Conclusions
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
ANTONIO TIZZANO
vom 10. März 2005(1)
Rechtssache C-433/03
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
gegen
Bundesrepublik Deutschland
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Binnenschifffahrt – Internationale Abkommen – Ausschließliche Außenkompetenz der Gemeinschaft – Voraussetzungen – Artikel 10 EG“
I – Einleitung
1.
In der vorliegenden Rechtssache hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften den Gerichtshof mit einer Klage nach Artikel
226 EG auf Feststellung befasst, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 10 EG und der
Verordnung (EWG) Nr. 3921/91 des Rates vom 16. Dezember 1991 über die Bedingungen für die Zulassung von Verkehrsunternehmen
zum Binnenschiffsgüter‑ und -personenverkehr innerhalb eines Mitgliedstaats, in dem sie nicht ansässig sind (im Folgenden:
Verordnung Nr. 3921/91)
(2)
, verstoßen hat, indem sie mit Rumänien, Polen und der Ukraine einseitig bilaterale Abkommen über die Binnenschifffahrt ausgehandelt,
abgeschlossen, ratifiziert und umgesetzt hat. Die Kommission wirft Deutschland weiter vor, es habe die Verordnung (EG) Nr.
1356/96 des Rates vom 8. Juli 1996 über gemeinsame Regeln zur Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit im Binnenschiffsgüter‑
und -personenverkehr zwischen Mitgliedstaaten (im Folgenden: Verordnung Nr. 1356/96)
(3)
verletzt, indem es sich geweigert hat, die genannten bilateralen Abkommen und analoge geschlossene Abkommen mit Ungarn und
der Tschechoslowakei zu kündigen, die alle mit der Verordnung Nr. 1356/96 unvereinbar seien.
II – Rechtlicher Rahmen
A –
Gemeinschaftsrecht
1. Die Bestimmungen des Vertrages
2.
Für die vorliegende Rechtssache ist zunächst auf Artikel 10 EG hinzuweisen, der bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen,
die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben. Sie erleichtern dieser die Erfüllung
ihrer Aufgabe.
Sie unterlassen alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrags gefährden könnten.“
3.
Weiter ist zu erinnern an verschiedene Bestimmungen des Titels V des EG‑Vertrags über den Verkehr, also den in der vorliegenden
Rechtssache fraglichen Bereich, insbesondere an Artikel 70 EG, wonach die Mitgliedstaaten „[a]uf dem in diesem Titel geregelten
Sachgebiet … die Ziele [des] Vertrages im Rahmen einer gemeinsamen Verkehrspolitik [verfolgen]“.
4.
Zur Durchführung der gemeinsamen Verkehrspolitik wird der Rat laut Artikel 71 Absatz 1 EG „gemäß dem Verfahren des Artikels
251 und nach Anhörung des Wirtschafts‑ und Sozialausschusses sowie des Ausschusses der Regionen[
(4)
]
- a)
- für den internationalen Verkehr aus oder nach dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats oder für den Durchgangsverkehr durch
das Hoheitsgebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gemeinsame Regeln aufstellen;
- b)
- für die Zulassung von Verkehrsunternehmern zum Verkehr innerhalb eines Mitgliedstaats, in dem sie nicht ansässig sind, die
Bedingungen festlegen;
- c)
- Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit erlassen;
- d)
- alle sonstigen zweckdienlichen Vorschriften erlassen“.
5.
Artikel 80 Absatz 1 EG bestimmt weiter, dass der Titel V „für die Beförderungen im Eisenbahn‑, Straßen‑ und Binnenschiffsverkehr
[gilt]“.
2. Die Verordnungen Nrn. 3921/91 und 1356/96
6.
Zur Durchführung der gemeinsamen Verkehrspolitik im Bereich der Binnenschifffahrt erließ der Rat die in der vorliegenden Rechtssache
einschlägigen Verordnungen Nrn. 3921/91 und 1356/96.
7.
