müssen für jede Art von Tätigkeit jeweils allgemeine Vorschriften zur Festlegung bestimmter Abfallarten und -mengen erlassen haben, und die Verfahren zur Beseitigung oder Verwertung der Abfälle müssen so beschaffen sein, daß die grundlegenden Ziele der Richtlinie, wie sie in ihrem Artikel 4 niedergelegt sind, nämlich die Gefährdung der menschlichen Gesundheit und die Schädigung der Umwelt zu vermeiden, erreicht werden." Der Conseil d'État stellt fest, daß das belgische Recht diesen Anforderungen nicht genüge. Überdies bestimmt Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 91/689, daß die in Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe a vorgesehene Befugnis, Anlagen oder Unternehmen, die ihre Abfälle selbst beseitigen, von der Genehmigungspflicht freizustellen, nicht für gefährliche Abfälle im Sinne dieser Richtlinie gilt.

6 Der Conseil d'État stellt jedoch fest, daß der umstrittene Erlaß vor Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 91/156, d. h. vor dem 1. April 1993, ergangen sei; das Begehren des Klägers scheine somit im Widerspruch zu dem Grundsatz des belgischen Verwaltungsrechts zu stehen, daß die Gültigkeit einer Maßnahme nach der Rechtslage zun Zeitpunkt ihres Erlasses zu beurteilen ist.

7 Im zweiten Teil ihrer Klage trägt Inter-Environnement vor, Artikel 5 § 1 des Erlasses verstosse gegen bestimmte Vorschriften des Dekrets des wallonischen Regionalrats vom 5. Juli 1985 über Abfälle, insbesondere gegen dessen Artikel 3 Nummer 1. Diese Vorschrift, so wie sie durch das Dekret vom 25. Juli 1991 geändert wurde, definiert Abfälle als

"alle Stoffe oder Gegenstände, die unter die in Anhang I aufgeführten Gruppen fallen und deren sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muß".

8 Diese Bestimmung soll den in seiner Neufassung ebenso lautenden Artikel 1 der Richtlinie 75/442 durchführen. Nach Auffassung des Conseil d'État wirft die Klage von Inter-Environnement die Frage auf, ob ein Stoff oder Gegenstand, der unmittelbar oder mittelbar in einen industriellen Produktionsprozeß eingegliedert ist, als Abfall im Sinne der Vorschriften des Gemeinschafts- und des innerstaatlichen Rechts anzusehen ist.

9 Der Conseil d'État ersucht daher den Gerichtshof um Vorabentscheidung über die folgenden Fragen:

1. Verbieten es die Artikel 5 und 189 EWG-Vertrag, daß die Mitgliedstaaten während der Umsetzungsfrist der Richtlinie 75/442/EWG vom 15. Juli 1975 über Abfälle in der durch die Richtlinie 91/156/EWG vom 18. März 1991 geänderten Fassung eine Bestimmung erlassen, die dieser Richtlinie widerspricht?

Verbieten es diese Vertragsbestimmungen, daß die Mitgliedstaaten eine Rechtsvorschrift erlassen und in Kraft setzen, die sich als Umsetzung dieser Richtlinie darstellt, deren Bestimmungen jedoch gegen die Vorgaben dieser Richtlinie zu verstossen scheinen?

2. Ist ein in Anhang I der Richtlinie 91/156/EWG des Rates vom 18. März 1991 zur Änderung der Richtlinie 75/442/EWG vom 15. Juli 1975 über Abfälle genannter Stoff, der unmittelbar oder mittelbar in einen industriellen Produktionsprozeß einbezogen ist, Abfall im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a dieser Richtlinie?

10 Inter-Environnement, die belgische, die deutsche, die französische und die niederländische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission haben beim Gerichtshof schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme der belgischen und der deutschen Regierung waren die vorgenannten Beteiligten auch in der mündlichen Verhandlung vertreten.

Zur ersten Frage

11 Bevor ich mich der ersten Frage des vorlegenden Gerichts zuwende, mag es nützlich sein, einige Richtlinien betreffende Grundsätze darzulegen, die sich aus dem Vertrag und der bisherigen Rechtsprechung ergeben.

12 Nach Artikel 189 des Vertrages ist eine Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Gemäß Artikel 191 des Vertrages in seiner durch den Vertrag über die Europäische Union mit Wirkung vom 1. November 1993 geänderten Fassung treten an alle Mitgliedstaaten gerichtete Richtlinien zu dem durch sie festgelegten Zeitpunkt oder andernfalls am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung in Kraft. Die anderen Richtlinien werden durch die Bekanntgabe an diejenigen, für die sie bestimmt sind, wirksam. Vor seiner Änderung bestimmte Artikel 191 EWG-Vertrag, daß alle Richtlinien am Tag ihrer Bekanntgabe an die Adressaten wirksam wurden.

13 Die Richtlinien treten zwar zu den oben genannten Zeitpunkten in Kraft oder werden wirksam, doch räumen sie, weil sie anders als Verordnungen nicht unmittelbar anwendbar sind, den Mitgliedstaaten eine Frist für den Erlaß der Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsmaßnahmen ein, mit denen die Umsetzung der Richtlinie in innerstaatliches Recht sichergestellt werden soll.

14 In seinem Urteil in der Rechtssache Ratti(4) hat der Gerichtshof ausgeführt:

"[Ein] Mitgliedstaat, der die in der Richtlinie vorgeschriebenen Umsetzungsmaßnahmen nicht fristgemäß erlassen hat, [kann] dem einzelnen nicht entgegenhalten, daß er - der Staat - die aus dieser Richtlinie erwachsenen Verpflichtungen nicht erfuellt hat.

...

[Ein] Mitgliedstaat [kann] nach dem Ablauf der zur Umsetzung einer Richtlinie gesetzten Frist seit dieser Richtlinie noch nicht angepasstes innerstaatliches Recht ... nicht auf eine Person anwenden ..., die den Vorschriften der Richtlinie nachgekommen ist."

15 In der Rechtssache Ratti war der Gerichtshof auch gefragt worden, ob eine Richtlinie hinsichtlich der Verpflichtungen, die sie Mitgliedstaaten auferlegt, vom Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe an in solchen Fällen unmittelbar anwendbar ist, in denen ein Betroffener den Vorschriften der Richtlinie vor Ablauf der für ihre Umsetzung gesetzten Frist nachgekommen ist. Der Gerichtshof antwortete, die Richtlinie könne erst am Ende dieses Zeitraums und nur in dem Fall, daß der Mitgliedstaat ihr nicht nachgekommen sei, Wirkungen für die einzelnen zeitigen; bis zu diesem Zeitpunkt behielten die Mitgliedstaaten ihre Handlungsfreiheit(5).

16 Überdies hat der Gerichtshof in den zahlreichen Urteilen, die er in Verfahren nach Artikel 169 des Vertrages wegen unterlassener Umsetzung von Richtlinien erlassen hat, bei der Feststellung, der betroffene Mitgliedstaat habe gegen seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen verstossen, den Verstoß stets darin gesehen, daß die erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen nicht innerhalb der gesetzten Frist getroffen worden seien.

17 In seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Teuling(6) hat Generalanwalt Mancini jedoch die Auffassung vertreten, die Gesetzgebungsfreiheit der Mitgliedstaaten nach dem Erlaß einer Richtlinie unterliege gewissen Einschränkungen:

"[Unter diese Freiheit fällt] nicht die Befugnis ..., die Unterschiede zu verstärken, die die Richtlinie beseitigen soll. So ist u. a. davon auszugehen, daß Vorschriften, die innerhalb dieser Frist erlassen werden, notwendigerweise als Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie anzusehen sind; derartige Maßnahmen müssen zumindest so beschaffen sein, daß sie den Vorschriften der Richtlinie nicht zuwiderlaufen."

18 Generalanwalt Mancini äusserte sich zu innerstaatlichen Normen, die während der für die Umsetzung der Richtlinie 79/7/EWG(7) gesetzten Frist erlassen worden waren und angeblich eine bestehende Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bei der Gewährung von Entschädigungen für Arbeitsunfähigkeit noch verstärkten. Der Gerichtshof hielt es in seinem Urteil jedoch nicht für erforderlich, über diesen Punkt zu entscheiden.

