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Document 52021AE0717
Opinion of the European Economic and Social Committee on ‘Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions — Strategy to strengthen the application of the Charter of Fundamental Rights in the EU’ (COM(2020) 711 final)
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Strategie für eine verstärkte Anwendung der Grundrechtecharta in der EU (COM(2020) 711 final)
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Strategie für eine verstärkte Anwendung der Grundrechtecharta in der EU (COM(2020) 711 final)
EESC 2021/00717
ABl. C 341 vom 24.8.2021, p. 50–55
(BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)
24.8.2021 |
DE |
Amtsblatt der Europäischen Union |
C 341/50 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — Strategie für eine verstärkte Anwendung der Grundrechtecharta in der EU
(COM(2020) 711 final)
(2021/C 341/08)
Berichterstatter: |
Cristian PÎRVULESCU |
Mitberichterstatter: |
Christian BÄUMLER |
Befassung |
Europäische Kommission, 24.2.2021 |
Rechtsgrundlage |
Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union |
Beschluss des Präsidiums |
26.1.2021 |
Zuständige Fachgruppe |
Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft |
Annahme in der Fachgruppe |
26.5.2021 |
Verabschiedung auf der Plenartagung |
10.6.2021 |
Plenartagung Nr. |
561 |
Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
201/2/7 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
1.1. |
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) begrüßt die neue Strategie der Europäischen Kommission. Der Vorschlag umfasst klare Verpflichtungen und einen deutlichen Schwerpunkt auf Anwendungs- und Umsetzungsfragen. Der EWSA hat stets für eine solche Ausrichtung plädiert, auch in seiner 2011 verabschiedeten Stellungnahme zu der ersten Strategie (1). |
1.2. |
Infolge wesentlicher sozialer, wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen ist der Schutz der Grundrechte seitdem schwieriger geworden und sind neue Herausforderungen hinsichtlich der derzeitigen Bestimmungen entstanden; dies gilt auch für die Anwendung der Charta der Grundrechte. Überall in Europa führt die derzeitige Pandemie zu deutlich größeren Risiken für Gesundheit, Sicherheit und Wohlstand von Millionen Menschen. Auf globaler Ebene, wo die EU eine besondere Verantwortung trägt, ist die Lage sogar noch schlimmer. |
1.3. |
In diesem Zusammenhang müssen sich die EU-Organe und die Mitgliedstaaten mit einer klaren Zielvorstellung energischer für den Schutz der Grundrechte einsetzen. Die Anwendung der Charta ist zwar auf begleitendes EU-Recht beschränkt, durch den wachsenden Korpus an Verordnungen und die bereichsübergreifende Integration von Politikbereichen wird der entsprechende Handlungsspielraum jedoch immer größer. Diese Entwicklung dürfte vielfältige Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft, die lokalen Gemeinschaften, die Sozialpartner und die Unternehmen haben. |
1.4. |
Nach zehnjähriger Umsetzung der Charta wissen leider noch immer nur wenige Europäerinnen und Europäer, dass es sie gibt bzw. welche Funktion ihr zukommt. Auch zivilgesellschaftliche Organisationen, nationale Menschenrechtsinstitutionen und Menschenrechtsverteidiger haben sich bislang nur selten auf die Charta berufen. Wir können nicht ein weiteres Jahrzehnt verstreichen lassen, ehe die in der Charta verankerten Rechte für die breite Öffentlichkeit, die Zivilgesellschaft und die öffentlichen Einrichtungen verwirklicht werden. Der EWSA hofft, dass die Europäische Kommission die Bürgerinnen und Bürger, die Medien, die Zivilgesellschaft, die Sozialpartner sowie verschiedene weitere Gremien künftig aktiver über die Charta, ihre Relevanz, ihre Auswirkungen und die damit zusammenhängenden Instrumente informiert. |
1.5. |
