EUROPÄISCHE KOMMISSION
Brüssel, den 2.12.2020
COM(2020) 711 final
MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT, DEN RAT, DEN EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS UND DEN AUSSCHUSS DER REGIONEN
Strategie für eine verstärkte Anwendung der Grundrechtecharta in der EU
Strategie für eine verstärkte Anwendung der Grundrechtecharta in der EU
Einführung
Eine stärkere EU-Grundrechtecharta zur Bewältigung neuer Herausforderungen
Die vor 20 Jahren proklamierte und seit 2009 rechtsverbindliche Charta der Grundrechte der Europäischen Union (die „Charta“) ist ein Meilenstein der europäischen Integration. In ihr wird auf eindrucksvolle Weise bekräftigt, dass die EU auf Grundrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fußt. Diese Werte sind eng miteinander verknüpft. Grundrechte können ihre Wirkung im Alltag der Bürgerinnen und Bürger nur innerhalb einer Gesellschaft entfalten, in der unabhängige Gerichte für ihren Schutz garantieren und dank unabhängiger Medien und einer aktiven Zivilgesellschaft eine offene und fundierte Debatte stattfinden kann.
Die Charta findet für die Organe der EU bei all ihren Handlungen Anwendung. In der Strategie zur wirksamen Umsetzung der Charta der Grundrechte durch die Europäische Union von 2010 betonte die Europäische Kommission, dass die EU ein Vorbild sein müsse, und legte dar, wie die Kommission die umfassende Einhaltung der Charta sicherstellen werde. Die Charta gilt auch für die Mitgliedstaaten, wenn sie EU-Recht umsetzen, und die Kommission bekundete in der Strategie ihre Entschlossenheit, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um für die Einhaltung der Charta zu sorgen.
In den letzten zehn Jahren hat die Charta zu einer stärkeren Förderung und einem besseren Schutz der Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger in der EU geführt. Die Charta hatte neue EU-Rechtsvorschriften zur Folge, die bestimmte grundlegende Rechte direkt schützen und fördern. Wichtige Beispiele sind die neuen Regeln, die den Datenschutz, die Gleichstellung der Geschlechter, den Schutz von Hinweisgebern, ein faires Verfahren und Verteidigungsrechte sowie Opfer von Straftaten betreffen. Der Gerichtshof der Europäischen Union (der „Gerichtshof“) beruft sich in seiner Rechtsprechung immer mehr auf die Charta
, und zwar in den unterschiedlichsten Politikbereichen
. Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte hat sich zu einer vertrauenswürdigen EU-Einrichtung entwickelt, die Vergleichsdaten und Analysen zu den Grundrechten bereitstellt und auf diese Weise die Organe und Mitgliedstaaten der EU unterstützt. Auch die Zahl der unabhängigen nationalen Menschenrechtsorgane und -institutionen ist in der EU erheblich gestiegen. Diese bilden ein solides Fundament für die Durchsetzung der Rechte des Einzelnen in der Praxis.
Der Schutz der Grundrechte darf jedoch nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Nach zehn Jahren sind neue Herausforderungen aufgetaucht, zum Beispiel im Bereich Migration und Sicherheit sowie zuletzt im Kontext der COVID-19-Krise, die Einschränkungen bei vielen Grundrechten und Grundfreiheiten mit sich brachte und Ungleichheiten vergrößert hat. Der ökologische und der digitale Wandel gehen mit neuen Möglichkeiten, die Grundrechte wirksamer durchzusetzen, aber auch mit neuen Herausforderungen einher. So ist die digitale Automatisierung zwar ein wesentlicher Motor des Fortschritts, der die Effizienz steigern und neue Wege zur Verarbeitung von Informationen eröffnen kann, gleichzeitig kann sie aber auch dazu führen, dass sich illegale Hetze schneller verbreitet, die Freiheit der Meinungsäußerung eingeschränkt und die Überwachung verstärkt wird, schwerwiegende Diskriminierung begünstigt wird, Kinder Schaden nehmen und sich die Vulnerabilität bestimmter Gruppen erhöht. Eine wirksame Durchsetzung der Grundrechte ist eine Voraussetzung dafür, dass die EU ihrer Verpflichtung gerecht werden kann, niemanden zurückzulassen.
Aufgrund dieser neuen Herausforderungen und Entwicklungen ist ein erneutes Engagement geboten, mit dem sichergestellt wird, dass die EU-Organe und die Mitgliedstaaten die Charta voll ausschöpfen.
Die Charta zu einer Realität für alle werden lassen
In dieser Strategie werden konkrete Maßnahmen für eine verstärkte Anwendung der Charta, insbesondere in den Mitgliedstaaten, vorgeschlagen. Dabei liegt der Fokus auf vier Bereichen:
1.Sicherstellung der wirksamen Anwendung der Charta durch die Mitgliedstaaten
2.Stärkung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Rechteverteidigern und Angehörigen der Rechtsberufe
3.Förderung der Nutzung der Charta als Richtschnur für die EU-Organe
4.Sensibilisierung der Bürgerinnen und Bürger für ihre Rechte aus der Charta
Die Strategie stützt sich auf Forderungen des Europäischen Parlaments nach einer stärkeren Überwachung der Anwendung der Charta in den Mitgliedstaaten
, die Schlussfolgerungen des Rates mit Möglichkeiten für eine bessere Anwendung der Charta
und Beiträge der Mitgliedstaaten.
Die in dieser Strategie dargelegten Maßnahmen konzentrieren sich auf Prävention, Förderung, Anwendung und Durchsetzung.
Die Achtung der Grundrechte und Grundwerte der EU ist eine gemeinsame Verantwortung und bedarf einer kollektiven Anstrengung aller Beteiligten: Organe, Einrichtungen, Ämter und Agenturen der EU, nationale und lokale
Behörden, einschließlich Strafverfolgungsbehörden, Rechteverteidiger, Gesetzgeber, Richterinnen und Richter und andere Angehörige der Rechtsberufe sowie im Bereich Grundrechte tätige zivilgesellschaftliche Organisationen. Alle diese für eine wirksame Anwendung der Charta wichtigen Akteure müssen dazu beitragen, dass die Charta zu einer Wirklichkeit im Leben der Bürgerinnen und Bürger wird.
