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Document 62016CC0249

    Schlussanträge des Generalanwalts Y. Bot vom 26. April 2017.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2017:305

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    YVES BOT

    vom 26. April 2017 ( 1 )

    Rechtssache C‑249/16

    Saale Kareda

    gegen

    Stefan Benkö

    (Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofs [Österreich])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung — Gerichtliche Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen — Begriff ‚Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag‘ — Klage eines Schuldners gegen den Mitschuldner auf Erstattung der aufgrund eines gemeinsamen Kreditvertrags an eine Bank gezahlten Raten — Bestimmung des Ortes, an dem die Verpflichtung aus dem Kreditvertrag erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre“

    1. 

    Mit der vorliegenden Rechtssache erhält der Gerichtshof erneut Gelegenheit, die Begriffe „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ und „Erbringung von Dienstleistungen“ im Sinne der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ( 2 ) näher zu bestimmen.

    2. 

    Er hat zu entscheiden, ob Gegenstand einer Regressklage des Schuldners eines Kreditvertrags gegen einen Mitschuldner ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag sind. Wenn ja, wird zu prüfen sein, ob ein solcher Vertrag als Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen qualifiziert werden kann, bei dem dann noch der Erfüllungsort der charakteristischen Verpflichtung zu bestimmen wäre.

    3. 

    Ich werde in den vorliegenden Schlussanträgen darlegen, warum Art. 7 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 meines Erachtens dahin auszulegen ist, dass Gegenstand einer Regressklage des Schuldners eines Kreditvertrags gegen einen Mitschuldner „ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ im Sinne dieser Vorschrift sind.

    4. 

    Sodann werde ich darlegen, warum Art. 7 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1215/2012 meines Erachtens dahin auszulegen ist, dass der einer solchen Klage zugrunde liegende Kreditvertrag als Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen im Sinne dieser Vorschrift zu qualifizieren ist und Erfüllungsort der Verpflichtung, die Gegenstand der Klage ist, der Ort der Niederlassung des Kreditgebers ist.

    I. Rechtlicher Rahmen

    A. Unionsrecht

    1. Verordnung Nr. 1215/2012

    5.

    Der vierte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1215/2012 lautet:

    „Die Unterschiede zwischen bestimmten einzelstaatlichen Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen erschweren das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts. Es ist daher unerlässlich, Bestimmungen zu erlassen, um die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen zu vereinheitlichen und eine rasche und unkomplizierte Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen zu gewährleisten, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind.“

    6.

    In den Erwägungsgründen 15 und 16 der Verordnung Nr. 1215/2012 heißt es:

    „(15)

    Die Zuständigkeitsvorschriften sollten in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten. Diese Zuständigkeit sollte stets gegeben sein, außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. …

    (16)

    Der Gerichtsstand des Wohnsitzes des Beklagten sollte durch alternative Gerichtsstände ergänzt werden, die entweder aufgrund der engen Verbindung zwischen Gericht und Rechtsstreit oder im Interesse einer geordneten Rechtspflege zuzulassen sind. Das Erfordernis der engen Verbindung soll Rechtssicherheit schaffen und verhindern, dass die Gegenpartei vor einem Gericht eines Mitgliedstaats verklagt werden kann, mit dem sie vernünftigerweise nicht rechnen konnte. Dies ist besonders wichtig bei Rechtsstreitigkeiten, die außervertragliche Schuldverhältnisse infolge der Verletzung der Privatsphäre oder der Persönlichkeitsrechte einschließlich Verleumdung betreffen.“

    7.

    Nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 sind „[v]orbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung … Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen“.

    8.

    Art. 7 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt:

    „Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:

    1.

    a)

    wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre;

    b)

    im Sinne dieser Vorschrift – und sofern nichts anderes vereinbart worden ist – ist der Erfüllungsort der Verpflichtung

    für den Verkauf beweglicher Sachen der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem sie nach dem Vertrag geliefert worden sind oder hätten geliefert werden müssen;

    für die Erbringung von Dienstleistungen der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem sie nach dem Vertrag erbracht worden sind oder hätten erbracht werden müssen;

    c)

    ist Buchstabe b nicht anwendbar, so gilt Buchstabe a;

    …“

    2.  Verordnung (EG) Nr. 593/2008

    9.