Sämtliche EU-Organe müssen all diejenigen zivilgesellschaftlichen Organisationen, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten, die körperlichen und verbalen Angriffen, Einschüchterung und Belästigung, einschließlich rechtsmissbräuchlicher Klagen, Gewalt sowie Online- und Offline-Hetze ausgesetzt sind, nachdrücklich und uneingeschränkt unterstützen. Es muss Schluss sein mit Hetzkampagnen, welche die Glaubwürdigkeit und Legitimität der Zivilgesellschaft beeinträchtigen, und es muss gegen die Regierungen der Mitgliedstaaten vorgegangen werden, die sich an solchen Kampagnen beteiligen. Die Durchsetzung der geltenden Vorschriften sollte Vorrang haben. |
1.6. |
Insgesamt sollte die Fähigkeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen und Menschenrechtsverteidiger, im Rahmen der Charta tätig zu werden, erheblich verbessert werden — durch ein Paket, das Schulungen und Wissenstransfer, organisatorische Unterstützung, eine dauerhafte, Planungssicherheit gewährleistende Finanzierung sowie den Schutz vor Angriffen und negativen Kampagnen umfasst. Der EWSA ist diesbezüglich bereit, insbesondere über seine Gruppe Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit einen Beitrag zur Ausarbeitung eines umfassenderen und detaillierteren Plans zu leisten. Diese Bemühungen sollten in eine umfassende Strategie für die europäische Zivilgesellschaft eingebettet werden, die nach Ansicht des EWSA dringend notwendig ist (2). |
1.7. |
Der EWSA begrüßt den umfassenden Ansatz der Kommission zur Förderung und zum Schutz der Grundwerte, auf denen die EU gründet, ebenso wie die Komplementarität zwischen dieser Strategie, dem Europäischen Aktionsplan für Demokratie und dem ersten Bericht über die Rechtsstaatlichkeit. Ferner schlägt er vor, den EU-Aktionsplan gegen Rassismus ebenso wie die EU-Strategien für Menschen mit Behinderungen und für LGBTIQ-Personen in den umfassenden Planungsprozess einzubeziehen. Die Herausforderungen, die mit diesen Plänen und Strategien bewältigt werden sollen, überschneiden sich häufig. |
1.8. |
Der EWSA bekräftigt seine Bemerkungen zu den wirtschaftlichen Aspekten der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte. Wird der Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit und der allgemeinen Verschlechterung der Lage im Bereich der Grundrechte nicht Einhalt geboten, wirkt sich dies womöglich negativ auf das gegenseitige Vertrauen aus, das dem Binnenmarkt und damit dem Wirtschaftswachstum in der EU zugrunde liegt (3). |
1.9. |
Der EWSA betont, dass die Charta der Grundrechte auch soziale Rechte umfasst. Ihre Umsetzung ist für das Leben der Menschen von großer Bedeutung. Die Sozialpartner müssen auf europäischer und nationaler Ebene in den Schutz dieser Rechte einbezogen werden. Der soziale Dialog sollte verstärkt und stärker auf die in der Charta verankerten Grundrechte ausgerichtet werden. Der EWSA bekräftigt seine Forderung aus der 2011 verabschiedeten Stellungnahme zu der Strategie und fordert, Titel III (Gleichheit) und Titel IV (Solidarität) stärker in den Mittelpunkt zu rücken, da sie für die EU als demokratischer, wertebasierter Union, die ihr Sozialmodell und ihre Verpflichtungen ernst nimmt, von zentraler Bedeutung sind. |
1.10. |
Der EWSA begrüßt, dass die Strategie den übergeordneten Charakter der Charta herausstellt und gezielte Anstrengungen ergänzt, die Rechte und Werte der EU greifbarer zu machen, und zwar in Bereichen wie Opferrechte und Zugang zu Gerichten, Gleichstellung, Rassismusbekämpfung und Pluralismus, soziale Rechte und inklusive allgemeine und berufliche Bildung, wirtschaftliche Rechte, Rechte von Unionsbürgerinnen und -bürgern und Drittstaatsangehörigen und Rechte des Kindes. Besondere Aufmerksamkeit sollte den Auswirkungen von COVID-19 auf die Rechte, das Wohlergehen sowie die intellektuelle und emotionale Entwicklung von Kindern gewidmet werden. Der EWSA weist auch auf die Bedeutung jener Artikel der Charta hin, die sich auf die Wirtschaft auswirken, etwa jene zur unternehmerischen Freiheit und zum Eigentumsrecht sowie diejenigen, die angemessene Rechtsvorschriften betreffen. |
