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Document 52013IE5160

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Für eine ausgewogenere Entwicklung der Regionen in der EU“ (Initiativstellungnahme)

OJ C 214, 8.7.2014, p. 1–7 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

8.7.2014   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 214/1


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Für eine ausgewogenere Entwicklung der Regionen in der EU“ (Initiativstellungnahme)

2014/C 214/01

Berichterstatter: Staffan NILSSON

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 9. Juli 2013 gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

Für eine ausgewogenere Entwicklung der Regionen in der EU.

Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 12. Februar 2014 an.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 496. Plenartagung am 26./27. Februar 2014 (Sitzung vom 26. Februar) mit 230 gegen 4 Stimmen bei 3 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Schlussfolgerungen

1.1

„Ganz Europa muss leben“ — so proklamierte am 13. November 2013 das vom EWSA ausgerichtete erste Europäische Ländliche Parlament (ein Forum für europäische und nationale Organisationen des ländlichen Raums). Ländliche Gebiete können, wenn sie mit geeigneten Maßnahmen unterstützt werden, ebenso viel wie die Städte zum Wohlstand Europas beitragen. Auf der Tagung wurde eine nach geografischen Gesichtspunkten ausgerichtete, bereichsübergreifende und an der Basis ansetzende Politik auf der Grundlage von Bürgerbeteiligung und Partnerschaft gefordert.

1.2

In dieser Initiativstellungnahme wird dieser Grundfrage nachgegangen und eine ausgewogenere Entwicklung empfohlen, damit alle Gebiete in der EU zu dem im Vertrag von Lissabon verankerten Ziel des territorialen Zusammenhalts beitragen können, auch vor dem Hintergrund zunehmender territorialer Ungleichgewichte innerhalb der Länder und Regionen.

1.3

Die Entvölkerung muss als eine der größten Bedrohungen für die ländliche Wirtschaft angesehen werden. Viele ländliche Gebiete sind besonders stark davon betroffen. In einigen Ländern und Gebieten sind die Daten erschreckend, mit bis zu einem Prozent Bevölkerungsrückgang pro Jahr und mitunter sogar noch mehr. Die Situation stellt sich jedoch sehr uneinheitlich dar. Die meisten ländlichen Gebiete in der EU verzeichnen keinen Bevölkerungsrückgang und sind weiterhin attraktive Standorte für Menschen und Unternehmen.

1.4

Der EWSA betont, dass entschiedenes Handeln auf allen politischen Ebenen dringend erforderlich ist, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Abwanderung zu bekämpfen. Der Schwerpunkt sollte dabei auf Arbeitsplätze, Infrastruktur und Dienstleistungen gelegt werden, flankiert von integrierten Maßnahmen der ländlichen Entwicklung auf allen Ebenen (EU, Mitgliedstaat und Region) und unter Einsatz der jeweils vor Ort vorhandenen Ressourcen. Es kommt darauf an, die Möglichkeiten aller EU-Programme voll auszuschöpfen, was u. a. für die Kohäsionspolitik und ihre Instrumente zur ländlichen und lokalen Entwicklung wie LEADER und CLLD (von der örtlichen Bevölkerung betriebene Maßnahmen zur lokalen Entwicklung) gilt. Die Mitgliedstaaten müssen Finanzmittel für die am stärksten von der Entvölkerung betroffenen Gebiete bereitstellen.

1.5

Jede politische Entscheidung mit gebietsbezogener Dimension sollte hinsichtlich ihrer territorialen Folgen bewertet werden. Dabei sollten stärker als bisher bereits vorliegende Bewertungen der ökologischen und sozioökonomischen Folgen herangezogen und neue spezifische quantitative und qualitative Indikatoren entwickelt werden.

1.6

Parallel zur Entwicklung der Primärsektoren müssen die politischen Rahmenbedingungen für eine Diversifizierung und neues Unternehmertum durch Investitionen, Innovation und Wissen geschaffen werden. Kurze Lieferketten in Sektoren wie Nahrungsmittel und Energie müssen gefördert werden. Dabei sollte auch über Anreize für eine Dezentralisierung nachgedacht werden.

