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Document 62022CC0584
Opinion of Advocate General Medina delivered on 21 September 2023.#QM v Kiwi Tours GmbH.#Request for a preliminary ruling from the Bundesgerichtshof.#Reference for a preliminary ruling – Package travel and linked services – Directive (EU) 2015/2302 – Article 12(2) – Right of a traveller to terminate a package travel contract without paying a termination fee – Unavoidable and extraordinary circumstances – Spread of COVID-19 – Consequences significantly affecting the performance of the package or the carriage of passengers to the destination – Foreseeability of the occurrence of those consequences at the date of the declaration of termination – Events occurring after the termination date but before the start of the package.#Case C-584/22.
Schlussanträge der Generalanwältin L. Medina vom 21. September 2023.
QM gegen Kiwi Tours GmbH.
Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Pauschalreisen und verbundene Dienstleistungen – Richtlinie (EU) 2015/2302 – Art. 12 Abs. 2 – Recht eines Reisenden, von einem Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr zurückzutreten – Unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände – Ausbreitung von Covid-19 – Erhebliche Beeinträchtigung der Durchführung der Pauschalreise oder der Beförderung von Personen an den Bestimmungsort – Vorhersehbarkeit dieser Beeinträchtigung zum Zeitpunkt der Rücktrittserklärung – Nach dem Rücktritt von der Pauschalreise, aber vor deren Beginn eintretende Ereignisse.
Rechtssache C-584/22.
Schlussanträge der Generalanwältin L. Medina vom 21. September 2023.
QM gegen Kiwi Tours GmbH.
Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Pauschalreisen und verbundene Dienstleistungen – Richtlinie (EU) 2015/2302 – Art. 12 Abs. 2 – Recht eines Reisenden, von einem Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr zurückzutreten – Unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände – Ausbreitung von Covid-19 – Erhebliche Beeinträchtigung der Durchführung der Pauschalreise oder der Beförderung von Personen an den Bestimmungsort – Vorhersehbarkeit dieser Beeinträchtigung zum Zeitpunkt der Rücktrittserklärung – Nach dem Rücktritt von der Pauschalreise, aber vor deren Beginn eintretende Ereignisse.
Rechtssache C-584/22.
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:698
SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
LAILA MEDINA
vom 21. September 2023(1)
Verbundene Rechtssachen C‑414/22 und C‑584/22
DocLX Travel Events GmbH
gegen
Verein für Konsumenteninformation
(Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofs, Österreich)
und
QM
gegen
Kiwi Tours GmbH
(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs, Deutschland)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen – Richtlinie (EU) 2015/2302 – Rücktritt vom Pauschalreisevertrag – Außergewöhnliche und unvermeidbare Umstände – Nach dem Rücktritt von der Pauschalreise, aber vor deren Durchführung auftretende Ereignisse – Vorhersehbarkeit zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Reisevertrag“
I. Einleitung
1. Am 11. März 2020 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (im Folgenden: WHO) das Covid‑19-Coronavirus zur „Pandemie“ und warnte davor, dass die Welt „nie zuvor eine durch ein Coronavirus ausgelöste Pandemie erlebt“ habe(2). Die „Plötzlichkeit, das Ausmaß und die Schwere“(3) der Pandemie spiegelten sich in beispiellosen restriktiven Maßnahmen wider, die weltweit erlassen wurden und alle Bereiche der sozialen und wirtschaftlichen Betätigung schwer beeinträchtigten. Der Reisesektor war einer der am stärksten betroffenen Wirtschaftszweige.
2. In diesem Kontext machten zahlreiche Reisende das Recht auf Rücktritt von ihren Pauschalreiseverträgen ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr geltend. Sie taten dies sogar noch vor der offiziellen Erklärung zur Pandemie und der Schließung der Grenzen und beriefen sich insoweit auf das Vorliegen „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie (EU) 2015/2302(4). Die vorliegenden verbundenen Rechtssachen – zusammen mit der Rechtssache C‑299/22, Tez Tour, in der meine Schlussanträge heute vorgelegt werden – werfen mehrere Fragen zur Auslegung dieser Bestimmung auf. Eine dieser Fragen betrifft die Bestimmung des Zeitpunkts, der für das Entstehen des Rechts auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag ohne Verpflichtung zur Zahlung einer Rücktrittsgebühr maßgeblich ist. Die Rechtssachen geben Anlass zu Erwägungen darüber, wie das mit der Richtlinie 2015/2302 angestrebte angemessene Gleichgewicht zwischen einem hohen Verbraucherschutzniveau und der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in einer Zeit am besten erreicht werden kann, in der die Welt ungewisser und unvorhersehbarer wird.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
3. Der 31. Erwägungsgrund der Richtlinie 2015/2302 lautet:
„(31) Reisende sollten jederzeit vor Beginn der Pauschalreise gegen Zahlung einer angemessenen und vertretbaren Rücktrittsgebühr – unter Berücksichtigung der erwarteten ersparten Aufwendungen sowie der Einnahmen aus einer anderweitigen Verwendung der Reiseleistungen – von dem Pauschalreisevertrag zurücktreten können. Zudem sollten sie ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurücktreten können, wenn die Durchführung der Reise durch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände erheblich beeinträchtigt wird. Dies kann zum Beispiel Kriegshandlungen, andere schwerwiegende Beeinträchtigungen der Sicherheit wie Terrorismus, erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie einen Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel oder Naturkatastrophen wie Hochwasser oder Erdbeben oder Witterungsverhältnisse, die eine sichere Reise an das im Pauschalreisevertrag vereinbarte Reiseziel unmöglich machen, umfassen.“
4. In Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) Nr. 12 der Richtlinie 2015/2302 heißt es:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
…
12. ‚unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände‘ eine Situation außerhalb der Kontrolle der Partei, die eine solche Situation geltend macht, deren Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären“.
5. Art. 12 („Beendigung des Pauschalreisevertrags und Recht zum Widerruf vor Beginn der Pauschalreise“) Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2015/2302 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der Reisende vor Beginn der Pauschalreise jederzeit vom Pauschalreisevertrag zurücktreten kann. Tritt der Reisende gemäß diesem Absatz vom Pauschalreisevertrag zurück, so kann der Reiseveranstalter die Zahlung einer angemessenen und vertretbaren Rücktrittsgebühr verlangen. Im Pauschalreisevertrag können angemessene pauschale Rücktrittsgebühren festgelegt werden, die sich nach dem Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag und der Dauer bis zum Beginn der Pauschalreise und den erwarteten ersparten Aufwendungen und Einnahmen aus anderweitigen Verwendungen der Reiseleistungen bemessen. In Ermangelung pauschaler Rücktrittsgebühren entspricht die Rücktrittsgebühr dem Preis der Pauschalreise abzüglich der ersparten Aufwendungen und Einnahmen aus anderweitigen Verwendungen der Reiseleistungen. Auf Ersuchen des Reisenden begründet der Reiseveranstalter die Höhe der Rücktrittsgebühren.