1.11. |
Der EWSA unterstützt uneingeschränkt das Engagement der EU, die Menschenrechte und Werte weltweit zu fördern und zu schützen. Der Verweis auf Handelsabkommen und ihre potenziellen Auswirkungen auf die Grundrechte ist vollkommen gerechtfertigt. Wie in zahlreichen anderen Stellungnahmen weist der EWSA erneut darauf hin, dass die Migrations- und Asylpolitik ein wichtiger Testfall für das Engagement der EU für den Grundrechteschutz ist. Menschenrechtsverteidiger sollten weltweit aktiver unterstützt werden. |
1.12. |
Wie es in dem Vorschlag heißt, spielen nationale und lokale Behörden, die Parlamente der Mitgliedstaaten sowie Strafverfolgungsbehörden bei der Förderung und dem Schutz von Rechten aus der Charta eine entscheidende Rolle. Unklar ist, wie sich diese Zusammenarbeit von der Kooperation der letzten zehn Jahre, als die ursprüngliche Strategie umgesetzt wurde, unterscheiden soll. Ein zentrales Ziel dieser Strategie sollte darin bestehen, die richtige Mischung aus Anreizen und Instrumenten zu ermitteln, die nationale und lokale Institutionen zu einem engagierteren und proaktiveren Schutz der Grundrechte motiviert. |
1.13. |
Der EWSA hofft, dass sämtliche Schlüsseldimensionen der Strategie — Prävention, Förderung, Umsetzung und Durchsetzung — erheblich verbessert werden. Hierbei sollte der Schwerpunkt stärker auf die Durchsetzung gelegt werden, ohne dabei die anderen Dimensionen außer Acht zu lassen. Die ordnungsgemäße Anwendung der Charta ist von entscheidender Bedeutung für die Aufrechterhaltung einer funktionierenden, wertebasierten Union. Die Anwendung der Charta ist ebenfalls obligatorisch. Die Kommission muss entsprechend handeln und Vertragsverletzungsverfahren weitaus entschlossener verfolgen, wenn Rechte missachtet werden. |
1.14. |
Der EWSA unterstützt uneingeschränkt die Einrichtung von Charta-Kontaktstellen durch die Mitgliedstaaten und schlägt vor, diese zentral innerhalb der Regierungen bzw. bei den am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Fachministerien — z. B. den Justizministerien — anzusiedeln. |
1.15. |
Angesichts der erheblichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Gesellschaft fordert der EWSA die Kommission nachdrücklich auf, sich in ihrem Bericht 2022 auf deren Auswirkungen auf die Grundrechte, insbesondere mit Blick auf das sozioökonomische Wohlergehen, zu konzentrieren und somit unmissverständlich zu betonen, dass es sich bei den sozialen Rechten um Grundrechte handelt. Besondere Aufmerksamkeit sollten den Rechten, der Würde und dem Wohlergehen von älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen gewidmet werden, die während der COVID-19-Pandemie in Pflegeheimen in Isolation leben müssen. |
1.16. |
Der EWSA schlägt vor, dass jeder Fonds (der unter die Dachverordnung fällt) von Monitoring-Ausschüssen überwacht wird, denen unabhängige zivilgesellschaftliche Organisationen, nationale Menschenrechtsinstitutionen und Menschenrechtsverteidiger angehören. All diese Akteure der Zivilgesellschaft sollten ein Mitspracherecht bei der Zuweisung und Verwaltung der Mittel erhalten. Der EWSA fordert die Kommission auf, die Empfehlungen aus seiner im Februar 2021 verabschiedeten Entschließung „Einbeziehung der organisierten Zivilgesellschaft in die nationalen Aufbau- und Resilienzpläne — was funktioniert und was nicht?“ zu berücksichtigen. |
1.17. |
Der EWSA fordert die Kommission auf, Finanzierungsmöglichkeiten für zivilgesellschaftliche Organisationen und Menschenrechtsverteidiger, die sich unmittelbar für marginalisierte und schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen einsetzen, zu erschließen und zu nutzen. Der EWSA hält die Mitgliedstaaten dazu an, Finanzierungsprogramme für die Zivilgesellschaft sowie für Basisorganisationen umzusetzen, die sich für die Menschenrechte einsetzen. Bei der Gestaltung der Programme müssen die Autonomie und Unabhängigkeit der finanzierten Einrichtungen gewahrt werden. |
