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Document 62007CC0514

    Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro vom 1. Oktober 2009.
    Königreich Schweden gegen Association de la presse internationale ASBL (API) und Europäische Kommission (C-514/07 P), Association de la presse internationale ASBL (API) gegen Europäische Kommission (C-528/07 P) und Europäische Kommission gegen Association de la presse internationale ASBL (API) (C-532/07 P).
    Rechtsmittel - Recht auf Zugang zu Dokumenten der Organe - Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 - Art. 4 Abs. 2 zweiter und dritter Gedankenstrich - Von der Kommission im Rahmen von Verfahren vor dem Gerichtshof und dem Gericht eingereichte Schriftsätze - Entscheidung der Kommission, den Zugang zu verweigern.
    Verbundene Rechtssachen C-514/07 P, C-528/07 P und C-532/07 P.

    Sammlung der Rechtsprechung 2010 I-08533

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2009:592

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    M. POIARES MADURO

    vom 1. Oktober 20091(1)

    Verbundene Rechtssachen C‑514/07 P, C‑528/07 P und C‑532/07 P

    Königreich Schweden

    gegen

    Association de la presse internationale ASBL (API)


    Association de la presse internationale ASBL (API)

    gegen

    Kommission der Europäischen Gemeinschaften


    Kommission der Europäischen Gemeinschaften

    gegen

    Association de la presse internationale ASBL (API)

    „Rechtsmittel – Recht auf Zugang zu Dokumenten der Organe – Von der Kommission in Verfahren vor dem Gerichtshof und dem Gericht erster Instanz eingereichte Schriftsätze“





    1.        In welchem Umfang muss Mitgliedern der Öffentlichkeit nach den Grundsätzen der Transparenz gerichtlicher Verfahren und der Öffentlichkeit der Verhandlung Zugang zu Schriftsätzen gewährt werden, die die Parteien einer Rechtssache beim Gerichtshof eingereicht haben? Dies ist im Kern die Frage, die mit den Rechtsmitteln aufgeworfen wird, die das Königreich Schweden, eine Vereinigung von Journalisten und die Europäische Kommission gegen ein Urteil des Gerichts erster Instanz eingelegt haben.

    I –    Sachverhalt und Urteil des Gerichts erster Instanz

    2.        Den Rechtsmitteln liegt eine Streitigkeit zwischen der Association de la presse internationale ASBL (API) und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über den Zugang zu bestimmten Schriftsätzen zugrunde, die die Kommission in Verfahren vor dem Gericht erster Instanz und dem Gerichtshof eingereicht hat.

    3.        API, eine nicht auf Gewinnerzielung ausgerichtete Organisation von Journalisten, die ihre Mitglieder bei der Berichterstattung über die Europäische Union unterstützen will, beantragte mit Schreiben vom 1. August 2003 bei der Kommission, ihr nach Art. 6 der Verordnung Nr. 1049/2001(2) Zugang zu diesen Schriftsätzen zu gewähren. Mit Entscheidung vom 20. November 2003 lehnte die Kommission diesen Antrag ab.

    4.        Die Kommission stellte fest, dass die fraglichen Unterlagen in verschiedene Kategorien fielen. Die Verbreitung von Schriftstücken, die in drei noch anhängigen Rechtssachen(3) eingereicht worden seien, würde ihre Position als Beklagte beeinträchtigen, da sie der Möglichkeit der Beeinflussung von außen, insbesondere durch die Öffentlichkeit, ausgesetzt würde. Diese Unterlagen fielen daher unter die in der Verordnung Nr. 1049/2001 vorgesehene Ausnahmeregelung für den Fall, dass durch die Verbreitung „der Schutz von Gerichtsverfahren und der Rechtsberatung“ beeinträchtigt würde(4). Aus demselben Grund verweigerte die Kommission auch den Zugang zu Schriftsätzen in einer vierten Rechtssache, die zwar bereits abgeschlossen, aber in engem Zusammenhang mit einer noch anhängigen Rechtssache stand(5).

    5.        Im Hinblick auf Vertragsverletzungsverfahren führte die Kommission aus, dass die Verbreitung ihrer Schriftsätze den „Schutz des Zwecks von … Untersuchungs[tätigkeiten]“ im Sinne von Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1049/2001 beeinträchtigen würde, wobei dieser Zweck darin bestehe, zu einer gütlichen Beilegung der Streitigkeit zu gelangen. Dies gelte sowohl für Rechtssachen, in denen das Vertragsverletzungsverfahren noch nicht abgeschlossen sei(6), als auch für solche, in denen das Verfahren zwar abgeschlossen sei, die Mitgliedstaaten das Urteil aber noch nicht durchgeführt hätten(7).

    6.        Die Kommission räumte ein, dass nach der Verordnung Nr. 1049/2001 ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung ihrem Interesse an der Geheimhaltung der Schriftsätze vorgehen würde. Die API habe jedoch kein solches Interesse dargetan. Schließlich prüfte und verneinte die Kommission die Möglichkeit, teilweise Zugang zu den Dokumenten zu gewähren.

    7.        Die API klagte gegen die Entscheidung der Kommission mit am 2. Februar 2004 bei der Kanzlei des Gerichts erster Instanz eingegangener Klageschrift. Das Gericht erster Instanz verwies die Rechtssache an die Große Kammer, die am 12. September 2007 das angefochtene Urteil erließ.

    8.        In seinem Urteil hat das Gericht darauf hingewiesen, dass der Zweck der Verordnung Nr. 1049/2001 darin bestehe, breiten Zugang zu gewähren, und dass die Ausnahmen eng auszulegen seien. Dennoch hat es entschieden, dass die Kommission den Zugang zu Schriftsätzen in allen Rechtssachen verweigern dürfe, in denen die mündliche Verhandlung noch nicht stattgefunden habe, weil schon allein wegen ihres Interesses an einer Prozessführung frei von jeder äußeren Beeinflussung alle Schriftstücke erfasst seien, bis das Verfahren das Stadium der mündlichen Verhandlung erreiche. In den Fällen jedoch, in denen die Zugangsverweigerung darauf gestützt worden sei, dass eine abgeschlossene Rechtssache in engem Zusammenhang mit einer noch anhängigen Rechtssache stehe, könne die Kommission den Zugang nur dann verweigern, wenn sie die spezifischen Gründe anführe, aus denen die Freigabe das Verfahren in der noch anhängigen Rechtssache beeinträchtigen würde. Zu den Vertragsverletzungsverfahren stellte das Gericht fest, dass das Interesse an der Beilegung des Streits mit den Mitgliedstaaten eine pauschale Ablehnung der Freigabe von Dokumenten nur so lange rechtfertigen könne, als noch kein Urteil ergangen sei. Sobald das Urteil verkündet sei, müssten die Mitgliedstaaten ihm nachkommen und es bestehe kein Spielraum mehr für Verhandlungen.