1.7

Die Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten ist von entscheidender Bedeutung, und die Rechte des Einzelnen auf allgemeine und berufliche Bildung müssen in der Praxis durch entsprechende Investitionen in angemessene Einrichtungen zur Förderung von Wissen und Technologie gewährleistet werden. Ein Schwerpunkt sollte dabei die Entwicklung attraktiver Arbeitsplätze und Bildungsmöglichkeiten für junge Menschen sein. Es ist notwendig, geeignete Bedingungen für die Niederlassung von Junglandwirten zu schaffen, da dies ein Stabilitätsfaktor in ländlichen Gebieten ist. Es gilt, das Potenzial des weiblichen Arbeitnehmer- und Unternehmertums zu erschließen. Die Beschäftigung von regulären Migranten könnte — bei entsprechenden flankierenden Maßnahmen zur wirksamen Vermeidung einer kulturellen Absonderung — eine Chance sein, Zuwanderer als aktive Kräfte in die Entwicklung des ländlichen Raums einzubinden.

1.8

Infrastrukturinvestitionen in eine effiziente Anbindung an das Verkehrs-, Kommunikations- (u. a. Breitband-Internetzugang) und Energienetz sind eine notwendige Voraussetzung für den Abbau geografischer Unterschiede und die Steigerung der Attraktivität ländlicher Gebiete als Wohn- und Standorte für Menschen und Unternehmen.

1.9

Eine angemessene Bereitstellung wirtschaftlicher und sozialer Leistungen der Daseinsvorsorge ist eine weitere Grundvoraussetzung, um ländliche Gebiete attraktiv zu machen und regionale Unausgewogenheiten abzubauen. Hier sind dringend Investitionen nicht nur in Gesundheits-, Bildungs- und Betreuungseinrichtungen verschiedenster Art, sondern auch in Kultur- und Freizeitangebote erforderlich.

1.10

Der EWSA sieht die partizipative Demokratie als grundlegende Voraussetzung für das Erreichen einer besseren territorialen Ausgewogenheit in der Europäischen Union an. Die in ländlichen Gebieten lebenden Menschen und ihre Organisationen sollten in die Planung und Umsetzung von Maßnahmen und Tätigkeiten zu Gunsten des territorialen Zusammenhalts einbezogen werden. Das Partnerschaftsprinzip der EU-Strukturfonds sollte wirksam zum Tragen gebracht und auch auf andere Politikbereiche ausgeweitet werden.

1.11

Der Ausschuss unterstützt in seiner Eigenschaft als „Brücke zwischen der Zivilgesellschaft und den Institutionen“ die Idee eines Europäischen Ländlichen Parlaments, d. h. eines regelmäßigen, breit besetzten Forums, das gemeinsam mit dem Ausschuss ausgerichtet wird.

2.   Hintergrund der Initiativstellungnahme

2.1

Diese Stellungnahme des EWSA ist letztendlich ein Plädoyer für eine territoriale Folgenabschätzung bei einschlägigen EU-Maßnahmen mit dem Ziel, etwas gegen die dramatische Entvölkerung bestimmter ländlicher Gebiete zu unternehmen.

3.   Einleitung

3.1

Unterschiedliche Kulturen, Sprachen und Geschichte — die Vielfalt der Europäischen Union ist groß, aber gleichzeitig verbinden uns gemeinsame Grundsätze und Ideale, die in Artikel 2 des Vertrags niedergelegt sind (1). Ein guter Arbeitsplatz, Zugang zu sozialen und wirtschaftlichen Leistungen der Daseinsvorsorge und hohe Umweltstandards sind in allen Regionen grundlegende Erfordernisse.

3.2

Die Rahmenbedingungen sind jedoch innerhalb Europas nicht überall gleich. Zu den Ungleichheiten können u. a. historische Unterschiede und ererbte kulturelle Strukturen zählen, unterschiedliche politische Systeme, unterschiedliche sozioökonomische Entwicklungsmuster sowie die verschiedensten Kombinationen dieser Faktoren. Gebraucht werden umfassendere Kenntnisse über das komplexe Phänomen der Ungleichheit zwischen den einzelnen Gebieten und dessen Auswirkungen auf die politischen Maßnahmen und die Praxis.

3.3

Ländliche Gebiete stehen vor einem gemeinsamen Problem: Sie sind hinsichtlich ihrer Fähigkeit, hochwertige und dauerhafte Arbeitsplätze zu schaffen, hinter die städtischen Gebiete zurückgefallen (2). Das Durchschnittseinkommen auf dem Land ist 25-30 % niedriger als in der Stadt, in einigen Fällen in Mittel- und Osteuropa sogar bis zu 50 % niedriger. Es gibt dort weniger Beschäftigungsmöglichkeiten in einer viel beschränkteren Palette von Erwerbsbranchen. Eine unzureichende Infrastruktur (schlechter Breitband-Internetzugang, geringe Zugänglichkeit wirtschaftlicher und sozialer Dienstleistungen und fehlende Bildungseinrichtungen und Kultur- und Freizeitangebote) trägt zu einer erheblichen Bevölkerungsabwanderung aus ländlichen Gebieten, insbesondere von jungen Menschen und vor allem von jungen Frauen, bei.