1.18. |
Der EWSA schlägt vor, einen anforderungsgerechten, schnellen und wirksamen Mechanismus zur Ermittlung und Meldung von körperlichen und verbalen Angriffen, Einschüchterung und Belästigung, rechtsmissbräuchlichen Klagen, Gewalt sowie Hetze im Internet und darüber hinaus zu schaffen, denen zivilgesellschaftliche Organisationen und Menschenrechtsverteidiger ausgesetzt sind. Nationale Menschenrechtsinstitutionen sowie nationale Wirtschafts- und Sozialräte sollten in diesen Mechanismus einbezogen werden. |
1.19. |
Zur Erleichterung der Koordinierung regt der EWSA an, dass die Mitgliedstaaten nationale Grundrechteforen einrichten, in denen alle betroffenen Einrichtungen zusammenarbeiten könnten: nationale Menschenrechtsinstitutionen, nationale Gleichstellungsstellen, Bürgerbeauftragte, die neu eingerichteten Charta-Kontaktstellen und weitere öffentliche Einrichtungen. An den Foren sollten auch Organisationen und Menschenrechtsverteidiger beteiligt werden. Die Agentur für Grundrechte kann bei der Einrichtung dieser Foren behilflich sein. |
1.20. |
Der EWSA empfiehlt der Kommission, ein spezielles Unterstützungsprogramm aufzulegen, damit alle nationalen Menschenrechtsinstitutionen umfangreichere und einheitlichere institutionelle Kapazitäten (Schaffung, Akkreditierung und Maßnahmen zur Gewährleistung der Einhaltung der Bestimmungen) aufbauen, und spezifische Leitlinien für die Mitgliedstaaten zu erarbeiten. Wie bei anderen Instrumenten und Programmen auch, empfiehlt der EWSA, den herausragenden Sachverstand der Agentur für Grundrechte besser und umfassender zu nutzen. Der EWSA fordert die Agentur auf, ihre solide Arbeit zu wichtigen Entwicklungen im Bereich der Grundrechte fortzusetzen und den Schutz der sozialen Rechte genau zu überwachen. Außerdem sollte die Agentur sichtbarer und für die breite Öffentlichkeit sowie für Gruppen und Organisationen der Zivilgesellschaft leichter zugänglich werden. |
1.21. |
Der EWSA schlägt vor, dass die Kommission Konsultationen und Berichte zu bestimmten Titeln und Artikeln organisiert, zu denen nationale Menschenrechtsinstitutionen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Menschenrechtsverteidiger ihre Erkenntnisse beitragen können. Der EWSA ist mehr als offen für eine enge Zusammenarbeit mit der Kommission bei der regelmäßigen Organisation dieser Art von Treffen unter Beteiligung von Vertretern der Zivilgesellschaft. |
1.22. |
Der ESWA sieht den Arbeiten der Kommission für eine Sensibilisierungskampagne erwartungsvoll entgegen. Angesichts der Bedeutung und Dringlichkeit dieser Maßnahme wäre es hilfreich gewesen, in dieser Strategie die Ziele, den Zeitplan, die Zielgruppen, Instrumente, Partner und vorgeschlagenen Haushaltsmittel für die Kampagne genauer festzulegen. Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, im Rahmen ihrer Konferenz zur Zukunft Europas Aktivitäten im Zusammenhang mit der Charta zu organisieren, die Bürgerinnen und Bürger für Grundrechtsfragen zu sensibilisieren, und dieses Thema stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. |
1.23. |
Mehr Forschung und Konsultation sind erforderlich, um ein Verständnis für die Anwendung der Charta zu entwickeln — basierend auf Risiken und Schutzbedürftigkeit, die in bestimmten sozialen Gruppen und Regionen häufiger auftreten können. |
2. Allgemeine Bemerkungen
2.1. Hintergrund der Stellungnahme
2.1.1. |
Die Charta gilt für alle Maßnahmen der EU-Organe. In ihrer 2010 verabschiedeten Strategie zur wirksamen Umsetzung der Charta der Grundrechte durch die Europäische Union betont die Europäische Kommission die Vorbildfunktion der EU und erläutert, wie die Kommission die umfassende Einhaltung der Charta sicherstellen wird. Sie gilt ebenso für die Mitgliedstaaten bei der Anwendung des EU-Rechts. |