19 Im vorliegenden Fall schlagen Inter-Environnement und die Kommission vor, beide Teile der ersten Frage des vorlegenden Gerichts zu bejahen.

20 Inter-Environnement betont, sie beabsichtige nicht, den Grundsatz zu bestreiten, daß der einzelne sich erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist vor den innerstaatlichen Gerichten auf die Bestimmungen einer Richtlinie berufen könne. Mit seiner Klage vor dem Conseil d'État wolle sie keine individuellen Rechte geltend machen. Mit der Klage werde die Aufhebung der innerstaatlichen Maßnahme aus dem Grunde angestrebt, daß sie in Widerspruch zu einer höherrangigen Norm stehe, nämlich der Gemeinschaftsrichtlinie, die sie umzusetzen bestimmt sei. Nach belgischem Recht müsse eine solche Klage innerhalb von 60 Tagen nach der Veröffentlichung der in Rede stehenden Maßnahme erhoben werden. Ohne eine Verpflichtung der Wallonischen Exekutive, wie sie in der ersten Frage erörtert werde, wäre eine mehr als 60 Tage vor Ablauf der Umsetzungsfrist erlassene Maßnahme unangreifbar. Für Klagen aufgrund des Gemeinschaftsrechts gelte somit eine ungünstigere Regelung als für Klagen nach innerstaatlichem Recht.

21 Inter-Environnement ist der Ansicht, die Rechtmässigkeit innerstaatlicher Umsetzungsmaßnahmen könne auch vor Ablauf der Umsetzungsfrist überprüft werden. Bei einer derartigen Überprüfung müsse die Pflicht zur Zusammenarbeit nach Artikel 5 des Vertrages berücksichtigt werden, wonach die Mitgliedstaaten der Richtlinie ordnungsgemäß nachzukommen hätten. Im vorliegenden Fall sei die Rechtslage besonders eindeutig, da der streitige Erlaß sich ausdrücklich als Umsetzungsmaßnahme darstelle.

22 Die Kommission trägt vor, der Erlaß einer Richtlinie bringe eine auf den Artikeln 5 und 189 des Vertrages beruhende Stillhalteverpflichtung mit sich. Die Mitgliedstaaten dürften keine neuen Maßnahmen treffen, die die Unterschiede zwischen innerstaatlichem und Gemeinschaftsrecht verstärken würden. Eine solche Maßnahme könnte die Erreichung eines oder mehrerer Ziele der Richtlinie gefährden und zur Rechtsunsicherheit bei den einzelnen Bürgern führen. Es sei daher gleichgültig, ob die Maßnahme speziell dazu bestimmt sei, eine Richtlinie umzusetzen.

23 In ihren schriftlichen Bemerkungen hatte die Kommission ausgeführt, die Nichterfuellung der sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen seitens eines Staates könne nur nach Ablauf der Umsetzungsfrist festgestellt werden. In der mündlichen Verhandlung hat sie die Auffassung vertreten, eine Klage gegen einen Mitgliedstaat nach Artikel 169 des Vertrages könne dennoch erhoben werden, um eine Verletzung der Stillhaltepflicht selbst feststellen zu lassen. Die Kommission räumt jedoch ein, daß eine solche Verpflichtung vor Ablauf der Umsetzungsfrist keine Rechte des einzelnen begründen würde.

24 Die belgische, die französische und die niederländische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs schlagen vor, die erste Frage zu verneinen. Die deutsche Regierung hat sich zu dieser Frage nicht geäussert.

25 Die niederländische Regierung räumt ein, daß der Erlaß einer Richtlinie eine Art Stillhalteverpflichtung mit sich bringe. Sie meint jedoch, ein Mitgliedstaat könne nicht gegen die Artikel 5 und 189 verstossen, wenn es, wie hier, unklar sei, ob die in Rede stehenden Bestimmungen gegen die Richtlinie verstießen. Sie ist weiterhin der Ansicht, daß vor Ablauf der Umsetzungsfrist keine Klage nach Artikel 169 des Vertrages erhoben werden könne.

26 Die belgische und die französische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs sind der Auffassung, bis zum Ablauf der für die Umsetzung einer Richtlinie gesetzten Frist stehe es den Mitgliedstaaten frei, Normen zu erlassen, die der Richtlinie zuwiderliefen. Das Vereinigte Königreich fügt jedoch einschränkend hinzu, ein Mitgliedstaat sei durch die Artikel 5 und 189 des Vertrages daran gehindert, innerstaatliche Maßnahmen zu treffen, durch die es dem Staat unmöglich oder äusserst schwer gemacht würde, der Richtlinie volle Wirksamkeit zu verschaffen, wenn er in der Folgezeit Maßnahmen treffe, um sie in nationales Recht umzusetzen.

27 Bei der Befassung mit der ersten Frage des Conseil d'État ist es meines Erachtens wichtig, sich die Gründe vor Augen zu halten, die diesen veranlasst haben, die Frage dem Gerichtshof vorzulegen. Obwohl die Frage ihrem Wortlaut nach dahin geht, ob die Mitgliedstaaten befugt sind, während der Frist für die Umsetzung einer Richtlinie Normen zu erlassen, die dieser zuwiderlaufen, geht es bei der Klage von Inter-Environnement nicht speziell um diese Frist. Die Frage stellt sich wegen des im belgischen Verwaltungsrecht geltenden Grundsatzes, daß die Gültigkeit einer Maßnahme nach Maßgabe der bei ihrem Erlaß obwaltenden Umstände zu beurteilen ist. Mit seiner Frage möchte der Conseil d'État somit wissen, ob Belgien zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Maßnahme durch das Gemeinschaftsrecht daran gehindert war, eine im Widerspruch zur Richtlinie stehende Maßnahme zu erlassen. Der Conseil d'État vertritt die Ansicht, der Erlaß könne vor diesem Gericht nicht mit der Nichtigkeitsklage angefochten werden, es sei denn, die Richtlinie hätte Belgien zu dem Zeitpunkt, als der Erlaß ergangen sei, eine entsprechende Verpflichtung auferlegt.

28 Inter-Environnement macht in ihren schriftlichen Erklärungen ebenfalls geltend, eine Nichtigkeitsklage müsse beim Conseil d'État innerhalb von 60 Tagen nach der Veröffentlichung der streitigen Maßnahme erhoben werden. Die Zulässigkeit ihrer Klage setze daher voraus, daß sie vor Ablauf der für die Umsetzung der Richtlinie 91/156 gesetzten Frist erhoben worden sei. Es sei jedoch unklar, ob die Klage, auch wenn sie nach Ablauf der Frist für die Umsetzung einer Richtlinie erhoben werden könne, weil die streitige Maßnahme weniger als sechzig Tage vor diesem Zeitpunkt ergangen war, Erfolg haben könnte, wenn zum Zeitpunkt des Erlasses der Maßnahme keine entsprechende gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung bestanden habe.

29 Vor diesem Hintergrund glaube ich, daß die wirkliche Frgä im vorliegenden Fall nicht die ist, ob die Richtlinie 91/156 der Anwendung des streitigen Erlasses während der für ihre Umsetzung gesetzten Frist entgegensteht, sondern die, ob der Conseil d'État ungeachtet der Tatsache, daß diese Frist bei Erlaß der streitigen Maßnahme noch nicht abgelaufen war, verpflichtet ist, bei der Prüfung der Gültigkeit dieser Maßnahme die Richtlinie zu berücksichtigen. Meines Erachtens ist diese Frage auch schon anhand bereits geltender Grundsätze eindeutig zu bejahen.

