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Document 61991CC0333

Schlussanträge des Generalanwalts Van Gerven vom 20. Januar 1993.
Sofitam SA (vormals Satam SA) gegen Ministre chargé du Budget.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Conseil d'Etat - Frankreich.
Auslegung des Artikels 19 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie - Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs - Dividenden.
Rechtssache C-333/91.

European Court Reports 1993 I-03513

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1993:21

61991C0333

Schlussanträge des Generalanwalts Van Gerven vom 20. Januar 1993. - SOFITAM SA GEGEN MINISTRE DU BUDGET. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: CONSEIL D'ETAT - FRANKREICH. - AUSLEGUNG DES ARTIKELS 19 DER SECHSTEN MEHRWERTSTEUER-RICHTLINIE - BERECHNUNG DES PRO-RATA-SATZES DES VORSTEUERABZUGS - DIVIDENDEN. - RECHTSSACHE C-333/91.

Sammlung der Rechtsprechung 1993 Seite I-03513


Schlußanträge des Generalanwalts


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Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1. Der französische Conseil d' État hat den Gerichtshof ersucht, sich zu dem durch die Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie(1) eingeführten Systems des Pro-rata-Vorsteuerabzugs zu äussern, wie er auf Dividenden bei Beteiligungen an gemischten Holdinggesellschaften Anwendung findet. Gemischte Holdinggesellschaften sind Unternehmen, die zusätzlich zu ihrer Holdingtätigkeit, die in der Verwaltung von Beteiligungen an anderen Gesellschaften besteht, eine Wirtschaftstätigkeit ausüben. Das vom französischen Conseil d' État in Gang gebrachte Vorabentscheidungsverfahren fusst auf einem Rechtsstreit, in dem sich die Aktiengesellschaft französischen Rechts Sofitam (früher Satam) und der französische Minister für Haushaltswesen gegenüberstehen.

Hintergrund des Ausgangsverfahrens

2. Zweck der Sofitam ist die Verwaltung beweglichen und unbeweglichen Vermögens. Ihre Haupttätigkeit als Muttergesellschaft mehrerer Gesellschaften gleichen Namens, die Benzinpumpen herstellen und verkaufen, besteht in der Verwaltung eines Beteiligungspakets. Zusätzlich zu dieser Tätigkeit vermietet sie Grundstücke, was der Mehrwertsteuer unterliegt.

Aufgrund ihrer Beteiligung am Kapital ihrer Tochtergesellschaften bezieht Sofitam Dividenden. Sie erbringt zugleich eine Reihe von Dienstleistungen für die Gesellschaften ihres Konzerns, wofür sie zusätzlich zu der Erstattung bestimmter Personalkosten im Gegenzug Gebühren und Vergütungen erhält. Nach dem Vorlageurteil greift sie nicht in die Verwaltung ihrer Tochtergesellschaften ein und begnügt sich mit der Ausübung ihrer Aktionärsrechte.

3. Sofitam zog von der Mehrwertsteuer, die sie für den Zeitraum vom 1. Januar 1976 bis zum 31. Dezember 1979 schuldete, den Gesamtbetrag der Mehrwertsteuer ab, der für den gleichen Zeitraum für die ihr geleisteten Gegenstände und Dienstleistungen zu entrichten gewesen war, berücksichtigte allerdings bei der Errechnung des Vorsteuerabzugs die Dividenden, die sie bezogen hatte, nicht. Die französische Steuerverwaltung prüfte für diesen Zeitraum die Buchführung von Sofitam und stellte fest, daß ihre Einkunftsquellen zum einen die Vermietung von Grundstücken und sonstige der Mehrwertsteuer unterliegende Tätigkeiten, zum anderen (nicht der Mehrwertsteuer unterliegende) Dividenden waren, die sie aus ihrer Beteiligung am Kapital ihrer Tochtergesellschaften bezog.

Nach Auffassung der Verwaltung war der Vorsteuerabzug nach den Vorschriften der Artikel 212, 214 und 219 Buchstabe c des Anhangs II des Code général des impôts de la République française (nachstehend: französisches Gesetz) zu errechnen, die auf Unternehmen anwendbar sind, die nicht für den Gesamtbereich ihrer Tätigkeiten der Mehrwertsteuer unterliegen. Das lief darauf hinaus, daß Sofitam die Mehrwertsteuer, die sie für die ihr gelieferten Gegenstände und Dienstleistungen entrichtet hatte, nur pro rata, d. h. nur mit den Prozentsätzen abziehen konnte, die sich aus dem Verhältnis zwischen dem Jahresbetrag der der Mehrwertsteuer unterliegenden Umsätze und dem Jahresbetrag sämtlicher Umsätze einschließlich der von Sofitam bezogenen Dividenden ergaben. Auf der Grundlage dieser Berechnungsweise berichtigte die Verwaltung die Steuerschuld von Sofitam.