    9.        Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts wurden eingelegt von der Kommission (C‑532/07), der API (C‑528/07) und dem Königreich Schweden (C‑514/07). Das Vereinigte Königreich, das Königreich Dänemark und die Republik Finnland traten den Verfahren später bei.

    10.      Mit ihrem Rechtsmittel macht die Kommission geltend, dass dem Gericht ein Rechtsfehler unterlaufen sei, als es entschieden habe, dass ein nach der mündlichen Verhandlung gestellter Antrag auf Zugang zu Schriftsätzen im Einzelfall zu prüfen sei. Nach Auffassung der Kommission hat sich das Gericht auf widersprüchliche Erwägungen gestützt und zu Unrecht nicht die Interessen der Rechtspflege, die Interessen anderer vom Verfahren betroffener Parteien und die Rechte der Kommission berücksichtigt. Das Gericht habe auch zu Unrecht eine Einzelfallprüfung verlangt bei Anträgen auf Zugang zu Schriftsätzen in Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 EG, in denen das Urteil ergangen sei, und in allen Verfahren, in denen eine Entscheidung ergangen sei, aber ein Zusammenhang mit anhängigen Rechtssachen bestehe. Mit dem angefochtenen Urteil werde ihre Fähigkeit geschwächt, das Gemeinschaftsrecht durchzusetzen und dafür zu sorgen, dass die Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen nachkämen. Die Kommission beantragt daher, das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit ihre Entscheidung, den Zugang zu verweigern, für nichtig erklärt worden ist.

    11.      Die API beantragt hingegen, das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit darin entschieden worden sei, dass die Kommission ihre Schriftsätze vor der mündlichen Verhandlung nicht freigeben müsse, und entweder die Entscheidung der Kommission vom 20. November 2003 für nichtig zu erklären oder die Sache an das Gericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen. Die API macht geltend, die in der Verordnung Nr. 1049/2001 vorgesehene Ausnahmeregelung für Gerichtsverfahren erfordere eine Einzelfallprüfung. Die gegenteilige Feststellung des Gerichts sei aus folgenden Gründen falsch: Erstens stehe sie in Widerspruch zu feststehenden Grundsätzen bezüglich der Auslegung dieser Ausnahmeregelung, zweitens beruhe sie auf einem nicht vorhandenen Recht der Kommission, ihre Interessen unabhängig von jeder äußeren Beeinflussung zu vertreten, drittens habe das Gericht den Grundsatz der Waffengleichheit falsch angewandt, viertens habe es die Praxis anderer Gerichte nicht hinreichend berücksichtigt, und fünftens habe es sich zu Unrecht auf die Notwendigkeit gestützt, nicht öffentliche Verfahren zu schützen. Darüber hinaus habe das Gericht die Wendung „überwiegendes öffentliches Interesse“ im Zusammenhang mit Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1049/2001 falsch ausgelegt.

    12.      Wie die API beantragt das Königreich Schweden, das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit die Klage der API abgewiesen wurde, und die Entscheidung der Kommission vom 20. November 2003 für nichtig zu erklären. Es macht geltend, dass Ausnahmen von der Offenlegungspflicht eng auszulegen seien und dass eine allgemeine Weigerung, der Öffentlichkeit Zugang zu gewähren, nicht gerechtfertigt sei.

    II – Erörterung

    A –    Vorbemerkungen

    13.      Mit ihrem Ersuchen um die hier in Rede stehenden Dokumente hat die API wichtige Fragen zur Transparenz in der Europäischen Union aufgeworfen. Das Problem der API liegt jedoch nicht unbedingt in den Antworten auf diese Fragen, sondern im Verfahren, in dem sie diese aufgeworfen hat. Indem sie das in der Verordnung Nr. 1049/2001(8) vorgesehene Verfahren gewählt hat, um in anhängigen Verfahren eingereichte Schriftsätze zu erlangen, hat sich die API mit einem Antrag an die Kommission gewandt, den sie beim Gerichtshof hätte stellen sollen.

    14.      Während eines Gerichtsverfahrens sollte es Sache des Gerichtshofs und nicht der Kommission sein, darüber zu befinden, ob die Öffentlichkeit in einer bestimmten Rechtssache Zugang zu den Dokumenten haben soll. Diesen Standpunkt haben die Mitgliedstaaten im Vertrag von Amsterdam zum Ausdruck gebracht, als sie entschieden, die Judikative nicht in Art. 255 aufzunehmen. Eine solche Entscheidung liegt nicht deshalb beim Gerichtshof, weil – wie die Kommission anzunehmen scheint – die in der Transparenz liegenden Werte für die Judikative nicht gälten, sondern vielmehr deshalb, weil der Gerichtshof während der Dauer des Verfahrens Herr desselben ist. Nur der Gerichtshof ist in der Lage, die widerstreitenden Interessen abzuwägen und zu bestimmen, ob die Freigabe von Unterlagen einen nicht wiedergutzumachenden Schaden für eine der Parteien verursacht oder die Fairness des gerichtlichen Verfahrens beeinträchtigt. Würde die Entscheidung über die Freigabe der Unterlagen den Parteien überlassen, wären sie vielleicht zu zurückhaltend bei der Freigabe von Unterlagen, wenn sie eine Beeinträchtigung ihrer eigenen Interessen fürchten, und zu eilfertig bei der Freigabe von solchen, die ihre Gegner schädigen könnten.