    In den Erwägungsgründen 7 und 17 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) ( 3 ) heißt es:

    „(7)

    Der materielle Anwendungsbereich und die Bestimmungen dieser Verordnung sollten mit der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (‚Brüssel I‘)[ ( 4 )] und der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (‚Rom II‘)[ ( 5 )] im Einklang stehen.

    (17)

    Soweit es das mangels einer Rechtswahl anzuwendende Recht betrifft, sollten die Begriffe ‚Erbringung von Dienstleistungen‘ und ‚Verkauf beweglicher Sachen‘ so ausgelegt werden wie bei der Anwendung von Artikel 5 der Verordnung … Nr. 44/2001, soweit der Verkauf beweglicher Sachen und die Erbringung von Dienstleistungen unter jene Verordnung fallen. Franchiseverträge und Vertriebsverträge sind zwar Dienstleistungsverträge, unterliegen jedoch besonderen Regeln.“

    10.

    Art. 16 („Mehrfache Haftung“) der Verordnung Nr. 593/2008 lautet:

    „Hat ein Gläubiger eine Forderung gegen mehrere für dieselbe Forderung haftende Schuldner und ist er von einem der Schuldner ganz oder teilweise befriedigt worden, so ist für das Recht dieses Schuldners, von den übrigen Schuldnern Ausgleich zu verlangen, das Recht maßgebend, das auf die Verpflichtung dieses Schuldners gegenüber dem Gläubiger anzuwenden ist. Die übrigen Schuldner sind berechtigt, diesem Schuldner diejenigen Verteidigungsmittel entgegenzuhalten, die ihnen gegenüber dem Gläubiger zugestanden haben, soweit dies gemäß dem auf ihre Verpflichtung gegenüber dem Gläubiger anzuwendenden Recht zulässig wäre.“

    3.  Richtlinie 2002/65/EG

    11.

    In Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG ( 6 ) ist der Begriff „Finanzdienstleistung“ definiert als „jede Bankdienstleistung sowie jede Dienstleistung im Zusammenhang mit einer Kreditgewährung, Versicherung, Altersversorgung von Einzelpersonen, Geldanlage oder Zahlung“.

    B. Österreichisches Recht

    12.

    Nach § 896 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs (ABGB) ist „[e]in Mitschuldner zur ungetheilten Hand, welcher die ganze Schuld aus dem Seinigen abgetragen hat, … berechtiget, auch ohne geschehene Rechtsabtretung, von den übrigen den Ersatz, und zwar, wenn kein anderes besonderes Verhältniß unter ihnen besteht, zu gleichen Theilen zu fordern“.

    13.

    § 905 Abs. 2 ABGB in der Fassung vor dem Zahlungsverzugsgesetz vom 20. März 2013 ( 7 ) sah vor, dass der Schuldner Geldzahlungen im Zweifel auf seine Gefahr und Kosten dem Gläubiger an dessen Wohnsitz (Niederlassung) zu übermachen hat.

    14.

    Mit dem Zahlungsverzugsgesetz wurde auch § 907a in das ABGB eingefügt. Er bestimmt, dass eine Geldschuld am Wohnsitz oder an der Niederlassung des Gläubigers zu erfüllen ist, indem der Geldbetrag dort übergeben oder auf ein vom Gläubiger bekannt gegebenes Bankkonto überwiesen wird.

    15.

    Nach § 1042 ABGB hat, „[w]er für einen Andern einen Aufwand macht, den dieser nach dem Gesetze selbst hätte machen müssen, … das Recht, den Ersatz zu fordern“.

    16.

