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Document 61985CC0139

Schlussanträge des Generalanwalts Sir Gordon Slynn vom 17. April 1986.
R. H. Kempf gegen Staatssecretaris van de Justitie.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Raad van State - Niederlande.
Freizügigkeit der Arbeitnehmer - Begriff des Arbeitnehmers.
Rechtssache 139/85.

European Court Reports 1986 -01741

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1986:158

SCHLUßANTRÄGE DES GENERALANWALTS

SIR GORDON SLYNN

vom 17. April 1986 ( *1 )

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

Der niederländische Raad van State hat dem Gerichtshof gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag folgende Frage vorgelegt:

„Führt der Umstand, daß ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats eine Tätigkeit ausübt, die für sich genommen eine tatsächliche und echte Erwerbstätigkeit im Sinne des Urteils des Gerichtshofes in der Rechtssache Levin ist, zur Ergänzung seiner Einkünfte aus dieser Tätigkeit eine finanzielle Unterstützung aus öffentlichen Mitteln dieses Mitgliedstaats in Anspruch nimmt, dazu, daß die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer für ihn nicht gelten?“

Die Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Staatsangehörigen der Bundesrepublik Deutschland R. H. Kempf und dem niederländischen Staatssecretaris van Justitie wegen des Rechts des Klägers, sich aufgrund des Gemeinschaftsrechts als Arbeitnehmer in den Niederlanden aufzuhalten.

Der in der Vorlageentscheidung wiedergegebene Sachverhalt ist kurz folgender: Der Kläger reiste am 1. September 1981 in die Niederlande ein. Vom 26. Oktober 1981 bis zum 14. Juli 1982 war er bei der Stiftung „De Sprankel“ in Zwolle als Musiklehrer beschäftigt. Er gab etwa zwölf Unterrichtsstunden in der Woche. In dieser Zeit lebte er wohl mit einer niederländischen Staatsangehörigen zusammen, mit der er entweder verheiratet war oder einen gemeinsamen Hausstand begründet hatte und von der er ein Kind hatte. Während seiner Beschäftigung erhielt er ein Monatsgehalt von 984 HFL; auf seinen Antrag hin erhielt er auch eine zusätzliche Unterstützung nach der Wet Werkloosheidsvoorziening („WWV“), die aus öffentlichen Mitteln finanziert wird und Personen gewährt wird, die Arbeitnehmer sind oder sich um Arbeit bemühen. Der Kläger wurde dann krank und konnte nicht mehr arbeiten. Neben der finanziellen Unterstützung aufgrund der WWV erhielt er auch Leistungen nach der Algemene Bijstandswet („AB“), einer Art Sozialhilfe, die nicht auf Arbeitnehmer beschränkt ist. Diese beiden Leistungen werden aus öffentlichen Mitteln finanziert. Zusätzlich wurde ihm eine Leistung nach der Ziektewet gewährt, einer Art Sozialversicherungsleistung zur finanziellen Unterstützung von Arbeitnehmern, die aufgrund einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit oder Unfall kein Einkommen haben.

Am 30. November 1981, also in der Zeit, als er als Musiklehrer arbeitete, stellte der Kläger einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis „zur Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit“. Dieser Antrag wurde von der Polizeibehörde am 17. August 1982 abgelehnt; ein Antrag auf Überprüfung dieses Bescheids wurde vom Staatssecretaris van Justitie am 9. Dezember 1982 abschlägig beschieden; gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 10. Januar 1983 Klage. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen wurde am 9. Mai 1985 in das Register bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingetragen.

Der Kläger und die Kommission schlagen vor, die Vorlagefrage zu verneinen; die niederländische und die dänische Regierung schlagen vor, die Frage zu bejahen.

Die Bedeutung der dem Gerichtshof gestellten Frage ist meines Erachtens sehr begrenzt — viel begrenzter, als das Vorbringen einiger Beteiligter annehmen läßt.

Ausgangspunkt ist das Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache 53/81 (Levin, Sig. 1982, 1035), in dem festgestellt worden ist, daß nach den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer auch derjenige ein Arbeitnehmer ist, der eine Teilzeitbeschäftigung ausübt und weniger als das in der betreffenden Branche garantierte Mindesteinkommen verdient, wenn es sich a) um „die Ausübung tatsächlicher und echter Tätigkeiten [handelt], wobei solche Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, daß sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen“, und wenn b) der Betroffene „im Wirtschaftsleben tätig“ ist.