    15.      Geht man davon aus, dass Fragen zum Zugang zu Dokumenten, die beim Gerichtshof eingereicht worden sind, von diesem zu entscheiden sind, beginnen die Hauptgefahren, die nach Ansicht der Parteien im vorliegenden Fall drohen, zu verblassen. Der Gerichtshof muss nicht befürchten, dass die Kommission Unterlagen freigibt, die zu einer Störung seiner Beratungen führen. Seine Fähigkeit, nicht öffentliche Verhandlungen durchzuführen, ist nicht gefährdet, da der Gerichtshof entscheiden kann, ob die Freigabe bestimmter Unterlagen mit dem Geheimhaltungsbedürfnis in einer bestimmten Rechtssache kollidiert. Auch der Grundsatz der Waffengleichheit sollte nicht zu Bedenken Anlass geben, weil der Gerichtshof, anders als die Kommission und die mit der Verordnung Nr. 1049/2001 aufgestellte Regelung, den Zugang zu den von den Verfahrensbeteiligten eingereichten Dokumenten kontrollieren kann und gewiss in der Lage ist, Voraussetzungen für den Zugang aufzustellen, die nicht eine bestimmte Partei erheblich benachteiligen. Meines Erachtens wäre daher das beste Ergebnis im vorliegenden Fall, zu entscheiden, dass Unterlagen, die von Parteien in anhängigen Verfahren eingereicht werden, nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1049/2001 fallen. Sobald die Dokumente beim Gerichtshof eingegangen sind, sind sie Teil des Gerichtsverfahrens, dessen Organisation in der ausschließlichen Befugnis des Gerichtshofs liegt. Dies bedeutet nicht, dass der Gerichtshof bei seiner Entscheidung darüber, ob Zugang zu gewähren ist, selbst keinen Einschränkungen unterläge. Im Gegenteil, der Gerichtshof kann verpflichtet sein, Anträge auf Zugang anhand der Grundsätze der Fairness und Transparenz zu prüfen und dabei alle in Betracht kommenden Interessen sorgfältig zu berücksichtigen. Mit anderen Worten, es sollte auf faire und transparente Weise Recht gesprochen werden, und es ist Sache des Gerichtshofs, sicherzustellen, dass dieses Erfordernis in allen Verfahren gewährleistet ist.

    16.      Meine Auffassung steht in Widerspruch zu dem Beschluss des Gerichtshofs in der Rechtssache Deutschland/Parlament und Rat(9). Wenn es, wie der Gerichtshof in diesem Beschluss entschieden hat, den Parteien grundsätzlich freisteht, ihre eigenen Schriftsätze Dritten zugänglich zu machen(10), ist der Gerichtshof nicht in der Lage, den Zugang zu den Unterlagen der Verfahrensakte zu kontrollieren. Wenn ferner, wie in diesem Beschluss ausgeführt, bei der freiwilligen Offenlegung ihrer eigenen Schriftsätze durch eine Partei nicht von einer Beeinträchtigung der Integrität des Gerichtsverfahrens ausgegangen werden kann, gibt es keine Grundlage für die pauschale Weigerung der Kommission, Schriftsätze in anhängigen Verfahren freizugeben. Gleich, ob Unterlagen freiwillig oder deshalb herausgegeben werden, weil es in einer Verordnung vorgeschrieben ist: die Wahrscheinlichkeit, dass dadurch Druck von Seiten der Öffentlichkeit geschaffen wird, der die Integrität des Gerichtsverfahrens beeinträchtigt oder eine der Parteien benachteiligt, wäre in beiden Fällen gleich hoch. Tatsächlich ist der Beschluss Deutschland/Parlament und Rat in folgender Hinsicht etwas widersprüchlich: Der Gerichtshof führt zwar aus, dass es den Parteien grundsätzlich freisteht, ihre Schriftsätze Dritten zugänglich zu machen, doch stellt er auch fest, dass die Verbreitung in Ausnahmefällen die geordnete Rechtspflege beeinträchtigen könnte. Daraus folgt logischerweise, dass die Frage der Verbreitung in diesen Ausnahmefällen, in denen die geordnete Rechtspflege auf dem Spiel steht, nicht den Parteien überlassen bleiben kann, sondern vom Gerichtshof entschieden werden muss. Wer aber soll beurteilen, ob ein spezifischer Fall hinreichenden Ausnahmecharakter hat, um der Aufmerksamkeit des Gerichtshofs würdig zu sein? Die Antwort liegt auf der Hand: Nur der Gerichtshof selbst kann diese Beurteilung treffen. Ebenso offenkundig ist, dass ein Einschreiten des Gerichtshofs nur dann sinnvoll ist, wenn es vor der Verbreitung eines Dokuments durch eine der Parteien erfolgt. Gibt eine Partei ein Dokument frei, das hätte geheim bleiben sollen, und wird die Integrität des Gerichtsverfahrens dadurch gefährdet, kann späteres Handeln des Gerichtshofs den Schaden nicht wiedergutmachen.

    17.      Ein weiteres Problem, das aufgeworfen würde, wenn die Frage des Zugangs zu Verfahrensschriftsätzen der Initiative der Parteien überlassen oder abschließend als durch die Verordnung Nr. 1049/2001 geregelt angesehen würde, ist die Waffengleichheit. Wie könnte der Gerichtshof diese Sache entweder der Initiative der Parteien überlassen oder bestimmten Parteien (z. B. den Gemeinschaftsorganen) nach der Verordnung die Freigabe aufgeben, ohne zugleich den anderen Parteien (einschließlich der Mitgliedstaaten) die Verpflichtung aufzuerlegen, ihre Schriftsätze freizugeben? Nehmen wir z. B. an, dass die Kommission – entweder aus eigenem Antrieb oder weil sie der Verordnung nachkommen muss – in einer bestimmten Rechtssache Zugang zu ihren Schriftsätzen gewährt: Es steht zu erwarten, dass diese Verpflichtung auch für die anderen Parteien gelten würde, weil es höchst eigenartig wäre, wenn der Gerichtshof den Zugang zu deren Schriftsätzen mit der Begründung verweigern würde, dass diese Freigabe die Integrität des Gerichtsverfahrens beeinträchtigen würde. Dies würde darauf hinauslaufen, dass die eigenen Entscheidungen des Gerichtshofs über den Zugang durch die Offenlegungspolitik der anderen Gemeinschaftsorgane oder die Kriterien in der Verordnung, die ja nicht für den Gerichtshof gelten sollte, erheblich beeinträchtigt (wenn nicht sogar festgelegt) würden.