2.1.2. |
Die Charta hatte neue EU-Rechtsvorschriften zur Folge, die bestimmte grundlegende Rechte direkt schützen und fördern. Wichtige Beispiele sind die neuen Regeln, die den Datenschutz, die Gleichstellung der Geschlechter, den Schutz von Hinweisgebern, ein faires Verfahren und Verteidigungsrechte sowie Opfer von Straftaten betreffen. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union wird in den unterschiedlichsten Politikbereichen immer stärker auf die Charta Bezug genommen. |
2.1.3. |
Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte hat sich zu einer vertrauenswürdigen EU-Einrichtung entwickelt, die Vergleichsdaten und Analysen zu den Grundrechten bereitstellt und auf diese Weise die Organe und Mitgliedstaaten der EU unterstützt. Auch die Zahl der unabhängigen nationalen Menschenrechtsinstitutionen und -einrichtungen ist in der EU erheblich gestiegen. |
2.1.4. |
In drei Mitgliedstaaten gibt es jedoch überhaupt keine nationalen Menschenrechtsinstitutionen (Italien, Malta (4), Tschechische Republik), in zwei Mitgliedstaaten gibt es keine akkreditierten nationalen Menschenrechtsinstitutionen (Estland — Akkreditierung für Ende 2020 geplant — und Rumänien), und in sechs gibt es keine nationalen Menschenrechtsinstitutionen mit dem Status A entsprechend den Pariser Grundsätzen der Vereinten Nationen (Belgien, Österreich, Schweden, Slowakei, Slowenien und Zypern). |
2.1.5. |
Einer kürzlich durchgeführten Eurobarometer-Umfrage zum Bekanntheitsgrad der Charta zufolge haben lediglich 42 % der Befragten von der Charta gehört, und nur 12 % wirklich wissen, worum es sich dabei handelt. Sechs von zehn Befragten wollen mehr über ihre Rechte sowie darüber erfahren, an wen sie sich bei Verletzungen ihrer Rechte aus der Charta wenden können (5). |
2.1.6. |
Der EWSA engagiert sich seit Langem für die Unterstützung von Menschenrechten und Menschenrechtsverteidigern. Der EWSA ist integraler Bestandteil der Grundrechtekultur und des Grundrechtsrahmens und beteiligt sich an verschiedenen Strukturen und Aktivitäten, verschafft den Anliegen der Bürgerinnen und Bürger, der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner Gehör und formuliert Vorschläge für Maßnahmen und Rechtsvorschriften anhand eines rechtebasierten Weltbilds. Um seinen Bemühungen noch mehr Nachdruck zu verleihen, seine Sicht der Dinge zu verdeutlichen und seiner diesbezüglichen Verantwortung nachzukommen, hat der EWSA eigens eine Gruppe Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit eingerichtet. |
2.2. Sicherstellung der wirksamen Anwendung der Charta durch die Mitgliedstaaten
2.2.1. |
Der EWSA unterstützt uneingeschränkt den Vorschlag der Kommission, die Mitgliedstaaten zur Einrichtung von Charta-Kontaktstelle aufzufordern. Ihre Aufgabe — den Informationsfluss und bewährte Verfahren im Zusammenhang mit der Charta zu erleichtern und die Maßnahmen zum Kapazitätsaufbau im jeweiligen Land zu koordinieren — ist für die Durchsetzung der Grundrechteagenda von zentraler Bedeutung. Idealerweise sollten diese zentral innerhalb der Regierungen bzw. bei den am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Fachministerien — z. B. den Justizministerien — angesiedelt sein. |
2.2.2. |