3.4

Das Gesamtbild ist jedoch nicht ganz so düster. So verzeichneten überwiegend ländliche Gebiete im Jahrzehnt 2000-2010 im Durchschnitt ein etwas höheres Wachstum als städtische Gebiete (3). Das macht auch deutlich, dass es ländlichen Gemeinden durch viele verschiedene interessante Ansätze gelungen ist, durch Nutzung der vor Ort vorhandenen und weiterer lokaler Ressourcen die Probleme zu bewältigen und zu positiven Ergebnissen zu gelangen (4). In der jüngsten Krise haben sich ländliche Gebiete als stabiler und widerstandsfähiger erwiesen. Einer neuen Studie zufolge haben die Kosten von Verkehrsstaus und hohe Mieten dazu geführt, dass sich Gewerbe zunehmend in weniger entwickelten, oft ländlich geprägten Gebieten ansiedeln (5).

3.5

Das Bestehen einer unausgewogenen territorialen Entwicklung zwischen und innerhalb von Staaten, Regionen und ländlichen/städtischen Gemeinden ist eine große Herausforderung. Die mittel- und südosteuropäischen Länder haben im Zuge des EU-Beitritts für ihre Regionen, Städte und Gemeinden die Rolle verantwortlicher lokaler und regionaler Akteure wiederentdeckt, weshalb die regionale und lokale Entwicklung für diese Länder nun besonders interessant geworden ist. Auch in anderen Regionen Europas gibt es ein wieder starkes Interesse an der lokalen und regionalen Entwicklung.

3.6

In ganz Europa finden sich dünn besiedelte Gebiete und verwaiste Dörfer, selbst in den kleinsten Mitgliedstaaten. All diese dünn besiedelten Gebiete haben eigene Charakteristika und Bedürfnisse. Dennoch stehen sie trotz ihrer Unterschiede vor mindestens vier gemeinsamen Problemen: ihre geografische Abgelegenheit und die daraus entstehenden hohen Transportkosten; demografische Probleme der Abwanderung, Bevölkerungsalterung und geringen Geburtenraten; strukturschwache und kaum vielseitige Wirtschaft und schließlich ein niedriges Durchschnittseinkommen, das in einigen Fällen mit großer Armut der Landbevölkerung einhergeht.

3.7

In der Stellungnahme soll skizziert werden, wie ländliche Gebiete mit den in ihnen vorhandenen Ressourcen im Rahmen einer integrierten Entwicklungspolitik zum territorialen und sozialen Zusammenhalt beitragen können, und damit zur Bewältigung der Wirtschaftskrise, zur Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen und zum Schutz der Umwelt. In vielen Regionen dominiert der Agrar- und Nahrungsmittelsektor. Nötig ist aber eine Diversifizierung. Alle Sektoren müssen mit der Unterstützung durch gezielte politische Maßnahmen in der Lage sein, ihren Beitrag zu leisten.

4.   Allgemeine Bemerkungen

4.1   Herausforderungen für die Entscheidungsträger in der EU

4.1.1

Die in Artikel 174 bis 178 des Vertrags von Lissabon vorgesehenen Maßnahmen des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts sollen eine harmonische Entwicklung in der Union gewährleisten und die Unterschiede im Entwicklungsstand verringern, wobei Gebieten mit natürlichen oder demografischen Beeinträchtigungen besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird und die Mitgliedstaaten aufgefordert werden, ihre Wirtschaftspolitik so zu führen und zu koordinieren, dass die vorgenannten Ziele erreicht werden.

4.1.2

Für die Europäische Kommission besteht das Ziel des territorialen Zusammenhalts darin, die harmonische Entwicklung Europas als Ganzes sicherzustellen und dafür zu sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger die jeweiligen Gegebenheiten der verschiedenen Regionen in Europa optimal nutzen können. Es geht beim territorialen Zusammenhalt also darum, die Vielfalt zu einem Vorteil umzumünzen, der zu einer nachhaltigen Entwicklung der gesamten EU beiträgt (6).