30 Der Vertrag, insbesondere Artikel 189 Absatz 3, verpflichtet die Mitgliedstaaten, das mit einer Richtlinie angestrebte Ergebnis spätestens mit Ablauf der Umsetzungsfrist zu erreichen. Tatsächlich entsteht diese Verpflichtung jedoch nicht erst am Tag des Ablaufs der Umsetzungsfrist, sondern an dem Tag, an dem die Richtlinie gemäß Artikel 191 in Kraft tritt oder wirksam wird. Nach Artikel 191 Absatz 2 EWG-Vertrag ist die Richtlinie 91/156 an dem Tag wirksam geworden, an dem sie Belgien bekanntgegeben wurde. Von diesem Tag an und während des Laufes der Frist für die Umsetzung der Richtlinie bestand für Belgien die Verpflichtung, seine innerstaatlichen Vorschriften bis zum 1. April 1993 in Einklang mit der Richtlinie zu bringen. Belgien hatte mit anderen Worten sicherzustellen, daß nach diesem Datum keine im Widerspruch zur Richtlinie stehenden nationalen Vorschriften mehr bestanden. Diese Verpflichtung ergab sich aus einem Rechtsakt, der zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen innerstaatlichen Maßnahme bereits wirksam geworden war, und es besteht kein Zweifel, daß der Conseil d'État sie bei der Beurteilung der Gültigkeit der Maßnahme zu berücksichtigen hat. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, daß die Erfuellung der Verpflichtung, die Richtlinie umzusetzen, erst für einen späteren Zeitpunkt gefordert war; wie ich weiter unten (Nr. 34) erläutern werde, kann dies jedoch von Bedeutung sein, wenn es um die Frage geht, in welchem Umfang der Conseil Rechtsschutz zu gewähren hat.

31 Dieses Ergebnis steht daher in Einklang mit der auch im Gemeinschaftsrecht geltenden Regel, daß die Gültigkeit einer Maßnahme aufgrund der bei ihrem Erlaß bestehenden Lage zu beurteilen ist(8). Der innere Grund für diese Regel ist, daß vom Gesetzgeber vernünftigerweise erwartet werden kann, daß er lediglich die zu diesem Zeitpunkt obwaltenden rechtlichen und tatsächlichen Umstände berücksichtigt. Hier war die Gemeinschaftsrichtlinie jedoch bereits erlassen und zum Zeitpunkt des Erlasses der nationalen Maßnahme wirksam geworden. Ihre Existenz war infolgedessen ein rechtlicher Umstand, dessen Kenntnis der Wallonischen Exekutive unterstellt werden muß.

32 In diesem Zusammenhang ist auch auf das kürzlich ergangene Urteil des Gerichts erster Instanz im Fall Opel Austria/Rat(9) hinzuweisen. Das Gericht erkannte zwar an, daß die Rechtmässigkeit einer gemäß Artikel 173 des Vertrages angefochtenen Maßnahme anhand der bei ihrem Erlaß gegebenen tatsächlichen und rechtlichen Umstände beurteilt werden müsse, stellte aber fest, daß es bei der Prüfung der Rechtmässigkeit einer Ratsverordnung befugt sei, das EWR-Abkommen zu berücksichtigen, das die Gemeinschaften sieben Tage vor Erlaß der Verordnung geschlossen hatten, das jedoch kurz danach in Kraft getreten war. Das Gericht stützte dieses Ergebnis u. a. auf den Grundsatz von Treu und Glauben, wie er in Artikel 18 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge niedergelegt sei.

33 Noch klarer scheint mir zu sein, daß aufgrund der den Mitgliedstaaten nach Artikel 5 des Vertrages obliegenden Pflicht zur Zusammenarbeit und ihrer spezifischen Verpflichtung aus Artikel 189, bei der Beurteilung der Rechtmässigkeit innerstaatlicher Maßnahmen einer Richtlinie Rechnung zu tragen ist, die bereits wirksam geworden ist.

34 In derartigen Fällen obliegt es den innerstaatlichen Gerichten, wenn sie feststellen, daß eine nationale Maßnahme mit den sich aus einer Richtlinie ergebenden Verpflichtungen unvereinbar ist, in Übereinstimmung mit den maßgebenden innerstaatlichen Vorschriften den angemessenen Rechtsschutz zu bestimmen. Es kann sein, daß in bestimmten Fällen, z. B. wenn eine nationale Maßnahme aufgrund delegierter Befugnisse getroffen wurde und der Erlaß einer der Richtlinie zuwiderlaufenden Maßnahme ultra vires erfolgen würde, die Maßnahme ex tunc für nichtig zu erklären wäre. Geht es, allgemeiner gesagt, um eine spezifische Umsetzungsmaßnahme, so ließe sich annehmen, daß ein solches Ergebnis im Einklang mit dem Ziel einer Klage wie der vorliegenden Nichtigkeitsklage stuende, die im Interesse der Rechtssicherheit eine rasche Überprüfung neuer Regelungen ermöglichen soll.$

35 Das ist jedoch eine Frage des nationalen Rechts. Für die Zwecke des Gemeinschaftsrechts würde es im vorliegenden Fall, falls der Conseil d'État die streitige nationale Maßnahme für im Widerspruch zur Richtlinie stehend ansehen sollte, meines Erachtens ausreichen, wenn er sie lediglich mit Wirkung vom Tag des Ablaufs der für die Umsetzung der Richtlinie gesetzten Frist, also vom 1. April 1993, für nichtig erklärte. Von diesem Tag an hätte die Maßnahme rechtswidrige Wirkungen. Wie ich betonen möchte, lassen die vorstehenden Ausführungen die innerstaatlichen Vorschriften über Prozeßführungsrecht, Fristen und andere Verfahrensvoraussetzungen unberührt.

36 Diese Lösung mag auf den ersten Blick insofern befremden, als der für die Beurteilung der Rechtmässigkeit einer nationalen Maßnahme maßgebende Zeitpunkt nicht mit dem Zeitpunkt übereinstimmt, von dem an diese Maßnahme rechtswidrige Wirkungen erzeugt. Diese Anomalie ist jedoch die Folge der besonderen Merkmale von Richtlinien. Könnten vor dem Ablauf der Frist für die Umsetzung einer Richtlinie getroffene nationale Umsetzungsmaßnahmen mit Rücksicht auf die besondere Methode der Eingliederung von Richtlinien in innerstaatliches Recht nicht vor dem Conseil d'État mit der Nichtigkeitsklage angegriffen werden, so hätte dies zur Folge, daß auf Gemeinschaftsrecht gestützte Klagen im Verhältnis zu Klagen nach nationalem Recht benachteiligt würden. So würde z. B. eine auf eine höherrangige nationale Vorschrift wie das Dekret des wallonischen Regionalrats gestützte Klage nicht auf das gleiche Hindernis stossen. Umsetzungsmaßnahmen könnten dann höchstens indirekt angegriffen werden, nämlich mit einer im Rahmen von Klagen gegen individuelle Entscheidungen (Verwaltungsakte) oder andere auf deren Grundlage ergangene Maßnahmen erhobenen Einrede der Rechtswidrigkeit.

37 Die hier gezogene, auf geltende Grundsätze gestützte Schlußfolgerung dürfte ausreichen, um die Anomalie zu beseitigen, die den Conseil d'État daran hindert, die Rechtmässigkeit von Umsetzungsmaßnahmen zu überprüfen, die vor Ablauf der für die Umsetzung einer Richtlinie gesetzten Frist getroffen wurden. Ich halte es daher nicht für erforderlich, daß der Gerichtshof über die von Inter-Environnement und der Kommission vorgetragenen Auffassungen entscheidet, daß das Inkrafttreten einer Richtlinie eine "Sperrwirkung" in dem Sinn habe, daß es die Befugnis der Mitgliedstaaten auf den Erlaß von Umsetzungsmaßnahmen beschränke, die im Einklang mit der Richtlinie stuenden, zumindest wenn solche Maßnahmen ausdrücklich zur Umsetzung der Richtlinie bestimmt seien, oder daß es den Erlaß von Maßnahmen verbiete, die die Unterschiede zwischen innerstaatlichen und gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften verstärkten (Stillhalteverpflichtung). Dieses Vorbringen wirft schwierige Probleme auf, die besser im Rahmen einer Rechtssache gelöst werden sollten, in der sie sich tatsächlich stellen. Ich werde sie dennoch kurz behandeln.

38 Es ist klar, daß die Richtlinie 91/156 die Befugnisse der Mitgliedstaaten nicht ausdrücklich in der geschilderten Weise einschränkt. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hätte dies tun können, hat es aber nicht getan. Ebenso wie andere Richtlinien begründet sie lediglich die Verpflichtung, diejenigen Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsmaßnahmen in Kraft zu setzen, die erforderlich sind, um der Richtlinie spätestens bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nachzukommen.