    § 907a ABGB in der Fassung des Zahlungsverzugsgesetzes ist nach § 1503 Abs. 2 Nr. 1 ABGB auf Rechtsverhältnisse anzuwenden, die ab dem 16. März 2013 begründet werden. Auf Rechtsverhältnisse, die davor begründet wurden, sind die bisherigen Bestimmungen weiter anzuwenden; wenn solche früher begründeten Rechtsverhältnisse jedoch wiederholte Geldleistungen vorsehen, gelten für die ab dem 16. März 2013 fällig werdenden Zahlungen die neuen Bestimmungen.

    II. Ausgangsrechtsstreit

    17.

    Herr Stefan Benkö (im Folgenden: Kläger), ein österreichischer Staatsangehöriger, hat gegen Frau Saale Kareda (im Folgenden: Beklagte), seine ehemalige Lebensgefährtin, die die estnische Staatsangehörigkeit besitzt, vor den österreichischen Gerichten eine Regressklage auf Zahlung von 17145,41 Euro nebst Zinsen und Kosten erhoben.

    18.

    Der Kläger trägt vor, er und die Beklagte hätten 2007, als sie noch zusammen in Österreich gelebt hätten, ein Haus erworben und hierfür bei einer österreichischen Bank drei Darlehen in Höhe von insgesamt 300000 Euro (im Folgenden: Darlehen) aufgenommen. Sie seien beide Darlehensnehmer. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Kläger und die Beklagte solidarisch hafteten.

    19.

    Die Beklagte habe die Lebensgemeinschaft Ende 2011 beendet und ihren Lebensmittelpunkt nach Estland verlegt. Das vorlegende Gericht stellt insoweit fest, dass der gegenwärtige Wohnsitz der Beklagten in Estland unbekannt sei.

    20.

    Ab Juni 2012 sei die Beklagte ihren Kreditverpflichtungen nicht mehr nachgekommen. Der Kläger habe deshalb nicht nur seine Kreditraten zurückzahlen, sondern auch für den Zahlungsausfall der Beklagten aufkommen müssen, und zwar bis Juni 2014. Diese Zahlungen seien Gegenstand der Klage.

    21.

    Das erstinstanzliche Gericht, das Landesgericht St. Pölten (Österreich), hat sich vergebens an die Botschaft Estlands in Österreich gewandt, um den Wohnsitz der Beklagten herauszufinden. Deshalb wurde für die Beklagte ein Zustellkurator bestellt, der sie vertritt.

    22.

    Der Zustellkurator, dem alle Schriftstücke zugestellt wurden, erhob im ersten Rechtszug die Einrede der Unzuständigkeit. Die Beklagte habe ihren Wohnsitz in Estland, im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats. Ferner sei der vom Kläger geschilderte Sachverhalt nicht unter die Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit in den Abschnitten 2 bis 7 des Kapitels II der Verordnung Nr. 1215/2012, mit denen von der allgemeinen Zuständigkeitsregel in Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung abgewichen werde, zu subsumieren. Jedenfalls mangle es an der örtlichen Zuständigkeit des vom Kläger angerufenen Landesgerichts St. Pölten. Die Kreditfinanzierung sei über eine österreichische Bank erfolgt, und der diesbezügliche Erfüllungsort, nämlich der Sitz der Bank, liege nicht im Bezirk des angerufenen Landesgerichts.

    23.

    Mit Beschluss vom 5. August 2015 stellte das Landesgericht St. Pölten fest, dass die internationale Zuständigkeit nicht gegeben sei. Gegen diesen Beschluss erhob der Kläger beim Oberlandesgericht Wien (Österreich) Rekurs, das ihn mit Beschluss vom 28. Dezember 2015 abänderte.

    24.

    Die Beklagte erhob daraufhin beim vorlegenden Gericht Revisionsrekurs.

    III. Vorlagefragen

    25.

    Der Oberste Gerichtshof (Österreich) hat das Verfahren aufgrund von Zweifeln hinsichtlich der Auslegung der Vorschriften des Unionsrechts ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    1.

