EUROPÄISCHE KOMMISSION
Brüssel, den 17.12.2020
COM(2020) 811 final
MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DEN RAT
gemäß Artikel 395 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates
EUR-Lex Access to European Union law
This document is an excerpt from the EUR-Lex website
Document 52020DC0811
COMMUNICATION FROM THE COMMISSION TO THE COUNCIL in accordance with Article 395 of Council Directive 2006/112/EC
MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DEN RAT gemäß Artikel 395 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates
MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DEN RAT gemäß Artikel 395 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates
COM/2020/811 final
EUROPÄISCHE KOMMISSION
Brüssel, den 17.12.2020
COM(2020) 811 final
MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DEN RAT
gemäß Artikel 395 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates
1. HINTERGRUND
Gemäß Artikel 395 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem 1 (im Folgenden „MwSt-Richtlinie“) kann der Rat auf Vorschlag der Kommission einstimmig jeden Mitgliedstaat ermächtigen, von der genannten Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen einzuführen, um die Mehrwertsteuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhindern. Da dieses Verfahren die Ausnahme von den allgemeinen Mehrwertsteuergrundsätzen vorsieht, sind die in Artikel 395 der MwSt-Richtlinie genannten nationalen Sondermaßnahmen, die gestattet sind, „um die Steuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhindern“, laut der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) eng auszulegen; sie müssen zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten konkreten Ziels erforderlich und geeignet sein und dürfen die Ziele und Grundsätze der MwSt-Richtlinie 2 nicht mehr als erforderlich beeinträchtigen.
Ungarn beantragte mit einem bei der Kommission am 17. Juni 2020 registrierten Schreiben die Ermächtigung, eine von Artikel 193 der MwSt-Richtlinie abweichende Regelung weiterhin anzuwenden. Mit Schreiben vom 16. September 2020 setzte die Kommission gemäß Artikel 395 Absatz 2 der MwSt-Richtlinie die anderen Mitgliedstaaten über den Antrag Ungarns in Kenntnis. Mit Schreiben vom 17. September 2020 teilte die Kommission Ungarn mit, dass ihr alle zur Beurteilung des Antrags erforderlichen Informationen vorliegen.
Gemäß Artikel 193 der MwSt-Richtlinie wird die Mehrwertsteuer generell von dem Steuerpflichtigen geschuldet, der Gegenstände liefert oder Dienstleistungen erbringt. Ziel der Ausnahmeregelung, deren Verlängerung Ungarn beantragt, ist es, diese Steuerschuldnerschaft bei der Gestellung von Personal, das andere als in Artikel 199 Absatz 1 Buchstabe a der MwSt-Richtlinie genannte Tätigkeiten ausübt, auf den Steuerpflichtigen zu übertragen, dem das Personal gestellt wird (sogenannte Umkehrung der Steuerschuldnerschaft oder „Reverse-Charge-Verfahren“). Gemäß Artikel 199 Absatz 1 Buchstabe b der MwSt-Richtlinie können die Mitgliedstaaten die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft auf die Gestellung von Personal anwenden, das mit Bauleistungen, einschließlich Reparatur-, Reinigungs-, Wartungs-, Umbau- und Abbruchleistungen im Zusammenhang mit Grundstücken beschäftigt ist. Die Ausnahmeregelung erlaubt es Ungarn daher, die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft auf die Gestellung von Personal in allen Wirtschaftszweigen anzuwenden. Ziel der beantragten Ausnahmeregelung ist die Bekämpfung von Betrug.
2. UMKEHRUNG DER STEUERSCHULDNERSCHAFT
Die Mehrwertsteuer schuldet gemäß Artikel 193 der MwSt-Richtlinie der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt. Mit dem Verfahren der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft („Reverse-Charge-Verfahren“) wird die Steuerschuldnerschaft auf den Steuerpflichtigen verlagert, der die Lieferung erhält oder die Dienstleistung in Anspruch nimmt. Das Reverse-Charge-Verfahren wird häufig eingesetzt, um gegen Mehrwertsteuerbetrug, insbesondere gegen den „Missing-Trader-Betrug“, in bestimmten Wirtschaftszweigen vorzugehen.