    18.      Daher ist es für den Gerichtshof an der Zeit, seine Ausführungen im Beschluss Deutschland/Parlament und Rat zu überdenken und klarzustellen, dass der Gerichtshof, und nicht die Parteien, den Zugang zu Dokumenten in anhängigen Rechtssachen kontrollieren muss. Obwohl der Gerichtshof „bei der Abkehr von einer in früheren Urteilen vorgenommenen rechtlichen Auslegung stets behutsam vorgegangen“ ist, um die wichtigen Werte der Stetigkeit, der Einheitlichkeit, der Kohärenz und der Rechtssicherheit(11) zu schützen, war er doch bereit, in Ausnahmefällen frühere Entscheidungen zu überprüfen. Dies scheint mir einer dieser Fälle zu sein, in denen eine solche Überprüfung gerechtfertigt ist. Als der Beschluss erlassen wurde, waren seine vollen Auswirkungen auf die Frage des Zugangs zu gerichtlichen Schriftstücken nicht klar. Aufgrund von Anträgen auf Zugang nach der Verordnung Nr. 1049/2001 lassen sich die Folgen der allgemeinen Feststellung des Gerichtshofs in diesem Beschluss heute besser übersehen(12).

    19.      Sollte der Gerichtshof meinem Ergebnis in diesem Punkt zustimmen, sind die mit dem Rechtsmittel aufgeworfenen Fragen gegenstandslos. Für den Fall jedoch, dass der Gerichtshof entscheiden sollte, den Beschluss Deutschland/Parlament und Rat nicht zu überdenken, werde ich untersuchen, unter welchen Umständen die Kommission Dokumente freigeben muss. Die zu beantwortende Frage ist ohnehin dieselbe wie die, die der Gerichtshof beantworten müsste, wenn er selbst über die Freigabe der Dokumente entscheiden würde: Würde die Freigabe des Dokuments die Integrität des Gerichtsverfahrens beeinträchtigen?

    20.      In diesem Kontext werde ich also die rechtlichen Gründe untersuchen, die geltend gemacht werden, um die im ersten Rechtszug erfolgte Auslegung der in der Verordnung enthaltenen Bedingungen, unter denen Schriftsätze veröffentlicht werden müssen, zu beanstanden. Dabei werde ich eine Abwägung zwischen der Ausgewogenheit der Gerichtsverhandlung und den mit dem Recht auf eine öffentliche Verhandlung verbundenen Interessen vornehmen. Ich werde auch zwischen Rechtssachen, die noch beim Gerichtshof anhängig sind, und solchen, in denen die abschließende Entscheidung bereits ergangen ist, unterscheiden.

    B –    Anhängige Rechtssachen

    21.      Um zu klären, ob der Schutz der Integrität des Gerichtsverfahrens es erfordert, dass die von den Parteien eingereichten Schriftsätze vertraulich bleiben, sind die gemeinsamen Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu prüfen.

    22.      Was den EGMR angeht, ist Art. 33 seiner Verfahrensordnung maßgeblich(13), der bestimmt:

    „Artikel 33

    (Öffentlichkeit der Unterlagen)

    (1)      Alle bei der Kanzlei von den Parteien oder Drittbeteiligten im Zusammenhang mit einer Beschwerde eingereichten Unterlagen mit Ausnahme derjenigen, die im Rahmen von Verhandlungen über eine gütliche Einigung nach Artikel 62 vorgelegt werden, sind der Öffentlichkeit nach den vom Kanzler bestimmten Regelungen zugänglich, soweit nicht der Kammerpräsident aus den in Absatz 2 genannten Gründen anders entscheidet, sei es von Amts wegen, sei es auf Antrag einer Partei oder einer anderen betroffenen Person.

    (2)      Der Zugang der Öffentlichkeit zu Unterlagen oder Teilen davon kann eingeschränkt werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz des Privatlebens der Parteien es verlangen oder – soweit der Kammerpräsident es für unbedingt erforderlich hält – wenn unter besonderen Umständen die Öffentlichkeit von Unterlagen die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.

    (3)      Anträge auf Vertraulichkeit nach Absatz 1 sind zu begründen; dabei ist anzugeben, ob sämtliche Unterlagen oder nur ein Teil davon der Öffentlichkeit nicht zugänglich sein sollen.

    (4)      Entscheidungen und Urteile einer Kammer sind der Öffentlichkeit zugänglich. Der Gerichtshof macht der Öffentlichkeit in regelmäßigen Abständen allgemeine Informationen über Entscheidungen zugänglich, die von den Komitees nach Artikel 53 Absatz 2 getroffen wurden.“

    23.      Damit wird der Grundsatz aufgestellt, dass alle von den Parteien oder Drittbeteiligten (wie z. B. einem Streithelfer) im Zusammenhang mit einer Beschwerde eingereichten Unterlagen öffentlich zugänglich sind, mit Ausnahme derjenigen, die sich auf eine gütliche Einigung beziehen; es wird nicht zwischen anhängigen und abgeschlossenen Rechtssachen unterschieden. Zugleich sind in Art. 33 Zugangsbeschränkungen vorgesehen, wenn sie im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung, der nationalen Sicherheit, des Schutzes von Jugendlichen, des Privatlebens oder aufgrund der Interessen der Rechtspflege erforderlich sind. Diese Erwägungen begrenzen das Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu den Unterlagen in den Verfahrensakten: Während Öffentlichkeit die allgemeine Regel ist, wird Geheimhaltung gewährleistet, wenn dies in einer bestimmten Rechtssache nötig ist. Es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass die Kontrolle des Zugangs zu gerichtlichen Schriftstücken Sache des EGMR ist. Dies wird in Art. 33 Abs. 1 deutlich, wonach der Kammerpräsident den Zugang beschränken kann, und zwar nicht nur auf Antrag der Parteien oder eines Drittbeteiligten, sondern auch von sich aus, wenn er eine solche Einschränkung aus einem der in Abs. 2 genannten Gründe für erforderlich hält.

    24.      Was die Mitgliedstaaten betrifft, lässt sich in ihren Rechtsvorschriften kein allgemeines Vertraulichkeitsgebot finden, das die Freigabe von Schriftsätzen der Parteien untersagte. Tatsächlich scheinen die meisten nationalen Rechtsordnungen von einer starken Einschränkung des Zugangs zur Gewährleistung einer gewissen Öffentlichkeit übergegangen zu sein. Dementsprechend gewähren die meisten Mitgliedstaaten heute unter bestimmten Umständen Zugang zu gerichtlichen Schriftstücken(14).