(2) Ungeachtet des Absatzes 1 hat der Reisende das Recht, vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Im Fall des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag gemäß diesem Absatz hat der Reisende Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen, jedoch auf keine zusätzliche Entschädigung.
(3) Der Reiseveranstalter kann den Pauschalreisevertrag beenden und dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll erstatten, ohne jedoch eine zusätzliche Entschädigung leisten zu müssen, wenn
…
b) der Reiseveranstalter aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände an der Erfüllung des Vertrags gehindert ist und er den Reisenden unverzüglich vor Beginn der Pauschalreise von der Beendigung des Vertrags in Kenntnis setzt.“
6. Art. 23 („Unabdingbarkeit der Richtlinie“) Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2015/2302 bestimmt:
„(2) Reisende dürfen nicht auf die Rechte verzichten, die ihnen aus den nationalen Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinie zustehen.
(3) Vertragliche Vereinbarungen oder Erklärungen des Reisenden, die einen Verzicht auf die sich aus dieser Richtlinie ergebenden Rechte oder deren Einschränkung unmittelbar oder mittelbar bewirken oder die darauf gerichtet sind, die Anwendung dieser Richtlinie zu umgehen, sind für den Reisenden nicht bindend.“
B. Nationales Recht
1. Österreichisches Recht
7. § 3 des Pauschalreisegesetzes (BGBl. I 2017/50) bestimmt:
„Soweit Vereinbarungen zum Nachteil des Reisenden von den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes abweichen, sind sie unwirksam.“
8. § 10 Abs. 2 des Pauschalreisegesetzes bestimmt:
„Unbeschadet des Rücktrittsrechts nach Abs. 1 kann der Reisende vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Entschädigung vom Pauschalreisevertrag zurücktreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Tritt der Reisende nach diesem Absatz vom Pauschalreisevertrag zurück, so hat er Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen, nicht aber auf eine zusätzliche Entschädigung.“
2. Deutsches Recht
9. § 651h („Rücktritt vor Reisebeginn“) des Bürgerlichen Gesetzbuchs bestimmt:
„(1) Vor Reisebeginn kann der Reisende jederzeit vom Vertrag zurücktreten. Tritt der Reisende vom Vertrag zurück, verliert der Reiseveranstalter den Anspruch auf den vereinbarten Reisepreis. Der Reiseveranstalter kann jedoch eine angemessene Entschädigung verlangen.
(2) Im Vertrag können, auch durch vorformulierte Vertragsbedingungen, angemessene Entschädigungspauschalen festgelegt werden, die sich nach Folgendem bemessen:
1. Zeitraum zwischen der Rücktrittserklärung und dem Reisebeginn,
2. zu erwartende Ersparnis von Aufwendungen des Reiseveranstalters und
3. zu erwartender Erwerb durch anderweitige Verwendung der Reiseleistungen.
Werden im Vertrag keine Entschädigungspauschalen festgelegt, bestimmt sich die Höhe der Entschädigung nach dem Reisepreis abzüglich des Werts der vom Reiseveranstalter ersparten Aufwendungen sowie abzüglich dessen, was er durch anderweitige Verwendung der Reiseleistungen erwirbt. Der Reiseveranstalter ist auf Verlangen des Reisenden verpflichtet, die Höhe der Entschädigung zu begründen.
(3) Abweichend von Absatz 1 Satz 3 kann der Reiseveranstalter keine Entschädigung verlangen, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Umstände sind unvermeidbar und außergewöhnlich im Sinne dieses Untertitels, wenn sie nicht der Kontrolle der Partei unterliegen, die sich hierauf beruft, und sich ihre Folgen auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären.“
III. Kurze Darstellung des Sachverhalts und des Verfahrens und die Vorlagefragen
A. Rechtssache C‑414/22
10. Der Verbraucher FM buchte im Jänner 2020 bei der Beklagten DocLX, einem Reiseveranstalter, eine Maturareise nach Kroatien. Die Reise sollte vom 27. Juni bis 3. Juli 2020 stattfinden. Sie schloss die Anreise an den Bestimmungsort und die Rückreise an den Ort der Abreise ein und war als Festreise mit einer großen Zahl junger Teilnehmer und ausgelassenen Feiern gestaltet.
11. Der Gesamtpreis der Pauschalreise betrug 787 Euro und wurde von FM zur Gänze im Vorhinein bezahlt.
12. Am 13. März 2020 verhängte das österreichische Außenministerium Reisewarnstufe 4 über alle Länder weltweit, womit dringend geraten wurde, nicht unbedingt notwendige Reisen zu verschieben oder von Rücktrittsmöglichkeiten Gebrauch zu machen.
13. Am 21. April 2020 informierte DocLX FM darüber, dass ein kostenfreier Rücktritt von der Pauschalreise derzeit nicht möglich sei, sondern dass diese nur aufgrund von äußeren Umständen wie beispielsweise einer Reisewarnung der Stufe 6 und selbst dann erst sieben Tage vor dem geplanten Reiseantritt möglich sei. DocLX bot jedoch eine Stornierung der Reise zu einer reduzierten Stornogebühr an; dieses Angebot nahm FM an. DocLX erstattete FM daraufhin die von ihm geleistete Anzahlung, behielt hiervon jedoch einen Betrag von 227,68 Euro als Stornogebühr ein.
14. Die Pauschalreise wurde letztlich nicht durchgeführt.
15. Der Anspruch von FM auf Erstattung der Rücktrittsgebühr wurde an den Verein für Konsumenteninformation (im Folgenden: Verein), einen Verbraucherverband, abgetreten. Dieser Anspruch war darauf gerichtet, vom Veranstalter Rückzahlung des einbehaltenen Betrags von 227,68 Euro zu erhalten, weil FM zum Zeitpunkt der Vereinbarung über die Stornierung berechtigt gewesen wäre, kostenfrei vom Reisevertrag zurückzutreten. Die Vereinbarung, die der Reisende über die Stornierung mit einer reduzierten Stornogebühr abgeschlossen habe, sei nach § 10 Abs. 2 des österreichischen Pauschalreisegesetzes als unwirksam anzusehen, da sie für ihn nachteilig sei.
16. DocLX trat der Klage mit der Begründung entgegen, dass im April 2020 noch nicht absehbar gewesen sei, dass unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände die Durchführung der Reise im Juni 2020 tatsächlich unmöglich machen würden. Daher habe zum Zeitpunkt der Vereinbarung über die Höhe der Stornogebühr (bzw. der Rücktrittserklärung) keine Möglichkeit eines kostenfreien Rücktritts vom Vertrag bestanden.
17. Das Klagebegehren des Vereins wurde vom Erstgericht im Wesentlichen entsprechend dem Vorbringen von DocLX abgewiesen; vom Berufungsgericht wurde jenes Urteil jedoch geändert und der Klage mit der Begründung stattgegeben, dass zum Zeitpunkt des Rücktritts eine Maturareise wie die vereinbarte aufgrund der Covid‑19-Pandemie nicht habe stattfinden können.