Missing-Trader-Betrug liegt vor, wenn Händler Gegenstände verkaufen oder Dienstleistungen erbringen, die Mehrwertsteuer von ihren Erwerbern einziehen und dann verschwinden, ohne die Mehrwertsteuer, die sie von ihren Erwerbern eingezogen haben, an die Steuerbehörden abzuführen. Beim inländischen Reverse-Charge-Verfahren wird die Gelegenheit zu dieser Form der Steuerhinterziehung dadurch ausgeschaltet, dass die Steuer von der Person geschuldet wird, an die die Gegenstände geliefert werden oder für die die Dienstleistung erbracht wird.
In den zusätzlichen Informationen, die zur Begründung des Antrags vorgelegt wurden, erklärte Ungarn, dass der Betrug im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung Ähnlichkeiten mit dem Missing-Trader-Betrug aufweise, da diese Dienstleistungen leicht zu erbringen seien und die Hauptkosten für die Dienstleister die Kosten für die Arbeitskräfte seien, auf die keine Mehrwertsteuer zu entrichten ist. Der Gewinn für die Betrüger entspreche daher in der Praxis dem Gesamtbetrag der dem Kunden in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer.
3. DER ANTRAG
Zur Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs im Zeitarbeitssektor beantragte Ungarn im Jahr 2014 die Ermächtigung, eine von Artikel 193 der MwSt-Richtlinie abweichende Sondermaßnahme einzuführen, damit bei der Gestellung von Personal, das andere als in Artikel 199 Absatz 1 Buchstabe a dieser Richtlinie genannte Tätigkeiten ausübt, die Mehrwertsteuer von dem Steuerpflichtigen geschuldet wird, dem das Personal gestellt wird. Die Ermächtigung wurde mit dem Durchführungsbeschluss (EU) 2015/2349 des Rates 3 gewährt und ist am 31. Dezember 2017 ausgelaufen.
Im Jahr 2017 stellte Ungarn einen weiteren Antrag, um für dieselben Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Gestellung von Personal den Leistungsempfänger zur Zahlung der Mehrwertsteuer zu verpflichten. Daraufhin wurde mit dem Durchführungsbeschluss (EU) 2018/486 des Rates 4 diese Ermächtigung bis zum 31. Dezember 2020 gewährt.
Ungarn beantragt nun nach Artikel 395 der MwSt-Richtlinie, dass der Rat auf Vorschlag der Kommission das Land ermächtigt, diese von Artikel 193 der MwSt-Richtlinie abweichende Sondermaßnahme zur Umkehrung der Steuerschuldnerschaft bei der Erbringung von Dienstleistungen im Inland im Zusammenhang mit der Gestellung von Personal, das andere als in Artikel 199 Absatz 1 Buchstabe a dieser Richtlinie genannte Tätigkeiten ausübt, weiterhin anzuwenden.
Der Antrag betrifft die Gestellung von Personal durch Zeitarbeitsfirmen, die Entsendung von Personal, Schulgenossenschaften, Rentnergenossenschaften sowie alle Dienstleistungen, die nicht im Rahmen dieser Rechtsformen erbracht werden, tatsächlich aber inhaltlich die Gestellung von Personal umfassen. Die Ermächtigung, deren Verlängerung beantragt wird, ermöglicht es Ungarn daher in der Praxis, die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft auf alle Dienstleistungen anzuwenden, die in der Gestellung von Personal bestehen.
Dem ungarischen Antrag zufolge ist der Zeitarbeitssektor extrem anfällig für Steuerbetrug. Die Hauptkosten für Zeitarbeitsfirmen sind die Löhne und Gehälter und damit verbundene Steuern und Abgaben, die keine Vorsteuer beinhalten, während ihre Käufe im Vergleich dazu unbedeutend sind. Wird die Steuerschuldnerschaft nicht umgekehrt, ist der Mehrwertsteuerbetrag, den die Wirtschaftsbeteiligten des Sektors ihren Kunden in Rechnung stellen, d. h. die Ausgangssteuer, daher weit höher als der Betrag der abzugsfähigen Mehrwertsteuer bzw. Vorsteuer. Daraus sollte sich im Normalfall eine Mehrwertsteuerschuld gegenüber den Steuerbehörden ergeben. Zudem ist die Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung überaus einfach, da für die Aufnahme der wirtschaftlichen Tätigkeit weder spezielle Kenntnisse noch spezielle Ausrüstungen erforderlich sind, was den Eintritt in diesen Markt sehr leicht macht.