Bei der Erarbeitung dieser neuen Strategie hat die Kommission den Akteuren und der breiten Öffentlichkeit aufmerksam zugehört. Dazu führte sie eine Eurobarometer-Umfrage
zum Bekanntheitsgrad der Charta durch, die ergab, dass viele Menschen nicht ausreichend über ihre Rechte aus der Charta informiert sind, aber gern mehr erfahren würden, unter anderem auch darüber, an wen sie sich bei Rechtsverletzungen wenden können. In Konsultationen stellte sich heraus, dass Möglichkeiten zur Unterstützung der an der Durchsetzung der Charta beteiligten Akteure gefunden werden müssen, damit die Charta wirksam und zum Wohle aller angewendet wird.
Das Engagement der EU zur Förderung ihrer Werte
Diese Strategie ergänzt den Europäischen Aktionsplan für Demokratie
und den ersten Bericht über die Rechtsstaatlichkeit
, die zusammen den umfassenden Ansatz der Kommission für die Förderung und den Schutz der Grundwerte, auf denen die EU beruht, veranschaulichen.
Die Strategie stellt den übergeordneten Charakter der Charta heraus und ergänzt gezielte Anstrengungen, die Rechte und Werte der EU greifbarer zu machen, und zwar in Bereichen wie Opferrechte und Zugang zu Gerichten, Gleichstellung, Rassismusbekämpfung und Pluralismus, soziale Rechte und inklusive allgemeine und berufliche Bildung, wirtschaftliche Rechte
, Rechte der EU-Bürgerinnen und -Bürger
und Rechte des Kindes
.
Alle diese Arbeitsbereiche verstärken sich gegenseitig und sorgen gemeinsam für einen effektiven Schutz der Grundrechte in der EU.
Die Charta gilt in Verbindung mit nationalen und internationalen Systemen zum Schutz der Grundrechte, darunter den Verfassungsüberlieferungen und gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten.
In diesem Zusammenhang hat der Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention für die Kommission nach wie vor Priorität. Wenn die EU die Grundrechte wirklich stärken will, muss sie für eine Kontrolle von außen offen sein. Die Kommission hat sich zur Verwirklichung dieses Ziels mit dem Europarat zusammengeschlossen, was dazu beitragen wird, die Verbindungen zwischen den beiden Grundrechterahmen auszubauen und ihre wirksame Anwendung vor Ort zu stärken.
Die EU als globaler Akteur im Bereich Menschenrechte
Die Förderung der Werte und Grundrechte der EU ist auch ein wichtiger Bestandteil der Arbeit der EU im globalen Umfeld. Wie die EU intern mit Fragen der Grundrechte umgeht, ist von großer Bedeutung für ihre Beziehungen zu Ländern außerhalb der EU auf bilateraler, regionaler und multilateraler Ebene. Der Druck auf die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte wird immer stärker, sodass die EU in ihrem außenpolitischen Handeln dem Schutz der Menschenrechte und der Unterstützung der Demokratie weltweit höchste Priorität beimisst. Die EU verfolgt bei ihrer internen Grundrechtepolitik und der Frage, wie sie die Menschenrechte in ihre Arbeit mit externen Partnern einbindet, ein stimmiges und wirkungsstarkes Konzept, das sich beispielsweise im neuen Aktionsplan für Menschenrechte und Demokratie sowie im dritten Aktionsplan für die Gleichstellung der Geschlechter niederschlägt und im Einklang mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung steht. Auch in ihrer Handelspolitik fördert die EU die Achtung der Menschenrechte.
1 – Sicherstellung der wirksamen Anwendung der Charta durch die Mitgliedstaaten
1.1 Gemeinsam mit den Mitgliedstaaten auf eine wirksame Anwendung der Charta hinarbeiten
Die Charta ist ein rechtsverbindliches Instrument, das sich an die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ richtet. Sie ist nicht dazu gedacht, den Anwendungsbereich des Unionsrechts auszudehnen. Vielmehr spiegelt der Anwendungsbereich der Charta den Anwendungsbereich des Unionsrechts selbst wider: „Die Charta ist der ‚Schatten‘ des Unionsrechts. Das bedeutet im Wesentlichen, dass es keine dem Unionsrecht unterliegende Situation geben kann, in der die Charta nicht zur Anwendung kommt“.
Angesichts des wachsenden Rechtsbestands der EU gilt die Charta in immer mehr Fällen und Bereichen. Dies wird durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs im Zusammenhang mit der Durchsetzung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf veranschaulicht, die sich in Bereichen wie Besteuerung, Asyl und Migration, Unabhängigkeit der Justiz oder Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf herausgebildet hat
. Darüber hinaus verwies der Gerichtshof unlängst auf das Eigentumsrecht, um den Schutz ausländischer Investoren im Binnenmarkt zu stärken
.
Nationale und lokale Behörden, die Parlamente der Mitgliedstaaten sowie Strafverfolgungsbehörden spielen bei der Förderung und dem Schutz von Rechten aus der Charta eine entscheidende Rolle. Die Kommission beabsichtigt, mit den nationalen und lokalen Behörden der Mitgliedstaaten Hand in Hand daran zu arbeiten, die umfassende Anwendung der Charta und des Unionsrechts sicherzustellen, das die in der Charta verankerten Rechte fördert und schützt.
Prävention – Die Kommission legt großen Wert auf den Dialog mit den Mitgliedstaaten und ist bereit, sie bei der effektiven Umsetzung und Anwendung von Unionsrecht zu unterstützen
. Ein regelmäßiger Dialog mit den Mitgliedstaaten und Strafverfolgungsbehörden ist unerlässlich für den Austausch von Verfahren und die Erörterung von Fragen im Zusammenhang mit der Umsetzung und Durchsetzung der Charta und dem damit verbundenen Unionsrecht. Auf diese Weise können sich abzeichnende Probleme hinsichtlich der Unvereinbarkeit frühzeitig gelöst werden.