4. Gegen diese Berichtigung legte Sofitam Einspruch ein und brachte vor, daß Aktiendividenden, selbst wenn sie von einem Unternehmen bezogen würden, das wie sie nicht für den Gesamtbereich seiner Tätigkeiten der Mehrwertsteuer unterliege, nicht zu den Faktoren der Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs nach Artikel 212 des französischen Gesetzes gehörten. Diese Dividenden seien keine "Einnahmen" im Sinne der angeführten Vorschrift, da es sich nicht um Finanzerträge aus einer Produktions- oder Dienstleistungstätigkeit industrieller oder kaufmännischer Natur handele, sondern um Kapitalumsätze, die auf seiten des Aktionärs keine Ausübung einer Tätigkeit voraussetzten, die sich in der Erzielung eines "Umsatzes" im Sinne des Artikels 19 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie niederschlage. Jede andere Anwendung des Artikels 212 verstosse gegen Artikel 19 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie.

5. Da ihr Antrag auf Entlastung von den Mehrwertsteuererhöhungen für den Zeitraum vom 1. Januar 1976 bis zum 31. Dezember 1979 vom Tribunal administratif Paris zurückgewiesen wurde, beantragte Sofitam beim Conseil d' État, dieses Urteil aufzuheben und den streitigen Steueränderungsbescheid zu widerrufen.

Der Conseil d' État vertrat die Auffassung, daß die Entscheidung des Ausgangsverfahrens von der Beantwortung der Frage abhänge, ob der von Sofitam gegen Artikel 212 des französischen Gesetzes erhobene Einwand der Rechtswidrigkeit begründet sei oder nicht. Aus diesem Grund hat der Conseil d' État dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Artikel 19 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, daß Dividenden, die ein Unternehmen erhält, das nicht für die Gesamtheit seiner Tätigkeit mehrwertsteuerpflichtig ist, im Nenner des Bruches, der zur Berechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs dient, unberücksichtigt zu lassen sind, oder ist Artikel 19 aufgrund des Zweckes und der Systematik der in der Richtlinie enthaltenen Regelung über den Vorsteuerabzug, die sich namentlich aus den Artikeln 17 und 19 ergibt, vielmehr dahin auszulegen, daß Dividenden wie von der Mehrwertsteuer befreite Erträge in diesem Nenner berücksichtigt werden müssen?

6. Vor der Beantwortung der Vorlagefrage des Conseil d' État scheint es mir angezeigt, zwei wichtige Gesichtspunkte, nämlich den Zweck und die Systematik der von der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie eingeführten Vorsteuerabzugsregelung sowie die Bedeutung der Begriffe "Steuerpflichtiger" und "wirtschaftliche Tätigkeiten" im Sinne dieser Richtlinie vorab zu behandeln.

Zweck und Systematik des Vorsteuerabzugssystems der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie

7. Wie der Gerichtshof bereits mehrfach ausgeführt hat,

"ist es ein grundliegendes Element des Mehrwertsteuersystems, daß bei allen Umsätzen die Mehrwertsteuer abzueglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet wird, der die verschiedenen Kostenelemente der Gegenstände und Dienstleistungen unmittelbar belastet. Ferner ist der Mechanismus des Vorsteuerabzugs so ausgestaltet, daß allein die Steuerpflichtigen befugt sind, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, mit der die Gegenstände bereits vorher belastet worden sind."(2)

Die von der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie eingeführte Vorsteuerabzugsregelung soll also dazu führen,

"daß der Unternehmer durch die Regelung über den Vorsteuerabzug vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden soll. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet daher, daß alle wirtschaftlichen Tätigkeiten, sofern sie der Mehrwertsteuer unterliegen, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis in völlig neutraler Weise steuerlich belastet werden."(3)

Die Regeln über den Vorsteuerabzug in den Artikeln 17 bis 20 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie müssen im Lichte dieser Zielsetzung verstanden werden.