    Ist Art. 7 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen, dass ein Rückerstattungsanspruch (Ausgleichs‑/Regressanspruch) eines Schuldners aus einem (gemeinsamen) Kreditvertrag mit einer Bank, der die Kreditraten alleine getragen hat, gegen den weiteren Schuldner aus diesem Kreditvertrag ein abgeleiteter (sekundärer) vertraglicher Anspruch aus dem Kreditvertrag ist?

    2.

    Für den Fall, dass Frage 1 bejaht wird:

    Bestimmt sich der Erfüllungsort des Rückerstattungsanspruchs (Ausgleichs‑/Regressanspruchs) eines Schuldners gegen den anderen Schuldner aus dem zugrunde liegenden Kreditvertrag

    a)

    nach Art. 7 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1215/2012 („Erbringung von Dienstleistungen“) oder

    b)

    gemäß Art. 7 Nr. 1 Buchst. c in Verbindung mit Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012 nach der lex causae?

    3.

    Für den Fall, dass Frage 2 Buchst. a bejaht wird:

    Ist die Gewährung des Kredits durch die Bank die vertragscharakteristische Leistung aus dem Kreditvertrag, und bestimmt sich daher der Erfüllungsort für die Erbringung dieser Dienstleistung gemäß Art. 7 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1215/2012 nach dem Sitz der Bank, wenn die Hingabe des Kredits ausschließlich dort erfolgt ist?

    4.

    Für den Fall, dass Frage 2 Buchst. b bejaht wird:

    Ist für die Bestimmung des Erfüllungsorts für die verletzte Vertragsleistung nach Art. 7 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1215/2012

    a)

    der Zeitpunkt der Kreditaufnahme durch beide Schuldner (März 2007) maßgeblich oder

    b)

    der jeweilige Zeitpunkt, zu dem der regressberechtigte Kreditschuldner die Zahlungen, aus denen er den Regressanspruch ableitet, an die Bank geleistet hat (Juni 2012 bis Juni 2014)?

    IV. Würdigung

    26.

    Im vorliegenden Fall möchte das vorlegende Gericht anhand der Zuständigkeitsregeln der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit zuständig ist.

    27.

    Die Schwierigkeit besteht darin, dass der Kläger eine Regressklage gegen einen Mitschuldner erhoben hat, die auf einem Kreditvertrag beruht, den er und der Mitschuldner mit einer österreichischen Bank geschlossen hatten.

    28.

    Bevor geprüft wird, welche Zuständigkeitsregeln auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens Anwendung finden, ist zunächst zu prüfen, ob sich das durch den Abschluss des Kreditvertrags begründete Rechtsverhältnis zwischen den Gesamtschuldnern für die Zwecke der Anwendung der Verordnung vom Kreditvertrag „trennen“ lässt oder ob wir es insoweit mit einer untrennbaren Einheit zu tun haben.

    29.

    Aus den Gründen, die ich im Folgenden darlegen werde, bin ich der Auffassung, dass sich das durch den Abschluss eines Kreditvertrags begründete Rechtsverhältnis zwischen den Gesamtschuldnern nicht vom Kreditvertrag trennen lässt.

    30.

    Es beruht nämlich auf dem Kreditvertrag, den die Gesamtschuldner aus freien Stücken geschlossen haben. Im Verhältnis zum gemeinsamen Gläubiger haben sie sich also beide damit einverstanden erklärt, die ganze Leistung zu bewirken. Die in der Darlehensgewährung bestehende Leistung lässt sich nicht von der Verpflichtung zur Rückzahlung trennen. Ein Darlehen, mit dem keine Verpflichtung zur Rückzahlung verbunden ist, wäre de facto eine Schenkung. Die gesamtschuldnerische Verpflichtung zur Rückzahlung ist also ein wesentlicher Bestandteil des Vertragsgefüges.

    31.