39 Es stellt sich die Frage, ob derartige Einschränkungen dennoch aus den Artikeln 5 und 189 des Vertrages abgeleitet werden können. Gewiß würde ein Mitgliedstaat seine Pflicht zur Zusammenarbeit nach Artikel 5 des Vertrages verletzen, wenn er im Verlauf der für die Umsetzung einer Richtlinie gesetzten Frist Maßnahmen träfe, die das fristgemässe Erreichen der Ziele der Richtlinie gefährden würden. Er würde auch seine konkrete Umsetzungspflicht nach Artikel 189 des Vertrages verletzen.

40 Wie das Vereinigte Königreich bemerkt, wäre dies der Fall, wenn ein Mitgliedstaat Maßnahmen träfe, die die Erreichung der Ziele der Richtlinie unmöglich machen oder über Gebühr erschweren würden. Nehmen wir z. B. an, die Gemeinschaft würde eine Richtlinie erlassen, die die Menge der von den Mitgliedstaaten produzierten atomaren Abfälle begrenzte. Meiner Meinung nach würde ein Mitgliedstaat eindeutig gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 5 und 189 des Vertrages verstossen, wenn er nach dem Erlaß der Richtlinie in ein Nuklearprogramm investierte, das die Beachtung der Richtlinie zwangsläufig unmöglich machen oder über Gebühr erschweren würde.

41 In einem solchen Fall, in dem von einem Mitgliedstaat getroffene Maßnahmen eine Lage schaffen könnten, die die Beachtung einer Richtlinie unmöglich machen oder über Gebühr erschweren würden, gäbe es gute Gründe für die Annahme, daß der Mitgliedstaat seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist verletzt hat. Die Kommission wäre dann befugt, den Gerichtshof mit der Angelegenheit als Eilsache zu befassen, um die Anwendung der Maßnahmen zu verhindern.

42 Ich schließe die Möglichkeit nicht aus, daß es unter bestimmten Umständen auch dann als Verstoß eines Mitgliedstaats gegen seine Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit (wenn auch vielleicht nicht gegen seine Umsetzungspflicht nach Artikel 189) angesehen werden könnte, wenn dieser Staat nach dem Erlaß einer Richtlinie ohne Rechtfertigung Maßnahmen träfe, die Geist und Wortlaut der Richtlinie völlig zuwiderliefen, insbesondere, wenn diese Richtlinie Rechte des einzelnen begründet. Das könnte vor allem dann der Fall sein, wenn die Maßnahmen zwar vor Ablauf der Umsetzungsfrist zurückgenommen, jedoch auch danach noch praktische Wirkungen zeitigen würden. Wie Generalanwalt Mancini in der Rechtssache Teuling ausgeführt hat, könnte ein Mitgliedstaat gegen seine Pflicht zur Zusammenarbeit verstossen, wenn er nach dem Erlaß einer Richtlinie, die Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts auf bestimmten Gebieten untersagt, Maßnahmen träfe, die auf diesen Gebieten zu Diskriminierungen führten.

43 Solche Fälle wären jedoch Ausnahmen. Entgegen der Auffassung von Inter-Environnement und der Kommission glaube ich nicht, daß es angemessen wäre, die Artikel 5 und 189 dahin auszulegen, daß sie eine allgemeine Sperrwirkung in irgendeiner der oben in Nummer 37 dargelegten Bedeutungen auslösen.

44 Die etwas extreme Auffassung, die Befugnisse der Mitgliedstaaten seien nach dem Erlaß einer Richtlinie auf das Inkraftsetzen von Umsetzungsvorschriften beschränkt, übersieht zunächst einmal, daß die Mitgliedstaaten während der Umsetzungsfrist weiterhin ihre bestehenden Regelungen anwenden dürfen und sehr wohl genötigt sein können, diese Regelungen während der Umsetzungsfrist abzuändern. Es liegt auf der Hand, daß die Mitgliedstaaten grundsätzlich die Befugnis behalten müssen, Einzelpunkte dieser Regelungen, die auf Methoden und sogar Zielen beruhen mögen, die sich materiell von denen der Richtlinie unterscheiden, abzuändern, um Stimmigkeit und Wirksamkeit der Regelungen so lange zu bewahren, bis sie durch ein gemeinschaftsrechtliches System ersetzt werden.

45 Selbst die Auferlegung einer Stillhalteverpflichtung, die es einem Mitgliedstaat verbieten würde, etwaige Unvereinbarkeiten zwischen nationalem und Gemeinschaftsrecht zu verstärken, wäre meines Erachtens unangemessen, ausser unter besonderen Umständen, wie ich sie oben beschrieben habe. Eine solche Einschränkung würde, wie die französische Regierung ausführt, die Entscheidungsfreiheit der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Richtlinien über Gebühr schmälern; in manchen Fällen könnte sie sogar dazu führen, daß die Mitgliedstaaten dem Erlaß einer Richtlinie zunächst ablehnend gegenüberstehen.

46 Nehmen wir z. B. an, der Rat erließe 1997 eine Richtlinie, die mit Wirkung vom 31. Dezember 2000 einen Hoechstsatz für die Mehrwertsteuer einführt. Ein Mitgliedstaat, der dem Erlaß der Richtlinie zugestimmt hat, rechnet sich aus, daß er für die Jahre 1999 und 2000 zusätzliche Einkünfte benötigt, um seine öffentlichen Ausgaben bestreiten zu können, was er dadurch erreichen kann, daß er den Satz der von ihm erhobenen Mehrwertsteuer für diese Jahre über diese Hoechstgrenze hinaus anhebt. Gleichzeitig plant der Staat jedoch, diese Jahre zu nutzen, um neue Rechtsvorschriften auszuarbeiten und in Kraft zu setzen, die mit Wirkung von Anfang 2001 eine Gesundheitssteuer einführen, um das Defizit bei den Steuereinnahmen auszugleichen, was es ihm gestattet, von diesem Jahr an den Mehrwertsteuer-Hoechstsatz einzuhalten. Wie mir scheint, hat der Mitgliedstaat in diesem Beispielsfall keineswegs seine Pflicht zur Zusammenarbeit verletzt, sondern sich sowohl beim Erlaß als auch bei der Umsetzung der Richtlinie kooperativ gezeigt.

47 Auch die Annahme einer impliziten Stillhalteverpflichtung wäre in Bereichen wie dem Umweltschutz unangemessen, wo die Mitgliedstaaten Maßnahmen treffen, um das Erreichen bestimmter physikalischer Parameter oder Werte sicherzustellen. Ein Mitgliedstaat mag zögern, eine Garantie dafür abzugeben, daß keine Verschlechterung der Lage eintritt und in seinen innerstaatlichen Vorschriften berücksichtigt werden muß, bevor die Maßnahmen wirksam werden, die er trifft, um die Ziele der Richtlinie zu erreichen.

48 Überdies sehen zahlreiche Richtlinien, die den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr oder die Freizuegigkeit der Personen zu gewährleisten bestimmt sind, den Ersatz von Regelungen oder Kontrollmaßnahmen des Einfuhr- oder Aufnahmestaats durch Regelungen ode Kontrollmaßnahmen des Ursprungsstaats vor. Bis zur Einführung einheitlicher Regeln, die die Übertragung von Zuständigkeiten auf den Ursprungsstaat gestatten, kann es aufgrund kommerzieller oder anderer Entwicklungen für einen Einfuhr- oder Aufnahmestaat notwendig werden, zusätzliche Regelungen oder Verfahren einzuführen, die, wenn die Richtlinie einmal umgesetzt ist, in die ausschließliche Zuständigkeit des Ursprungsstaats fallen. Führt aber der Einfuhr- oder Gaststaat irgendwelche neuen Regelungen ein, so würde dies zwangsläufig im Widerspruch zur Richtlinie stehen und eine Stillhalteverpflichtung verletzen.

49 Im Gegensatz zur Kommission glaube ich nicht, daß die Ansicht, aus den Artikeln 5 und 189 des Vertrages ergebe sich eine Stillhalteverpflichtung, aus den Urteilen des Gerichtshofes in den Rechtssachen Peskeloglou(10) oder Kommission/Vereinigtes Königreich(11) abgeleitet werden kann. Die Feststellung des Gerichtshofes im Fall Peskeloglou, während der in Artikel 45 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Akte über den Beitritt der Republik Griechenland vorgesehenen Übergangszeit dürften innerstaatliche Vorschriften über die erste Erteilung einer Arbeitserlaubnis für einen griechischen Staatsangehörigen nach Inkrafttreten der Akte nicht einschränkender gestaltet werden, beruhte auf der einschränkenden Auslegung einer Bestimmung der Akte selbst; die hier in Rede stehende Richtlinie enthält keine entsprechende Bestimmung(12).