Ob die im Levin-Urteil gegebene Definition erfüllt ist, ist nach meiner Meinung eine vom nationalen Gericht zu entscheidende Tatfrage, auch wenn jede weitere Verfeinerung der Definition eine Rechtsfrage darstellt. Im vorliegenden Fall hat der Raad van State eindeutig akzeptiert, daß die Beschäftigung des Klägers eine tatsächliche und echte Tätigkeit, also nicht als völlig untergeordnet und unwesentlich anzusehen war. Aufgrund des vorgetragenen Sachverhalts kam er völlig zu Recht zu diesem Ergebnis. Die Einwände aufgrund der Tatsache, daß der Kläger nur zwölf Stunden wöchentlich (wenn zwölf Unterrichtsstunden das ergeben) arbeitete, scheinen mir unangebracht zu sein. Es genügt nicht, einfach die Zahl der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden zu nehmen; sie müssen in Beziehung gesetzt werden zu der normalen Stundenzahl in dem besonderen Beschäftigungsbereich. Es steht fest, daß der Kläger fast die Hälfte der normalen Stundenzahl eines Vollzeitlehrers, nämlich 26, erreichte; das ist fast dasselbe Verhältnis wie bei dem Kläger in der Rechtssache Levin. Ein solcher Einwand läßt auch die Zeit außer Betracht, die Lehrer für die Vorbereitung aufwenden müssen.

Infolgedessen geht es nicht um die Frage, ob die Erteilung von zwölf Stunden Unterricht eine tatsächliche und echte Beschäftigung oder eine völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit darstellt. Dies ist bereits entschieden.

Es geht nur darum, ob es jemandem, der eine solche Tätigkeit ausübt, verwehrt ist, sich auf die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu berufen, weil er eine aus öffentlichen Mitteln zur Ergänzung seines Einkommens zu zahlende finanzielle Unterstützung beantragt (und erhält).

In der Rechtssache Levin hat der Gerichtshof festgestellt, daß „insoweit... nicht zwischen Personen, die sich mit ihren Einkünften aus einer derartigen Tätigkeit begnügen wollen, und Personen differenziert werden [kann], die diese Einkünfte durch andere Einkünfte, sei es aus Vermögen oder aus der Arbeit eines sie begleitenden Familienmitglieds, ergänzen“.

Es ist vorgetragen worden, der Gerichtshof habe dadurch die Kategorie der Arbeitnehmer a) auf diejenigen, die bereit seien, sich mit dem zu begnügen, was sie verdienen könnten, und b) auf diejenigen beschränken wollen, deren an sich unzureichendes Einkommen aus dem Vermögen oder dem Verdienst eines Verwandten ergänzt werde.

Ich kann dem Urteil eine solch enge Definition nicht entnehmen. Der Gerichtshof war mit einem Sachverhalt befaßt, nach dem Einkünfte aus privatem Vermögen gegeben waren und außer Frage stand, daß der Ehemann ein Einkommen hatte. Die entscheidende Feststellung war, daß einem Teilzeitarbeitnehmer seine Rechte als Arbeitnehmer nach dem Gemeinschaftsrecht nicht genommen sind, nur weil er weniger als das in der betreffenden Branche garantierte Mindesteinkommen verdient. Solange jemand eine tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, die nicht völlig untergeordnet und unwesentlich ist, ist er nach meiner Meinung nicht von den Ansprüchen ausgeschlossen, nur weil er Gelder aus anderen Quellen als dem Vermögen oder dem Verdienst eines Verwandten erhält. In diesem Zusammenhang sehe ich keinen begründeten prinzipiellen Unterschied zwischen einer Person, die zusätzliche Einkünfte aus eigenem Vermögen hat, und jemandem, der eine freiwillige Unterstützung von einem Verwandten oder Freund oder aber von einer wohltätigen Einrichtung erhält.

Ist dies anders, wenn die Gelder aus öffentlichen Mitteln stammen, wie es hier — ungeachtet der Lage nach der Ziektewet — sicherlich aufgrund der WWV und der AB der Fall ist?

Die in Artikel 48 verankerten Rechte gehören eindeutig zur Grundlage der Gemeinschaft. Dieser Artikel darf nicht eng ausgelegt werden, auch wenn sein Mißbrauch nicht geduldet werden darf. Ein solcher Mißbrauch läge vor, wenn jemand in einen anderen Mitgliedstaat als seinen Heimatmitgliedstaat gehen will, um durch den Trick eines Scheinarbeitsverhältnisses oder einer Arbeit von zeitlich so geringem Umfang, daß sie nicht als Ausübung einer tatsächlichen und echten Tätigkeit angesehen werden kann, eine höhere Sozialhilfeleistung oder Unterstützung zu erreichen. Daraus ergibt sich nicht, daß schon der Anspruch auf Sozialhilfe oder Unterstützung und ihr Bezug durch eine Person, die eine Arbeit bekommen hat, die ihr die Ausübung einer tatsächlichen und echten Tätigkeit erlaubt, einen solchen Mißbrauch darstellt. Das Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer ergibt sich aus der Aufnahme einer solchen Arbeit; es wird nicht dadurch ausgeschlossen oder aufgehoben, daß jemand nach den Sozialhilfeoder Beihilfevorschriften des betreffenden Mitgliedstaats Anspruch auf eine finanzielle Leistung hat und sie erhält, weil er für einen angemessenen (oder allgemein anerkannten) Lebensstandard in diesem Mitgliedstaat nicht genug verdient. Jedenfalls geht es meines Erachtens nicht an, daß jemand, der seinen Verdienst aus privaten Mitteln ergänzt, als Arbeitnehmer eingestuft wird, nicht aber der, der die gleiche Tätigkeit ausübt und Anspruch auf öffentliche Sozialhilfe oder Unterstützung hat. Nimmt jemand absichtlich und ohne Grund eine Teilzeitarbeit an, obwohl er einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen könnte, kann dies nach den nationalen Rechtsvorschriften seine Ansprüche auf öffentliche Mittel beeinträchtigen. Es schließt nicht seine Arbeitnehmereigenschaft aus.