4.1.3

Regionen umfassen sowohl dynamische als auch Problembereiche. Es ist recht schwierig, ein Gleichgewicht zwischen Politikkohärenz und territorialem Zusammenhalt zu finden, da die Regionen naturgemäß heterogen sind. Es bedarf folglich einer politischen Perspektive auf der Grundlage der Zusammenarbeit zwischen den Regionen und der Koordinierung unterschiedlicher sektoraler Politiken in Partnerschaft mit den beteiligten territorialen Akteuren. Ferner ist das Subsidiaritätsprinzip ein unerlässlicher Bestandteil jedes regionalpolitischen Ansatzes, da es immer besser ist, konkrete Probleme des lokalen Gemeinwesens auch vor Ort zu lösen.

4.1.4

Auf EU-Ebene ist die Gemeinsame Agrarpolitik das wichtigste Instrument für die Landwirtschaft und die Entwicklung des ländlichen Raums. Sie darf aber nicht das einzige Instrument bleiben, sondern die Mitgliedstaaten müssen bei der Ausarbeitung der operationellen Programme anderer EU-Fonds ebenfalls verstärkt auf die Nachhaltigkeit in den ländlichen Gebieten achten.

4.2   Entvölkerung

4.2.1

EU-Statistiken (7) zeigen, dass die ländlichen Gebiete in Europa 2008 und 2009 einen geringen Bevölkerungszuwachs verzeichneten (0,1- 0,2 %). 2010 und 2011 stagnierte die Bevölkerungszahl, während sie in städtischen Gebieten in diesen Jahren um 0,5 % wuchs. Die Situation stellt sich jedoch sehr uneinheitlich dar. In vielen ländlichen Gebieten hat die Bevölkerung in den letzten fünf Jahren zugenommen. 2011 wuchs die Landbevölkerung in 8 der 27 Mitgliedstaaten. Umgekehrt registrierte man im gleichen Jahr sehr negative Werte, insbesondere in Lettland und Litauen, wo die ländliche Bevölkerung um 2 % zurückging, gefolgt von Bulgarien (-1 %), während in Portugal, Deutschland, Rumänien und Ungarn ein Rückgang von circa 0,5 % verzeichnet wurde.

4.2.2

Betrachtet man nun die Regionen (NUTS 3) einzeln, sehen die Ziffern viel besorgniserregender aus. In ungefähr 100 von insgesamt 1  300 dieser Gebiete kam es im Zeitraum 2007-2011 zu einem Bevölkerungsrückgang von 5 % (in manchen Fällen sogar noch mehr). Diese Gebiete liegen hauptsächlich in den o.g. Ländern. Bulgarien, Litauen und Lettland ragen mit einem generellen Entvölkerungstrend besonders heraus. In Deutschland liegen diese Gebiete vor allem im östlichen Teil, in Portugal dagegen vor allem im Landesinneren.

4.2.3

Die Statistik zeigt auch, dass sich die Bevölkerung in der EU sehr ungleich verteilt, was in erheblichen Unterschieden bei der durchschnittlichen Bevölkerungsdichte in verschiedenen Regionen und zwischen städtischen und ländlichen Gebieten zum Ausdruck kommt. Der vielleicht bedenklichste demografische Indikator ist jedoch die erschreckend geringe Bevölkerungsdichte in einigen Regionen im Vergleich zur Bevölkerungsdichte vor 50 oder 100 Jahren. Die Entvölkerung muss zweifellos als eine der größten Bedrohungen für die ländliche Wirtschaft angesehen werden, nicht nur, weil sie Wachstumschancen einschränkt, erhebliche Umweltprobleme erzeugt, soziale Strukturen beeinträchtigt und die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen erschwert, sondern weil sie Kleinstädte und Dörfer gar in ihrer Existenz als bewohnte Siedlungen bedrohen kann.

4.2.4

Der Trend setzt sich fort. Die rasche Ausdehnung der Städte als Industrie- und Dienstleistungsstandorte zieht Arbeitskräfte vom Land in die Stadt. Der Strukturwandel in der Landwirtschaft veranlasst weitere Menschen zur Abwanderung in die Stadt. Auch große Infrastrukturprojekte können Bewohner verdrängen. Wenn die Landflucht größer ist als das natürliche Bevölkerungswachstum, lässt die Entvölkerung ländlicher Gebiete die Einwohnerzahl auf ein problematisches Niveau schrumpfen und verursacht auch eine Überalterung der demografischen Struktur.