8. Artikel 17 der Richtlinie regelt den Grundsatz des Vorsteuerabzugs. Gemäß Absatz 2 dieser Vorschrift ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden, abzuziehen, "soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden"(4). Der Gerichtshof sieht in diesem letzten Merkmal, wie er in dem Urteil Leesportefeuille Intiem ausgeführt hat, das Erfordernis eines Zusammenhangs mit der Geschäftstätigkeit: Der Vorsteuerabzug betrifft lediglich "Gegenstände und Dienstleistungen, die mit der Ausübung der Geschäftstätigkeit des Steuerpflichtigen zusammenhängen"(5). Aus diesem Grund bestimmt auch Artikel 17 Absatz 6, daß "diejenigen Ausgaben vom Vorsteuerabzugsrecht ausgeschlossen [sind], die keinen streng geschäftlichen Charakter haben". Der Gerichtshof hat daher im Urteil Leesportefeuille Intiem ausserdem festgestellt, daß

"dieser Mechanismus des Vorsteuerabzugs so anzuwenden ist, daß sein Anwendungsbereich so weit wie möglich dem Bereich der Geschäftstätigkeit des Steuerpflichtigen entspricht"(6).

9. Für Gegenstände und Dienstleistungen, die von einem Steuerpflichtigen sowohl für Umsätze verwendet werden, für die (nach Artikel 17 Absätze 2 und 3) ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht, als auch für Umsätze, für die dieses Recht nicht besteht, bestimmt Artikel 17 Absatz 5 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie, daß "der Vorsteuerabzug nur für den Teil der Mehrwertsteuer zulässig [ist], der auf den Betrag der erstgenannten Umsätze entfällt".

Gemäß Artikel 19 Absatz 1 ergibt sich dieser Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs aus einem Bruch; dieser enthält:

"° im Zähler den je Jahr ermittelten Gesamtbetrag der zum Vorsteuerabzug nach Artikel 17 Absätze 2 und 3 berechtigenden Umsätze, abzueglich der Mehrwertsteuer;

° im Nenner den je Jahr ermittelten Gesamtbetrag der im Zähler stehenden sowie der nicht zum Vorsteuerabzug berechtigenden Umsätze, abzueglich der Mehrwertsteuer ..."

10. Artikel 17 Absatz 5 und Artikel 19 Absatz 1 geben nicht näher an, was unter "Umsätzen" zu verstehen ist, und insbesondere auch nicht, was von den "nicht zum Vorsteuerabzug berechtigenden Umsätzen" erfasst wird, die im Nenner des in Artikel 19 Absatz 1 festgelegten Bruches zu berücksichtigen sind, mit dessen Hilfe der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs errechnet werden soll. Auf den ersten Begriff werde ich später zurückkommen (siehe Nr. 15 meiner Schlussanträge). Zu dem zweiten Begriff lässt sich bereits jetzt feststellen, daß er, wie sich aus der durch die Richtlinie eingeführten Regelung selbst ergibt, auf jeden Fall die Umsätze erfasst, die mit den von der Mehrwertsteuer befreiten Tätigkeiten zusammenhängen. Es wäre nämlich mit der Bemühung des Gemeinschaftsgesetzgebers um Neutralität unvereinbar, wenn ein Steuerpflichtiger die Mehrwertsteuer, mit der Gegenstände und Dienstleistungen belastet waren, die er für wirtschaftliche Tätigkeiten verwendet, die selbst durch die Richtlinie von der Mehrwertsteuer befreit werden, abziehen könnte. Der Gerichtshof hat dies im Urteil Becker bestätigt, indem er entschieden hat, "daß nach dem System der Richtlinie die unter einen Steuerbefreiungstatbestand fallenden Steuerpflichtigen durch die Inanspruchnahme der Befreiung zwangsläufig auf das Recht auf Vorsteuerabzug verzichten"(7).

Die vom Conseil d' État vorgelegte Frage geht aber dahin, ob Dividenden aus Beteiligungen und Gesellschaften ebenfalls einen "Umsatz" in Form wirtschaftlicher Tätigkeiten darstellen, die nach dem Beispiel der von der Mehrwertsteuer befreiten Umsätze in den Nenner des Pro-rata-Bruches nach Artikel 19 Absatz 1 aufzunehmen sind.