Förderung und Anwendung – Konsultationen haben gezeigt, dass die Nutzung und Kenntnis der Charta in nationalen und lokalen Behörden sowie in Parlamenten gering ist. Um ihren Pflichten nach dem Unionsrecht nachkommen zu können, ist es wichtig, dass die Mitgliedstaaten die Entwicklung von Instrumenten, Überwachungsmechanismen, Schulungen und Strategien fördern, um die Einhaltung der Charta im Anwendungsbereich des Unionsrechts sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten sollten zum gegenseitigen Lernen anregen und dazu bewährte Verfahren zur Nutzung der Charta und Erhöhung ihres Bekanntheitsgrads – auch auf lokaler Ebene – auf einer von der Kommission über das Europäische E-Justizportal zur Verfügung gestellten speziellen Seite austauschen. Der Rat könnte einen solchen Austausch auch im Rahmen seiner Gruppe „Grundrechte, Bürgerrechte und Freizügigkeit“ (FREMP) fördern, wie in seinen Schlussfolgerungen zur Charta von 2019 vorgesehen.
Koordinierung – Konsultationen haben auch gezeigt, wie wichtig die Kooperation und Kommunikation zwischen den verschiedenen Regierungsebenen, mit den EU-Institutionen und mit Rechteverteidigern und zivilgesellschaftlichen Organisationen ist. Die Kommission ermutigt die Mitgliedstaaten in dieser Hinsicht, eine Charta-Kontaktstelle einzurichten, um den Informationsfluss und bewährte Verfahren im Zusammenhang mit der Charta zu erleichtern und die Maßnahmen zum Kapazitätsaufbau im jeweiligen Land zu koordinieren. Die Kontaktstelle könnte außerdem Informationen zwischen den EU-Organen weiterleiten.
üDie Kommission wird:
- ihre Partnerschaft mit den Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksame Anwendung der Charta ausbauen
- den Austausch bewährter Verfahren zwischen lokalen Behörden zur Anwendung der Charta und Erhöhung ihres Bekanntheitsgrads unterstützen, auch im Rahmen des im neuen Programm „Bürger, Gleichstellung, Rechte und Werte“ vorgesehenen Städtenetzwerks
üDie Kommission fordert die Mitgliedstaaten auf:
- eine Charta-Kontaktstelle einzurichten, um Koordinierung und Kooperation zu erleichtern
- Folgenabschätzungen und Verfahren der legislativen Kontrolle einzusetzen, um sicherzustellen, dass Initiativen zur Durchführung von Unionsrecht mit der Charta konform sind, und Leitfäden und Schulungen für nationale und lokale Verwaltungsbehörden zu entwickeln
- bewährte Verfahren zur Anwendung der Charta und Erhöhung ihres Bekanntheitsgrads über das Europäische E-Justizportal weiterzugeben.
Durchsetzung – Die Kommission als Hüterin der Verträge stellt sicher, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften im Einklang mit dem Unionsrecht stehen, damit die Bürgerinnen und Bürger ihre Rechte, einschließlich ihrer Grundrechte, geltend machen und die Vorteile des Unionsrechts in vollem Umfang ausschöpfen können. Die Kommission bekräftigt ihre Entschlossenheit, die Anwendung der Charta und damit zusammenhängender Rechtsvorschriften der Union zu überwachen, ihren Dialog mit dem Mitgliedstaaten zu stärken und bei einem Verstoß gegen Unionsrecht gegebenenfalls Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Sie wird weiterhin aufmerksam Fälle verfolgen, in denen ein Mitgliedstaat systematisch die Charta bei der Durchführung von Unionsrecht nicht anwendet.
Ab 2021 wird die Kommission einen neuen jährlichen Bericht über die Anwendung der Charta in der EU vorlegen, in dem im Gegensatz zu ihren früheren Charta-Berichten die Anwendung der Charta in den Mitgliedstaaten genauer in den Blick genommen wird. Auf diese Weise erhält die Kommission weiteren Input für die Prüfung der Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften mit dem EU-Recht. Sie wird dabei thematisch vorgehen und sich auf Bereiche von strategischer Bedeutung konzentrieren, die dem Unionsrecht unterliegen. Zusammen mit dem jährlichen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit wird der neue jährliche Charta-Bericht einen weiteren Beitrag zur Wahrung der Grundwerte in der EU leisten.
Die Kommission wird bei der Erhebung der für den Bericht erforderlichen Informationen und Daten mit anderen EU-Organen und EU-Agenturen, insbesondere der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), zusammenarbeiten. Sie wird auf die Arbeit bestehender Expertengruppen der Mitgliedstaaten zurückgreifen und sich auf sachbezogene Informationen stützen, die über angesehene Quellen wie die Einrichtungen der Vereinten Nationen und des Europarats, justizielle Netze, zivilgesellschaftliche Organisationen, Rechteverteidiger und die neuen Charta-Kontaktstellen bereitgestellt werden.
Der Schwerpunkt des neuen Charta-Berichts 2021 wird auf Grundrechten im digitalen Zeitalter liegen. Der Bericht dürfte eine freimütige und offene interinstitutionelle Diskussion mit dem Europäischen Parlament und dem Rat sowie Diskussionen in den Mitgliedstaaten und deren Parlamenten anstoßen. Diese Diskussionen werden den Mitgliedstaaten bei ihren Bemühungen helfen, bei der Umsetzung von Unionsrecht die Charta einzuhalten.