4.2.5

Der Bevölkerungsschwund in ländlichen Gebieten verursacht ein ganzes Spektrum verschiedener Umweltauswirkungen. Wenn die Menschen ein Gebiet verlassen, übernimmt z. B. ein dominantes Habitat das vielfältige Mosaik der vom Menschen bewirtschafteten Kulturlandschaften. Diese „ökologische Homogenisierung“ kann zu einem Rückgang der Biodiversität auf der lokalen Ebene führen. Zu den weiteren Arten von Umweltfolgen zählt die Bodendegradation, z. B. weil Terrassen in Berggebieten nicht ausreichend gepflegt werden, wie es in weiten Gebieten im Mittelmeerraum und in Südosteuropa der Fall ist.

4.2.6

Es wurde auch auf andere Probleme im Zusammenhang mit der Entvölkerung des ländlichen Raums hingewiesen, so auf die Waldbewirtschaftung und die Waldbrandgefahr in den Gebieten des Mittelmeeres und potenzielle Sicherheitsprobleme an den Außengrenzen der EU.

4.3   Zur Rolle der organisierten Zivilgesellschaft

4.3.1

Der EWSA hat betont, dass „die partizipative Demokratie, die als eine Komponente der demokratischen Funktionsprinzipien der Union anerkannt ist, eine unverzichtbare Voraussetzung für eine bessere Ausgewogenheit zwischen den Regionen in der Europäischen Union darstellt“ (8). Der organisierten Zivilgesellschaft sollte auf regionaler und lokaler Ebene eine verantwortliche und transparente Beteiligung an der Ausarbeitung und Umsetzung der Politiken und Maßnahmen des territorialen Zusammenhalts ermöglicht werden. Das Partnerschaftsprinzip der EU-Strukturfonds sollte wirksam zum Tragen gebracht und auch auf andere für den ländlichen Raum relevante Politikbereiche ausgeweitet werden.

4.3.2

Zum einen kommt den traditionellen Sozialpartnern und den Berufsorganisationen eine Schlüsselrolle zu, wenn es darum geht, territoriale Ungleichheiten durch die Förderung von Beschäftigung und von Unternehmen, die in die Arbeits- und Lebensbedingungen verbessern, zu bewältigen.

4.3.3

Zum anderen organisiert sich die Landbevölkerung in ganz Europa immer mehr. In einigen Ländern ist diese Bewegung jüngeren Ursprungs, in anderen gibt es sie schon seit vielen Jahren. (Vorreiter ist hier vor allem der Norden Europas.) Diese Bewegungen sind in den einzelnen Ländern in nationalen Verbänden und Netzen organisiert, denen sowohl traditionelle Berufsorganisationen als auch neue Basisinitiativen angehören. Sie verleihen den in ländlichen Gebieten lebenden Menschen eine Stimme, da sie an der Basis ansetzen, fördern neues Unternehmertum und organisieren Produktion und Dienstleistungen auf lokaler Ebene.

4.3.4

Der EWSA war im November 2013 Gastgeber des ersten „Europäischen Ländlichen Parlaments“ (9), eines Forums für nationale und europäische Organisationen, die sich mit Fragen des ländlichen Raumes beschäftigen. Ziel dieses Forums ist es, der ländlichen Bewegung in Europa eine gemeinsame Stimme zu verleihen und sie zu stärken. Es will vor allem Einfluss auf die EU-Politik für den ländlichen Raum nehmen, den Dialog zwischen Politik und lokaler Ebene verbessern und Erfahrungen mit erfolgreichen Initiativen austauschen.

4.3.5

Der Ausschuss könnte in seiner Eigenschaft als „Brücke zwischen der Zivilgesellschaft und den Institutionen“ die auf dem Lande lebenden Menschen und ihre Organisationen in die Lage versetzen, bei der Gestaltung und Umsetzung der Maßnahmen für den endlichen Raum entscheidend mitzuwirken. Der Ausschuss unterstützt daher die Idee eines in regelmäßig Abständen tagenden Europäischen Ländlichen Parlaments, d. h. eines europäischen Forums für Fragen des ländlichen Raums, das auch Berufsorganisationen und den Sozialpartnern offensteht und dessen Tagungen gemeinsam mit dem Ausschuss ausgerichtet werden. Es bietet sich zudem als Partner für die Kontaktgruppe des Ausschusses an.