Die Verordnung Nr. 3921/91 dient der Beseitigung aller Beschränkungen für Erbringer von Dienstleistungen aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit
oder des Umstandes, dass sie in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen sind als dem, in dem die Dienstleistung erbracht
werden soll. Gemäß dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz soll mit der Verordnung nichtansässigen Verkehrsunternehmen
die Durchführung innerstaatlicher Güter- oder Personenbeförderungen auf Wasserstraßen unter denselben Bedingungen gestattet
werden, wie sie der betreffende Mitgliedstaat seinen eigenen Verkehrsunternehmen vorschreibt.
8.
Insbesondere wurde mit der Verordnung den Unternehmern des Güter‑ und Personenverkehrs ab 1. Januar 1993 die Möglichkeit eröffnet,
in einem Mitgliedstaat, in dem sie nicht niedergelassen sind, vorübergehend für Dritte innerstaatliche Verkehrsdienstleistungen
zu erbringen (so genannte „Kabotage“), soweit bestimmte Voraussetzungen hinsichtlich des Dienstleistenden und der von ihm
eingesetzten Schiffe erfüllt sind.
9.
Was die für den Dienstleistenden selbst geltenden Voraussetzungen anbelangt, so kann nach Artikel 1 der Verordnung Nr. 3921/91
die Kabotage in einem Mitgliedstaat von jedem Unternehmer durchgeführt werden, der in einem Mitgliedstaat in Übereinstimmung
mit dessen Rechtsvorschriften niedergelassen und dort für den grenzüberschreitenden Güter‑ und Personenverkehr in der Binnenschifffahrt
zugelassen ist.
10.
Was die für die Schiffe geltenden Voraussetzungen angeht, so müssen sich diese nach Artikel 2 Absatz 1 im Eigentum von natürlichen
Personen, die ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben und Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind, oder juristischer
Personen befinden, die ihren Sitz in einem Mitgliedstaat haben und mehrheitlich Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten gehören.
11.
Nach Artikel 6 der Verordnung Nr. 3921/91 schließlich berühren deren Bestimmungen „nicht die aufgrund der Revidierten Rheinschifffahrtsakte
(Mannheimer Akte) bestehenden Rechte“
(5)
.
12.
Die Verordnung Nr. 1356/96 bezweckt die Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit im Binnenschiffsgüter‑ und -personenverkehr
zwischen Mitgliedstaaten. Ebenso wie die Verordnung Nr. 3921/91 zielt die Verordnung Nr. 1356/96 daher auf die Aufhebung aller
Beschränkungen, die mit der Staatsangehörigkeit des Dienstleistenden oder damit zusammenhängen, dass er in einem anderen Mitgliedstaat
als dem Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung erbracht werden soll, niedergelassen ist.
13.
Nach der ersten Begründungserwägung der Verordnung Nr. 1356/96 erfordert „[d]ie Schaffung einer gemeinsamen Verkehrspolitik
… unter anderem die Aufstellung gemeinsamer Regeln für den Zugang zum grenzüberschreitenden Binnenschiffsgüter‑ und -personenverkehr
im Gebiet der Gemeinschaft. Diese Regeln müssen so gestaltet sein, dass sie zur Vollendung des Binnenmarktes im Verkehr beitragen“.
14.
In der dritten Begründungserwägung der Verordnung wird darauf hingewiesen, dass seit dem Beitritt neuer Mitgliedstaaten aufgrund
bilateraler Abkommen zwischen einzelnen Mitgliedstaaten und neuen Beitrittsstaaten nicht mehr für alle Mitgliedstaaten dieselben
Regeln gelten, weshalb „gemeinsame Regeln aufgestellt werden [mussten], um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts
im Verkehr zu gewährleisten und insbesondere Wettbewerbsverzerrungen und Störungen der betreffenden Marktordnung zu vermeiden“.
15.