üDie Kommission wird:
- ab 2021 einen jährlichen Bericht über die Anwendung der Charta vorlegen, in dem die Auswirkung der Charta auf die Lage in den Mitgliedstaaten in bestimmten Politikbereichen untersucht wird
- sicherstellen, dass die Mitgliedstaaten die Charta bei der Durchführung von Unionsrecht wirksam anwenden und bei einem Verstoß gegen Unionsrecht gegebenenfalls Vertragsverletzungsverfahren einleiten
üDie Kommission fordert dazu auf, dass:
- das Europäische Parlament und der Rat als Folgemaßnahme zum jährlichen Bericht der Kommission eine inhaltliche Diskussion zur Anwendung der Charta führen. Die Kommission ist bereit, dafür Unterstützung zu leisten;
- das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente eine interparlamentarische Zusammenarbeit in Fragen der Anwendung der Charta aufbauen. Die Kommission ist bereit, dazu beizutragen.
1.2 Sicherstellung der Anwendung der Charta bei der Verwendung von EU-Mitteln
EU-Mittel spielen bei der Umsetzung der EU-Politik in den Mitgliedstaaten eine entscheidende Rolle. Die Mitgliedstaaten und die Kommission müssen dafür sorgen, dass alle von der EU finanzierten Projekte im Einklang mit dem Unionsrecht, einschließlich – sofern anwendbar – der Charta der Grundrechte, stehen.
Die Kommission hat kürzlich Maßnahmen ergriffen, um die Mitgliedstaaten dabei zu unterstützen, von der EU finanzierte Programme in Konformität mit der Charta durchzuführen. Insbesondere enthält ihr Vorschlag für die Dachverordnung mit Vorschriften für den nächsten EU-Haushalt 2021–2027 eine „grundlegende Voraussetzung“
in Bezug auf die Charta. Konkret bedeutet das, dass für alle Programme, die durch unter die Dachverordnung fallende EU-Fonds
(die „Fonds“) unterstützt werden, Mechanismen zur Anwendung kommen, die von der Anfangsphase bis zur Durchführung des Programms die Einhaltung der Charta sicherstellen.
Gemäß der Dachverordnung müssen die Mitgliedstaaten folgende Vorkehrungen treffen
:
- Vorkehrungen, die sicherstellen, dass die durch die Fonds unterstützten Programme und ihre Durchführung mit den einschlägigen Bestimmungen der Charta vereinbar sind. Dabei sollten die Mitgliedstaaten zum Beispiel die Rolle und Aufgaben der Behörden und Stellen festlegen, die an der Sicherstellung der Vereinbarkeit der Programme mit der Charta beteiligt sind, und darlegen, wie die Übereinstimmung mit der Charta während der Programmdurchführung überprüft wird.
- Vorkehrungen zur Meldung von Fällen von Nichteinhaltung der Charta bei Vorhaben, die durch die Fonds unterstützt werden, und von Beschwerden in Bezug auf die Charta an die Überwachungsausschüsse. Die Mitgliedstaaten sollten zum Beispiel erläutern, auf welche Weise und wie oft sie den Überwachungsausschüssen über diese beiden Punkte Bericht erstatten werden. Dabei sollte angegeben werden, welche Abhilfemaßnahmen ergriffen wurden, welche Schritte zur Vermeidung solcher Fälle in Zukunft unternommen werden und welche Rechtsbehelfsmechanismen zur Verfügung stehen oder eingerichtet wurden.
Bei der Erstellung der Programme müssen die Mitgliedstaaten diese Vorkehrungen der Kommission mitteilen, die ihrerseits die Erfüllung der „grundlegenden Voraussetzung“ prüft.
Nach den für den neuen Programmplanungszeitraum geltenden Vorschriften gehören den Überwachungsausschüssen auch für Grundrechte zuständige Stellen an, die bei der Prüfung der Einhaltung der Charta behilflich sind. Aufgrund ihrer unabhängigen Stellung und ihres Sachverstands bei der Überwachung und Beratung von Behörden könnten die nationalen Menschenrechtsinstitutionen (NMRI) mit dazu beitragen, dass mit EU-Mitteln finanzierte Programme im Einklang mit der Charta konzipiert und durchgeführt werden.
Die Mitgliedstaaten sollten in Zusammenarbeit mit der Kommission auf der Grundlage der Leitlinien zur Sicherstellung der Einhaltung der Charta bei der Verwendung von EU-Mitteln nationale und lokale Bedienstete durch technische Hilfe dabei unterstützen, Programme in einer mit der Charta vereinbaren Weise zu konzipieren und durchzuführen. Die Mitgliedstaaten werden zudem aufgefordert, sich im Interesse einer kohärenten Umsetzung der „grundlegenden Voraussetzung“ innerhalb der EU untereinander abzustimmen. Eine nationale Kontaktstelle würde eine solche Kooperation und Koordination erleichtern.
Die Kommission wird zusammen mit den Mitgliedstaaten darauf achten und sicherstellen, dass die Charta betreffende Beschwerden im Zusammenhang mit der Verwendung von EU-Mitteln ordnungsgemäß verfolgt werden und mit systematischen Folgemaßnahmen einhergehen.
üDie Kommission wird:
- ein Schulungsmodul entwickeln und technische Hilfe leisten, um eine kohärente und effektive Umsetzung der „grundlegenden Voraussetzung“ der Dachverordnung sicherzustellen
- die Erfüllung der die Charta betreffenden „grundlegenden Voraussetzung“ prüfen
- darauf achten, dass EU-Mittel im Einklang mit der Charta verwendet werden, und im begründeten Fall entsprechende Maßnahmen wie die Einstellung oder Aussetzung von EU-Mitteln ergreifen oder Finanzkorrekturen vornehmen, wenn die Mitgliedstaaten unregelmäßige Ausgaben nicht selbst korrigiert haben
üDie Kommission fordert die Mitgliedstaaten auf:
- dafür zu sorgen, dass EU-Mittel im Einklang mit der Charta verwendet werden, und die in der Dachverordnung vorgesehenen Vorkehrungen zu treffen
- in Zusammenarbeit mit der Kommission nationale und lokale Bedienstete bei der Konzeption und Durchführung von Programmen zu unterstützen, die mit der Charta vereinbar sind
- eine kohärente Umsetzung der „grundlegenden Voraussetzung“ und eine entsprechende Abstimmung zu erleichtern und die verfügbare technische Hilfe bestmöglich zu nutzen
- in die Überwachungsausschüsse für Grundrechte zuständige Stellen zu entsenden
2 – Stärkung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Rechteverteidigern und Angehörigen der Rechtsberufe
2.1 Schutz und Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Rechteverteidigern
Ein unterstützendes Umfeld
Zivilgesellschaftliche Organisationen und Rechteverteidiger sind für eine gesunde Demokratie und eine Gesellschaft, in der die Menschen ihre Grundrechte wahrnehmen können, unerlässlich. Sie sind ein wichtiger Teil der Durchsetzungskette und spielen eine bedeutende Rolle bei der Förderung der Bekanntheit und Nutzung der Charta und einer Wertekultur, die auf Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechten basiert.