4.4   Territoriale Folgenabschätzung

4.4.1

Der Ausschuss hat bereits früher vorgeschlagen, dass die Rechtsvorschriften, Maßnahmen und Programme der EU hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf den territorialen Zusammenhalt geprüft werden sollten. Der Kommission kommt bei dieser Folgenabschätzung, in die alle betroffenen Akteure eng einbezogen werden sollten, eine besondere Verantwortung zu (10).

4.4.2

Dieser Vorschlag wurde unlängst vom Ausschuss der Regionen aufgegriffen, der forderte, „dass bei der Bewertung sektoraler Politiken von Anfang an die raumbezogenen Folgen gleichrangig zu den ökonomischen, ökologischen und sozialen Auswirkungen geprüft werden“, und aufrief, „die Zusammenarbeit mit den regionalen und lokalen Gebietskörperschaften zu nutzen, um die Konsultationen Interessenträgern und betroffenen Akteuren zuzuleiten“ (11).

4.4.3

Das Konzept der Folgenabschätzungen findet sich bereits in den verschiedenen bereichsübergreifenden Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Artikel 8 bis 12). Diese Bestimmungen sehen vor, dass die Union „bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen“ den Erfordernissen im Zusammenhang mit dem sozialen Schutz, der Gleichstellung, dem Umwelt- und Verbraucherschutz und der Bekämpfung von Diskriminierungen Rechnung trägt.

4.4.4

Bei allen Entscheidungen sollten sich die politischen Entscheidungsträger folgende Frage stellen: Welche Auswirkungen sind von der Maßnahme zu erwarten? Wird dadurch die Abwanderung von mehr Menschen in die Städte oder eher ihr Verbleib in ländlichen Gebieten begünstigt? Solche Maßnahmen, die zu einer größeren Ausgewogenheit zwischen den Regionen allgemein beitragen oder zumindest den Status quo bewahren, würden sofort grünes Licht erhalten. Entscheidungen, die dieses Gleichgewicht stören, indem sie der Konzentration in den Städten Vorschub leisten, sollten einer Folgenabschätzung unterworfen werden, aus der hervorgehen muss, dass dieser Nachteil durch entsprechende Vorteile wettgemacht wird.

4.4.5

Die territorialen Auswirkungen sektorspezifischer Maßnahmen, insbesondere in den Bereichen Verkehr, IKT, Energie, Umwelt, Landwirtschaft, Handel, Wettbewerb und Forschung, müssen abgeschätzt werden (12).

4.4.6

Im Hinblick darauf sollte die Kommission sicherstellen, dass der territorialen Dimension im Rahmen der strategischen Umweltprüfung (13) und des Leitfadens zur Folgenabschätzung gebührend Rechnung getragen wird. Es müssen aber auch andere spezifische quantitative und qualitative Indikatoren entwickelt werden, nicht nur für sozioökonomische und ökologische, sondern auch für andere, schwerer messbare Faktoren wie den Verlust traditioneller Fähigkeiten und Fertigkeiten.

5.   Besondere Bemerkungen

5.1

Eine ausgewogene Entwicklung der Regionen bedeutet eine gleichmäßigere und nachhaltigere Nutzung der natürlichen Ressourcen, was wirtschaftliche Vorteile durch weniger Staus und geringere Kosten bringt. Der Wohlstand in den ländlichen Gebieten wird von der Fähigkeit abhängen, Menschen und lokale Ressourcen zu mobilisieren und gleichzeitig Standortfaktoren zu entwickeln, die für attraktive Lebens- und Geschäftsbedingungen für die Menschen und Unternehmen sorgen. Die Größennachteile bzw. negativen Effekte von städtischen Ballungsräumen stehen der Aussicht auf eine gute Lebensqualität für alle im Wege.

5.2

Viele ländliche Gebiete mit einem noch unerschlossenen Entwicklungspotenzial koexistieren mit übermäßig intensiv genutzten städtischen und stadtnahen Räumen. In abgelegenen Gebieten, weit entfernt von Großstädten, spielen Klein- und Mittelstädte eine wesentliche Rolle bei der Bereitstellung des Zugangs zu Dienstleistungen und sorgen so dafür, dass diese Gebiete attraktiv und lebenswert bleiben. Dabei wird es von großer Bedeutung sein, diese Zentren im ländlichen Raum zu unterstützen, um die Probleme im Zusammenhang mit dem Abbau von Dienstleistungen und dem Zustrom von Menschen aus kleineren Dörfern in der Umgebung zu bewältigen, wofür natürlich ein leistungsfähiges öffentliches Verkehrssystem notwendig ist.