In der Regel bilden betrügerische Zeitarbeitsunternehmen eine Kette; und das Unternehmen am Ende der Kette, das tatsächlich die Dienstleistung der Arbeitnehmerüberlassung erbringt, entrichtet hierfür dann keine Mehrwertsteuer. Diese Vorgehensweise verzerrt den Wettbewerb und beeinträchtigt so die Tätigkeit von Unternehmen, die sich an die Rechtsvorschriften halten. Darüber hinaus betrifft die Steuerhinterziehung in diesem Sektor nicht nur die Mehrwertsteuer, sondern auch die Lohnsteuern und Abgaben, auf die etwa 40 Prozent der gesamten Arbeitskosten entfallen.
Nach den von Ungarn übermittelten Informationen hat die Einführung der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft im Zeitarbeitssektor eine Verringerung der Anzahl der in diesem Bereich tätigen Anbieter bewirkt, obwohl die Bemessungsgrundlage der erbrachten Leistungen gestiegen ist. Diese Entwicklung deutet nach Auffassung Ungarns auf eine mögliche „Marktbereinigung“ hin.
Ungarn führt in seinem Antrag aus, dass sich die Maßnahme als geeignetes und wirksames Instrument zur Missbrauchsbekämpfung erwiesen und zur Verringerung des Mehrwertsteuerbetrugs in diesem Sektor beigetragen hat. Unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Zeitarbeitssektors, in dem keine besonderen Fachkenntnisse erforderlich sind und in dem die zu zahlenden Mehrwertsteuerbeträge viel höher sind als die abzugsfähige Mehrwertsteuer, geht Ungarn davon aus, dass die ursprünglichen Bedingungen schnell wieder hergestellt und die betrügerischen Ketten in kürzester Zeit wieder auftauchen würden, falls das Reverse-Charge-Verfahren nicht mehr angewendet werden könnte.
Darüber hinaus betont Ungarn, dass der durch die COVID-19-Pandemie verursachte weltweite Wirtschaftsabschwung die Beschäftigungslage und insbesondere den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung gravierend beeinträchtigt hat. Ein flexibler Einsatz von Arbeitskräften würde den Unternehmen helfen, die Krise zu bewältigen. Es wird daher erwartet, dass der Anteil der über Zeitarbeitsfirmen verliehenen Arbeitskräfte den Anteil von vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie übersteigen wird. In diesem Fall könnte ein Anreiz für betrügerische Unternehmen geschaffen werden, in diesem Wirtschaftszweig Fuß zu fassen. Daher würde die Verlängerung der Ausnahmeregelung dazu beitragen, Betrügereien in diesem Wirtschaftszweig zu vermeiden.
4. DIE AUFFASSUNG DER KOMMISSION
Erhält die Kommission Anträge nach Artikel 395 der MwSt-Richtlinie, prüft sie, ob die Grundvoraussetzungen für eine Ermächtigung erfüllt sind, d. h., ob die beantragte Sondermaßnahme die Verfahren für die Steuerpflichtigen und/oder die Steuerverwaltung vereinfacht oder bestimmte Formen der Steuerhinterziehung bzw. -umgehung verhindert. Die Kommission geht dabei stets mit Bedacht vor und legt strenge Maßstäbe an, um sicherzustellen, dass die Ausnahmeregelungen erforderlich, verhältnismäßig und in ihrem Anwendungsbereich begrenzt sind und das allgemeine MwSt-System nicht untergraben.
Jede Abweichung vom System der fraktionierten Zahlung darf daher nicht mehr als ein letztes Mittel und eine Notmaßnahme sein und muss Garantien im Hinblick auf die Notwendigkeit und den Ausnahmecharakter der Regelung enthalten.
Diese Voraussetzungen waren erfüllt, als die ursprüngliche Ausnahmeregelung mit dem Durchführungsbeschluss (EU) 2015/2349 des Rates gewährt wurde. Der Bericht aus dem Jahr 2015 über die Studie zur Quantifizierung und Analyse der Mehrwertsteuerlücke in den EU-Mitgliedstaaten („Study to quantify and analyse the VAT Gap in the EU Member States“) 5 , der von der Europäischen Kommission veröffentlicht wurde, zeigte, dass die Mehrwertsteuerlücke in Ungarn im Jahr 2013 24,4 % betrug und damit deutlich über dem EU-Median von 13,9 % lag. Daher waren außergewöhnliche Maßnahmen erforderlich, um den Mehrwertsteuerbetrug zu bekämpfen.