Der Anspruch auf eine solche finanzielle Unterstützung mag die Frage aufwerfen, ob der Betroffene, da seine Tätigkeit einen so geringen Umfang hat, wirklich eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt. Aus dem Umstand, daß jemand Anspruch auf Sozialhilfe oder Unterstützung hat, folgt jedoch entgegen dem Vorbringen einiger Beteiligter nicht, daß seine Tätigkeit notwendigerweise „untergeordnet und unwesentlich“ ist. Steht einmal fest, daß die Tätigkeit einer Person die Kriterien des Levin-Urteils erfüllt, schränken der Anspruch auf eine solche Beihilfe und ihr Bezug die Rechte des Betroffenen als Arbeitnehmer nicht ein. Andernfalls könnten Unterschiede entstehen zwischen Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Voraussetzungen für die Gewährung finanzieller Unterstützung und insbesondere zwischen solchen, die ein garantiertes Mindesteinkommen vorschreiben, und solchen, die dies nicht tun.

Im vorliegenden Fall hatte der Betreffende eine Arbeit, als er einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis stellte. Dieser Zeitpunkt wurde als maßgeblich angesehen. Mit Blick auf Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie 68/360/EWG (ABl. L 257, S. 13) wurde meines Erachtens zu Recht nicht vorgetragen, daß der Kläger eventuell als Arbeitnehmer erworbene Rechte später infolge seiner Krankheit wieder verloren habe. Im vorliegenden Fall geht es nicht um die Frage, ob jemand Rechte nach Artikel 48 besitzt, der, bevor er eine Arbeit hat, Sozialhilfe oder Unterstützung erhält, damit ihm die Arbeitssuche möglich ist.

Es wurde auf die Urteile vom 27. März 1985 in den Rechtssachen 249/83 (Hoeckx/Openbaar Centrum voor Maatschappelijk Welzijn) und 122/84 (Scrivner/Centre public d'aide social de Chastre) verwiesen, in denen festgestellt wurde, daß eine Leistung zur Sicherstellung des Lebensunterhalts eine soziale Vergünstigung im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 (ABl. L 257, S. 2) ist. Diese Fälle helfen jedoch nach meiner Meinung bei der Entscheidung im vorliegenden Fall nicht unmittelbar weiter. Dort wurde stillschweigend davon ausgegangen, daß die Kläger nach Artikel 7 der Verordnung Nr. 1251/70 der Kommission (ABl. L 142, S. 24) zum Aufenthalt in Belgien berechtigt waren.

Ich bin auch nicht der Auffassung, daß der bloße Umstand, daß jemand, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, Anspruch auf Sozialhilfe oder Unterstützung hat, seinen Ausschluß oder seine Ausweisung nach Artikel 48 Absatz 3 EWG-Vertrag oder nach Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates (ABl. 1964, S. 850) rechtfertigt.

Infolgedessen sollte die vorgelegte Frage nach meiner Meinung wie folgt beantwortet werden:

„Der Umstand, daß ein Staatsangehöriger des Mitgliedstaats A (der im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats B als Arbeitnehmer eine tatsächliche und echte Tätigkeit wirtschaftlicher Axt ausübt, deren Umfang nicht so gering ist, daß sie als völlig untergeordnet und unwesentlich angesehen werden kann) zur Ergänzung seiner Einkünfte aus dieser Tätigkeit eine aus öffentlichen Mitteln des Mitgliedstaats B zu zahlende Unterstützung beantragt und erhält, führt nicht dazu, daß die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer für ihn nicht gelten.“

Über die Kosten der Parteien des Ausgangsverfahrens entscheidet das nationale Gericht; die Auslagen Dänemarks und der Kommission sind nicht erstattungsfähig.


( *1 ) Aus dem Englischen übersetzt.

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