    Der Gesamtschuldner, der den Anteil eines anderen Gesamtschuldners an der gemeinsamen Schuld ganz oder teilweise gezahlt hat, kann diesen Betrag aber zurückerlangen, indem er eine Regressklage erhebt. Eine solche Klage beruht mithin auf dem Bestehen des Vertrags. Deshalb wäre es künstlich, für die Zwecke der Anwendung der Verordnung Nr. 1215/2012 das Rechtsverhältnis zwischen den Gesamtschuldnern von dem Vertrag zu trennen, der dieses Rechtsverhältnis begründet hat und ihm zugrunde liegt ( 8 ). Andernfalls könnten für Klagen, die auf ein und demselben Vertrag beruhen, mehrere Gerichte zuständig sein. Das Gericht eines Mitgliedstaats wäre zuständig für Rechtsstreitigkeiten zwischen den Gesamtschuldnern und der Bank, das eines anderen Mitgliedstaats für Rechtsstreitigkeiten zwischen den Gesamtschuldnern selbst.

    32.

    Es ist deshalb stimmiger, wenn alle nach dem Abschluss eines Kreditvertrags auftretenden Fragen von ein und demselben Richter geprüft werden. Genau das sieht im Übrigen die Rom-I-Verordnung hinsichtlich des anwendbaren Rechts ausdrücklich vor. Wie die Europäische Kommission geltend macht, bestimmt Art. 16 („Mehrfache Haftung“) dieser Verordnung u. a., dass, wenn „ein Gläubiger eine Forderung gegen mehrere für dieselbe Forderung haftende Schuldner [hat] und … von einem der Schuldner ganz oder teilweise befriedigt worden [ist], … für das Recht dieses Schuldners, von den übrigen Schuldnern Ausgleich zu verlangen, das Recht maßgebend [ist], das auf die Verpflichtung dieses Schuldners gegenüber dem Gläubiger anzuwenden ist“.

    33.

    Für mich ist nicht ersichtlich, warum dies bei der Bestimmung des Gerichts, das für die Entscheidung über die von einem Mitschuldner eines Kreditvertrags gegen einen anderen Mitschuldner erhobene Regressklage zuständig ist, anders sein sollte, zumal die Wechselbezüglichkeit der Rom-I-Verordnung und der Verordnung Nr. 1215/2012 ihre widerspruchsfreie Auslegung gebietet ( 9 ). Außerdem liefe eine Trennung des Rechtsverhältnisses zwischen den Gesamtschuldnern von dem Vertrag, der sie bindet, dem mit der Verordnung Nr. 1215/2012 verfolgten Ziel eines hohen Maßes an Vorhersehbarkeit ( 10 ) zuwider. Die Gewissheit, dass für Rechtsstreitigkeiten aufgrund des zwischen ihnen bestehenden Rechtsverhältnisses dieselben Zuständigkeitsregeln gelten wie für den Kreditvertrag selbst, bedeutet für die Gesamtschuldner zweifellos ein hohes Maß an Vorhersehbarkeit.

    34.

    Ich gelange deshalb zu dem Schluss, dass die Zuständigkeit für einen Rechtsstreit über das durch einen Kreditvertrag entstandene Rechtsverhältnis zwischen Gesamtschuldnern bei dem für Rechtsstreitigkeiten aus diesem Vertrag zuständigen Gericht liegt.

    35.

    Da ein Kreditvertrag zweifellos unter den Begriff „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ fällt, ist Art. 7 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 meines Erachtens dahin auszulegen, dass Gegenstand einer von einem Gesamtschuldner eines Kreditvertrags gegen einen anderen Gesamtschuldner erhobenen Regressklage „ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ im Sinne dieser Vorschrift sind.

    36.

    Das vorlegende Gericht möchte ferner klären, welcher Ort der Erfüllungsort der Verpflichtung ist. Art. 7 der Verordnung Nr. 1215/2012 differenziert insoweit nämlich nach dem Vertragsgegenstand (Verkauf beweglicher Sachen, Erbringung von Dienstleistungen oder weder das eine noch das andere).

    37.

    Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Verordnung dahin auszulegen ist, dass der Kreditvertrag, auf dem die Regressklage eines Gesamtschuldners beruht, als Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen im Sinne dieser Vorschrift zu qualifizieren ist. Wenn ja, ist die charakteristische Verpflichtung dieses Vertrags die Gewährung des Darlehens, so dass ihr Erfüllungsort der Ort der Niederlassung der Bank ist?

    38.

    Meines Erachtens besteht kein Zweifel daran, dass es sich bei einem Kreditvertrag um einen Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen handelt.

    39.

    Wie der Gerichtshof entschieden hat, „bedeutet … der Begriff Dienstleistungen zumindest, dass die Partei, die sie erbringt, eine bestimmte Tätigkeit gegen Entgelt durchführt“ ( 11 ). Er hat hinzugefügt, dass das Vorliegen einer Tätigkeit die Vornahme positiver Handlungen erfordert und bloße Unterlassungen ausschließt ( 12 ). Dementsprechend hat er entschieden, dass ein Lizenzvertrag, mit dem der Inhaber eines Rechts des geistigen Eigentums seinem Vertragspartner das Recht zur Nutzung dieses Rechts gegen Entgelt einräumt, keine Dienstleistung darstellt, weil der Inhaber des Rechts des geistigen Eigentums durch die Nutzungsüberlassung keine Leistung erbringt und sich nur verpflichtet, seinem Vertragspartner dieses Recht zur freien Nutzung zu überlassen ( 13 ).

    40.

    Beim Kreditvertrag liegen die Dinge anders. Mit einem solchen Vertrag erklärt sich der Darlehensgeber, das Kreditinstitut, bereit, dem Darlehensnehmer für bestimmte Zeit einen Geldbetrag zur Verfügung zu stellen, bzw. verpflichtet sich hierzu, während sich der Darlehensnehmer seinerseits zur Rückzahlung des Betrags verpflichtet. Vergütet wird das Darlehen durch die Zinsen. Die Dienstleistung besteht also in der Überlassung des Geldbetrags durch ein Kreditinstitut, das gewöhnlich sogenannte Bankgeschäfte durchführt.

    41.

    Bei einem Kreditgeschäft handelt es sich also um eine Finanzdienstleistung. Wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, geht dies auch aus Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 2002/65 hervor, der als „Finanzdienstleistung“„jede Bankdienstleistung sowie jede Dienstleistung im Zusammenhang mit einer Kreditgewährung, Versicherung, Altersversorgung von Einzelpersonen, Geldanlage oder Zahlung“ definiert.

    42.

    Der bloße Umstand, dass die Tätigkeit der Vertragspartei, die die Dienstleistung erbringt, zum Finanzsektor zählt, kann nicht dazu führen, dass Art. 7 Nr. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 1215/2012 für Verträge im Rahmen dieser Tätigkeit nicht gilt. Es entsprach offensichtlich der Absicht des Gesetzgebers, solche Dienstleistungen in den Anwendungsbereich dieser Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit einzubeziehen. Wie das vorlegende Gericht und die Kommission ausführen, sah Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 für Fälle, in denen sich der Ort der Erbringung von Dienstleistungen in Luxemburg befand, eine Ausnahme von der Anwendung der Zuständigkeitsregeln für Fälle, in denen ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor. Dieser Artikel war nach seinem Abs. 3 aber auf Verträge über Finanzdienstleistungen nicht anwendbar, so dass für solche Verträge die spezielle Zuständigkeitsregel in Art. 5 Nr. 1 der Verordnung galt, dem heute Art. 7 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 entspricht.

    43.

    Der Kreditvertrag ist meines Erachtens also als Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen im Sinne von Art. 7 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1215/2012 zu qualifizieren.

    44.

    Es bedarf nun noch der Bestimmung des Erfüllungsorts der Verpflichtung. Nach Art. 7 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1215/2012 ist dies der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem die Dienstleistungen nach dem Vertrag erbracht worden sind oder hätten erbracht werden müssen. Es geht letztlich darum, den Ort der Erfüllung der charakteristischen Verpflichtung als Anknüpfungskriterium für das zuständige Gericht zu bestimmen ( 14 ).