Als Ungarn im Jahr 2017 beantragte, weiterhin das Reverse-Charge-Verfahren auf den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung anzuwenden, wurde festgestellt, dass bereits zahlreichen Maßnahmen zur Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs eingeführt wurden. Überdies wurden von Ungarn weitere Betrugsbekämpfungsmaßnahmen geplant, insbesondere gegenüber Zeitarbeitsfirmen. Trotz dieser Maßnahmen war Ungarn der Ansicht, dass die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft beibehalten werden sollte, um den in diesem Wirtschaftszweig angerichteten Schaden weiter zu verringern. Dessen ungeachtet wurde in Erwägungsgrund 11 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2018/486 des Rates betont, dass mit den von Ungarn getroffenen Maßnahmen der Betrug in diesem Wirtschaftszweig wahrscheinlich unterbunden wird und daher in Zukunft wahrscheinlich keine weitere Ausnahmeregelung von Artikel 193 der MwSt-Richtlinie im Bereich der Gestellung von Personal erforderlich sein sollte.
Zu den von Ungarn durchgeführten Maßnahmen zur Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs, nicht nur im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung, sondern in allen Wirtschaftszweigen, gehören unter anderem die folgenden Maßnahmen:
- Am 1. Januar 2012 wurde ein Steuerregistrierungsverfahren sowie eine verstärkte Beaufsichtigung durch die Steuerbehörden eingeführt, um die Gründung von Scheinfirmen und Firmenübertragungen einzudämmen und Personen mit riskantem Verhalten auszusondern.
- Die Geldbuße für Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit der Verschleierung von Einnahmen wurde deutlich erhöht. In bestimmten Fällen wurde das Sanktionssystem für den Fall der Nichteinhaltung der Registrierungs- und Aufbewahrungspflichten verschärft. Für Verstöße, bei denen Tätigkeiten ohne Geschäftsräume ausgeübt werden, wurde eine Geldbuße eingeführt, die an die Stelle der Schließung eines Unternehmens tritt.
- Im Jahr 2012 wurde die allgemeine Frist für Mehrwertsteuerauszahlungen und damit für Kontrollen auf 75 Tage verlängert, um die Effizienz der Rechnungsprüfung zu erhöhen und unrechtmäßige Mehrwertsteuererstattungsansprüche zu unterbinden.
- Am 1. Januar 2013 wurde die inländische zusammenfassende Mehrwertsteuermeldung eingeführt. Steuerpflichtige sind verpflichtet, der Steuerbehörde genaue Angaben zu den von ihnen ausgestellten und erhaltenen Rechnungen zu melden. Ursprünglich galt die Meldepflicht für alle Rechnungen, bei denen der Betrag der Ausgangssteuer mindestens 2 Mio. HUF betrug. Der Schwellenwert wurde schrittweise gesenkt. Ab 1. Juli 2020 ist jeder, der eine Rechnung ausstellt, verpflichtet, die Daten aller Rechnungen zu melden, die an in Ungarn registrierte Steuerpflichtige ausgestellt wurden. Diese Meldepflicht gilt für in Ungarn bewirkte Umsätze, einschließlich der Umsätze, die der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft unterliegen, und einschließlich der steuerfreien Umsätze, ausgenommen sind jedoch innergemeinschaftliche Lieferungen. Ab 1. Januar 2021 gilt die Meldepflicht auch für Rechnungen, die an nicht steuerpflichtige Personen ausgestellt werden, und der Schwellenwert für eingegangene Rechnungen wird abgeschafft. Die Steuerbehörde verwendet die gemeldeten Daten zur Risikoanalyse und zur schnellstmöglichen Erkennung von Rechnungsstellungsketten.
- Seit dem 1. Januar 2013 dürfen Steuerpflichtige maximal 1,5 Mio. HUF pro Monat als Gegenleistung für Waren oder Dienstleistungen in bar bezahlen.
- Seit dem 1. Januar 2015 müssen neu gegründete Unternehmen monatliche Mehrwertsteuererklärungen abgeben. Dadurch ist es möglich, Unternehmen, die zum Zwecke der Steuerhinterziehung gegründet wurden, früher zu erkennen und auszusondern. Zudem ist es ab diesem Datum auch nicht mehr möglich, für Umsatzerlöse von mehr als 50 Mio. HUF jährliche Mehrwertsteuererklärungen abzugeben. Stattdessen müssen vierteljährliche Mehrwertsteuererklärungen abgegeben werden, die es ermöglichen, einen Mehrwertsteuermissbrauch bereits im laufenden Jahr aufzudecken.