    25.      Obwohl der Gerichtshof diese Frage nicht ausdrücklich behandelt hat, lässt sich der Rechtsprechung nicht entnehmen, dass ein allgemeines Vertraulichkeitsgebot erforderlich wäre. Dies gilt für den oben erörterten Beschluss Deutschland/Parlament und Rat, in dem festgestellt worden ist, dass „die Verbreitung eines Schriftstücks die ordnungsgemäße Rechtspflege“ nur in „Ausnahmefällen“ beeinträchtigen könnte(15). Der Gerichtshof hat sich jedoch nicht nur in diesem Beschluss zu dieser Frage geäußert. Als er mit der Frage des Zugangs zu Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates befasst war, hat er Bedenken, dass in diesem Zusammenhang öffentlicher Druck ausgeübt werden könnte, erörtert und für unbegründet erklärt. Der Gerichtshof ist sogar über den vorsichtigeren Ansatz, den ich in meinen Schlussanträgen in dieser spezifischen Frage vertreten hatte(16), hinausgegangen. Er hat festgestellt, dass, „sollten die Mitarbeiter dieses Dienstes einem dahin gehenden unzulässigen Druck ausgesetzt sein, es dieser Druck und nicht die Möglichkeit der Verbreitung der Rechtsgutachten wäre, der das Interesse dieses Organs … beeinträchtigen würde, und dass es ersichtlich Sache des Rates wäre, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dem ein Ende zu setzen“(17). Diese Feststellung gilt ebenso für unzulässigen Druck auf Gericht und Parteien in Gerichtsverfahren.

    26.      Darüber hinaus lässt sich der Rechtsprechung internationaler Gerichte entnehmen, dass kein Grund für die Befürchtung besteht, die Freigabe solcher Unterlagen werde das gerichtliche Verfahren beeinträchtigen. So leitet der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda trotz der dringenden Notwendigkeit, aus Gründen des Zeugenschutzes Geheimhaltung sicherzustellen, aus der Bestimmung seiner Verfahrensordnung, die öffentliche Gerichtsverfahren begünstigt, ein Gebot ab, dass alle eingereichten Unterlagen öffentlich zugänglich sind, sofern sie nicht aus besonderen Gründen vertraulich zu behandeln sind; in diesem Fall müssen die Parteien eine für die Öffentlichkeit bearbeitete Fassung ihrer vertraulichen Schriftsätze einreichen(18). Ähnlich hält es der Internationale Strafgerichtshof, der die von den Parteien eingereichten Unterlagen über seine Website zugänglich macht, sofern das Unterbleiben ihrer Freigabe nicht vom Gerichtshof angeordnet wurde oder zum Schutz sensibler personenbezogener Daten erforderlich ist(19). In dieser Hinsicht scheint es tendenziell so zu sein, dass das Bemühen um Transparenz seiner Verfahren umso stärker ist, je größer die Distanz zwischen dem Gericht und den Bürgern ist(20).

    27.      Auch die Rechtsprechung in den Vereinigten Staaten lässt erkennen, dass ein faires Gerichtsverfahren und Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten einander nicht ausschließen(21). Das US-amerikanische Recht setzt den Zugang zu Dokumenten voraus. Es sieht insoweit nur wenige Beschränkungen vor, um vertrauliche Angaben zu schützen(22), und erlaubt es den Gerichten, bei Bedarf weitere Dokumente unter Verschluss zu nehmen. So sehen die Federal Rules of Civil Procedure z. B. vor:

    „Aus wichtigem Grund kann das Gericht in einem Verfahren durch Beschluss:

    (1)      zusätzliche Informationen anfordern oder

    (2)      den elektronischen Zugriff von Dritten auf dem Gericht vorgelegte Dokumente beschränken oder untersagen.“(23)

    28.      Fehlt ein solcher Beschluss, stehen diese Dokumente unmittelbar zur Verfügung. Bundesgerichte gewähren Zugang zu Verfahrensakten, einschließlich der Schriftsätze der Parteien, über das Internet(24). Viele dieser Unterlagen sind der Öffentlichkeit auch über juristische Datenbanken wie Westlaw zugänglich, insbesondere in bekannten Rechtssachen. Tatsächlich sind Schriftsätze oft wenige Werktage nach ihrer Vorlage bei Gericht über Westlaw verfügbar.

    29.      Obgleich die gemeinsamen Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten keine Vertraulichkeit gebieten – und dafür scheint es auch keinen Grund zu geben –, stützen sie allerdings auch nicht den gegenteiligen Standpunkt, dass das Recht auf ein faires Verfahren den allgemeinen Zugang der Öffentlichkeit zu den Dokumenten der Parteien erfordert.(25) Nur zwei Mitgliedstaaten – Schweden und Finnland – erkennen ein Recht auf Zugang zu Dokumenten in anhängigen Rechtssachen an. Die meisten Mitgliedstaaten (u. a. Spanien, Deutschland, Estland, Polen, Portugal, Irland, die Tschechische Republik und Slowenien) vertreten die Auffassung, dass die Gerichte befugt sind, Zugang zu gewähren, dass diese Entscheidung jedoch in ihrem Ermessen steht oder von einer Abwägung der unterschiedlichen Interessen in dem bestimmten Fall abhängt. In bestimmten Mitgliedstaaten, die einen Zugang zu gerichtlichen Schriftstücken vorsehen, wird in den einschlägigen Verfahrensordnungen bzw. in der Praxis nach der Art der Rechtssache oder des Gerichts, bei dem diese anhängig ist, unterschieden (z. B. in Dänemark, im Vereinigten Königreich, in Griechenland, Österreich, Frankreich und Zypern). Auch hier ist wieder auf die entscheidende Rolle hinzuweisen, die das Gericht in allen diesen nationalen Rechtsordnungen bei der Entscheidung darüber spielt, ob der Zugang zu gewähren ist. Schließlich ist es in einer Minderheit der Mitgliedstaaten (in Ungarn, Luxemburg und in den Niederlanden) Praxis, keinen Zugang zu den Verfahrensakten zu gewähren.