Nach den Artikeln 1 und 2 der Verordnung Nr. 1356/96 wird ein Binnenschifffahrtsunternehmer zum Binnenschiffsgüter‑ und -personenverkehr
zwischen Mitgliedstaaten und zum Durchgangsverkehr durch Mitgliedstaaten ohne Diskriminierung aufgrund seiner Staatsangehörigkeit
und seines Niederlassungsortes zugelassen, sofern er in einem Mitgliedstaat in Übereinstimmung mit dessen Rechtsvorschriften
niedergelassen und dort zur Durchführung von grenzüberschreitenden Güter‑ und Personenbeförderungen in der Binnenschifffahrt
befugt ist, weiterhin Binnenschiffe einsetzt, die in einem Mitgliedstaat eingetragen sind oder für die eine Bescheinigung
über die Zugehörigkeit zur Flotte eines Mitgliedstaats vorliegt, und schließlich die Bedingungen gemäß Artikel 2 der Verordnung
Nr. 3921/91 (vgl. oben, Nr. 10) erfüllt.
16.
Nach Artikel 3 der Verordnung Nr. 1356/96 bleiben von deren Bestimmungen „[d]ie Rechte, die sich für die Verkehrsunternehmer
aus Drittstaaten aus der Revidierten Rheinschifffahrtsakte (Mannheimer Akte) und aus dem Übereinkommen über die Regelung der
Schifffahrt auf der Donau (Belgrader Übereinkommen)[
(6)
] ergeben, … ebenso unberührt wie die internationalen Verpflichtungen, die die Gemeinschaft eingegangen ist“.
3. Das Vorhaben eines multilateralen Abkommens zwischen der Gemeinschaft und verschiedenen Drittländern
17.
Am 7. Dezember 1992 erließ der Rat nach Artikel 228 Absatz 1 EWG‑Vertrag (nach Änderung Artikel 228 Absatz 1 EG‑Vertrag, nach
erneuter Änderung jetzt Artikel 300 Absatz 1 EG) einen Beschluss, mit dem er die Kommission ermächtigte, „ein Abkommen zwischen
der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Polen und Vertragsstaaten der Donaukonvention (Ungarn, Tschechoslowakei, Rumänien,
Bulgarien, ehemalige UdSSR, ehemaliges Jugoslawien und Österreich) auszuhandeln“
(7)
. Das generelle Ziel der Verhandlungen war der Abschluss eines multilateralen Abkommens zwischen der Gemeinschaft und den
genannten Ländern über Regeln für die Beförderung von Fracht und Passagieren im Binnenschiffsverkehr zwischen den Vertragsparteien.
Insbesondere wurde angestrebt, ein leistungsfähiges gesamteuropäisches Verkehrsnetz der Binnenschifffahrt zu schaffen, um,
besonders nach der Eröffnung des Rhein‑Main‑Donau‑Kanals im Jahr 1992, Engpässe in den Ost‑West‑Verkehrsnetzen zu reduzieren.
18.
Im Anschluss an diese Verhandlungen unterbreitete die Kommission dem Rat am 13. Dezember 1996 einen Vorschlag für einen Beschluss
über den Abschluss eines Abkommens zur Festlegung von Bedingungen für den Binnenschiffsgüter‑ und -personenverkehr zwischen
der Europäischen Gemeinschaft einerseits und der Tschechischen Republik, der Republik Polen und der Slowakischen Republik
andererseits
(8)
.
19.
Dieser Beschlussvorschlag wurde vom Rat nicht angenommen.
B –
Die in Frage stehenden bilateralen Abkommen
20.