50 Die Kommission nimmt Bezug auf diejenige Stelle im Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich, an der der Gerichtshof ausführt, daß Artikel 5 des Vertrages "in einer Situation, in der die Kommission dem Rat zur Befriedigung dringender Erhaltungsbedürfnisse Vorschläge unterbreitet hat, die, obgleich sie vom Rat nicht angenommen worden sind, den Ausgangspunkt eines abgestimmten gemeinschaftlichen Vorgehens darstellen, ... den Mitgliedstaaten besondere Handlungs- und Unterlassungspflichten [auferlegt]". Diese Bemerkungen über die Pflichten der Mitgliedstaaten standen jedoch in Zusammenhang mit Artikel 102 der Beitrittsakte vom 22. Januar 1972, kraft dessen die ausschließliche Befugnis, Maßnahmen betreffend die Erhaltung der Schätze des Meeres zu erlassen, mit Wirkung vom 1. Januar 1979 ausdrücklich der Gemeinschaft übertragen wurde.

51 Die weniger weitgehende Ansicht von Inter-Environnement, die Befugnis der Mitgliedstaaten, Maßnahmen zum Zweck der Umsetzung einer Richtlinie zu treffen, beschränke sich auf Maßnahmen, die mit der Richtlinie in Einklang stuenden, ist auf den ersten Blick weniger anfechtbar. Wie bereits bemerkt, ist es sicherlich möglich, daß die Befugnis des Gesetzgebers nach nationalem Recht in dieser Weise beschränkt ist.

52 Abgesehen von besonderen Umständen vermag ich jedoch keinen zwingenden Grund zu erkennen, weshalb eine Umsetzungsmaßnahme nach Gemeinschaftsrecht als rechtswidrig angesehen werden könnte, bevor die Umsetzungspflicht Gestalt angenommen hat. In von Einzelpersonen anhängig gemachten, auf die unmittelbare Wirkung von Richtlinien gestützten Rechtsstreitigkeiten sind die innerstaatlichen Gerichte erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist gehalten, abweichende nationale Rechtsvorschriften unbeachtet zu lassen. Es entspricht diesem Grundsatz besser, wenn man im vorliegenden Fall den Conseil d'État nach Gemeinschaftsrecht als verpflichtet ansieht, den Erlaß (falls er der Auffassung ist, dieser stehe in Widerspruch zur Richtlinie) lediglich mit Wirkung vom Tag des Ablaufs der Umsetzungsfrist an für nichtig zu erklären.

53 Schließlich scheint mir das oben dargestellte Ergebnis nicht mit der Auffassung unvereinbar zu sein, die ich in meinen Schlussanträgen im Fall Hansa Fleisch Ernst Mundt(13) vertreten habe und nach der innerstaatliche Gerichte selbst vor Ablauf der Umsetzungsfrist kraft Gemeinschaftsrecht verpflichtet sind, nationale Rechtsvorschriften, die eine Richtlinie umsetzen sollen, in Übereinstimmung mit dieser auszulegen. Wie ich in diesen Schlussanträgen ausgeführt habe, gründet die Verpflichtung, Rechtsvorschriften im Einklang mit der Richtlinie auszulegen, nicht in der Tatsache des Fristablaufs, sondern in der den nationalen Gerichten nach Artikel 5 des Vertrages obliegenden Pflicht, mit anderen nationalen Behörden bei deren Bemühen, die Richtlinie umzusetzen, zusammenzuarbeiten. Es wäre offensichtlich absurd, wollte man es den nationalen Gerichten gestatten, die Absichten des nationalen Gesetzgebers zu vereiteln, indem sie sich weigerten, Umsetzungsbestimmungen im Einklang mit der Richtlinie auszulegen, wenn eine solche Auslegung möglich ist.

Zur zweiten Frage

54 Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob die Tatsache, daß Sammeln, Vorbehandlung, Beseitigung oder Verwertung eines Stoffes in einen industriellen Produktionsprozeß einbezogen sind, dazu führt, daß der Stoff nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 75/442 fällt.

55 Im folgenden werde ich mich lediglich auf diejenigen gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften beziehen, die im vorliegenden Fall von unmittelbarer Bedeutung sind. Wegen einer umfassenderen Darstellung dieser Vorschriften verweise ich auf meine Schlussanträge in den Rechtssachen Kommission/Deutschland(14) und Tombesi u. a.(15).

56 Inter-Environnement, die Kommission, die belgische, die deutsche und die niederländische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs sind sämtlich der Ansicht, es sei nicht von Bedeutung, ob der Vorgang, um den es gehe, Teil eines industriellen Prozesses sei. Ich teile diese Auffassung.

57 Gemäß Artikel 1 Buchstabe a der Richtlinie 75/442 bedeutet "Abfall":

"alle Stoffe oder Gegenstände, die unter die in Anhang I aufgeführten Gruppen fallen und deren sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muß".

58 Anhang I der Richtlinie 75/442, auf den Artikel 1 Buchstabe a der Richtlinie verweist und der die Überschrift "Abfallgruppen" trägt, zählt verschiedene Gruppen von Abfällen auf, darunter "nachstehend nicht näher beschriebene Produktions- oder Verbrauchsrückstände" (Q1), "nicht den Normen entsprechende Produkte" (Q2), "unverwendbar gewordene Stoffe (z. B. kontaminierte Säuren, Lösungsmittel, Härtesalze usw.)" (Q7), "Rückstände aus industriellen Verfahren" (Q8), "bei der Förderung der Aufbereitung von Rohstoffen anfallende Rückstände (z. B. im Bergbau, bei der Erdölförderung usw.)" (Q11) und "kontaminierte Stoffe" (Q12). Die umfassende Definition des Begriffes "Abfälle" wird durch die abschließend genannte Kategorie verstärkt: "Stoffe oder Produkte aller Art, die nicht einer der oben erwähnten Gruppen angehören" (Q16).

59 Eine ins einzelne gehende Liste von Abfällen, bekannt als Europäischer Abfallkatalog (EAK), wurde von der Kommission gemäß Artikel 1 Buchstabe a der Richtlinie in der Entscheidung 94/3/EG(16) aufgestellt. In Punkt 3 der Einleitung des EAK heisst es:

"Der EAK ist ein harmonisiertes, nicht erschöpfendes Verzeichnis von Abfällen, d. h. ein Verzeichnis, das gemäß dem Ausschußverfahren regelmässig überprüft und gegebenenfalls geändert wird.

Die Aufnahme eines Stoffes in den EAK bedeutet jedoch nicht, daß es sich bei diesem Stoff unter allen Umständen um Abfall handelt. Der Eintrag ist nur dann von Belang, wenn die Definition von Abfall zutrifft."

60 Ein Stoff, insbesondere ein in Anhang I oder im EAK aufgezählter Stoff, ist hiernach Abfall im Sinne der Richtlinie 75/442, wenn sich der Besitzer seiner entledigt, entledigen will oder entledigen muß. Der Anwendungsbereich des Begriffes "Abfall" hängt somit von der Bedeutung des Begriffes "entledigen" ab. Wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Tombesi u. a.(17) dargelegt habe, ergibt sich aus den Bestimmungen der Richtlinie, insbesondere aus Artikel 4 und den Artikeln 8 bis 12 sowie aus den Anhängen II A und II B, daß der Begriff "sich entledigen", der in der Definition des Abfallbegriffs in Artikel 1 Buchstabe a verwendet wird, eine besondere Bedeutung hat, die nicht nur die Beseitigung von Abfällen, sondern auch deren Zuführung zu einem Verwertungsverfahren umfasst.