    30.      In Anbetracht der widerstreitenden Interessen und dem gegenwärtig mangelnden Konsens zwischen den Mitgliedstaaten sollte der Gerichtshof meines Erachtens in diesem Bereich behutsam vorgehen. Da jede Rechtssache neue Fragen aufwirft, ist eine sorgfältige und einzelfallbezogene Abwägung der widerstreitenden Rechtfertigungen vorzunehmen und eine individuelle Entscheidung zu treffen. Zumindest derzeit erscheint es mir wünschenswert, keine umfassende oder strenge Regel vorzugeben, nach der entweder generell Zugang zu gewähren ist oder ein solches Recht verneint wird. In diesem Bereich sollte sich das Recht schrittweise und von Fall zu Fall entwickeln. Die Abwägung der konkurrierenden Gesichtspunkte in jedem Einzelfall nimmt am besten der Gerichtshof nach Anhörung der Parteien vor. Sollten die Mitgliedstaaten mit der Zeit dazu übergehen, breiten Zugang zu gewähren, kann sich auch der Standpunkt des Gerichtshofs in diesem Sinne entwickeln. Gegenwärtig ist es, wenn ein Mitglied der Öffentlichkeit den Zugang zu den Akten einer anhängigen Rechtssache beantragt, meines Erachtens Sache des Gerichtshofs die widerstreitenden Interessen sorgfältig abzuwägen und zu prüfen, ob Zugang zu gewähren ist.

    C –    Rechtssachen, in denen das Endurteil ergangen ist

    31.      Ist ein Verfahren abgeschlossen, wird die Sache sehr viel einfacher. Die Antwort auf die Kernfrage – ob die Freigabe von Dokumenten die Integrität des Gerichtsverfahrens beeinträchtigt – lautet eindeutig „nein“. Der Gerichtshof hat Gelegenheit gehabt, das Vorbringen der Parteien zu prüfen, zu erörtern und seine Entscheidung zu treffen, das Gerichtsverfahren ist abgeschlossen und kann durch die Veröffentlichung der Schriftsätze der Parteien nicht mehr beeinträchtigt werden.

    32.      Darüber hinaus sprechen weitere Gesichtspunkte wie die Öffentlichkeit des Verfahrens und des Rechts auf ein mit Gründen versehenes Urteil für die Freigabe solcher Unterlagen. Einer der Hauptzwecke des Rechts auf ein mit Gründen versehenes Urteil ist es, der Öffentlichkeit zu ermöglichen, nachzuvollziehen, warum die Entscheidung des Gerichtshofs so ausgefallen ist und wie er zu dieser Entscheidung gelangt ist. Wie Neil MacCormick erläutert hat, hat die juristische Argumentation rechtfertigende Funktion: Nicht nur trägt der im Verfahren auftretende Rechtsanwalt Argumente dafür vor, warum es in dem speziellen Fall gerecht sei, dass sein Mandant obsiege, sondern der Richter möchte mit seinem mit Gründen versehenen Urteil darlegen, dass die Art und Weise, wie er den Rechtsstreit entschieden hat, gerechtfertigt ist.(26) Diese rechtfertigende Funktion kennzeichnet die besondere Form der den Gerichten obliegenden Rechenschaftspflicht, die mit der Qualität ihres Entscheidungsfindungsprozesses und den sich daraus ergebenden Argumenten zusammenhängt. Zugang zu den Schriftsätzen der Parteien ist für diesen Prozess entscheidend, weil er es der Öffentlichkeit erlaubt, sowohl die Argumente, die der Gerichtshof zu prüfen hatte, als auch die Gründe, aus denen er ihnen folgte oder sie zurückwies, zu verstehen. Ohne Zugang zu den Verfahrensakten besteht die Gefahr, dass die Begleitung und das Verständnis eines Verfahrens nur eine theoretische Möglichkeit ohne jeden praktischen Wert darstellt, da die Öffentlichkeit den Zugang benötigt, um nachvollziehen zu können, worum es in dem Verfahren ging und wie das Gerichtsverfahren ablief. Er trägt auch dazu bei, dass eine Symmetrie zwischen den tatsächlichen Beratungen des Gerichtshofs und den in der Entscheidung angeführten Gründen besteht.

    33.      Ein weiterer Gesichtspunkt, der für dieses spezielle Rechenschaftsgebot, dem die Gerichte unterliegen, maßgeblich ist, liegt darin, dass die Möglichkeit, Verfahrensakten einzusehen, das allgemeine Vertrauen der europäischen Öffentlichkeit in das Rechtsschutzsystem der Union stärken kann, weil damit das Signal ausgesandt wird, dass die Gerichtsverfahren nicht in absoluter Geheimhaltung durchgeführt werden, sondern für öffentliche Überprüfung offen sind(27), allerdings keine öffentliche Überprüfung politischer Art, sondern eine, der die in einem Verfahren vorgebrachten Rechtsausführungen und die Erwägungen des darauf eingehenden Gerichtshofs zugrunde liegen. Dies ist ein besonders wichtiger Gesichtspunkt für den Gerichtshof, der schon seinem Wesen nach den Bürgern Europas nicht so nah ist, wie es deren nationale Gerichte sind, sowohl in geografischer Hinsicht als auch wegen der weniger vertrauten Verfahrensarten. Die Gewährung des Zugangs zu den Verfahrensakten wird dabei helfen, die Distanz zwischen den europäischen Bürgern und dem Gerichtshof zu verringern, indem seine Verfahren leichter zugänglich und transparenter werden.

    34.      Ferner legen gerichtliche Entscheidungen (ob sie einstimmig erfolgen oder nicht) zwar die richtige rechtliche Antwort fest, sie müssen aber zugleich anerkennen, dass diese Antwort das Produkt einer Vielzahl einander gegenüberstehender Auffassungen davon ist, was die richtige Antwort sei. Paradoxerweise hat die Autorität, mit der ein Gericht Recht spricht, ihren Ursprung in der – oft lebhaften – Debatte, die zwischen den Parteien geführt wird. Die Berücksichtigung all dieser unterschiedlichen und widerstreitenden Rechtsauffassungen legitimiert die verbindliche Festlegung dessen, was Recht ist, durch den Gerichtshof. In diesem Zusammenhang verschafft der Zugang zu den Schriftsätzen der Parteien und die Möglichkeit, die Entscheidung des Gerichtshofs anhand dieser Schriftsätze in den jeweiligen Kontext einordnen zu können, denjenigen, die eine andere Rechtsauffassung vertreten haben, Gewissheit darüber, dass ihre Ansicht, auch wenn sie damit nicht durchgedrungen sind, im Zuge der Beratungen des Gerichtshofs angemessen berücksichtigt wurde. Dies ist, da keine abweichenden Voten abgegeben werden, von besonderer Bedeutung(28). Es ist auch wichtig, einen anhaltenden Diskurs nicht nur darüber, was das Recht ist, sondern auch darüber, was es sein sollte, zu führen.