Der Binnenschiffsgüter‑ und -personenverkehr ist, neben der vorgenannten gemeinschaftlichen Initiative, im hier fraglichen
Zusammenhang Gegenstand mehrerer bilateraler Abkommen zwischen Deutschland und folgenden Ländern:
- –
- Ungarn (Abkommen unterzeichnet am 15. Januar 1988, ratifiziert durch Gesetz vom 14. Dezember 1989
(9)
und in Kraft getreten am 2. Februar 1990),
- –
- Tschechoslowakei (Abkommen unterzeichnet am 26. Januar 1988, ratifiziert durch Gesetz vom 14. Dezember 1989
(10)
und in Kraft getreten am 4. Mai 1990),
- –
- Rumänien (Abkommen unterzeichnet am 22. Oktober 1991, ratifiziert durch Gesetz vom 19. April 1993
(11)
und in Kraft getreten am 9. Juli 1993),
- –
- Polen (Abkommen unterzeichnet am 8. November 1991, ratifiziert durch Gesetz vom 19. April 1993
(12)
und in Kraft getreten am 1. November 1993) und
- –
- Ukraine (Abkommen unterzeichnet am 14. Juli 1992, ratifiziert durch Gesetz vom 2. Februar 1994
(13)
und in Kraft getreten am 1. Juli 1994).
21.
Diese bilateralen Abkommen regeln den Zugang von Schiffen eines Vertragsstaats zu den Wasserstraßen der anderen Vertragspartei
für den Personen‑ und Güterverkehr.
22.
Nach den Abkommen können die Behörden eines Vertragsstaats den Schiffen der anderen Vertragsparteien insbesondere die Genehmigung
für Leistungen des Personen‑ oder Güterverkehrs zwischen verschiedenen Häfen im erstgenannten Staat (also für die Kabotage)
sowie zwischen diesen Häfen und Häfen in Drittländern erteilen.
III – Sachverhalt und Verfahren
23.
Nachdem der Rat am 7. Dezember 1992 den genannten Beschluss erlassen hatte, mit dem er die Ermächtigung zur Aushandlung eines
multilateralen Binnenschifffahrtsabkommens erteilte (vgl. oben, Nr. 17), forderte die Kommission mit Schreiben vom 20. April
1993 verschiedene Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, dazu auf, sich jeglicher Maßnahmen zu enthalten, die den reibungslosen
Ablauf der auf Gemeinschaftsebene aufgenommenen Verhandlungen beeinträchtigen könnten, insbesondere auf die Ratifizierung
schon paraphierter oder unterzeichneter Abkommen sowie die Aufnahme neuer Verhandlungen mit Ländern Mittel‑ und Osteuropas
auf dem Gebiet der Binnenschifffahrt zu verzichten.
24.
Ausgehend von der Feststellung, dass Deutschland die bilateralen Abkommen mit Rumänien, Polen und der Ukraine nach Versendung
dieses Schreibens vom 20. April 1993 geschlossen habe, forderte die Kommission mit Mahnschreiben vom 10. April 1995 Deutschland
auf, diese Abkommen zu kündigen.
25.
In ihrem Antwortschreiben vom 23. Juni 1995 wies die deutsche Regierung darauf hin, dass die Abkommen mit Rumänien, Polen
und der Ukraine bereits vor dem Beschluss des Rates über die Ermächtigung zu Verhandlungen unterzeichnet worden seien und
dass die Kommission, der die Vertragsentwürfe mitgeteilt worden seien, hiergegen keine grundsätzlichen Einwände erhoben habe.
Angesichts des ungewissen Ausgangs der auf Gemeinschaftsebene aufgenommenen Verhandlungen hätte die von der Kommission gewünschte
Verhaltensweise überdies in den Beziehungen der Binnenschifffahrt zu den fraglichen Drittländern ein unvertretbares rechtliches
Vakuum entstehen lassen. Die deutsche Regierung sei bereit, die in Frage stehenden Abkommen zu kündigen, sobald ein Abkommen
auf Gemeinschaftsebene geschlossen worden sei; auf Ersuchen der Kommission nach Notifizierung der Vertragsentwürfe sei überdies
die Kündigungsfrist für die Abkommen auf jeweils sechs Monate verkürzt worden.
26.