61 Die Richtlinie enthält keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß sich ihr Anwendungsbereich auf Beseitigungs- oder Verwertungsmaßnahmen beschränken würde, die nicht in einen industriellen Prozeß eingegliedert sind. Im Gegenteil ergibt sich aus dem Verzeichnis der Abfallgruppen in Anhang I, insbesondere aus den in Nummer 58 dieser Schlussanträge erwähnten Kategorien, sowie aus dem Verzeichnis der Beseitigungs- und Verwertungsverfahren in den Anhängen II A und II B, daß der Begriff "Abfall" hinreichend weit ist, um alle Arten von industriellen Rückständen, Nebenerzeugnissen und sonstigen aus Produktionsprozessen stammenden Stoffen zu umfassen.

62 Überdies ergibt sich aus den oben (Nr. 5) zusammenfassend wiedergegebenen Artikeln 9, 10 und 11 der Richtlinie, daß das dort aufgestellte Genehmigungserfordernis nicht nur für Unternehmen gilt, die sich auf die Beseitigung und Verwertung von Abfällen für Dritte spezialisiert haben, sondern auch für Unternehmen, die ihren eigenen Abfall beseitigen und verwerten. Der weite Anwendungsbereich der Richtlinie wird durch die Befugnis der Mitgliedstaaten bekräftigt, bestimmte Befreiungen vorzusehen. Artikel 11 gestattet es den Mitgliedstaaten, unter bestimmten, genau festgelegten Voraussetzungen Unternehmen, die die Beseitigung oder Verwertung ihrer eigenen Abfälle vornehmen, von der Genehmigungspflicht zu befreien. Handelt es sich um gefährliche Abfälle, so ist diese Befugnis zusätzlich eingeschränkt. Nach Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 91/689 dürfen die Mitgliedstaaten Unternehmen, die ihre Abfälle selbst beseitigen, insoweit nicht freistellen, als es sich um gefährliche Abfälle im Sinne dieser Richtlinie handelt. Ferner stellt Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie für die Freistellung von Unternehmen, die ihre eigenen gefährlichen Abfälle selbst verwerten, speziellere Voraussetzungen auf, die über die für allgemeine Abfälle geltenden Voraussetzungen des Artikels 11 der Richtlinie 75/442 hinausgehen.

63 Es steht somit fest, daß ein Stoff, der im Sinne der Richtlinie beseitigt oder verwertet wird, auch dann als Abfall anzusehen ist, wenn diese Beseitigung oder Verwertung Teil eines industriellen Prozesses ist. Diese Feststellung reicht aus, um dem vorlegenden Gericht die von ihm gewünschte Orientierung zu geben.

64 Die Mitgliedstaaten, die zu der zweiten Frage Bemerkungen vorgetragen haben, sind jedoch weiter gegangen und haben unter spezieller Bezugnahme auf in industriellen Prozessen erzeugte oder verwendete Stoffe die Kriterien dargelegt, nach denen sie zwischen Abfall- und Nichtabfallstoffen unterscheiden.

65 Nach Ansicht der belgischen Regierung stellt ein in Anhang I der Richtlinie aufgeführter, in einen industriellen Produktionsprozeß eingegliederter Stoff lediglich dann Abfall dar, wenn er in einer Weise verwendet wird, die nicht der Natur oder der Funktion entspricht, die ihm in einem natürlichen Prozeß zukommen oder in einem Produktions- oder sonstigen Prozeß absichtlich zugewiesen werden.

66 Die deutsche Regierung vertritt die Auffassung, daß es in Ermangelung von in der Richtlinie niedergelegten Kriterien erforderlich sei, jeden Einzelfall nach Maßgabe seiner Besonderheiten und unter Berücksichtigung der Verkehrsauffassung zu beurteilen. Die deutsche Regierung fügt ihren schriftlichen Bemerkungen ein kürzlich erstelltes Diskussionspapier der ÖCD(18) bei, das über die Kriterien orientiert, die für die Unterscheidung zwischen Abfall- und Nichtabfallstoffen im Einzelfall von Bedeutung sein können. Ich werde mich weiter unten mit diesem Dokument näher befassen.

67 Die niederländische Regierung und die Regierung des Vereinigten Königreichs vertreten ähnliche Auffassungen wie diejenigen, die sie in der Rechtssache Tombesi u. a.(19) dargelegt haben. Die niederländische Regierung unterscheidet zwischen Abfällen und sekundären Rohstoffen. Die den Abfallrichtlinien zugrunde liegenden umweltpolitischen Ziele bedeuteten, daß sehr strenge Voraussetzungen erfuellt sein müssten, damit ein Stoff als sekundärer Rohstoff eingestuft werden könne. Der Stoff müsse direkt vom Erzeuger zu derjenigen Person verbracht werden, die weiterhin Gebrauch von ihm machen wolle; er müsse zu 100 % in einem Produktionsprozeß verwendet werden, z. B. als Ersatz für einen primären Rohstoff; er dürfe keinem Verfahren unterliegen, das mit einer gängigen Form der Abfallbeseitigung oder -verwertung vergleichbar sei.

68 Nach Ansicht des Vereinigten Königreichs stellt ein Stoff Abfall dar, wenn er einem Beseitigungsverfahren im Sinne von Anhang II A oder einem Verfahren zugeführt wird, das aufgrund der Tatsache, daß es eindeutig mit der Verwertung von Abfällen verbunden ist, unter Anhang II B fällt. Produktionsrückstände, sekundäre Rohstoffe und nützliche Nebenprodukte, die in gleicher Weise wie andere nicht aus Abfällen stammende Rohstoffe in industriellen Produktionsprozessen verwendet würden, stellten keine Abfälle dar, sofern sie keinem Verfahren unterworfen würden, das eindeutig mit der Verwertung von Abfällen in Verbindung stehe. Produktionsrückstände, die aufgrund einer Verfälschung oder wegen anderer ähnlicher Gründe, die mit ihrer Natur als sekundäre Rohstoffe zusammenhingen, zum Schutz der menschlichen Gesundheit oder der Umwelt unter anderen Bedingungen als denjenigen aufbereitet werden müssten, die bei anderen, nicht aus Abfällen stammenden Rohstoffen erforderlich seien, müssten als für Verwertungsverfahren im Sinne von Anhang II B bestimmt angesehen werden und stellten Abfall dar.

69 Wie mir scheint, wäre es möglich - und könnte im Interesse der Rechtssicherheit wünschenswert sein -, daß der Gerichtshof angesichts der in der vorliegenden Sache vorgelegten Erklärungen einige allgemeine Orientierungen über die Unterscheidung zwischen der Beseitigung von Abfällen im Sinne der Richtlinie und der normalen industriellen Aufbereitung von Nichtabfallprodukten gibt. Wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Tombesi u. a.(20) ausgeführt habe, muß es jedoch beim gegenwärtigen Stand der Richtlinie bis zu einem gewissen Grad den Mitgliedstaaten überlassen bleiben, detailliertere Kriterien für die Anwendung der Normen der Richtlinie, so wie der Gerichtshof diese ausgelegt hat, auf die verschiedenen Sachverhalte zu entwickeln, die sich in der Praxis ergeben können.

70 Eine derartige Betrachtungsweise steht überdies im Einklang mit der sich aus dem Vertrag ergebenden Zuständigkeitsverteilung zwischen dem Gerichtshof und den innerstaatlichen Gerichten. Es ist Sache der innerstaatlichen Gerichte, zu prüfen, ob die nationalen Behörden die Richtlinie im Einzelfall ordnungsgemäß angewandt haben.

71 Obwohl die Regierungen, die sich im vorliegenden Verfahren geäussert haben, unterschiedliche Kriterien für die Anwendung der Richtlinie genannt haben, besteht, wie mir scheint, dennoch weitgehende Übereinstimmung. Ferner lässt sich aus dem von der deutschen Regierung vorgelegten ÖCD-Dokument schließen, daß das gleiche für die ÖCD-Länder gilt. Obwohl das Dokument für einen anderen Zweck erstellt wurde (nämlich die Anwendung des Begriffs "Abfall" im Zusammenhang mit einer ÖCD-Entscheidung), enthält es eine nützliche vergleichende Übersicht über die maßgebliche Rechtslage und Praxis der ÖCD-Länder.