18. Das vorlegende Gericht führt an, dass die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von der Auslegung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 abhänge. Genauer gesagt hänge sie davon ab, ob es für das Entstehen des Rechts auf kostenfreien Rücktritt vom Reisevertrag ausreiche, wenn unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände nach dem Rücktritt vom Vertrag und bis zum Zeitpunkt des Antritts der Reise (dem letztmöglichen Zeitpunkt für einen Rücktritt vom Reisevertrag) tatsächlich – ex post betrachtet – aufgetreten seien, oder ob hierfür entscheidend sei, dass solche Umstände – ex ante betrachtet – wahrscheinlich oder zu erwarten gewesen seien.
19. Eine bestimmte Wahrscheinlichkeit „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ oder Fristen für einen kostenfreien Rücktritt des Reisenden sehe die Richtlinie 2015/2302 nicht vor. Es komme sowohl eine Ex-post- als auch eine Ex-ante-Beurteilung dieser Umstände in Betracht. Nach der Ex-post-Beurteilung solle ein Reisender zum kostenfreien Rücktritt von einem Pauschalreisevertrag immer dann berechtigt sein, wenn diese Umstände später tatsächlich einträten und die Durchführung des Pauschalreisevertrags, von dem der Reisende wegen dieser Umstände zurückgetreten sei, erheblich beeinträchtigt oder unmöglich gemacht hätten. Auf eine unrichtige Einschätzung der Situation „ex ante“ durch den Reisenden, der „zu früh“ zurückgetreten wäre, käme es dann nicht an. Dagegen sei nach der Ex-ante-Beurteilung ausschließlich die objektive Situation zum Zeitpunkt der Rücktrittserklärung maßgeblich. In diesem Fall wären etwaige spätere Verbesserungen der Gefahrensituation für das Rücktrittsrecht unschädlich. Hätte der Reisende die Gefahrenlage zum Zeitpunkt des Rücktritts jedoch unrichtig (allzu „vorsichtig“) eingeschätzt, bliebe er auch bei später tatsächlich eingetretener Unzumutbarkeit oder Unmöglichkeit der Durchführung der Pauschalreise zur Zahlung von Stornogebühren verpflichtet.
20. Vor diesem Hintergrund hat der Oberste Gerichtshof (Österreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 so auszulegen, dass dem Reisenden – unabhängig vom Zeitpunkt seiner Rücktrittserklärung – der kostenfreie Rücktritt jedenfalls dann zusteht, wenn die unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände, die die Pauschalreise erheblich beeinträchtigen, am (geplanten) Beginn der Reise tatsächlich eingetreten sind?
2. Ist Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 so auszulegen, dass dem Reisenden der kostenfreie Rücktritt bereits dann zusteht, wenn zum Zeitpunkt der Rücktrittserklärung mit dem Eintritt unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände zu rechnen war?
21. Der Kläger des Ausgangsverfahrens, die österreichische und die griechische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Der Beschluss, das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache und das in der Rechtssache C‑584/22 nach Art. 54 der Verfahrensordnung zu verbinden, ist am 28. März 2023 ergangen. Die Parteien des Ausgangsverfahrens, die griechische Regierung und die Europäische Kommission haben in der für die Rechtssachen C‑414/22 und C‑584/22 sowie C‑299/22, Tez Tours, gemeinsam durchgeführten mündlichen Verhandlung vom 7. Juni 2023 mündliche Ausführungen gemacht.
B. Rechtssache C‑584/22
22. QM buchte im Januar 2020 für sich und seine Ehefrau bei dem Reiseveranstalter Kiwi Tours eine Reise nach Japan vom 3. bis zum 12. April 2020. Der Gesamtpreis der Pauschalreise betrug 6 148 Euro; hierauf leistete QM eine Anzahlung von 1 230 Euro.
23. Nachdem von den japanischen Behörden eine Reihe von Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Coronavirus ergriffen worden waren, trat QM mit Schreiben vom 1. März 2020 wegen der vom Coronavirus ausgehenden Gesundheitsgefährdung von der Reise zurück.
24. Kiwi Tours erstellte daraufhin eine Stornorechnung über weitere 307 Euro, die QM bezahlte.
25. Am 26. März 2020 erließ Japan ein Einreiseverbot. QM verlangte daraufhin Rückzahlung der geleisteten Beträge; dies lehnte Kiwi Tours ab.
26. Während das Amtsgericht (Deutschland) Kiwi Tours entsprechend dem Antrag von QM zur Rückzahlung der geleisteten Zahlungen verurteilte, wies das Landgericht (Deutschland) auf die von Kiwi Tours eingelegte Berufung hin die Klage ab. Das Landgericht führte aus, dass zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag nicht vom Vorliegen unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände habe ausgegangen werden können. Ausgehend von einer Ex-ante-Bewertung sei QM daher nicht berechtigt gewesen, von dem Vertrag ohne Verpflichtung zur Zahlung einer Rücktrittsgebühr zurückzutreten.
27. Gegen das Urteil des Landgerichts legte QM Revision beim Bundesgerichtshof (Deutschland) ein. Das vorlegende Gericht führt aus, dass das Berufungsgericht zu Recht davon ausgegangen sei, dass die Voraussetzungen für das Recht, kostenfrei vom Vertrag zurückzutreten, gegeben seien, wenn sich sogar vor Beginn der Pauschalreise beurteilen lasse, dass unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände vorlägen. Diese Bewertung beinhalte die Beurteilung, ob die außergewöhnlichen Umstände eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür begründeten, dass die Reise oder die Beförderung von Personen zum Bestimmungsort erheblich beeinträchtigt sein würden. Erhebliche Auswirkungen seien gegeben, wenn die Durchführung der Reise mit erheblichen und nicht zumutbaren Risiken in Bezug auf rechtlich geschützte Interessen des Reisenden verbunden wäre.
28. Gleichwohl sei die Beurteilung des Berufungsgerichts, ob in der vorliegenden Rechtssache ein solches Risiko bestanden habe, rechtsfehlerhaft. Das Berufungsgericht hätte sich mit der Frage befassen müssen, ob die ungewöhnliche Art und Anzahl der restriktiven Maßnahmen schon zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag hinreichende Anhaltspunkte dafür begründet hätten, dass eine erhebliche Gefahr einer Infektion mit dem Virus bestanden habe. Es sei somit nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht, wenn es diese Gefahr richtig beurteilt hätte, zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass eine Reise nach Japan schon zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag mit ernsthaften und gravierenden Gesundheitsrisiken behaftet gewesen sei, deren Eingehung einem besonnenen Reisenden nicht zuzumuten gewesen seien.