Die Begriffe "Steuerpflichtiger" und "wirtschaftliche Tätigkeiten" im Sinne der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie

11. Wie ich oben unter Nummer 7 ausgeführt habe, hängt das von der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie eingeführte Recht zum Vorsteuerabzug von der Eigenschaft als Steuerpflichtiger ab. Als Steuerpflichtigen bezeichnet Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie denjenigen, der "eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis". Nach Artikel 4 Absatz 2 sind die in Absatz 1 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden und insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nichtkörperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen. Der Gerichtshof legt den Begriff der "Nutzung" weit aus; er kann alle Umsätze ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform umfassen, die den betreffenden Gegenstand zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen einsetzen(8).

Die Rechtssache Polysar hat dem Gerichtshof Gelegenheit gegeben, die Begriffe "wirtschaftliche Tätigkeiten" und "Nutzung" ° und folglich auch den Begriff "Steuerpflichtiger" ° in einem Zusammenhang zu klären, in dem es sich um reine Holdinggesellschaften handelte, d. h. um Holdinggesellschaften, deren Tätigkeit einzig und allein in der Verwaltung von Beteiligungen an Tochtergesellschaften bestand. Der Gerichtshof ist zu dem Ergebnis gelangt, daß der blosse Erwerb und das blosse Halten von Gesellschaftsanteilen nicht als wirtschaftliche Tätigkeiten im Sinne der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie betrachtet werden könnten, die demjenigen, der sie ausübe, die Eigenschaft des Steuerpflichtigen verschafften. Er hat nämlich entschieden:

"Der blosse Erwerb von Beteiligungen an anderen Unternehmen stellt ... keine Nutzung eines Gegenstands zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen dar, weil eine etwaige Dividende als Ergebnis dieser Beteiligung Ausfluß der blossen Innehabung des Gegenstands ist."(9)

Der Gerichtshof hat indessen sofort ergänzt, daß etwas anderes gelte,

"wenn die Beteiligung unbeschadet der Rechte, die der Beteiligungsgesellschaft in ihrer Eigenschaft als Aktionär oder Gesellschafterin zustehen, mit einem unmittelbaren oder mittelbaren Eingreifen in die Verwaltung der Gesellschaften einhergeht, an denen die Beteiligung besteht"(10).

12. Das Urteil Polysar betraf, wie gesagt, eine reine Holdinggesellschaft. Wie sich dem letzten Zitat entnehmen lässt, ist davon auszugehen, daß auch eine solche reine Holdinggesellschaft Steuerpflichtiger im Sinne der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie ist, wenn sie in die Verwaltung der Gesellschaften eingreift, an denen sie Beteiligungen erworben hat.

In der Sache, die uns heute beschäftigt, handelt es sich hingegen um eine gemischte Holdinggesellschaft. Die uns bekannten Tatsachen zeigen nämlich, daß Sofitam zusätzlich zu der Verwaltung ihres Anteilsbestandes verwandten Tätigkeiten nachgeht, die der Mehrwertsteuer unterliegen. Dieser Umstand genügt bereits, um Sofitam zum Steuerpflichtigen im Sinne der Richtlinie zu machen, und verleiht ihr ebenfalls das Recht zum Vorsteuerabzug vorbehaltlich der Modalitäten, die ich bereits aufgezeigt habe (oben Nrn. 8 und 9). Daß Sofitam nicht in die Verwaltung der Gesellschaften eingreift, an denen sie Beteiligungen erworben hat, steht der Eigenschaft als Steuerpflichtiger nicht entgegen.

Die Berücksichtigung der Dividenden bei der Errechnung des Pro-rata-Satzes des Vorsteuerabzugs

13. Das Urteil Polysar ist zwar im vorliegenden Fall nicht für die Feststellung der Eigenschaft als Steuerpflichtiger, wohl aber für die Beantwortung der Frage von Bedeutung, ob Dividenden bei der Berechnung des Pro-rata-Abzugs berücksichtigt werden müssen. Zwei Standpunkte sind vor dem Gerichtshof insoweit vertreten worden: Sofitam und die Kommission sind der Auffassung, daß Dividenden bei der Berechnung des Pro-rata-Abzugs nicht zu berücksichtigen seien, während die Französische Republik, die Griechische Republik und ° mit gewissen Vorbehalten ° die niederländische Regierung der Ansicht sind, daß sie berücksichtigt werden müssten.