- Am 1. Januar 2016 wurde ein System eingeführt, mit dem die Steuerbehörde Steuerpflichtige als zuverlässig oder riskant einstuft. Die Klassifizierung der Steuerpflichtigen wird von der Steuerbehörde vierteljährlich überprüft.
Am 1. Juli 2017 wurde eine Fakturierungssoftware für die Meldung von Rechnungen in Echtzeit eingeführt, zunächst auf freiwilliger Basis. Die Verwendung der Software wurde am 1. Juli 2018 verpflichtend und wird ab 1. Januar 2021 auf Rechnungen für Geschäfte direkt mit Endverbrauchern (B2C) ausgeweitet. Der kontinuierliche Dateneingang hilft der Steuerbehörde, Risiken in Echtzeit zu erkennen.
Darüber hinaus wurden weitere Maßnahmen eingeführt, die direkt auf die Zeitarbeitsfirmen abzielen:
- Die Benachrichtigung über eine Steuerhinterziehung („notification of evasion of tax liability“), ein im Jahr 2015 eingeführtes Rechtsinstrument, wurde im Jahr 2020 auf Arbeitnehmer als Empfänger ausgeweitet. Wenn die Steuerbehörde bei der Prüfung eines Arbeitgebers Sachverhalte im Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis feststellt und endgültig entscheidet, dass eine Umgehung der Bestimmungen der Steuergesetzgebung vorliegt, macht sie die betroffenen Arbeitnehmer auf diese Sachverhalte aufmerksam. Diese Verpflichtung zur Benachrichtigung gilt auch dann, wenn das Beschäftigungsverhältnis zwischen dem Arbeitnehmer und dem Steuerpflichtigen zum Zeitpunkt der Benachrichtigung nicht mehr besteht.
- Die Steuerbehörde kann auch Maßnahmen zur Bekämpfung der Hinterziehung von Lohnsteuern und Abgaben ergreifen, indem sie die Daten aus den in ihren Datenbanken verfügbaren Formularen zur Anmeldung von Beschäftigungsverhältnissen und diesbezüglichen Änderungen sowie aus den Steueranmeldungen heranzieht. Das ist darauf zurückzuführen, dass die häufigste Form der Steuerhinterziehung darin besteht, für ein angemeldetes Beschäftigungsverhältnis keine Steuerschulden anzumelden oder zu bezahlen. Eine Möglichkeit, diese Unstimmigkeiten im Sinne des steuerzahlerfreundlichen Ansatzes der Steuerbehörde zu beseitigen, ist ein ergänzendes Verfahren, in dem der Steuerpflichtige über die Art des Fehlers und die von ihm vorzunehmenden Korrekturen informiert wird. Falls der Steuerpflichtige seine Fehler nicht korrigiert, kann eine Prüfung angeordnet werden.
- Die Steuerbehörde hat im Jahr 2017 ein IT-„Beschäftigtenwarnsystem“ entwickelt, um betrügerisches Verhalten von Arbeitgebern erkennen und schnell darauf reagieren zu können. Das System hat erfolgreich zur Bekämpfung der Schattenwirtschaft beigetragen.
Nach den von Ungarn vorgelegten Datenschätzungen haben diese Maßnahmen es ermöglicht, den Mehrwertsteuerbetrug im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung von mehr als 15 Prozent im Jahr 2015 auf weniger als 5 Prozent im Jahr 2019 zu reduzieren.
Somit hat das von Ungarn umgesetzte Maßnahmenpaket seine Wirksamkeit zur Eindämmung des Mehrwertsteuerbetrugs unter Beweis gestellt und zu einem beachtlichen Rückgang des Mehrwertsteuerbetrugs in allen Wirtschaftszweigen geführt, wie aus den nachfolgend veröffentlichten Berichten über die Mehrwertsteuerlücke hervorgeht. Wie bereits ausgeführt, belief sich die Mehrwertsteuerlücke für Ungarn im Jahr 2013 auf 24,4 %. Im Jahr 2015 6 betrug sie 13,74 % und lag damit immer noch über dem EU-Median von 10,85 %. Laut der aktuellen Studie zur Mehrwertsteuerlücke „Study and Reports on the VAT Gap in the EU-28 Member States – 2020 Final Report“ 7 betrug die Mehrwertsteuerlücke in Ungarn im Jahr 2018 8,4 % und lag damit unter dem EU-Median von 9,2 %. Laut der Prognose für 2019 wird sich der rückläufige Trend fortsetzen und die Mehrwertsteuerlücke in diesem Jahr bei schätzungsweise 6,6 % liegen.