29. Nach deutschem Verfahrensrecht könne das vorlegende Gericht insoweit jedoch keine eigene Sachentscheidung treffen, sondern müsse die Rechtssache grundsätzlich an das Berufungsgericht zurückverweisen. Dagegen könnte es selbst ohne weitere Tatsachenfeststellungen über die Berufung entscheiden und die Berufung zurückweisen, wenn für die Beurteilung des Rechts auf kostenfreien Rücktritt auch Umstände von Bedeutung seien, die erst nach dem Rücktritt aufgetreten seien. Es sei nämlich unstreitig, dass die Durchführung der Reise an den Bestimmungsort aufgrund des von Japan am 26. März 2020 im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Coronavirus erlassenen Einreiseverbots nicht möglich gewesen sei.
30. Das vorlegende Gericht neigt zu der Auffassung, dass Umstände, die erst nach dem Rücktritt aufgetreten seien, zu berücksichtigen seien. Insoweit trägt es erstens vor, dass Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 formal einen gegenüber Art. 12 Abs. 1 eigenen Rücktrittstatbestand vorsehe, der zur Anwendung komme, wenn entgegen der Einschätzung des Reisenden zum Zeitpunkt des Rücktritts keine unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstände vorlägen, die die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigten. Art. 12 Abs. 2 sei im Wesentlichen nur für die Rechtsfolgen des Rücktritts von Bedeutung, die nicht davon abhingen, auf welche Gründe der Reisende den Rücktritt vom Reisevertrag gestützt habe, sondern allein davon, ob tatsächlich Umstände vorlägen, die erhebliche Auswirkungen auf die Durchführung der Reise hätten.
31. Zweitens spreche für dieses Ergebnis auch der Zweck der Rücktrittsgebühr unabhängig davon, ob sie als eine dem Schadensersatz ähnliche Leistung oder als Surrogat für den Pauschalreisepreis anzusehen sei. Für den Fall, dass die Rücktrittsgebühr als dem Schadensersatz ähnliche Leistung anzusehen sei, erinnert das vorlegende Gericht daran, dass bei der Bemessung eines zu ersetzenden Schadens grundsätzlich die gesamte Schadensentwicklung vom Zeitpunkt des anspruchsbegründenden Ereignisses bis zur abschließenden Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch zu berücksichtigen sei. Dies spreche dafür, einen Schaden des Reiseveranstalters zu verneinen, wenn sich nach dem Rücktritt ergebe, dass die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigt sei und der Reiseveranstalter deshalb auch ohne den Rücktritt des Reisenden vom Vertrag zur vollständigen Rückzahlung des Pauschalreisepreises verpflichtet gewesen wäre. Für den Fall, dass die Rücktrittsgebühr als Surrogat für den Pauschalreisepreis im Sinne einer Zahlung, die an die Stelle des Preises für die ursprünglich geschuldete Pauschalreise trete, anzusehen sei, dürften spätere Entwicklungen, die zum Wegfall des Anspruchs des Reiseveranstalters auf den Reisepreis führten, ebenfalls nicht unberücksichtigt bleiben. Der Anspruch auf das Surrogat bestehe nämlich nur insoweit, als ohne den Rücktritt des Reisenden vom Reisevertrag ein Anspruch bestanden hätte.
32. Schließlich spreche auch der Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes für eine Berücksichtigung nachträglicher Entwicklungen. Ein hohes Schutzniveau erfordere, dass der Reisende auch bei einem frühzeitigen Rücktritt vom Reisevertrag keine Zahlungen für einen Reisevertrag zu erbringen habe, dessen Durchführung im weiteren Verlauf erheblich beeinträchtigt werde. Anderenfalls könnten Reisende in Situationen der Ungewissheit davon abgehalten werden, frühzeitig von dem ihnen zustehenden Rücktrittsrecht Gebrauch zu machen, obwohl ein frühzeitiger Rücktritt die Aussicht eröffne, dass die geschuldete Rücktrittsgebühr eher gering ausfalle. Dadurch werde nicht nur das Risiko für den Reisenden verringert, sondern auch das Risiko für den Reiseveranstalter, der frühzeitig Klarheit gewinne und mehr Zeit habe, um Aufwendungen einzusparen oder Reiseleistungen anderweit zu verwenden. Dagegen bestände ein Anreiz zu spekulativem Verhalten insbesondere seitens des Reiseveranstalters, wenn das kostenfreie Rücktrittsrecht vom Zeitpunkt des Rücktritts abhängig gemacht würde. Dann könne der Reiseveranstalter sich veranlasst sehen, von einer Beendigung des Reisevertrags bis kurz vor Reisebeginn abzusehen, um möglichst viele Reisende doch noch zu einem für ihn finanziell günstigeren Rücktritt vom Vertrag zu veranlassen.
33. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der Rückerstattungsfrist nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2015/2302 von höchstens 14 Tagen nach dem Rücktritt vom Pauschalreisevertrag. Insbesondere könne aus dieser Bestimmung nicht abgeleitet werden, dass die Höhe der Rücktrittsgebühr in diesem Zeitpunkt abschließend geklärt sein müsse und spätere Nach- oder Rückzahlungsforderungen ausgeschlossen seien.
34. Vor diesem Hintergrund hat der Bundesgerichtshof (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 dahin gehend auszulegen, dass für die Beurteilung der Berechtigung des Rücktritts nur jene unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände maßgeblich sind, die im Zeitpunkt des Rücktritts bereits aufgetreten sind, oder dahin gehend, dass auch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände zu berücksichtigen sind, die nach dem Rücktritt, aber noch vor dem geplanten Beginn der Reise tatsächlich auftreten?
35. QM, die griechische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die Parteien des Ausgangsverfahrens, die griechische Regierung und die Europäische Kommission haben in der gemeinsamen mündlichen Verhandlung der Rechtssachen C‑414/22 und C‑584/22 sowie der Rechtssache C‑299/22, Tez Tour, vom 7. Juni 2023 mündliche Ausführungen gemacht.
IV. Würdigung
36. Mit den beiden Fragen in der Rechtssache C‑414/22 und der Frage in der Rechtssache C‑584/22 möchten die vorlegenden Gerichte im Wesentlichen wissen, ob Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 dahin auszulegen ist, dass die Beurteilung des Auftretens unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände, die die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen, wodurch der Reisende zum Rücktritt vom Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr berechtigt wird, ausschließlich zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag vorzunehmen ist, oder ob diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass auch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände zu berücksichtigen sind, die nach dem Rücktritt vom Pauschalreisevertrag, aber noch vor dem Beginn der Pauschalreise tatsächlich auftreten.