Der neue Ansatz für die Ausarbeitung des Jahresberichts über die Anwendung der Charta in der EU, die Anwendung der Charta in den Mitgliedstaaten genauer zu untersuchen, ist überzeugend. Der EWSA begrüßt darüber hinaus, dass der Schwerpunkt des neuen Charta-Berichts 2021 auf den Grundrechten im digitalen Zeitalter liegt. Angesichts der erheblichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Gesellschaft fordert der EWSA die Kommission nachdrücklich auf, sich in ihrem Bericht 2022 auf deren Auswirkungen auf die Grundrechte, insbesondere mit Blick auf das sozioökonomische Wohlergehen, zu konzentrieren. Ein weiterer Aspekt, der thematisiert werden muss, ist der von den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten vollzogene Wechsel in den Notfallmodus, der mitunter zulasten der parlamentarischen Kontrolle und der demokratischen Gewaltenteilung ging. Der EWSA ist der Auffassung, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie vollständig demokratisch, zeitlich befristet und verhältnismäßig sein sollten. |
2.2.3. |
Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, gegebenenfalls verstärkt Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, wenn ein Verstoß gegen EU-Recht vorliegt. |
2.2.4. |
Der EWSA begrüßt den Vorschlag der Kommission, dass für alle Programme, die durch unter die Dachverordnung fallende EU-Fonds (die „Fonds“) unterstützt werden, wirksame Mechanismen zur Anwendung kommen, die von der Anfangsphase bis zur Durchführung des Programms die Einhaltung der Charta sicherstellen. Der EWSA schlägt vor, dass jeder Fonds von Monitoring-Ausschüssen überwacht wird, denen zivilgesellschaftliche Organisationen, nationale Menschenrechtsinstitutionen und Menschenrechtsverteidiger angehören. Hierdurch könnten die mit der Umsetzung der Dachverordnung betrauten Stellen ihre Wissenslücken hinsichtlich der Grundrechte verringern und die Grundrechteorganisationen an die Basis tatsächlich etwas bewirken. |
2.2.5. |
Der EWSA fordert die Kommission nachdrücklich auf, genau zu überwachen, inwieweit die EU-Mittel im Einklang mit der Charta verwendet werden, und fordert, dass geeignete und angemessene Maßnahmen ergriffen werden, wie etwa eine mögliche Unterbrechung oder Aussetzung der EU-Finanzierung bzw. Finanzkorrekturen, wenn die Mitgliedstaaten vorschriftswidrige Ausgaben nicht korrigiert haben. Darüber hinaus fordert der EWSA die Kommission auf, die Einhaltung der Charta bei größeren Mittelzuweisungen frühzeitiger zu überprüfen. |
2.2.6. |
Das in dem Vorschlag vorgesehene Ziel, ein förderliches und sicheres Umfeld für zivilgesellschaftliche Organisationen und Rechteverteidiger in ihren Ländern zu fördern, auch auf lokaler Ebene, ist in der Tat notwendig. Es fehlen jedoch klare Angaben dazu, wie das Ziel umgesetzt werden soll. Der EWSA fordert die Kommission auf, Finanzierungsmöglichkeiten für zivilgesellschaftliche Organisationen und Menschenrechtsverteidiger, die sich unmittelbar für marginalisierte und schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen einsetzen, zu erschließen und zu nutzen. |
2.2.7. |
Der EWSA schlägt vor, einen anforderungsgerechten, schnellen und wirksamen Mechanismus zur Ermittlung und Meldung von körperlichen und verbalen Angriffen, Einschüchterung und Belästigung, rechtsmissbräuchlichen Klagen, Gewalt sowie Hetze im Internet und darüber hinaus zu schaffen, denen zivilgesellschaftliche Organisationen und Menschenrechtsverteidiger ausgesetzt sind. Nationale Menschenrechtsinstitutionen sowie nationale Wirtschafts- und Sozialräte sollten in diesen Warnmechanismus einbezogen werden. Der EWSA ist auch bereit, zu dessen Einrichtung beizutragen und sich mit anderen EU-Institutionen für einen wirksamen Schutz und Rechtsbehelfe für die betroffenen Organisationen sowie Bürgerinnen und Bürger einzusetzen. |
2.2.8. |
Überaus ermutigend ist die Verpflichtung der Kommission, die Bemühungen zur Gewährleistung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Schutz der Grundrechte aufeinander abzustimmen (6). Nach Ansicht des EWSA sollten dieselben Koordinierungsgrundsätze auf nationaler Ebene angewandt werden. Allzu oft arbeiten die verschiedenen öffentlichen und nichtstaatlichen Institutionen und Organisationen nicht ausreichend zusammen. So kann die Kommission die Mitgliedstaaten zur Einrichtung nationaler Grundrechteforen auffordern, in denen alle betroffenen Einrichtungen zusammenarbeiten können: nationale Menschenrechtsinstitutionen, nationale Gleichstellungsstellen, Bürgerbeauftragte, neu eingerichtete Charta-Kontaktstellen und andere öffentliche Einrichtungen. An den Foren sollten auch Organisationen der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidiger beteiligt werden. |