5.3

Der Markt allein kann nicht die erforderlichen Anreize bieten, um den gegenwärtigen Trend umzukehren. Deshalb ist dringend energisches Handeln der Politik auf allen Ebenen notwendig, um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Entvölkerung zu bewältigen und die ländlichen Gebiete für die Menschen und Unternehmen attraktiv zu machen. Gebraucht wird ein ausgewogenes Paket von Anreizen zur Förderung von Investitionen, Innovationen und Wissen und zur Schaffung und Erhaltung von Möglichkeiten und Chancen, auf dem Lande zu leben und zu arbeiten. Der Schwerpunkt sollte dabei auf Arbeitsplätze, Infrastruktur und Dienstleistungen gelegt werden, flankiert von integrierten Maßnahmen der ländlichen Entwicklung auf allen Ebenen (EU, Mitgliedstaat und Region).

5.4

Die Möglichkeiten aller EU-Programme, u. a. der Kohäsionspolitik und ihrer Instrumente zur ländlichen und lokalen Entwicklung wie LEADER und CLLD (von der örtlichen Bevölkerung betriebene Maßnahmen zur lokalen Entwicklung), müssen voll ausgeschöpft werden. Die Mitgliedstaaten müssen Finanzmittel für die am stärksten von der Entvölkerung betroffenen Gebiete bereitstellen.

5.5

Das Wettbewerbsrecht sollte entsprechend angepasst werden, um die erforderlichen Ausnahmen zuzulassen. Wenn die vorgeschlagenen Änderungen sich auf die Lohnkosten auswirken, dann muss dies im Rahmen des sozialen Dialogs mit den Sozialpartnern behandelt werden.

5.6

Der wichtigste konkrete Ausdruck des territorialen Zusammenhalts ist, dass allen europäischen Bürgern unabhängig von ihrem Wohn- oder Arbeitsort der gleiche Zugang zu Leistungen der Daseinsvorsorge garantiert wird. Infrastrukturinvestitionen in eine effiziente Anbindung an das Verkehrs-, Kommunikations- (u. a. Breitband-Internetzugang) und Energienetz sind eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung der schwächsten und abgelegensten Gebiete.

5.7

Die Lebensbedingungen der Menschen in ländlichen Gebieten, einschließlich in den am stärksten benachteiligten Gebieten, müssen durch eine angemessene Bereitstellung von Dienstleistungen — sowohl kommerziell erbrachter Dienstleistungen als auch sozialer Dienstleistungen von allgemeinem Interesse — verbessert werden, denn dies ist eine entscheidende Voraussetzung für den Abbau regionaler Unausgewogenheiten. Investitionen nicht nur in Gesundheits-, Bildungs- und Betreuungseinrichtungen verschiedenster Art, sondern auch in Kultur- und Freizeitangebote machen ländliche Gebiete zu attraktiven Lebensräumen für die Menschen — und zu guten Standorten für Unternehmen.

5.8

Die vor Ort vorhandenen Ressourcen zu nutzen, heißt auch, kurze Lieferketten zu schaffen, die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Vorteile nicht nur für die Landwirte, sondern auch für andere Unternehmen, Verbraucher und die ländlichen Gebiete im Allgemeinen bringen. Lebensmittel und Energie sind hier gute Beispiele. Dieses Modell der Erzeugung muss gefördert werden, wie die Tatsache beweist, dass internationale Einzelhandelsketten ihre Waren kaum von lokalen Erzeugern beziehen, selbst dann nicht, wenn die Angebotsseite gut organisiert ist und einen zuverlässigen Produktionsfluss garantieren kann.

5.9

Die Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten ist von entscheidender Bedeutung, und das Recht auf allgemeine und berufliche Bildung muss in der Praxis gewährleistet werden. Dringend erforderlich ist auch eine Berufsausbildung, die „die Arbeitskräfte auf die Erfordernisse des neuen Produktionsmodells einstellt“ (14). Besondere Aufmerksamkeit muss der Aufgabe gelten, die Abwanderung junger Menschen — insbesondere junger Frauen, die eher geneigt sind, wegzuziehen, — einzudämmen. Es zahlt sich für die Gesellschaft aus. wenn Beschäftigungsmöglichkeiten im ländlichen Raum geschaffen werden, sodass junge Familien es attraktiv finden, naturnah auf dem Lande zu wohnen und ihre Kinder in diesem Umfeld aufziehen können. Der EWSA hat bereits früher für entschiedene Maßnahmen zur Erschließung des Potenzials des weiblichen Arbeitnehmer- und Unternehmertums plädiert, damit Frauen aktiv an der Entwicklung und Innovation mitwirken können und die dafür nötigen Kenntnisse und Technologie erhalten (15).