37. Nach Auffassung des in der Rechtssache C‑414/22 vorlegenden Gerichts könnte Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 nahelegen, dass das Recht auf kostenfreien Rücktritt vom Pauschalreisevertrag immer dann bestehen soll, wenn die unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände später tatsächlich auftreten und die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigt oder unmöglich gemacht hätten. Es sei jedoch auch denkbar, dass ausschließlich die objektive Situation im Zeitpunkt der Erklärung des Rücktritts maßgeblich sei. Nach Auffassung des in der Rechtssache C‑584/22 vorlegenden Gerichts erfordert die Beurteilung, ob erhebliche und nicht zumutbare Risiken in Bezug auf die Gesundheit oder sonstige geschützte rechtliche Interessen des Reisenden bestehen, eine Prognose, für die der Zeitraum vor Beginn der Pauschalreise maßgeblich sei. Allerdings könnten für diese Beurteilung auch Umstände von Bedeutung sein, die nach dem Rücktritt vom Pauschalreisevertrag, aber noch vor der geplanten Reise aufträten.
38. Den Vorabentscheidungsersuchen ist zu entnehmen, dass es hauptsächlich um die Frage geht, ob ein eigenständiges Recht auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag besteht, das sich ausschließlich aus dem tatsächlichen Auftreten unvermeidbarer und außergewöhnlicher Umstände ergibt, die die Pauschalreise zum Zeitpunkt der Reise erheblich beeinträchtigen.
39. Insoweit ist als Vorbemerkung darauf hinzuweisen, dass Art. 12 der Richtlinie 2015/2302, wie sich aus seiner Überschrift ergibt, die „Beendigung des Pauschalreisevertrags und [das] Recht zum Widerruf vor Beginn der Pauschalreise“ regelt. Nach Art. 12 Abs. 1 dieser Richtlinie hat der Reisende das Recht, „vor Beginn der Pauschalreise jederzeit“ vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten. Nach dieser Bestimmung „kann [in diesem Fall] der Reiseveranstalter die Zahlung einer angemessenen und vertretbaren Rücktrittsgebühr [von ihm] verlangen“. Art. 12 Abs. 2 erkennt das Recht des Reisenden auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr an, wenn „am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“.
40. Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, sowie gegebenenfalls ihre Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen. Insbesondere sind auch die Erwägungsgründe des betreffenden Unionsrechtsakts zu berücksichtigen, da diese den Willen des Gesetzgebers erhellen und wichtige Auslegungselemente sein können(5).
41. Eine mögliche Auslegung des Wortlauts von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 ist, dass, damit der Reisende das Recht hat, vom Pauschalreisevertrag kostenfrei zurückzutreten, die erheblichen Auswirkungen auf die Durchführung der Pauschalreise danach zum Zeitpunkt der Pauschalreise auftreten oder fortbestehen müssen. Diese Bestimmung bezieht sich auf die unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände, die „am Bestimmungsort … auftreten“ und „die Durchführung der Pauschalreise … erheblich beeinträchtigen“ und verwendet insoweit das Präsens. Wie von der österreichischen Regierung und der Europäischen Kommission allerdings angemerkt, wird im 31. Erwägungsgrund der Richtlinie (in der englischen Fassung) das Futur verwendet, soweit es dort heißt, dass das Recht auf Rücktritt ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr entsteht, „wenn die Durchführung der Reise durch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände erheblich beeinträchtigt wird“ (in der englischen Fassung: „…where unavoidable and extraordinary circumstances will significantly affect the performance of the package …“) (Hervorhebung nur hier). Das würde darauf hinweisen, dass der Anspruch auf kostenfreien Rücktritt vom Pauschalreisevertrag von einer vorausschauenden Bewertung der Situation durch den Reisenden zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag abhängt.
42. Ungeachtet der in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 und in ihrem 31. Erwägungsgrund verwendeten Zeitform ist darauf hinzuweisen, dass, wie in meinen heute veröffentlichten Schlussanträgen in der Rechtssache C‑299/22 ausgeführt, das Recht auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr „vor Beginn der Pauschalreise“ entsteht. Die Verwendung der Präposition „vor“ weist darauf hin, dass zwischen der Entscheidung zum Rücktritt vom Pauschalreisevertrag und dem Beginn der Pauschalreise ein zeitlicher Abstand besteht. Die Entscheidung zum Rücktritt von der Reise nach Art. 12 Abs. 2 hat daher prognostischen Charakter. Sie beruht auf einer Vorhersage oder Ex-ante-Beurteilung des Auftretens „unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände“ und ihrer erheblichen Auswirkungen auf die Durchführung der Pauschalreise oder, falls diese Umstände bereits aufgetreten sind, auf einer Vorhersage des Fortbestehens der erheblichen Auswirkungen auf die Pauschalreise. Nach der zu dem letzteren Punkt von der österreichischen Regierung vorgetragenen Ansicht bleibt, selbst wenn im Einzelfall bereits im Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag feststeht, dass diese Umstände zum Zeitpunkt der Reise auftreten werden, gleichwohl noch zu prüfen, in welchem Ausmaß diese Umstände die Durchführung der Pauschalreise genau beeinträchtigen werden.
43. Die Ex-ante-Beurteilung, die der Reisende zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag vornimmt, beinhaltet daher eine Beurteilung der Wahrscheinlichkeit dafür, dass die „unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände“ erhebliche Auswirkungen auf die Durchführung der Pauschalreise haben werden. Diese Beurteilung muss sich am Ausnahmecharakter des Rechts auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag ohne Verpflichtung zur Zahlung einer Rücktrittsgebühr orientieren. Zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag muss der Reisende vernünftigerweise damit rechnen, dass eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen werden.
44. Demnach kann das Recht des Reisenden auf Rücktritt vom Vertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 vor Beginn der Pauschalreise zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag entstehen, wenn vernünftigerweise erhebliche Auswirkungen auf die Pauschalreise vorhersehbar sind. Dieses bereits entstandene Recht kann nicht aufgrund späterer Ereignisse erlöschen. Wie von der Kommission vorgetragen, wäre es absurd, wenn der Reisende vom Vertrag aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände zurücktreten könnte, dann aber abwarten müsste, bis diese Umstände zum Zeitpunkt der Reise tatsächlich auftreten, um von der Zahlung der Rücktrittsgebühr befreit zu werden. Hat der Reisende umgekehrt kein Recht auf einen kostenfreien Rücktritt, kann dieses Recht nach dem Rücktritt vom Pauschalreisevertrag nicht aufgrund späterer Ereignisse entstehen.
45. Für diese Auslegung spricht auch der Kontext von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302. Insoweit ergibt sich aus den obigen Vorbemerkungen(6), dass dieser Artikel dem Reisenden zwei eigenständige Rücktrittsrechte zuerkennt. Zum einen kann nach Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie der Reisende „vor Beginn der Pauschalreise jederzeit vom Pauschalreisevertrag zurücktreten“. Da die Ausübung dieses Rechts keiner Pflicht zur Begründung des Rücktritts unterliegt, kann von dem Reisenden – ebenfalls nach Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie – die Zahlung einer „angemessenen und vertretbaren Rücktrittsgebühr“ verlangt werden. Zum anderen wird in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 ein Recht auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr „vor Beginn der Pauschalreise …, wenn am Bestimmungsort … unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise … erheblich beeinträchtigen“, anerkannt.