    45.

    Bei einem Kreditvertrag ist die charakteristische Verpflichtung meines Erachtens die Gewährung des Darlehens. Die andere Verpflichtung aus einem solchen Vertrag – die Verpflichtung des Darlehensnehmers, das Darlehen zurückzuzahlen – existiert nämlich nur aufgrund der Leistung des Darlehensgebers. Die Rückzahlung ist nur die Folge dieser Leistung.

    46.

    Was den Ort der Erfüllung der charakteristischen Verpflichtung angeht, meine ich, dass nur dann, wenn auf den Ort der Niederlassung des Gläubigers abgestellt wird, ein hohes Maß an Vorhersehbarkeit gewährleistet werden und den mit Art. 7 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1215/2012 verfolgten Zielen der räumlichen Nähe und der Vereinheitlichung genügt werden kann ( 15 ). Dieser Ort ist den Parteien nämlich schon bei Vertragsschluss bekannt, und es ist auch der Ort, an dem die engste Verknüpfung zwischen dem Vertrag und dem zuständigen Gericht besteht.

    47.

    Art. 7 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1215/2012 ist also dahin auszulegen, dass der Kreditvertrag, auf dem die Regressklage eines Gesamtschuldners beruht, als Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen im Sinne dieser Vorschrift zu qualifizieren ist. Erfüllungsort der Verpflichtung ist der Ort der Niederlassung des Darlehensgebers.

    V. Ergebnis

    48.

    Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Obersten Gerichtshofs (Österreich) wie folgt zu antworten:

    1.

    Art. 7 Nr. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass Gegenstand einer von einem Gesamtschuldner eines Kreditvertrags gegen einen anderen Gesamtschuldner erhobenen Regressklage „ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ im Sinne dieser Vorschrift sind.

    2.

    Art. 7 Nr. 1 Buchst. b zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1215/2012 ist dahin auszulegen, dass

    der Kreditvertrag, auf dem die Regressklage eines Gesamtschuldners beruht, als Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen im Sinne dieser Vorschrift zu qualifizieren ist und

    Erfüllungsort der Verpflichtung der Ort der Niederlassung des Darlehensgebers ist.


    ( 1 ) Originalsprache: Französisch.

    ( 2 ) ABl. 2012, L 351, S. 1.

    ( 3 ) ABl. 2008, L 177, S. 6, im Folgenden: Rom-I-Verordnung.

    ( 4 ) ABl. 2001, L 12, S. 1.

    ( 5 ) ABl. 2007, L 199, S. 40.

    ( 6 ) ABl. 2002, L 271, S. 16.

    ( 7 ) BGBl I, 50/2003.

    ( 8 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Oktober 2016, Kostanjevec (C‑185/15, EU:C:2016:763, Rn. 38).

    ( 9 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2016, ERGO Insurance und Gjensidige Baltic (C‑359/14 und C‑475/14, EU:C:2016:40, Rn. 40).

    ( 10 ) Vgl. den 15. Erwägungsgrund dieser Verordnung.

    ( 11 ) Vgl. Urteil vom 23. April 2009, Falco Privatstiftung und Rabitsch (C‑533/07, EU:C:2009:257, Rn. 29). Vgl. auch Urteil vom 14. Juli 2016, Granarolo (C‑196/15, EU:C:2016:559, Rn. 37).

    ( 12 ) Urteil vom 14. Juli 2016, Granarolo (C‑196/15, EU:C:2016:559, Rn. 38).

    ( 13 ) Vgl. Urteil vom 23. April 2009, Falco Privatstiftung und Rabitsch (C‑533/07, EU:C:2009:257, Rn. 30 und 31).

    ( 14 ) Vgl. Urteil vom 14. Juli 2016, Granarolo (C‑196/15, EU:C:2016:559, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 15 ) Vgl. Urteil vom 19. Dezember 2013, Corman-Collins (C‑9/12, EU:C:2013:860, Rn. 30 bis 32 und 39).

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