Sofitam behauptet entsprechend dem Standpunkt, den sie im Ausgangsverfahren vertreten hatte (siehe oben, Nr. 4), daß zu dem im Nenner des Pro-rata-Bruches nach Artikel 19 Absatz 1 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie zu berücksichtigenden Umsatz nicht die Dividenden gehörten, die ein Steuerpflichtiger bezogen habe. Unter Bezugnahme auf Randnummer 13 des Urteils Polysar, die ich oben zitiert habe, erklärt sie, daß der Bezug von Dividenden keine Wirtschaftstätigkeit im Sinne der Gemeinschaftsvorschriften über die Mehrwertsteuer sei und folglich völlig aus dem Anwendungsbereich dieser Vorschrift herausfalle. Wenn die Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie von "Umsätzen" spreche, die zum Vorsteuerabzug berechtigten, und von Umsätzen, die nicht hierzu berechtigten, meine sie den Gesamtbetrag der Gegenleistungen, die der Steuerpflichtige für seine wirtschaftlichen Tätigkeiten erhalte, d. h. den Gesamtpreis der von ihm gelieferten Gegenstände und Dienstleistungen, unabhängig davon, ob diese Umsätze zum Vorsteuerabzug berechtigten oder nicht.

Auch die Kommission ist der Auffassung, daß nach dem Beispiel anderer Finanzerträge eines Unternehmens, wie z. B. den Veräusserungsgewinnen beim Verkauf von Aktien, die Dividenden keine Gegenleistung für eine der Mehrwertsteuer unterliegende Tätigkeit und noch viel weniger für eine von der Mehrwertsteuer befreite Tätigkeit seien. Berücksichtige man, daß es sich dabei um das Entgelt für eine Investition handele, so liege diese Maßnahme ausserhalb des Anwendungsbereichs der Mehrwertsteuer. Auch sie kommt zu dem Ergebnis, daß der Ertrag solcher Finanztransaktionen keinen "Umsatz" für das Unternehmen darstelle, das diesen Betrag erhalte, und daß er folglich nicht in den Pro-rata-Bruch nach Artikel 19 Absatz 1 aufgenommen werden dürfe.

14. Die französische Regierung und die griechische Regierung sind demgegenüber der Auffassung, daß der Begriff "Umsätze" im Sinne des Artikels 19 Absatz 1 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie die Gesamtheit der Einkünfte umfasse, die im Rahmen der Tätigkeit eines Unternehmens erzielt würden, ohne daß es darauf ankäme, ob sie das Ergebnis von Geschäften seien, die in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fielen. Wenn Artikel 19 Absatz 1 von Umsätzen spreche, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigten, so erfasse diese Vorschrift sowohl die von der Mehrwertsteuer befreiten Umsätze als auch die Geschäfte, die ausserhalb des Anwendungsbereichs der Mehrwertsteuer lägen. Die französische Regierung ist der Meinung, daß jede andere Auslegung das System des Pro-rata-Vorsteuerabzugs seines Sinnes entkleiden und zu ungerechtfertigten Unterscheidungen bei der steuerlichen Behandlung von Holdinggesellschaften führen würde.

Auch die niederländische Regierung ist der Auffassung, daß Dividenden in den Nenner des Pro-rata-Bruches aufzunehmen seien, als ob es sich um Erträge aus von der Mehrwertsteuer befreiten Umsätzen handele. Anderes gelte nur für den Fall, daß das Halten von Beteiligungen innerhalb des Unternehmens des Steuerpflichtigen stattfinde. Dieser letztgenannte Fall liege vor, wenn das Halten der Beteiligungen untrennbar mit den gesamten Tätigkeiten verbunden sei, die die Gesellschaft als Unternehmen ausübe (z. B. die vorübergehende Anlage überschüssiger Liquidität), oder wenn dieses Halten in Begleitung eines aktiven Eingreifens in die Verwaltung von Tochtergesellschaften im Sinne des Urteils Polysar auftrete und daher, für sich allein betrachtet, ein steuerbares Unternehmen darstelle. Daß das Halten von Beteiligungen so innerhalb des Rahmens des Unternehmens des Steuerpflichtigen stattfinde, dürfe somit keine Folgen für das Vorsteuerabzugsrecht dieses Steuerpflichtigen haben, und diese Dividenden dürften, wenn man von dem Grundsatz ausgehe, daß sie als solche nicht der Mehrwertsteuer unterlägen, nicht in den Nenner des der Errechnung des Pro-rata-Abzugs der Vorsteuer dienenden Bruches aufgenommen werden.