46. Würde zugelassen, dass das tatsächliche Auftreten der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände unabhängig von der zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag vorgenommenen Beurteilung eine eigenständige Voraussetzung für die Anerkennung des Rechts auf kostenfreien Rücktritt wäre, hätte dies zur Folge, dass allen Reisenden unabhängig von den Gründen, die sie für den Rücktritt vom Vertrag geltend gemacht haben, ein neuer Anspruch auf vollständige Erstattung zuerkannt würde. Wenn es nämlich nicht auf die Situation zum Zeitpunkt x (dem Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag), sondern darauf ankommt, was sich zu einem späteren Zeitpunkt z (dem Zeitpunkt der Reise) tatsächlich ereignet hat, dann muss ein Reisender, der aus persönlichen Gründen nach Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2015/2302 vom Vertrag zurückgetreten ist, auch Anspruch darauf haben, die von ihm bereits gezahlte Rücktrittsgebühr für das Nichtantreten der Reise wegen unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände zurückzufordern.
47. Wie von der griechischen Regierung im Wesentlichen vorgetragen, stände es zu der vollständigen Harmonisierung der Rechte und Pflichten der Parteien aus dem Reisevertrag im Sinne von Art. 4 der Richtlinie 2015/2302 im Widerspruch, wenn anerkannt würde, dass der Reisende im Fall des tatsächlichen Auftretens der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände unabhängig von der Situation zum Zeitpunkt des Rücktritts die Möglichkeit hätte, vom Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr zurückzutreten.
48. Die „Ex-post-facto“-Lösung schafft nämlich Ungewissheit darüber, zu welchem Zeitpunkt die Rechte und Pflichten beider Vertragsparteien zu beurteilen sind. Wie von der griechischen Regierung in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, endet das Vertragsverhältnis für beide Parteien, wenn der Reisende vom Vertrag zurücktritt. Da der Unionsgesetzgeber keine ausdrückliche Regelung vorgesehen hat, wonach künftige Ereignisse nach dem Rücktritt vom Vertrag Einfluss auf das Vertragsverhältnis haben können, muss für die Bestimmung, ob die Prognose des Reisenden vernünftig ist, der Rücktritt vom Vertrag maßgeblich sein. Zu diesem Zeitpunkt sind die Rechtsfolgen der Ausübung des Rechts auf Rücktritt vom Pauschalreisevertrag zu beurteilen. Sind die Voraussetzungen von Art. 12 Abs. 2 erfüllt, ergibt sich als Rechtsfolge der Ausübung des Rechts auf Rücktritt vom Vertrag die Verpflichtung des Reiseveranstalters nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie, innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags eine volle Erstattung zu leisten.
49. Dass die volle Erstattung nach Art. 12 Abs. 4 umgehend zu leisten ist, bestätigt, wie von der griechischen Regierung vorgetragen, die Auslegung, dass für die Bestimmung der Rechte und Pflichten der Parteien der Zeitpunkt des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag maßgeblich ist. Zum letztgenannten Punkt möchte ich darauf hinweisen, dass die Bestimmung der genauen Höhe der Rücktrittsgebühr von der Bestimmung des Rechts des Reisenden auf Rücktritt vom Vertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr zu unterscheiden ist. Der Reisende kann vom Vertrag nur einmal zurücktreten; zu diesem Zeitpunkt des Rücktritts muss Gewissheit darüber bestehen, ob ein Anspruch auf vollständige Erstattung der geleisteten Zahlungen besteht.
50. Außerdem ist das Recht des Reisenden, wegen unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände vom Vertrag zurückzutreten, untrennbar damit verbunden, dass keine Rücktrittsgebühr zu zahlen ist. Daher können die wesentlichen Bestandteile des Rechts nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 nicht aufgespalten und die Möglichkeit zugelassen werden, dass der Reisende vom Vertrag unter Berufung auf unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände zurücktritt, sein Anspruch auf vollständige Erstattung aber von späteren Ereignissen abhängt.
51. Die Ex-post-Beurteilung der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände hätte auch Auswirkungen auf die Auslegung der entsprechenden Rechte des Reiseveranstalters. Die Verpflichtung des Reisenden zur Zahlung einer Rücktrittsgebühr in dem Fall, dass die Voraussetzungen von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 nicht erfüllt sind, korrespondiert mit einem entsprechenden Anspruch des Reiseveranstalters. Wenn, wie von Kiwi Tours in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, das kostenfreie Rücktrittsrecht des Reisenden von späteren Ereignissen abhinge, hätte dies zur Folge, dass der Anspruch des Reiseveranstalters auf die Rücktrittsgebühr je nachdem entstehen oder erlöschen würde, wie sich die Situation zwischen dem Zeitpunkt des Rücktritts und dem Zeitpunkt der geplanten Reise weiterentwickelt.
52. Ferner kann der Reiseveranstalter nach Art. 12 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2015/2302 den Pauschalreisevertrag beenden und dem Reisenden volle Erstattung leisten, ohne eine zusätzliche Entschädigung leisten zu müssen, wenn der Reiseveranstalter „aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände an der Erfüllung des Vertrags gehindert ist und er den Reisenden unverzüglich vor Beginn der Pauschalreise von der Beendigung des Vertrags in Kenntnis setzt“ (Hervorhebung nur hier). Käme Ereignissen, die nach der Beendigung auftreten, eine eigenständige Bedeutung für die Bestimmung der Rechte und Pflichten der Parteien zu, müsste zugelassen werden, dass der Reiseveranstalter den Vertrag vor Beginn der Pauschalreise beenden könnte, während seine Verpflichtung, eine zusätzliche Entschädigung zu leisten, aber davon abhinge, ob seine Prognose sich zum Zeitpunkt der geplanten Reise tatsächlich bestätigt. Bei diesem Ergebnis würde die Haftungsbefreiung des Reiseveranstalters ungewiss. Es stünde ferner im Widerspruch zu der vorgenannten vollständigen Harmonisierung der Rechte und Pflichten der Parteien durch den Unionsgesetzgeber, einschließlich der Frage der Verpflichtung des Reiseveranstalters zur Leistung einer zusätzlichen Entschädigung.
53. Folglich würde die Ex-post-Beurteilung die Stellung der Parteien des Reisevertrags zum Zeitpunkt der Beendigung des Vertrags ungewiss machen und könnte dem in Art. 12 der Richtlinie 2015/2302 vorgesehenen System zur Bestimmung der Rechte und Pflichten der Parteien zuwiderlaufen. Wird, im Gegensatz hierzu, als ausschließlich maßgebliches Kriterium die Ex-ante-Beurteilung der Risikosituation zum Zeitpunkt der Beendigung des Vertrags zugrunde gelegt, wird Rechtssicherheit im Hinblick auf die Folgen der Beendigung gewährleistet. Mit anderen Worten sollte eine Rechtslage, die zum Zeitpunkt der Beendigung des Vertrags bereits entstanden ist, durch künftige Ereignisse, die vor der geplanten Reise, aber nach der Beendigung des Vertrags auftreten, nicht mehr verändert werden können.