2.2.9. |
Die Schaffung und Akkreditierung nationaler Menschenrechtsinstitutionen und Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Übereinstimmung mit den Pariser Grundsätzen der Vereinten Nationen (7) sollten Vorrang haben, und dafür sollte mehr Unterstützung bereitgestellt werden. Der EWSA empfiehlt der Kommission, ein spezielles Förderprogramm aufzulegen, damit alle nationalen Menschenrechtsinstitutionen umfangreichere und einheitlichere institutionelle Kapazitäten aufbauen können. |
2.3. Förderung der Anwendung der Charta als Richtschnur für die EU-Organe
2.3.1. |
Der EWSA hofft, dass die Kommission der Überprüfung ihrer wichtigsten Initiativen ab der Vorbereitungsphase und während des gesamten Beschlussfassungsprozesses weiterhin entscheidende Bedeutung beimisst. Es ist angemessen, in dem Vorschlag besonders auf das Gesetz über digitale Dienste und die derzeitigen Maßnahmen zur Einhaltung der Charta hinzuweisen, um das breite Spektrum an Fragen und Auswirkungen abzubilden, das mit der Einhaltung der Bestimmungen einhergeht. |
2.3.2. |
Sehr wichtig ist, dass die zentralen Kommissionsinitiativen gründlich vorbereitet werden. Zugleich sollte die thematische Entwicklung der Einhaltung durch Charta-basierte Konzepte und Analysen zu den verschiedenen Titeln und Artikeln — entsprechend der Struktur des Jahresberichts — ergänzt werden. Denkbar wären unter anderem Veranstaltungen und Berichte zu bestimmten Titeln und Artikeln, zu denen nationale Menschenrechtsinstitutionen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Menschenrechtsverteidiger ihre Erkenntnisse beitragen können. So könnten umfassende Kenntnisse über die spezifischen Artikel und die von ihnen geschützten Rechte sowie ein klareres Bild der allgemeinen Auswirkungen des Rechts und der Politikgestaltung der EU auf das Leben und die Rechte der Bürgerinnen und Bürger vermittelt werden. |
2.3.3. |
Wie in Ziffer 2.2.2 dargelegt, muss aufgrund der erheblichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die europäische Gesellschaft der Schwerpunkt auf den Zustand der damit verbundenen Rechte gelegt werden. Die Kommission wird deshalb aufgefordert, in den Jahresberichten verstärkt auf die Auswirkungen von COVID-19 und die dadurch verursachten zahlreichen Krisen für den Grundrechteschutz einzugehen. |
2.3.4. |
In diesem Zusammenhang und zur Bekräftigung seiner Forderung aus der 2011 verabschiedeten Stellungnahme zu der Strategie sollten Titel III (Gleichheit) und Titel IV (Solidarität) stärker in den Mittelpunkt rücken, da sie für die EU als demokratische, wertebasierte Union, die ihr Sozialmodell und ihre Verpflichtungen ernst nimmt, von zentraler Bedeutung sind. |
2.3.5. |
Der EWSA unterstützt uneingeschränkt das Engagement der EU, die Menschenrechte und Werte weltweit zu fördern und zu schützen. Der Verweis auf Handelsabkommen und ihre potenziellen Auswirkungen auf die Grundrechte ist vollkommen gerechtfertigt. Wie in zahlreichen anderen Stellungnahmen weist der EWSA erneut darauf hin, dass die Migrations- und Asylpolitik ein wichtiger Testfall für das Engagement der EU für den Grundrechteschutz ist. Er betont ferner, dass die demokratische Stabilität und die daraus resultierenden Systeme zum Schutz der Menschenrechte in den europäischen Nachbarländern unter Druck stehen und mehr für ihre Unterstützung getan werden sollte. Menschenrechtsverteidiger sollten weltweit aktiver unterstützt werden. |
2.3.6. |