15. Der Argumentation der französischen und der griechischen sowie der niederländischen Regierung, soweit sie den Standpunkt der beiden anderen teilt, kann ich aus folgenden Gründen nicht beipflichten. Im Urteil Polysar (das ich bereits oben, Nr. 11, zitiert habe) hat der Gerichtshof unmißverständlich bestätigt, daß der blosse Erwerb von Beteiligungen an anderen Unternehmen keine wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie darstelle. Im gleichen Urteil hat der Gerichtshof weiterhin bestätigt, daß der Gewinn aus solchen Beteiligungen in Form von Dividenden lediglich "Ausfluß der blossen Innehabung des Gegenstands" sei. Aus diesem Grund können solche Dividenden niemals als Gegenleistung für einen bestimmten Akt oder ein (wirtschaftliches) Geschäft des Anteilseigners betrachtet werden(11).

Dieser Standpunkt wird auch dadurch gestützt, daß der Begriff "Umsätze" in Artikel 19 Absatz 2 der Richtlinie, da eine besondere Definition in der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie fehlt, nach seiner allgemeinen wirtschaftlichen Bedeutung auszulegen ist, wie sie gewöhnlich im gängigen Sprachgebrauch verstanden wird(12). In der gängigen Sprache bezieht sich dieser Begriff auf den Gesamtwert der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Unternehmen innerhalb eines bestimmten Zeitraums erbracht hat. Für mich ist daher klar, daß der Bezug von Dividenden nicht unter diesen Begriff zu bringen ist. Genau in diesem Sinne gebraucht auch der Gemeinschaftsgesetzgeber den Begriff "Umsätze" in der Richtlinie 78/660/EWG über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (diese Richtlinie wird gemeinhin als die Vierte gesellschaftsrechtliche Richtlinie bezeichnet). Artikel 28 dieser Richtlinie umschreibt den Begriff "Nettoumsatzerlöse" für die Erstellung der Verlust- und Gewinnrechnung als

"die Erlöse aus dem Verkauf von für die normale Geschäftstätigkeit der Gesellschaft typischen Erzeugnissen und der Erbringung der für die Tätigkeit der Gesellschaft typischen Dienstleistungen nach Abzug von Erlösschmälerungen, der Mehrwertsteuer und anderer unmittelbar auf den Umsatz bezogener Steuern"(13).

Der Unterschied zwischen den Umsätzen eines Unternehmens und den Dividenden, die ihm aus Beteiligungen an anderen Unternehmen zufließen, ergibt sich im übrigen aus den von der Vierten gesellschaftsrechtlichen Richtlinie vorgeschriebenen Schemata für die Gliederung der Verlust- und Gewinnrechnung: Der Posten "Nettoumsatzerlöse" wird dort stets von dem Posten "Ergebnisse aus Beteiligungen" unterschieden(14).

16. Die Aufnahme von Dividenden aus Beteiligungen in den Nenner des Bruches, mit dessen Hilfe der Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs nach Artikel 19 Absatz 1 errechnet werden soll, erscheint mir im übrigen kaum mit dem Zweck der durch die Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie geschaffenen Vorsteuerabzugsregelung vereinbar. Wie ich bereits ausgeführt habe (Nr. 7), soll diese Vorsteuerabzugsregelung die wirtschaftlichen Tätigkeiten des Unternehmens in vollkommen neutraler Weise belasten. Der Standpunkt, den die französische und die griechische Regierung vertreten, würde im Ergebnis diese Neutralität beseitigen. Mit der Aufnahme von Dividenden in den Nenner des Bruches, der der Errechnung des Pro-rata-Abzugs dient, würde nämlich das Recht eines Unternehmens zum Abzug der Mehrwertsteuer, die es im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten schuldet oder entrichtet hat, proportional zum Umfang der Einkünfte, die es durch den Bezug von Dividenden erzielt, abnehmen. Das blosse Halten von Beteiligungen weist mit anderen Worten nach meinem Dafürhalten einen so passiven Charakter auf, daß diese "Tätigkeit" grundsätzlich keinerlei Verwendung von Gegenständen oder Dienstleistungen mit sich bringt, für die Mehrwertsteuer geschuldet wird, oder wenigstens nur eine sehr beschränkte Verwendung. Es würde demnach der Proportionalität des Pro-rata-Vorsteuerabzugs ° die auf die Bemühung des Gemeinschaftsgesetzgebers um Neutralität zurückzuführen ist ° völlig widersprechen, den Gesamtbetrag der bezogenen Dividenden in den Nenner des Bruches aufzunehmen, mit dessen Hilfe der Pro-rata-Abzug errechnet werden soll, da die Gegenstände und Dienstleistungen, die der Mehrwertsteuer unterliegen, genau genommen vom Steuerpflichtigen nicht oder nur in geringem Umfang für das Halten von Beteiligungen verwendet werden.