Es sei darauf hingewiesen, dass die Angaben über die Mehrwertsteuerlücke für alle Wirtschaftszweige nicht wesentlich von den Schätzungen abweichen, die die ungarischen Behörden für den Umfang des Mehrwertsteuerbetrugs im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung vorgelegt haben. Daher erscheint die Fortsetzung von Sondermaßnahmen im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung, wie z. B. die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft, nicht gerechtfertigt.
Maßnahmen wie das Steuerregistrierungsverfahren sowie eine verstärkte Beaufsichtigung durch die Steuerbehörden und Meldungen in Echtzeit dürften dazu beitragen, den Mehrwertsteuerbetrug in einem frühen Stadium aufzudecken und die Gründung von Scheinfirmen zu verhindern. Da sich diese Maßnahmen in anderen Wirtschaftszweigen als wirksam erwiesen haben, sollten sich die von den ungarischen Behörden zum Ausdruck gebrachten Bedenken, dass sich in kürzester Zeit wieder betrügerische Ketten bilden könnten, falls die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft nicht länger auf die Arbeitnehmerüberlassung angewandt wird, ausräumen lassen.
Daher erfüllt der von Ungarn gestellte Antrag nicht die Voraussetzung, dass es sich bei der gewährten Ausnahmeregelung um ein letztes Mittel und eine Notmaßnahme handeln muss, die Garantien im Hinblick auf die Notwendigkeit und den Ausnahmecharakter der gewährten Ausnahmeregelung enthält. Die von Ungarn eingeführten konventionellen Maßnahmen allgemeiner Art sollten zusammen mit den oben erwähnten spezifischen Maßnahmen für den Zeitarbeitssektor ausreichen, um gegen den Mehrwertsteuerbetrug im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung vorzugehen.
Überdies scheint die von Ungarn beantragte Maßnahme nicht in ihrem Anwendungsbereich begrenzt, notwendig und verhältnismäßig zu sein, um der besonderen Betrugssituation im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerüberlassung zu begegnen. Die Maßnahmen von allgemeiner Tragweite und die von Ungarn umgesetzten spezifischen Maßnahmen, insbesondere das Steuerregistrierungsverfahren und die verstärkte Beaufsichtigung durch die Steuerbehörden sowie Meldungen in Echtzeit, dürften ausreichen, um den Mehrwertsteuerbetrug im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung zu bekämpfen.
Des Weiteren hat die Kommission in einer Mitteilung an den Rat 8 gegen einen ähnlichen Antrag Italiens auf Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens auf die atypische Überlassung von Arbeitskräften Einwände erhoben.
5. SCHLUSSFOLGERUNG
Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen spricht sich die Kommission gegen den Antrag Ungarns aus.
ABl. L 347 vom 11.12.2006, S. 1.
Siehe Urteil des Gerichtshofs vom 27. Januar 2011, Vandoorne, C-489/09, ECLI:EU:C:2011:33, Rn. 27.
Durchführungsbeschluss (EU) 2015/2349 des Rates vom 10. Dezember 2015 zur Ermächtigung Ungarns, eine von Artikel 193 der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem abweichende Maßnahme anzuwenden (ABl. L 330 vom 16.12.2015, S. 53).
Durchführungsbeschluss (EU) 2018/486 des Rates vom 19. März 2018 zur Ermächtigung Ungarns, eine von Artikel 193 der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem abweichende Sondermaßnahme anzuwenden (ABl. L 81 vom 23.3.2018, S. 15).
https://ec.europa.eu/taxation_customs/sites/taxation/files/docs/body/vat_gap2013.pdf
https://ec.europa.eu/taxation_customs/sites/taxation/files/study_and_reports_on_the_vat_gap_2017.pdf
https://ec.europa.eu/taxation_customs/sites/taxation/files/vat-gap-full-report-2020_en.pdf
Mitteilung der Kommission an den Rat gemäß Artikel 395 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates (COM/2020/243 final).