    35.      Früher hat die Veröffentlichung des Sitzungsberichts, der eine Zusammenfassung des Vorbringens der Parteien enthält, durch den Gerichtshof diesen Zweck erfüllt, indem der Öffentlichkeit und den Juristen Zugang zu einem großen Teil der erforderlichen Informationen gegeben wird(29). Dass der Gerichtshof seine Praxis, diese Berichte zu veröffentlichen, aus nachvollziehbaren Gründen aufgegeben hat, ist ein Grund mehr, die Schriftsätze der Parteien freizugeben.

    36.      Es wird natürlich Fälle geben, in denen der Zugang verweigert werden sollte, weil gewichtigere Erwägungen dagegen sprechen; augenfällige (aber nicht die einzigen) Beispiele sind der Schutz sensibler personenbezogener Daten und der Interessen Minderjähriger. In manchen Fällen mögen Erwägungen im Zusammenhang mit andauernden Verhandlungen mit Mitgliedstaaten es rechtfertigen, den Zugang zu den Akten noch für einige Zeit nach dem Abschluss des Verfahrens zu beschränken. Nach Erlass des Urteils sollte der freie Zugang zwar grundsätzlich der Regelfall sein, doch sollte in solchen Fällen als Ausnahme von der Regel die Geheimhaltung sichergestellt werden. Auch hier sollte es Sache des Gerichtshofs sein, entweder von sich aus oder auf Antrag eines Beteiligten zu entscheiden, dass bestimmte Unterlagen oder Teile davon oder sogar die gesamte Verfahrensakte auch nach Abschluss des Verfahrens vertraulich bleiben sollen.

    37.      Sobald also ein Endurteil ergangen ist, sollten die Schriftsätze der Parteien der Öffentlichkeit zugänglich sein, sofern nicht in einem bestimmten Fall aus besonderen Gründen Geheimhaltung erforderlich ist. Solche Gründe können allerdings nicht in allen Fällen vermutet werden. In Anbetracht der gewichtigen Gründe, die für eine Veröffentlichung dieser Informationen sprechen, sollten solche Ausnahmen begrenzt werden.

    38.      Steht einmal fest, dass in abgeschlossenen Verfahren der freie Zugang die Regel sein sollte, folgt daraus, dass in diesen Fällen den Parteien auch erlaubt sein sollte, ihre eigenen Schriftsätze oder die einer anderen Partei zu veröffentlichen, wenn sie dies wünschen. Erwägungen im Zusammenhang mit der Integrität des Gerichtsverfahrens oder der Waffengleichheit, die für eine Geheimhaltung sprechen, solange die Rechtssache anhängig ist, und, vielleicht wichtiger noch, erfordern, dass der Gerichtshof derjenige ist, der über diese Frage entscheidet, werden gegenstandslos, wenn das Urteil einmal verkündet ist. Auch hier kann es Fälle geben, in denen die Geheimhaltung über den Erlass des Urteils hinaus aufrechterhalten werden sollte. Es liegt in der Verantwortung des Gerichtshofs und ist sein Vorrecht, entweder von sich aus oder auf Antrag eines Beteiligten, diese Fälle festzustellen und den Parteien besondere Verpflichtungen aufzuerlegen, mit denen die Verbreitung auch nach Abschluss des Verfahrens begrenzt oder ganz verboten wird.

    39.      Zusammenfassend lässt sich somit festhalten: Anträge von Mitgliedern der Öffentlichkeit auf Zugang zu Schriftsätzen von Parteien einer Rechtssache sollten, solange diese anhängig ist, an den Gerichtshof gerichtet werden. Diese Schriftsätze sind Teil des Gerichtsverfahrens, und der Gerichtshof ist am besten in der Lage, unvoreingenommen zu beurteilen, ob der Zugang die Ausgewogenheit und Integrität des Gerichtsverfahrens stören oder andere legitime Interessen beeinträchtigen würde. Selbst wenn der Gerichtshof feststellen sollte, dass Schriftsätze der Parteien in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1049/2001 fallen, und den vorliegenden Fall unter Bezugnahme auf diese Verordnung entscheiden sollte, bliebe die Sachfrage die gleiche, nämlich die, unter welchen Bedingungen Zugang gewährt werden soll. Meines Erachtens sollte beim derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung keine strenge Regel für anhängige Rechtssachen vorgegeben, sondern stattdessen vorsichtig und fallweise vorgegangen werden. Bei abgeschlossenen Rechtssachen ist es hingegen sinnvoll, einen allgemeinen Grundsatz aufzustellen, mit dem der Zugang begünstigt wird. Dies bedeutet auch, dass es einer Partei bei abgeschlossenen Rechtssachen erlaubt sein sollte, ihre Schriftsätze oder die einer anderen Partei aus eigenem Antrieb öffentlich zugänglich zu machen; nach Erlass des Urteils ist es nicht länger erforderlich, dass sie der alleinigen Verfügung des Gerichtshofs unterliegen. Hier gilt die Verordnung Nr. 1049/2001, und die Kommission sollte jeden Antrag fallweise anhand der in diesen Schlussanträgen erörterten Grundsätze prüfen. Der Gerichtshof sollte jedoch stets die Möglichkeit haben, die Parteien zur Vertraulichkeit zu verpflichten, wenn er dies für fair und gerecht hält.

    III – Ergebnis

    40.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,

    –        das Urteil des Gerichts erster Instanz vom 12. September 2007 in der Rechtssache T‑36/04 aufzuheben;

    –        die Entscheidung der Kommission vom 20. November 2003 für nichtig zu erklären und

    –        der Kommission aufzugeben, den Antrag der API vom 1. August 2003 im Licht seines Urteils in der vorliegenden Rechtssache neu zu prüfen.


    1 – Originalsprache: Englisch.


    2 – Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. 2001, L 145, S. 43).