Der EWSA ruft das Europäische Parlament und den Rat auf, mit Unterstützung durch die Kommission und unter Einbeziehung der einschlägigen europäischen Beratungsgremien in die Ausarbeitung von Rechtsvorschriften zu gewährleisten, dass sie die Charta mittels der ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente bei ihren Arbeiten wirksam anwenden. Der EWSA ist bereit, sich an einem solchen interinstitutionellen Dialog und an den einschlägigen Arbeiten zu beteiligen. |
2.4. Sensibilisierung der Bürgerinnen und Bürger für ihre Rechte aufgrund der Charta
2.4.1. |
Der EWSA sieht der Arbeit der Kommission an einer Sensibilisierungskampagne, mit der die Menschen besser über ihre durch die Charta begründeten Rechte informiert werden und erfahren sollen, an wen sie sich bei Verletzungen ihrer Rechte wenden können, erwartungsvoll entgegen. Angesichts der Bedeutung und Dringlichkeit dieser Maßnahme wäre es hilfreich gewesen, in dieser Strategie die Ziele, den Zeitplan, die Zielgruppen, Instrumente, Partner und vorgeschlagenen Haushaltsmittel für die Kampagne genauer festzulegen. |
2.4.2. |
Die Sensibilisierungskampagne sollte so gestaltet werden, dass sie andere Maßnahmen ergänzt. Der EWSA empfiehlt, die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und staatlichen Einrichtungen, darunter der Justiz, bei der Ausbildung, der Weitergabe bewährter Verfahren und der Kommunikation für die Öffentlichkeit aufzunehmen, sobald die institutionellen Mindestkapazitäten geschaffen sind. Die oben genannten Organisationen und Einrichtungen können als Ressourcen fungieren und die Menschen dabei unterstützen, den Schutz ihrer Grundrechte in einem förderlichen sozialen und institutionellen Umfeld zu verankern. |
2.4.3. |
Hierfür sollten Sensibilisierungskampagnen konzipiert werden, um die Menschen zu erreichen, die mit der größten Wahrscheinlichkeit von Grundrechtsverletzungen betroffen sind. Mehr Forschung und Konsultation sind erforderlich, um ein Verständnis für die Anwendung der Charta zu entwickeln — basierend auf Risiken und Schutzbedürftigkeit, die in bestimmten sozialen Gruppen und Regionen häufiger auftreten können. Dies würde dazu beitragen, die Maßnahmen verschiedener Einrichtungen zu lenken und Konsultations- und Partizipationsinitiativen zu unterstützen. |
2.4.4. |
Der EWSA fordert die Europäische Kommission auf, im Rahmen ihrer Konferenz zur Zukunft Europas Aktivitäten im Zusammenhang mit der Charta zu organisieren, die Bürgerinnen und Bürger für Grundrechtsfragen zu sensibilisieren, und dieses Thema stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. |
Brüssel, den 10. Juni 2021
Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Christa SCHWENG
(1) ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 74.
(2) In seiner Studie „Die Reaktion der Organisationen der Zivilgesellschaft auf die COVID-19-Pandemie und die dagegen ergriffenen restriktiven Maßnahmen in Europa“ (2021) hat der EWSA die durch die Pandemie entstandenen strukturellen Herausforderungen und die Reaktion der Organisationen der Zivilgesellschaft erfasst und analysiert.
(3) ABl. C 429 vom 11.12.2020, S. 16.
(4) Malta hat erhebliche Fortschritte erzielt und wird seine nationale Menschenrechtsinstitution wahrscheinlich in Kürze einrichten.
(5) Eurobarometer Spezial 487b.
(6) Die Koordinierung auf EU-Ebene kann das Europäische Netzwerk von Nationalen Menschenrechtsorganisationen (ENNHRI), das Europäische Netzwerk für Gleichbehandlungsstellen (Equinet) und das Europäische Verbindungsnetz der Bürgerbeauftragten (ENO) umfassen. Die Koordinierung auf nationaler Ebene kann durch einen Kern nationaler Einrichtungen wirksam gestaltet werden.
(7) In den Pariser Grundsätzen der Vereinten Nationen sind die internationalen Standards verankert, anhand derer nationale Menschenrechtsinstitutionen von der Globalen Allianz der nationalen Menschenrechtsinstitutionen (GANHRI) akkreditiert werden können.