Sie stehen jedoch vor einer wachsenden Zahl von Herausforderungen, darunter rechtliche Beschränkungen und Schwierigkeiten beim Zugang zu finanziellen Mitteln. Der Gerichtshof erkannte in einem Fall, der ein Gesetz zur Beschränkung der Finanzierung zivilgesellschaftlicher Organisationen aus dem Ausland betraf, an, dass das Recht auf Vereinigungsfreiheit eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft bildet, da es den Bürgern ermöglicht, in Bereichen von gemeinsamem Interesse gemeinsam zu handeln und damit zu einem ordnungsgemäßen Funktionieren des öffentlichen Lebens beizutragen. Der Gerichtshof stellte klar, dass zivilgesellschaftliche Organisationen „ihre Tätigkeiten fortsetzen und ohne ungerechtfertigte staatliche Eingriffe arbeiten“ können müssen.
In einigen Mitgliedstaaten beeinflussen Hetzkampagnen die öffentliche Meinung auf negative Weise und schaden der Glaubwürdigkeit und Legitimität der Zivilgesellschaft. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Menschenrechtsaktivisten sind in einigen EU-Ländern körperlichen und verbalen Angriffen, Einschüchterung und Belästigung, einschließlich rechtsmissbräuchlicher Klagen (strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung, SLAPP), Gewalt sowie Online- und Offline-Hetze ausgesetzt. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Rechteverteidiger sollten ohne Angst in einem unterstützenden Umfeld arbeiten können.
üDie Kommission wird:
- gegen Maßnahmen vorgehen, die gegen Unionsrecht, einschließlich der Charta, verstoßen und zivilgesellschaftlichen Organisationen schaden
- ein günstiges Umfeld für zivilgesellschaftliche Organisationen fördern, insbesondere durch den neuen Arbeitsbereich für Werte der Union im Programm „Bürger, Gleichstellung, Rechte und Werte“
üDie Kommission fordert die Mitgliedstaaten auf:
- in ihren Ländern ein unterstützendes und sicheres Umfeld für zivilgesellschaftliche Organisationen und Rechteverteidiger zu fördern, auch auf lokaler Ebene
Starke und unabhängige nationale Menschenrechtsinstitutionen
Starke und effektive nationale Menschenrechtsinstitutionen („NMRI“) stellen eine entscheidende Verbindung zwischen dem Staat und der Zivilgesellschaft her, da sie die „Schutzlücke“ zwischen den Rechten des Einzelnen und den Verantwortlichkeiten des Staates thematisieren. Ihre übergeordnete Aufgabe besteht in der Bekämpfung von Diskriminierung in all ihren Ausprägungen sowie der Förderung des Schutzes sämtlicher Grundrechte.
NRMI überwachen die Anwendung, Umsetzung und Förderung der Charta vor Ort, bieten Informationen und Unterstützung für Opfer von Verletzungen der Grundrechte und arbeiten mit nationalen Einrichtungen zusammen, um die Bekanntheit und Nutzung der Charta bei diesen Einrichtungen zu steigern.
In drei Mitgliedstaaten gibt es überhaupt keine NMRI, in zwei Mitgliedstaaten gibt es keine akkreditierte NMRI und in sechs gibt es keine NMRI mit dem Status A entsprechend den Pariser Grundsätzen.
In dem Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020 wurde die Bedeutung unabhängiger NMRI als Bestandteil des Systems von Kontrolle und Gegenkontrolle hervorgehoben. Das Europäische Netzwerk von Nationalen Menschenrechtsorganisationen (ENNHRI) kann den Mitgliedstaaten mit Unterstützung der Kommission bei der Einrichtung und Förderung von NMRI mit Status A entsprechend den Pariser Grundsätzen behilflich sein.
üDie Kommission fordert dazu auf, dass:
- die Mitgliedstaaten, die noch keine unabhängige NMRI eingerichtet haben, dies tun.
- die Mitgliedstaaten, in denen NMRI eingerichtet wurden, sicherstellen, dass diese die Instrumente und Mittel zur Erfüllung der Pariser Grundsätze erhalten und in ihrem Mandat auf die Charta verweisen.
Aufbau von Kapazitäten zur Verteidigung der Menschenrechte
Zivilgesellschaftliche Organisationen und Rechteverteidiger tragen maßgeblich dazu bei, die Bürgerinnen und Bürger stärker für ihre Rechte aus der Charta zu sensibilisieren und ihnen einen wirksamen Rechtsschutz zu ermöglichen. Wenn sich andere Wege wie Prävention und Dialog als erfolglos erweisen, schließt ein wirksamer Rechtsschutz auch strategische Rechtsstreitigkeiten ein, die zu einer kohärenteren Umsetzung und Anwendung des Unionsrechts und zur Durchsetzung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger beitragen. Nach einer Initiative des Europäischen Parlaments führte die Kommission Konsultationen durch und gab eine Studie in Auftrag, die bestätigen, dass es entscheidend auf den Aufbau von Kapazitäten ankommt, damit diese „Charta-Anwälte“ Menschen besser bei der Wahrnehmung ihrer Rechte aus der Charta helfen können. Die Studie kam zu dem Schluss, dass der Kenntnisstand der Prozessanwälte über einschlägige unionsrechtliche Praktiken und Verfahren verbessert und ihre Kapazitäten erhöht werden müssten mit dem Ergebnis, dass Grundrechtsstreitigkeiten in Europa zunehmen und die Rechte aus der Charta systematischer gefördert und geschützt würden.