54. Was das Ziel von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 angeht, wird durch diese Bestimmung das Recht des Reisenden anerkannt, von dem Pauschalreisevertrag zu einem schon vor Beginn der Pauschalreise liegenden Zeitpunkt ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr unter den dort vorgesehenen Voraussetzungen zurückzutreten. Wie oben erläutert, muss der Reisende, um von der Pauschalreise vor ihrem Beginn zurücktreten zu können, eine Prognose der Situation zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag im Hinblick auf die Auswirkungen der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände auf die Durchführung der Reise vornehmen. Könnte das Bestehen des Rechts auf Rücktritt vom Vertrag nachträglich unter Berücksichtigung dessen beurteilt werden, was zum Zeitpunkt der Reise tatsächlich eingetreten ist, könnte das Recht auf kostenfreien Rücktritt vom Vertrag und der Anspruch auf Erstattung aller geleisteten Zahlungen vor Beginn der Reise nicht entstehen. Dieses Recht müsste bis zum Zeitpunkt der Reise ausgesetzt werden. Dies stünde jedoch im Widerspruch zu dem, was Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie vorsieht.
55. Der Ex-post-Ansatz, dem zufolge nach Rücktritt vom Vertrag, aber vor Beginn der Reise auftretende Ereignisse für das Recht auf Rücktritt vom Vertrag maßgeblich sind, wird meines Erachtens nicht durch Gesichtspunkte eines hohen Verbraucherschutzniveaus gestützt. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2015/2302 nach ihrem fünften Erwägungsgrund „ein ausgewogenes Verhältnis zwischen einem hohen Verbraucherschutzniveau und der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen“ gewährleisten soll. Der Ex-post-Ansatz ist für den Reisenden nicht günstiger als der Ansatz einer Ex-ante-Beurteilung. Vorstellbar wäre insoweit etwa die Situation, dass ein Reisender eine vernünftige und gerechtfertigte Bewertung der Reiserisiken zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag vornimmt, die Lage sich dann schließlich jedoch, entgegen seiner ursprünglichen Prognose der Risikosituation, bessert. Der Ex-post-Ansatz wäre für den Reisenden nur dann günstiger, wenn zugelassen würde, dass spätere Ereignisse nur dann berücksichtigt werden könnten, wenn sie die Beurteilung des Reisenden bestätigen, nicht aber dann, wenn sie diese Beurteilung widerlegen. Meines Erachtens stünde es jedoch eindeutig im Widerspruch zu dem, was der Unionsgesetzgeber in Art. 12 Abs. 2 im Blick hatte, wenn es möglich wäre, einer Auslegung dieser Regelung nur insoweit zu folgen, als sie in eine für den Reisenden günstige Richtung führt, während zugleich ein etwaiges ungünstiges Ergebnis dieser Auslegung außer Acht zu lassen wäre.
56. Das in der Rechtssache C‑584/22 vorlegende Gericht vertrat die Auffassung, dass insbesondere der Zweck der Rücktrittsgebühr dafür spreche, nach dem Rücktritt vom Vertrag auftretende Umstände zu berücksichtigen. Dies solle unabhängig davon gelten, ob sie als eine dem Schadensersatz ähnliche Leistung oder als Surrogat für den Preis der Pauschalreise anzusehen sei. Das wesentliche Argument des vorlegenden Gerichts ist, dass der Reiseveranstalter dann, wenn nachträgliche Entwicklungen zu berücksichtigen seien, verpflichtet wäre, dem Reisenden eine volle Erstattung zu leisten, auch wenn dieser nicht vom Vertrag zurückgetreten wäre. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, dürfe der Reiseveranstalter keinen Anspruch auf eine Rücktrittsgebühr haben, wenn sich nachträglich herausstelle, dass es keinen „Schaden“ oder keinen Anspruch auf diese Gebühr gebe, da die unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände tatsächlich aufgetreten seien.
57. Zu diesem Argument ist darauf hinzuweisen, dass die Rücktrittsgebühr vom Reisenden zu leisten ist, wenn er das Recht zum Widerruf „jederzeit“ im Sinne von Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2015/2302 vor Beginn der Pauschalreise und ohne Angabe von Gründen ausübt. Der Begriff „Rücktrittsgebühr“ ist im Vergleich zu dem Begriff „Entschädigung“, der in den nationalen Umsetzungen dieser Bestimmung der Richtlinie verwendet wird, neutral. Nach Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2015/2302 können im Pauschalreisevertrag angemessene Rücktrittsgebühren festgelegt werden, und zwar bemessen „nach dem Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag und der Dauer bis zum Beginn der Pauschalreise und den erwarteten ersparten Aufwendungen und Einnahmen aus anderweitigen Verwendungen der Reiseleistungen“. Die Beschreibung dessen, was die Rücktrittsgebühr darstellt, lässt sich dahin charakterisieren, dass es dem Gegengewicht zum Recht des Reisenden entspricht, jederzeit vom Vertrag zurückzutreten. Wie von der Kommission im Wesentlichen vorgetragen, ist auch dies Ausdruck des ausgewogenen Verhältnisses, das die Richtlinie zwischen den im Reisevertrag vereinbarten Rechten und Pflichten der Parteien gewährleisten soll.
58. Wie oben ausgeführt, würde dann, wenn unabhängig von der Rechtsnatur der Rücktrittsgebühr zugelassen würde, dass keine solche Gebühr geschuldet wird, wenn sich nachträglich herausstellt, dass die Reise nicht hätte stattfinden können, große Rechtsunsicherheit erzeugt und die Harmonisierung der im Reisevertrag vereinbarten Rechte und Pflichten der Parteien beeinträchtigt.
59. Das in der Rechtssache C‑584/22 vorlegende Gericht hat jedoch vor dem Risiko negativer Folgen gewarnt, wenn die Verpflichtung zur Zahlung einer Rücktrittsgebühr letztlich nicht davon abhänge, ob die Pauschalreise tatsächlich durchgeführt wurde. Reisende könnten in Situationen der Ungewissheit davon abgehalten werden, frühzeitig von dem ihnen zustehenden Recht auf Rücktritt vom Reisevertrag Gebrauch zu machen, und könnten sich veranlasst sehen, zunächst abzuwarten, bis weitere Informationen vorliegen oder der Reiseveranstalter die Reise von sich aus absagt.