72 Das Dokument stellt fest, daß die ÖCD-Länder gewöhnlich zwischen Primärrohstoffen, Rückständen und Sekundärrohstoffen unterscheiden. Primärrohstoffe werden als aus natürlichen Quellen gewonnene, zur Verwendung in Fabrikations- oder Produktionsverfahren bestimmte Stoffe (z. B. in Bergwerken oder Steinbrüchen abgebaute Mineralien, Rohöl, geerntete Feldfrüchte) definiert. Solche Stoffe werden nicht als Abfall angesehen, weil sie absichtlich gewonnen wurden (obwohl ich vermute, daß selbst Primärrohstoffe zu Abfall werden können, wenn der Besitzer sich entschlossen hat, sie zu beseitigen).

73 Rückständige Stoffe oder Rückstände werden als Stoffe definiert, die während der Herstellung oder der Verwendung eines Produktes unvermeidbar anfallen. Ein solcher Stoff kann unmittelbar als tatsächlicher Ersatz für ein Produkt oder als Zutat in einem anderen Herstellungsverfahren zur Schaffung eines unterschiedlichen Produktes verwendet werden, oder er kann ohne zusätzliche Aufbereitung nicht unmittelbar verwendet werden. Manche Länder definieren den Begriff "Nebenerzeugnis" in der gleichen Weise. Solche Stoffe werden im allgemeinen als Abfälle angesehen, es sei denn, sie können als tatsächlicher Ersatz für ein anderes Erzeugnis oder als Zutat in einem sonstigen Prozeß, mit Ausnahme von Verwertungsverfahren, verwendet werden. In beiden Fällen muß jegliche unmittelbare Verwendung umweltfreundlich sein, d. h. den gleichen Normen, Regelungen und Spezifizierungen entsprechen wie das Produkt oder die Zutat, die der Stoff ersetzt.

74 Dem ÖCD-Dokument zufolge verwenden die Mitgliedstaaten dieser Organisation den Begriff "Sekundärrohstoff" in drei verschiedenen Bedeutungen: a) Stoff, der nicht mehr zu dem ursprünglich verfolgten Zweck verwendet werden kann, sondern sich in einem Zustand befindet, der es gestattet, ihn unmittelbar in einem Produktionsprozeß als Ersatz für einen Primärrohstoff zu verwenden (in diesem Fall ist er wohl kein Abfall); b) Stoff, der in dieser Weise erst verwendet werden kann, nachdem er einem Verwertungsprozeß unterzogen wurde (und daher wohl Abfall ist); c) Stoff, der einem Verwertungsprozeß unterzogen wurde und nunmehr in einem Produktionsprozeß verwendet werden kann (und deshalb wohl kein Abfall mehr ist).

75 Obwohl damit anscheinend die Grenze des internationalen Konsenses über diesen Gegenstand erreicht ist, stellt das ÖCD-Dokument fest, daß die Mitgliedstaaten der Organisation auf eine Reihe anderer Kriterien zurückgreifen, um zu bestimmen, ob ein Stoff in einem gegebenen Fall Abfall darstellt. Ich halte es für nützlich, diese Kriterien in vollem Umfang wiederzugeben:

"1. Wird der Stoff absichtlich produziert?

2. Unterliegt die Produktion des Stoffes einer Qualitätskontrolle?

3. Entspricht der Stoff klar herausgearbeiteten, auf nationaler und internationaler Ebene anerkannten Spezifizierungen/Normen?

4. Berücksichtigen diese Normen über technische oder wirtschaftliche Überlegungen hinaus auch umweltpolitische Überlegungen?

5. Wird der Stoff hergestellt, um auf die Nachfrage des Marktes zu reagieren?

6. Ist der wirtschaftliche Gesamtwert des Stoffes negativ?

7. Bedarf der Stoff weiterer Bearbeitung, bevor er unmittelbar für Zwecke der Herstellung/des Handels verwendet werden kann?

8. Beschränkt sich diese Bearbeitung auf kleinere Korrekturen?

9. Eignet sich der Stoff noch für seinen ursprünglichen Zweck?

10. Kann der Stoff für einen anderen Zweck als Ersatzstoff verwendet werden?

11. Ist die Verwendung des Stoffes ebenso umweltfreundlich wie die eines Primärerzeugnisses?

12. Wird der Stoff tatsächlich in einem Produktionsprozeß verwendet?

13. Findet der Stoff eine eindeutig feststehende Verwendung?

14. Gefährdet die Verwendung des Stoffes in einem Produktionsprozeß die menschliche Gesundheit oder die Umwelt stärker als die Verwendung des entsprechenden Rohstoffs?

15. Ist der Stoff nicht mehr Bestandteil des normalen Handelszyklus/der normalen Nutzungskette?

16. Kann der Stoff in seiner gegenwärtigen Form oder in der gleichen Weise wie ein Rohstoff verwendet werden, ohne daß er einem Verwertungsprozeß unterworfen werden müsste?

17. Kann der Stoff nur verwendet werden, nachdem er einem Verwertungsprozeß unterzogen wurde?"(21)

76 Das Dokument fährt dann wie folgt fort(22):

"Bei diesem Fragenkatalog ist zu beachten, daß die einzelnen Fragen nicht speziell gewichtet werden können und kein Urteil über ihre Anwendung möglich ist, da sie in den verschiedenen Ländern in unterschiedlicher Weise verwendet werden. Einige dieser Fragen überschneiden einander; die Liste ist nicht erschöpfend. Um den Status eines Stoffes abschließend beurteilen zu können, müssen alle diese Fragen zum Zweck der Qualifizierung in Betracht gezogen werden."

77 In meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Tombesi u. a.(23) habe ich ausgeführt, daß der Gemeinschaftsrichtlinie eine implizite Unterscheidung zwischen Nichtabfallstoffen, die in ihrer bestehenden Form weiterverwendet werden, und solchen Abfällen zugrunde liegt, die einem Verwertungsverfahren unterzogen werden. So würde ein Nebenprodukt oder ein Rückstand keinen Abfall darstellen, wenn sie in ihrer bestehenden Form zur direkten Verwendung in einem weiteren Prozeß bestimmt wären, wenn sie also nicht dazu bestimmt wären, vor der Weiterverwendung beseitigt oder einem Verwertungsverfahren zugeführt zu werden. Ich habe jedoch betont, daß die Unterscheidung zwischen unmittelbarer Verwendung und Verwertung ein besonderes Problem aufwirft.

78 Wie mir scheint, liefert die vorstehende vergleichende Übersicht weitere Anhaltspunkte für die Lösung dieser Schwierigkeiten und steht auch im Einklang mit den grundlegenden Ergebnissen, zu denen ich in der Rechtssache Tombesi gelangt bin. Nach dem ÖCD-Dokument besteht allgemeine Übereinstimmung darüber, daß ein Sekundärrohstoff oder Rückstand, der unmittelbar in einem weiteren Verfahren verwendet werden kann, möglicherweise als Ersatz für einen Primärrohstoff, wahrscheinlich keinen Abfall darstellt. Auf der anderen Seite wird er als Abfall anzusehen sein, wenn er zunächst einem Verwertungsverfahren unterzogen werden muß. Ähnliche Überlegungen scheinen einer Reihe detaillierter Kriterien zugrunde zu liegen, die von einzelnen Ländern angewandt werden (vgl. insbesondere die Fragen 7, 8, 9, 10, 12, 13, 15, 16 und 17 in Nr. 75 dieser Schlussanträge).

79 Was die manchmal schwierige Unterscheidung zwischen Abfallverwertung und unmittelbarer Verwendung von Nichtabfallstoffen betrifft, von der oben (Nr. 73) die Rede war, scheint zwischen den ÖCD-Ländern allgemeine Übereinstimmung darüber zu bestehen, daß es darauf ankommt, ob die Verwendung eines Rückstands oder Nebenerzeugnisses als Ersatz für einen anderen Stoff oder eine andere Zutat ebenso umweltfreundlich ist wie die Verwendung des Stoffes oder der Zutat, die der Rückstand oder das Nebenerzeugnis ersetzt; mit anderen Worten, ob sie im Einklang mit den Normen, Regelungen und Spezifizierungen steht, die auf das genannte Produkt Anwendung finden. Wiederum scheint es, daß ähnliche Überlegungen einigen der detaillierteren Kriterien zugrunde liegen (vgl. insbesondere die in Nr. 75 aufgeführten Fragen 3, 4, 11 und 14).