Europäische Netzwerke von Rechteverteidigern wie das Europäische Netzwerk von Nationalen Menschenrechtsorganisationen (ENNHRI), das Europäische Netzwerk für Gleichbehandlungsstellen (Equinet) und das Europäische Verbindungsnetz der Bürgerbeauftragten (ENO) können eine wichtige Rolle bei der Koordinierung des Kapazitätsaufbaus und des Austauschs von Verfahren unter ihren Mitgliedern spielen. In länderübergreifenden Schulungen ausgebildete Beschäftigte sollten als Multiplikatoren agieren und ihr Wissen an Kolleginnen und Kollegen in ihren nationalen Einrichtungen weitergeben.
Netzwerke sollten voneinander lernen, um ihre Ziele zu erreichen. ENNHRI zum Beispiel hat Arbeitsweisen seiner Mitglieder zusammengestellt, um zu zeigen, wie NMRI in Europa auf die Durchsetzung der Charta in den einzelnen Staaten hinarbeiten.
Die FRA hat zur Unterstützung dieser Tätigkeit Instrumente entwickelt und ist bereit, bei derartigen Maßnahmen zum Kapazitätsaufbau weitere Unterstützung zu leisten.
Andere Netzwerke, die sich für bestimmte Gruppen einsetzen (z. B. im Rahmen des VN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen oder das Europäische Netzwerk der Ombudsleute für Kinder), könnten ebenfalls maßgebliche Unterstützung leisten und unter ihren Mitgliedern für die Charta werben.
üDie Kommission wird:
- den Aufbau von Kapazitäten von Rechteverteidigern und zivilgesellschaftlichen Organisationen im Zusammenhang mit der Charta, insbesondere im Rahmen des Programms „Justiz“, unterstützen, um den Zugang zur Justiz für alle zu erleichtern
üDie Kommission fordert Netzwerke von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Rechteverteidigern auf:
- unter Nutzung der von der Kommission und der FRA zur Verfügung gestellten Unterstützung und Instrumente bei Schulungen zur Charta zusammenzuarbeiten und sich über bewährte Verfahren auszutauschen
2.2 Unterstützung von Richtern und anderen Angehörigen der Rechtsberufe
Damit die Charta im Leben der Menschen eine Rolle spielen kann, braucht es unabhängige und qualifizierte Richter. Auch wenn nationale Gerichte zunehmend auf die Charta zurückgreifen und den Gerichtshof um Unterstützung bei ihrer Auslegung ersuchen, hat die Charta unter den Angehörigen der Rechtsberufe auf nationaler Ebene nach wie vor einen geringen Bekanntheitsgrad. Bis jetzt hat weniger als ein Drittel aller Berufsgruppen, die im Rahmen der gezielten Konsultation für Richter, andere Angehörige der Rechtsberufe und Schulungseinrichtungen befragt wurden, eine Schulung zur Charta erhalten. Die meisten Richter und anderen Angehörigen der Rechtsberufe, die an der Konsultation teilnahmen, würden eine Schulung zur Charta, einschließlich einer gemeinsamen Schulung für diese beiden Berufsgruppen zum Zweck des Erfahrungsaustauschs, begrüßen. Außerdem würden sie einen stärkeren Austausch zwischen nationalen und europäischen Gerichten begrüßen.
Die Kommission nahm eine neue europäische Strategie für die juristische Aus- und Fortbildung an, in der hervorgehoben wird, wie wichtig es ist, Richter und andere Angehörige der Rechtsberufe mit der Charta vertraut zu machen, damit diese wirksam angewandt werden kann. Ebenso wurde auf die Bedeutung berufsübergreifender Schulungen und des Austauschs bewährter Verfahren hingewiesen. Die FRA wird ihre „Charterpedia“ sowie ihr Handbuch zur Anwendung der Charta für Rechtsberufe aktualisieren.
Die COVID-19-Pandemie hat die Justizsysteme vor zusätzliche Herausforderungen gestellt, zugleich aber in einigen Mitgliedstaaten der Digitalisierung der Verfahren einen Schub verliehen. Wenn die Digitalisierung der Justiz sorgfältig umgesetzt wird, kann sie sich auch positiv auf die Kapazität der Gerichte für die effiziente Behandlung von Fragen der Grundrechte auswirken, insbesondere in einem Bereich, in dem Personal knapp ist.
üDie Kommission wird:
- den Schulungsmöglichkeiten für Richter und andere Angehörige der Rechtsberufe im Rahmen des neuen EU-Programms „Justiz“ Priorität einräumen und die Entwicklung eines E-Learning-Tools speziell für Richter unterstützen
- Schulungsaktivitäten und Materialien zur Charta auf der neuen Europäischen Plattform für Berufsbildung des Europäischen E-Justizportals mit EU-Mitteln fördern
üDie Kommission fordert Netzwerke von Richtern und anderen Angehörigen der Rechtsberufe auf:
- bei Schulungen und dem Austausch bewährter Verfahren zur Anwendung der Charta zusammenzuarbeiten und dabei von den Unterstützungsangeboten und Werkzeugen der Kommission, des Europäischen Netzes für die Aus- und Fortbildung von Richtern und Staatsanwälten (EJTN) und der FRA Gebrauch zu machen
3 – Förderung der Nutzung der Charta als Richtschnur für die EU-Organe
3.1. Aktualisierung und Entwicklung von Instrumenten innerhalb der Kommission
Die EU-Organe müssen sich bei all ihren Handlungen an die Charta halten, auch wenn sie außerhalb des unionsrechtlichen Rahmens und außerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten handeln.