5.10

Hochwertige Arbeitsplätze in modernen Branchen und in der Kreativwirtschaft könnten eine positive Entwicklung in Gang setzen: Nicht nur die Wirtschaft, sondern auch kulturelle Initiativen und andere Dienstleistungen werden angezogen, die das Leben auf dem Lande für junge Leute interessanter machen und sie von der Abwanderung abhalten.

5.11

Es bedarf radikaler Maßnahmen zur Diversifizierung und Dezentralisierung (16), um in den am stärksten von der Entvölkerung betroffenen ländlichen Gebieten neue Arbeitsplätze zu schaffen. Deshalb sollten Programme für diese Gebiete mit spezifischen Finanzmitteln ausgestattet und umgesetzt werden. Erfolgsbeispiele von ländlichen Gebieten, die das Problem der Entvölkerung in den Griff bekommen haben und attraktive Standorte zum Wohnen und für Unternehmen geblieben sind, sollten verbreitet werden.

5.12

Der Binnenmarkt und die Freizügigkeit erlauben es Landwirten, auch in anderen Mitgliedstaaten, in denen es bessere Möglichkeiten als in ihrem Heimatland gibt, Landwirtschaft zu betreiben. So haben sich zum Beispiel niederländische Landwirte in Rumänien angesiedelt. Diese Möglichkeiten der Mobilität und das Landerwerbs dürfen jedoch dem bestehenden Landwirtschaftsmodell und den kleinen Landwirten nicht zum Nachteil gereichen.

5.13

Der EWSA hat eine Gleichbehandlung von zugewanderten Arbeitnehmern in ländlichen Gebieten durch die Durchsetzung von Mindestnormen für die Arbeits- und Lebensbedingungen unter Einbeziehung der Sozialpartner gefordert (17). Ein Integrationsprozess, der durch Begleitmaßnahmen flankiert wird, welche der kulturellen Absonderung wirkungsvoll vorbeugen, könnte eine Chance sein, die reguläre Zuwanderung zu einer Quelle der ländlichen Entwicklung zu machen.

Brüssel, den 26. Februar 2014

Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Henri MALOSSE


(1)  Artikel 2 lautet: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Personen, die einer Minderheit angehören“. Sie sind allen Mitgliedstaaten „in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet“.

(2)  Vgl. z. B. den EWSA-Informationsbericht 425/2011 (Berichterstatter: Pedro NARRO), ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 25–31.

(3)  Fünfter Bericht über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt.

(4)  ABl. C 132 vom 3.5.2011, S. 82-86.

(5)  ESPON 2013, CAEE-Programm — Projekt über Agglomerationseffekte in Europa, 2013/2/1.

(6)  Europäische Kommission, Generaldirektion Regionalpolitik, 2008.

(7)  Ländliche Entwicklung in Yearbook on Regional statistics. Seiten 238 ff. Eurostat.

(8)  ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 123-129.

(9)  Das Europäische Ländliche Parlament entstand in Anlehnung an das seit nunmehr über 20 Jahren existierende Schwedische Ländliche Parlament. Das Forum tritt alle zwei Jahre zusammen und setzt sich aus nationalen Organisationen des ländlichen Raums (Berufsverbände und andere) und lokalen Basisgruppierungen zusammen.

(10)  ABl. C 228 vom 22.9.2009, S. 123-129.

(11)  ABl. C 280 vom 27.9.2013, S. 13-18.

(12)  ABl. C 376 vom 22.12.2011, S. 15-18.

(13)  ABl. L 197 vom 21.7.2001, S. 30-37.

(14)  ABl. C 347 vom 18.12.2010, S. 41-47.

(15)  ABl. C 299 vom 4.10.2012, S. 29-33.

(16)  Ein hervorragendes Beispiel für die Dezentralisierung ist das neue Datenverarbeitungszentrum der Telefongesellschaft Portugal Telecom bei Covilhã im Serra-da-Estrela-Gebirge.

(17)  ABl. C 120 vom 16.5.2008, S. 25.


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