80 Ich meine, daß bei der Auslegung des Begriffes "Abfall" in den Rechtsvorschriften der Gemeinschaft eine ähnliche Betrachtungsweise angebracht ist. Die Richtlinie will sicherstellen, daß Abfälle ohne Gefährdung der menschlichen Gesundheit und ohne den Rückgriff auf umweltschädliche Verfahren oder Methoden verwertet oder beseitigt werden(24). Der Begriff "Abfall" muß daher hinreichend weit ausgelegt werden, damit sichergestellt ist, daß jede Bearbeitung eines Stoffes, die wegen dessen Eigenschaft als Abfall erfolgt, unter die Regelung der Richtlinie fällt. So ist ein Stoff, der als Rückstand, Nebenprodukt, Sekundärrohstoff oder sonstiger aus einem industriellen Prozeß hervorgegangener Stoff anzusehen ist - oder das Verfahren, dem er unterzogen wird - und aus diesem Grund den normalen gesundheits- und umweltpolitischen Erfordernissen oder Normen nicht genügt, als Abfall anzusehen, der den besonderen Vorschriften der Richtlinie unterliegt. Soweit ein Stoff vollständig mit einem anderen Erzeugnis austauschbar ist und keiner zusätzlichen Regelungen oder Kontrollen über diejenigen hinaus bedarf, denen das genannte Erzeugnis unterworfen ist, ist es nicht notwendig, ihn als Abfall einzustufen.

81 Ich komme daher zu dem Ergebnis, daß die blosse Tatsache, daß ein Beseitigungs- oder Verwertungsvorgang im Sinn der Richtlinie im Rahmen eines industriellen Prozesses stattfindet, diesen Vorgang nicht aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herausnimmt. Für die Unterscheidung zwischen Abfallverwertung und Bearbeitung von Nichtabfallstoffen kommt es darauf an, ob ein Stoff dazu bestimmt ist, unmittelbar in seiner bestehenden Form weiterverwendet zu werden. Im Fall von Rückständen, Nebenerzeugnissen, Sekundärrohstoffen oder sonstigen aus industriellen Prozessen hervorgegangenen Stoffen ist diese Bedingung erfuellt, wenn der Stoff oder das Verfahren, dem er zugeführt werden soll, den normalen gesundheits- und umweltpolitischen Erfordernissen genügt, wie sie für Nichtabfallprodukte oder -verfahren gelten.

82 Nach dem gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts ist es Sache der Mitgliedstaaten, weitere, detailliertere Kriterien für die Anwendung der Vorschriften der Richtlinie auf Einzelfälle zu bestimmen. Zum Beispiel besteht das Problem, daß die blosse Möglichkeit, einen Stoff einer unmittelbaren Verwendung in einem anderen Prozeß zuzuführen, ohne ihn einem Verwertungsverfahren zu unterwerfen, für sich allein nicht gewährleistet, daß er tatsächlich in dieser Weise verwendet wird; eine Reihe der im ÖCD-Dokument erwähnten zusätzlichen Kriterien können sehr wohl von Bedeutung sein, wenn es um die Feststellung geht, ob der Besitzer beabsichtigt, den Stoff einer solchen Verwendung zuzuführen (siehe z. B. die Fragen 3, 5, 6 und 12 in Nr. 75).

83 Es wäre daher nicht zweckmässig, in diesem Stadium eine weitergehende Definition des Abfallbegriffs für die Zwecke des Gemeinschaftsrechts vorzunehmen.

Ergebnis

84 Meines Erachtens sollten die Fragen des belgischen Conseil d'État nach alledem wie folgt beantwortet werden:

1. Bei der Prüfung der Rechtmässigkeit innerstaatlicher Maßnahmen, die nach Erlaß einer Richtlinie, jedoch vor Ablauf der für deren Umsetzung gesetzten Frist ergangen sind, müssen die nationalen Gerichte die Verpflichtungen berücksichtigen, die die Richtlinie dem betroffenen Mitgliedstaat auferlegt. Sie können daher gehalten sein, die innerstaatliche Maßnahme mit Wirkung vom Tag des Fristablaufs für nichtig zu erklären.

2. Ein Stoff, der an sich Abfall im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a der Richtlinie 75/442/EWG des Rates in der Fassung der Richtlinie 91/156/EWG des Rates darstellen würde, verliert diese Eigenschaft nicht schon deswegen, weil der Beseitigungs- oder Verwertungsvorgang, dem er unterworfen ist, in einen industriellen Produktionsprozeß eingegliedert ist. Für die Unterscheidung zwischen Abfallverwertung und Bearbeitung von Nichtabfallstoffen kommt es darauf an, ob ein Stoff dazu bestimmt ist, in seiner bestehenden Form unmittelbar einer Weiterverwendung zugeführt zu werden. Im Fall von Rückständen, Nebenerzeugnissen, Sekundärrohstoffen oder sonstigen aus industriellen Prozessen hervorgegangenen Stoffen ist diese Voraussetzung erfuellt, wenn der Stoff oder das Verfahren, dem er zugeführt werden soll, den normalen gesundheits- und umweltpolitischen Erfordernissen genügt, wie sie für Nichtabfallprodukte oder -verfahren gelten.

(1) - Richtlinie des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle (ABl. L 194, S. 47).

(2) - Richtlinie des Rates vom 18. März 1991 zur Änderung der Richtlinie 75/442 über Abfälle (ABl. L 78, S. 32).

(3) - Richtlinie vom 12. Dezember 1991 (ABl. L 377, S. 20).

(4) - Urteil vom 5. April 1979 in der Rechtssache 148/78 (Slg. 1979, 1629, Randnrn. 22 bis 24).

(5) - Randnrn. 43 und 44 sowie Nr. 5 des Tenors. Vgl. auch das Urteil vom 3. März 1994 in der Rechtssache C-316/93 (Vaneetveld, Slg. 1994, I-763, Randnr. 16).

(6) - Urteil vom 11. Juni 1987 in der Rechtssache 30/85 (Slg. 1987, 2497, Nr. 7 der Schlussanträge).

(7) - Richtlinie des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24).

(8) - Vgl. z. B. das Urteil vom 7. Februar 1979 in den verbundenen Rechtssachen 15/76 und 16/76 vom 7. Februar 1979 (Frankreich/Kommission, Slg. 1979, 321).

(9) - Urteil vom 22. Januar 1997 in der Rechtssache T-115/94 (Slg. 1997, II-39, Randnrn. 87 ff.).

(10) - Urteil vom 23. März 1983 in der Rechtssache 77/82 (Slg. 1983, 1085).

(11) - Urteil vom 5. Mai 1981 in der Rechtssache 804/79 (Slg. 1981, 1045).

(12) - Im gleichen Sinne S. Prechal, Directives in European Community Law, Clarendon Preß, Oxford, 1995, S. 26.

(13) - Urteil vom 10. November 1992 in der Rechtssache C-156/91 (Slg. 1992, I-5567).

(14) - Urteil vom 10. Mai 1995 in der Rechtssache C-422/92 (Slg. 1995, I-1097, insbesondere Nrn. 2 bis 11 meiner Schlussanträge).

(15) - Urteil vom 25. Juni 1997 in den verbundenen Rechtssachen C-304/94, C-330/94, C-342/94 und C-224/95 (Slg. 1997, I-3561, Schlussanträge vom 24. Oktober 1996, insbesondere Nrn. 2 bis 18).

(16) - Entscheidung der Kommission vom 20. Dezember 1993 über ein Abfallverzeichnis gemäß Artikel 1 Buchstabe a der Richtlinie 75/442/EWG des Rates über Abfälle (ABl. 1994, L 5, S. 15).

(17) - Zitiert in Fußnote 15, Nr. 50.

(18) - "Discussion Paper on guidance for distinguishing waste from non-waste" (Diskussionspapier über Richtlinien für die Unterscheidung zwischen Abfall und Nichtabfall), herausgegeben von der Waste Management Policy Group (Arbeitsgruppe für Abfallpolitik) der ÖCD, ENV/EPOC/WMP (96)1.

(19) - Zitiert in Fußnote 15; siehe die Nrn. 47 und 48 der Schlussanträge.

(20) - Nr. 56 der Schlussanträge.

(21) - Punkt 17 des Dokuments.

(22) - Punkt 18.

(23) - Zitiert in Fußnote 15, Nrn. 53 und 54.

(24) - Artikel 4.

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