Entsprechend ihrer Strategie zur Anwendung der Charta durch die EU von 2010 entwickelte die Kommission Leitlinien, die sicherstellen sollen, dass alle neuen Initiativen mit der Charta vereinbar sind und dass, wenn bestimmte Rechte beeinträchtigt werden, eine Begründung gegeben wird, warum die Maßnahme erforderlich und angemessen ist, sowie Lösungen bereitgestellt werden, die die potenziellen negativen Folgen für die Rechte der Bürgerinnen und Bürger abmildern. Die neue Task-Force der Kommission für Gleichstellung wird dafür sorgen, dass die Gleichstellung systematisch bei der Arbeit der Kommission berücksichtigt wird.
Wichtige Initiativen der Kommission, die erhebliche Auswirkungen auf die Rechte aus der Charta haben könnten, werden nach wie vor bereits in der Vorbereitungsphase überprüft. Die Vereinbarkeit mit der Charta bleibt während des gesamten Entscheidungsprozesses ein Hauptanliegen der Kommission. So wird in der EU-Digitalstrategie hervorgehoben, wie wichtig die Achtung der Grundrechte mit Blick auf den digitalen Wandel ist. Der neue Rechtsrahmen für künstliche Intelligenz
führt Rechenschaftspflicht sowie Dokumentations- und Prüfungsanforderungen ein, um die wirksame Durchsetzung von Grundrechten zu gewährleisten. Im anstehenden Vorschlag für ein Gesetz über digitale Dienste wird die Verantwortung der Online-Vermittler, insbesondere der Online-Plattformen, für alle Arten illegaler Online-Inhalte festgeschrieben, um sicherzustellen, dass gegen solche Inhalte vorgegangen wird, während gleichzeitig legale Inhalte unter Verweis auf die Grundrechte – einschließlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung der Nutzer von Online-Diensten – geschützt werden.
Bei der Vorbereitung von Initiativen greift die Kommission auf Beiträge wichtiger Interessenträger zurück. Bei ihren Bemühungen, die Charta in all ihre Politikmaßnahmen und Legislativvorschläge einzubeziehen, stützt sich die Kommission auf einen offenen und konstruktiven Dialog mit der Zivilgesellschaft.
Die Wahrung von Grundrechten ist ein globales Unterfangen, und es ist wichtig, dass interne und externe Maßnahmen zur Förderung und zum Schutz der Grundrechte kohärent sind und sich gegenseitig verstärken. Im neuen EU-Aktionsplan für Menschenrechte und Demokratie 2020–2024 wird das weltweite Engagement der EU für die Förderung und den Schutz der Grundrechte und -werte bekräftigt. Menschenrechte und Demokratie sollen in allen Bereichen des außenpolitischen Handelns der EU konsequent und kohärent gefördert werden, sodass bei der Förderung der Grundrechte im Einklang mit der Charta interne und externe Kohärenz gewährleistet sind.
Als EU-Organ wird die Kommission der Charta auch weiterhin bei der Vorbereitung und Verhandlung von Handels- und Investitionsabkommen der EU Rechnung tragen.
Die Kommission wird weiter darauf dringen, dass sich Länder, die der EU beitreten möchten („Erweiterungsländer“), an den Standards der EU für den Schutz der Grundrechte ausrichten. Die Kommission stellt den Erweiterungsländern Unterstützung und technische Hilfe zur Verfügung und überwacht ihre Fortschritte im Rahmen der jährlichen Länderberichte. Um ihnen die schrittweise Angleichung an das Unionsrecht zu erleichtern, können sich Erweiterungsländer und Länder, mit denen ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen geschlossen wurde, auf Antrag als Beobachter an der Arbeit der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte beteiligen.
üDie Kommission wird:
- die Entwicklung eines allen offenstehenden E-Learning-Tools zur Charta unterstützen
- ihre Leitlinien von 2011 für ihre Bediensteten zur Anwendung der Charta in Folgenabschätzungen aktualisieren und sie als Informationsquelle für politische Entscheidungsträger auf nationaler und lokaler Ebene verbreiten
- ein Instrumentarium für die durchgängige Berücksichtigung der Gleichstellung und einen Schulungsplan für alle Bediensteten entwickeln, um sicherzustellen, dass Gleichstellungsaspekte Bestandteil aller Initiativen der Kommission sind
3.2 Förderung der durchgängigen Berücksichtigung der Charta im „europäischen“ Gesetzgebungsverfahren
Für eine wirksame Anwendung der Charta durch die EU ist es von entscheidender Bedeutung, dass das Europäische Parlament und der Rat gezielt auf die Einhaltung der Charta im Gesetzgebungsverfahren achten. Die Kommission ist bereit, sie dabei zu unterstützen. Die Einhaltung der Charta ist ein Schlüsselelement für die Tragfähigkeit der EU-Gesetzgebung.
2015 gab der Rat Leitlinien zur Überprüfung der Einhaltung der Grundrechte heraus, die weitergegeben und regelmäßig erläutert werden sollten. Die Gruppe „Grundrechte, Bürgerrechte und Freizügigkeit“ (FREMP) des Rates spielt in dieser Hinsicht eine entscheidende Rolle. Der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) des Europäischen Parlaments kann Stellungnahmen zur Vereinbarkeit eines Gesetzgebungsaktes mit den Grundrechten abgeben. Gemäß der interinstitutionellen Vereinbarung über bessere Rechtsetzung können das Europäische Parlament und der Rat Folgenabschätzungen zu wesentlichen Änderungen durchführen, die sie an einem Vorschlag der Kommission vornehmen. In den Folgenabschätzungen sollte demnach auf Grundrechtsfragen eingegangen werden.
Für die durchgängige Berücksichtigung der Charta im Unionsrecht gibt es mehrere Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, und zahlreiche weitere finden sich in den Jahresberichten der Kommission. Mit dem europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit
soll sichergestellt werden, dass Menschen mit Behinderungen Maßnahmen in Anspruch nehmen können, die ihre Eigenständigkeit, ihre soziale und berufliche Eingliederung und ihre Teilhabe am Leben der Gemeinschaft gewährleisten. Die Verordnung über die Europäische Grenz- und Küstenwache
erhebt Grundrechte zu einem übergeordneten Aspekt beim integrierten europäischen Grenzmanagement.