    3 – Rechtssachen T‑209/01, Honeywell/Kommission (Slg. 2005, II‑5527), T‑210/01, General Electric/Kommission (Slg. 2005, II‑5575), und C‑203/03, Kommission/Österreich (Slg. 2005, I‑935).


    4 – Vgl. Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1049/2001.


    5 – Rechtssache T‑342/99, Airtours/Kommission (Slg. 2002, II‑2585).


    6 – Rechtssache C‑203/03, Kommission/Österreich.


    7 – Rechtssachen C‑466/98, Kommission/Vereinigtes Königreich (Slg. 2002, I‑9427), C‑467/98, Kommission/Dänemark (Slg. 2002, I‑9519), C‑468/98, Kommission/Schweden (Slg. 2002, I‑9575), C‑469/98, Kommission/Finnland (Slg. 2002, I‑9627), C‑471/98, Kommission/Belgien (Slg. 2002, I‑9681), C‑472/98, Kommission/Luxemburg (Slg. 2002, I‑9741), C‑475/98, Kommission/Österreich, (Slg. 2002, I‑9797), und C‑476/98, Kommission/Deutschland (Slg. 2002, I‑9855).


    8 – Mit der Verordnung wird ein Verfahren, durch das die Öffentlichkeit Dokumente von Organen der Europäischen Union, mit Ausnahme des Gerichtshofs, erlangen kann, festgelegt, und zwar so, „dass ein größtmöglicher Zugang zu Dokumenten gewährleistet ist“ (Art. 1 Buchst. a). Von dem mit der Verordnung aufgestellten Grundsatz des Zugangs gibt es verschiedene Ausnahmen. Die hier relevanten Regelungen finden sich in Art. 4 Abs. 2:


    „Die Organe verweigern den Zugang zu einem Dokument, durch dessen Verbreitung Folgendes beeinträchtigt würde:


    – der Schutz der geschäftlichen Interessen einer natürlichen oder juristischen Person, einschließlich des geistigen Eigentums,


    – der Schutz von Gerichtsverfahren und der Rechtsberatung,


    – der Schutz des Zwecks von Inspektions-, Untersuchungs- und Audittätigkeiten,


    es sei denn, es besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung.“


    9 – Rechtssache C‑376/98 (Slg. 2000, I‑2247).


    10 – Ebd., Randnr. 10.


    11 – Vgl. meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen C‑94/04 und C‑202/04, Cipolla u. a. (Slg. 2006, I‑11421, Nr. 28).


    12 – Vgl. verbundene Rechtssachen C‑267/91 und C‑268/91, Keck und Mithouard (Slg. 1993, I‑6097, Randnr. 14).


    13 – Art. 40 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte ist ebenfalls relevant: „Die beim Kanzler verwahrten Schriftstücke sind der Öffentlichkeit zugänglich, soweit nicht der Präsident des Gerichtshofs anders entscheidet.“


    14 – Vgl. Nr. 29 der vorliegenden Schlussanträge zu den verschiedenen Lösungen der Mitgliedstaaten.


    15 – Rechtssache C‑ 376/98, Deutschland/Parlament und Rat (Randnr. 10).


    16 – Vgl. Nr. 40 meiner Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen C‑39/05 P und C‑52/05 P, Schweden und Turko/Rat, wo ich ausgeführt habe, dass grundsätzlich alle Rechtsgutachten der Juristischen Dienste der Organe vertraulich zu behandeln seien.


    17– Urteil des Gerichtshofs in dieser Rechtssache, Randnr. 64.


    18
                                                                          
    Nchamihigo, Decision on Prosecution Motion on the Filing of the Defence Notice of Appeal vom 30. März 2009, ICTR-2001-63-A.


    19 – ICC Rules of Procedure and Evidence ICC‑ASP/1/3, Art. 15; http://www.icc-cpi.int/Menus/ICC/Situations+and+Cases/ Cases/.


    20 – Im Streitbeilegungssystem der WTO sind die Schriftsätze der Parteien zwar vertraulich (Art. 18 Abs. 2 der Vereinbarung über Regeln und Verfahren für die Streitbeilegung); in den Berichten des Panels und des Berufungsgremiums wird das Vorbringen der Parteien allerdings sehr ausführlich beschrieben, und die Schriftsätze werden sehr oft einfach beigefügt oder abgedruckt. Den Parteien steht es jedoch frei, ihre Schriftsätze der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wenn sie dies wünschen, vgl. W. Davey, „Proposals for Improving the Working Procedures of WTO Dispute Settlement Panels“ in The WTO Dispute Settlement System 1995-2003, F. Ortino & E. U. Petersmann (Hrsg.), Band 18, Studies in Transnational Economic Law, Kluwer (2004), S. 20


    21 – Der verstorbene Chief Justice of the United States Supreme Court Willliam H. Rehnquist (Constitutional Law and Public Opinion [1986] 20 Suffolk U. L. Rev. 751) hat außerdem festgestellt, dass Richter unausweichlich durch die öffentliche Meinung beeinflusst würden, dass sich dies aber positiv auswirken und zu „großen“ Urteilen führen könne.


    22 – Vgl. z. B. Federal Rules of Civil Procedure 5.2 (zu personenbezogenen Angaben wie Sozialversicherungsnummern und Bankkontonummern); Federal Rules of Evidence 412(c)(2) (zu Beweisen für Sexualverhalten von Vergewaltigungsopfern in der Vergangenheit).


    23 –      Federal Rule of Civil Procedure, 5.2(e).


    24 – Für weitere Informationen vgl. http://pacer.psc.uscourts.gov/pacerdesc.html.


    25 – Vermerk des Wissenschaftlichen Dienstes 2/126.


    26 – N. MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, Clarendon Press Oxford, 1978, S. 14.


    27 – Zu einem damit zusammenhängenden Argument bezüglich der Offenheit in Gesetzgebungsverfahren vgl. Urteil Turco, Randnr. 46.


    28 – Selbst wenn die Schlussanträge der Generalanwälte gelegentlich eine im Gerichtshof vertretene abweichende Meinung widerspiegeln.


    29 – Die Schlussanträge der Generalanwälte enthalten bisweilen zusätzliche Informationen, sie sind aber nicht dazu bestimmt, diese Funktion zu erfüllen (und sollten dies auch nicht tun).

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