60. Insoweit erkenne ich an, dass eine Prognoseentscheidung, die der Reisende aufgrund des Auftretens unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände zu treffen hat, ihrer Natur nach mit einer Situation der Ungewissheit verbunden ist. Diesem Maß an Ungewissheit ist jedoch im Rahmen der Auslegung der Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Rücktritt vom Reisevertrag nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 Rechnung zu tragen. Wie von der österreichischen Regierung im Wesentlichen vorgetragen, ist für dieses Recht nicht erforderlich, dass der Reisende mit absoluter Gewissheit behaupten kann, dass unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände definitiv auftreten und erhebliche Auswirkungen haben werden. Wie bereits ausgeführt, ist es zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag angemessen, dass der Reisende vernünftigerweise damit rechnen muss, dass eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände die Durchführung der Reise erheblich beeinträchtigen werden. Zudem sind, wie ich in meinen heute veröffentlichten Schlussanträgen in der Rechtssache C‑299/22, Tez Tour, im Wesentlichen andeute, das hohe Maß an Ungewissheit und die sich extrem schnell entwickelnde Situation zu Beginn der Pandemie zu berücksichtigen, um zu bestimmen, was der durchschnittliche Reisende wusste und wie er die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der erheblichen Auswirkungen auf die Durchführung des Vertrags beurteilte.
61. Aus den vorstehenden Ausführungen folgt, dass der Wortlaut, der Kontext und der Zweck der Richtlinie 2015/2302 für eine Auslegung von Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie sprechen, wonach der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung des Rechts auf Rücktritt vom Vertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr derjenige einer Ex-ante-Beurteilung zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag ist.
62. Dabei steht es nicht im Widerspruch zu Art. 12 Abs. 2, wenn die nationalen Gerichte spätere Ereignisse als Beweiselemente berücksichtigen, die nach dem innerstaatlichen Verfahrensrecht frei zu würdigen sind. Wenn, wie von der griechischen Regierung in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen vorgetragen, der Reisende zum Zeitpunkt des Rücktritts unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände geltend gemacht hat, die von ihm geltend gemachte Situation sich verschlechtert hat und dies zu erheblichen Auswirkungen auf die Durchführung der Pauschalreise führt, wird dies die von ihm zum Zeitpunkt des Rücktritts vorgenommene Prognose bekräftigen. Wenn der Reisende jedoch zum Zeitpunkt des Rücktritts nicht berechtigt war, vom Vertrag zurückzutreten, können spätere Ereignisse für sich genommen nicht zum Entstehen eines Rechts auf kostenfreien Rücktritt führen, auf das er keinen Anspruch hat. Ebenso wenig kann sich eine Verbesserung der Situation negativ auf den Anspruch des Reisenden auf eine volle Erstattung auswirken, wenn er zum Zeitpunkt des Rücktritts eine vernünftige Prognose zu den wahrscheinlichen Auswirkungen der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände auf die Pauschalreise vorgenommen hat.
63. In den Rechtssachen des Ausgangsverfahrens hätte, was die Rechtssache C‑414/22 anbelangt, das nationale Gericht zu beurteilen, ob ein durchschnittlich aufmerksamer und verständiger Reisender vernünftigerweise damit rechnen konnte, dass die Pandemie erhebliche Auswirkungen auf die Durchführung der als Festreise im Sommer 2020 geplanten Pauschalreise haben würde. Nach den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen erscheint es angesichts der dringenden Aufforderung der nationalen Behörden, alle nicht unbedingt notwendigen Reisen zu verschieben und von Möglichkeiten eines Rücktritts von Reiseverträgen Gebrauch zu machen, vernünftig, dass ein Durchschnittsreisender im April 2020 die Prognose trifft, dass diese Reise (deren Sinn und Zweck gerade darin bestand, eine hohe Zahl junger Menschen zum Feiern zusammenzubringen) nicht stattfinden würde. Es ist Sache des nationalen Gerichts, diese Beurteilung vorzunehmen und sich dabei auch an den in meinen heute veröffentlichten Schlussanträgen in der Rechtssache C‑299/22, Tez Tour, erörterten Parametern zu orientieren.
64. Desgleichen ist zu beachten, dass, wenn das nationale Gericht zu dem Schluss kommen sollte, dass der Reisende nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 zum Rücktritt vom Vertrag berechtigt war, ihm dieses Recht zusteht, ohne dass er an eine Vereinbarung über die Zahlung reduzierter Rücktrittsgebühren gebunden ist, die er in Unkenntnis seiner Rechte abgeschlossen hat. Diese Vereinbarung führt nämlich zu einer Einschränkung seiner Rechte, die nach Art. 23 Abs. 3 dieser Richtlinie für den Reisenden nicht bindend ist.
65. In Bezug auf die Rechtssache C‑584/22 weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass das Berufungsgericht sich mit der Frage hätte befassen müssen, ob zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag am 1. März 2020 bei einer Reise nach Japan schon ernsthafte Gesundheitsrisiken bestanden, die ein besonnener Reisender vernünftigerweise nicht eingegangen wäre. Aus den von mir oben erörterten Gründen ist für diese Beurteilung allein der Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag maßgeblich.
66. In Anbetracht des Vorstehenden ist Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2015/2302 meines Erachtens dahin auszulegen, dass die Beurteilung des Auftretens unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände, die die Durchführung des Vertrags erheblich beeinträchtigen, wodurch der Reisende zum Rücktritt vom Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr berechtigt wird, ausschließlich zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag vorzunehmen ist. Das Entstehen dieses Rechts hängt nicht davon ab, ob solche Umstände nach dem Rücktritt vom Vertrag tatsächlich aufgetreten sind.
V. Ergebnis
67. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Obersten Gerichtshof (Österreich) und vom Bundesgerichtshof (Deutschland) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:
Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates
ist dahin auszulegen, dass die Beurteilung des Auftretens unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände, die die Durchführung des Vertrags erheblich beeinträchtigen, wodurch der Reisende zum Rücktritt vom Pauschalreisevertrag ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr berechtigt wird, ausschließlich zum Zeitpunkt des Rücktritts vom Vertrag vorzunehmen ist. Das Entstehen dieses Rechts hängt nicht davon ab, ob solche Umstände nach dem Rücktritt vom Vertrag tatsächlich aufgetreten sind.
1 Originalsprache: Englisch.
2 Einleitende Stellungnahme des Generaldirektors der WHO in der Medienkonferenz zu COVID‑19 vom 11. März 2020.
3 Vgl. S.5 der „Guidance issued by the Irish Government on the right of travellers to terminate package travel contracts due to extraordinary circumstances resulting from COVID-19 [(Leitlinien zum Recht von Reisenden auf Rücktritt von Pauschalreiseverträgen aufgrund außergewöhnlicher Umstände wegen Covid‑19)] der irischen Regierung, Ministerium für Unternehmen, Handel und Arbeit, vom 26. März 2020.
4 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates (ABl. 2015, L 326, S. 1).
5 Urteil vom 8. Juni 2023, VB (Information der in Abwesenheit verurteilten Person) (C‑430/22 und C‑486/22, EU:C:2023:458, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
6 Siehe Nr. 39.