üDie Kommission fordert das Europäische Parlament und den Rat auf, die
ihnen zur Verfügung gestellten Instrumente zu nutzen, um sicherzustellen, dass die Charta in ihrer Arbeit wirksam angewendet wird. Die Kommission ist bereit, sie dabei zu unterstützen.
4 – Stärkere Sensibilisierung der Bürgerinnen und Bürger für ihre Rechte aus der Charta
Eine kürzlich durchgeführte Eurobarometer-Umfrage zum Bekanntheitsgrad der Charta lässt erkennen, dass lediglich 42 % der Befragten von der Charta gehört haben und nur 12 % wirklich wissen, worum es sich dabei handelt.
Sechs von zehn Befragten wollen mehr über ihre Rechte sowie darüber erfahren, an wen sie sich bei Verletzungen ihrer Rechte aus der Charta wenden können.
Die Mehrzahl (80 %) der zivilgesellschaftlichen Organisationen berichtet, dass sich Menschen mit der Bitte um mehr Informationen über ihre Rechte an sie wenden, und noch mehr (85 %) geben an, dass sie Aufklärungskampagnen durchführen.
Auch Behörden vor Ort sind gut geeignet, Menschen auf ihre Rechte aufmerksam zu machen und darüber zu informieren, welche Möglichkeiten sie bei Rechtsverletzungen haben. Es ist wichtig, anhand von konkreten Beispielen zu erklären, welche Bedeutung diese Rechte für den Einzelnen haben.
Das FRA-Grundrechteforum 2021 ist eine Gelegenheit, auf die Charta der Grundrechte aufmerksam zu machen und darüber nachzudenken, wie in der EU eine Wertekultur entwickelt werden könnte. Die Konferenz zur Zukunft Europas wird die Möglichkeit bieten, über Grundrechte und EU-Werte zu diskutieren, die für die Union und ihre Zukunft von zentraler Bedeutung sind.
Die Kommission wird eine Sensibilisierungskampagne vorbereiten, mit der die Menschen besser über ihre Rechte aus der Charta informiert werden und erfahren sollen, an wen sie sich bei Rechtsverletzungen wenden können. Die Kampagne wird sich auch an Menschen mit Behinderungen richten.
Die Kommission wird außerdem ihre Bemühungen verstärken, jungen Menschen die durch die Charta garantierten Rechte besser zu vermitteln, und dazu bestmöglichen Gebrauch vom Programm Erasmus+ machen. Insbesondere wird sie auf Informationen zur Charta in der Erasmus+-Studierendencharta, die alle Erasmus+-Studenten erreicht, verweisen, „Grundrechte“ als zentrale Priorität in die Jean-Monnet-Aktivitäten im Bereich der Hochschulbildung aufnehmen, Hochschuleinrichtungen ermutigen, Schulungen oder Online-Kurse zum europäischen zivilgesellschaftlichen Engagement anzubieten und die Charta der Grundrechte zu fördern sowie Online-Ressourcen für schulische Lehrkräfte zur Aufklärung über die Grundrechte im Unterricht entwickeln. Sie wird im Rahmen ihres Programms zur entwicklungspolitischen Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit (DEAR) mit jungen Menschen zu Themen wie Grundwerten und Weltbürgerschaft, einschließlich der Ziele für nachhaltige Entwicklung, arbeiten. In ihrer neuen Strategie für die Rechte des Kindes wird die Kommission außerdem Wege erkunden, diese Rechte kindgerecht zu vermitteln.
üDie Kommission wird:
- eine Informationskampagne starten, um die Bürgerinnen und Bürger stärker auf ihre Rechte aus der Charta aufmerksam zu machen und sie durch konkrete Beispiele und in Zusammenarbeit mit Akteuren vor Ort über Möglichkeiten zu informieren, wie sie ihre Rechte nutzen können
- junge Menschen stärker auf ihre Rechte aus der Charta im Rahmen des Erasmus+-Programms aufmerksam machen
- Kinder im Rahmen ihrer Strategie für die Rechte des Kindes über ihre Rechte aufklären
üDie Kommission fordert die Mitgliedstaaten auf, Initiativen zur Erhöhung des Bekanntheitsgrads der Rechte aus der Charta und des Wissens darüber, an wen sich Bürgerinnen und Bürger bei Verstößen gegen ihre Rechte wenden können, auszuarbeiten, insbesondere durch die Stärkung lokaler Akteure.
Fazit
Dank des verbindlichen Charakters der Charta konnte sich die EU-Rechtsordnung zu einem leuchtenden Vorbild für den Schutz der Grundrechte entwickeln. Die Charta hat sich als Verkörperung dessen erwiesen, was die Rechte und Werte der EU bedeuten – ein Symbol europäischer Identität. Sie hat EU-weit zu einer kohärenteren und umfassenderen Auslegung der Grundrechte geführt.
Die EU-Organe, die Mitgliedstaaten und die verschiedenen Akteure in der Durchsetzungskette haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Charta zum Vorteil aller zu einem lebendigen Instrument des Schutzes der Grundrechte in Europa wird.
Die Kommission wird einen jährlichen Bericht zur Anwendung der Charta vorlegen, der die Grundlage für eine interinstitutionelle Diskussion bilden soll. 2025 wird die Kommission über die Umsetzung dieser Strategie berichten. Für 2030 plant die Kommission in Zusammenarbeit mit den wichtigsten an der Durchsetzung der Charta beteiligten Akteuren eine Bestandsaufnahme, bei der die Fortschritte in Bezug auf Bekanntheitsgrad und Nutzung der Charta bewertet werden.
Da die Mitgliedstaaten eine wichtige Rolle bei der Umsetzung dieser Strategie spielen, fordert die Kommission den Rat auf, Schlussfolgerungen mit Folgemaßnahmen vorzubereiten.