Ergebnis

17. Aus den vorstehend dargestellten Gründen schlage ich daher dem Gerichtshof vor, die vom Conseil d' État vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

Artikel 19 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie ist dahin auszulegen, daß Dividenden, die der Steuerpflichtige aufgrund einer einfachen Beteiligung an anderen Unternehmen bezieht, bei der Berechnung des Pro-rata-Satzes für die Anwendung des Mehrwertsteuerabzugs keine nicht zum Vorsteuerabzug berechtigenden Umsätze darstellen.

(*) Originalsprache: Niederländisch.

(1) ° Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1).

(2) ° Urteil vom 14. Februar 1985 in der Rechtssache 268/83 (Rompelman, Slg. 1985, 655, Randnr. 16); siehe auch Urteil vom 5. Mai 1982 in der Rechtssache 15/81 (Schul, Slg. 1982, 1409, Randnr. 10).

(3) ° Urteil Rompelman, Randnr. 19; Urteil vom 21. September 1988 in der Rechtssache 50/87 (Kommission/Französische Republik, Slg. 1988, 4797, Randnr. 15).

(4) ° Zu dem in dieser Vorschrift geregelten Mechanismus der Vorsteuerabzuege siehe Urteil vom 10. Juli 1984 in der Rechtssache 42/83 (Dansk Denkavit, Slg. 1983, 2649, Randnr. 13) sowie Urteil vom 27. November 1985 in der Rechtssache 295/84 (Rousseau Wilmot, Slg. 1985, 3759, Randnr. 15).

(5) ° Urteil vom 8. März 1988 in der Rechtssache 165/86 (Leesportefeuille Intiem, Slg. 1988, 1471, Randnr. 13).

(6) ° Urteil Leesportefeuille Intiem, Randnr. 14.

(7) ° Urteil vom 19. Januar 1982 in der Rechtssache 8/81 (Becker, Slg. 1982, 53, Randnr. 44).

(8) ° Vgl. insbesondere Urteil vom 4. Dezember 1990 in der Rechtssache C-186/89 (Van Tiem, Slg. 1990, I-4363, Randnr. 18); Urteil vom 20. Juni 1991 in der Rechtssache C-60/90 (Polysar, Slg. 1991, I-3111, Randnr. 12).

(9) ° Urteil Polysar, Randnr. 13.

(10) ° Urteil Polysar, Randnr. 14.

(11) ° Siehe zu dem Erfordernis eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen der Erbringung von Dienstleistungen und dem für diese vereinnahmten Gegenwert als Voraussetzung für das Vorliegen eines steuerbaren Umsatzes das Urteil vom 8. März 1988 in der Rechtssache 102/86 (Apple and Pear Development Council, Slg. 1988, 1443, Randnrn. 11 bis 17); siehe zur Regelung der Zweiten Mehrwertsteuerrichtlinie das Urteil des Gerichtshofes vom 5. Februar 1981 in der Rechtssache 154/80 (Coöperatieve Aardappelenbewaarplaats, Slg. 1981, 445, Randnrn. 12 bis 15).

(12) ° Dieser Auslegungsgrundsatz ist vom Gerichtshof in anderen Mehrwertsteuersachen ebenfalls vertreten worden; vgl. insbesondere Urteil vom 14. Mai 1985 in der Rechtssache 139/84 (Van Dijk' s Bökhuis, Slg. 1985, 1405, Randnr. 20).

(13) ° Vierte Richtlinie des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g des Vertrages über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (78/660/EWG; ABl. L 222, S. 11).

(14) ° Siehe Artikel 23 bis 26 der Vierten gesellschaftsrechtlichen Richtlinie.

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