Mit einem zusätzlichen Mahnschreiben vom 24. November 1998 legte die Kommission der deutschen Regierung zur Last, sie habe
gegen ihre Verpflichtungen aus der Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Außenbeziehungen
verstoßen, da die mit Rumänien, Polen und der Ukraine geschlossenen bilateralen Abkommen die ausschließliche Gemeinschaftszuständigkeit
für die Binnenschifffahrt beeinträchtigten, die der Gemeinschaft nach der AETR‑Rechtsprechung
(14)
seit dem Erlass der Verordnung Nr. 3921/91 zustehe. Die Abkommen mit Rumänien, Polen und der Ukraine sowie die Abkommen mit
Ungarn und der Tschechoslowakei seien außerdem unvereinbar mit der Verordnung Nr. 1356/96.
27.
Da die deutsche Regierung in ihrem Antwortschreiben vom 26. Februar 1999 das Vorliegen eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht
bestritt, übersandte ihr die Kommission am 28. Februar 2000 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie Deutschland
zur Last legte, es habe dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 10 EG und den Verordnungen Nrn. 3921/91 und 1356/96
verstoßen, dass es mit Rumänien, Polen und der Ukraine individuell bilaterale Abkommen über die Binnenschifffahrt ausgehandelt,
abgeschlossen, ratifiziert, umgesetzt und sich überdies geweigert habe, diese zu kündigen. Weiterhin habe Deutschland durch
seine Weigerung, die bilateralen Abkommen mit Ungarn und der Tschechoslowakei zu kündigen, seine Verpflichtungen aus der Verordnung
Nr. 1356/96 verletzt.
28.
In der mit Gründen versehenen Stellungnahme gab die Kommission der Bundesrepublik Deutschland auf, innerhalb einer Frist von
zwei Monaten (also bis 28. April 2000) der Stellungnahme nachzukommen.
29.
In ihrem Antwortschreiben vom 11. Mai 2000 bekräftigte die deutsche Regierung ihre Auffassung, dass die bilateralen Abkommen
nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstießen und daher nicht zu kündigen seien.
30.
Daraufhin hat die Kommission am 10. Oktober 2003 die vorliegende Klage erhoben.
31.
Nach Durchführung des schriftlichen Verfahrens hat der Gerichtshof, da keine Partei ihre Anhörung in der mündlichen Verhandlung
beantragt hat, gemäß Artikel 44a der Verfahrensordnung beschlossen, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.
IV – Rechtliche Prüfung
A –
Zur Zulässigkeit
32.
Vor der Prüfung der von der Kommission erhobenen Rügen möchte ich die von der deutschen Regierung geltend gemachten Unzulässigkeitseinreden
ausräumen, die mir offensichtlich unbegründet erscheinen.
33.
So trägt die deutsche Regierung erstens vor, die Klage sei unzulässig, soweit sie die bilateralen Abkommen mit Ungarn und
der Tschechoslowakei betreffe, denn diese seien in der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht behandelt worden; die Stellungnahme
sei vielmehr auf die Abkommen mit Rumänien, Polen und der Ukraine beschränkt worden.
34.
Für die Zurückweisung dieser Einrede genügt bereits der Hinweis, dass die Kommission, wie die bloße Lektüre der mit Gründen
versehenen Stellungnahme zweifelsfrei ergibt, im Zusammenhang mit dem Verstoß gegen die Verordnung Nr. 1356/96 (d. h. der
einzigen Rüge, die in der Klageschrift hinsichtlich der Abkommen mit Ungarn und der Tschechoslowakei vorgebracht wird) alle
fünf Abkommen in ihre Prüfung einbezogen hat.
35.
Die deutsche Regierung hält die Klage zweitens deshalb für unzulässig, weil in ihr umfassend auf die „Open Skies“‑Rechtsprechung
(15)
Bezug genommen werde. Diese Rechtsprechung sei aber erst nach Abschluss der vorgerichtlichen Phase des vorliegenden Verfahrens
ergangen, so dass die Kommission eine neue mit Gründen versehene Stellungnahme hätte erlassen müssen, um darin den neuen rechtlichen
Rahmen darzulegen, in den sich die behaupteten Verstöße einfügten.
36.
Bei genauerer Betrachtung beschränkt sich die „Open Skies“‑Rechtsprechung jedoch auf eine nähere Ausformung der die ausschließliche
Außenzuständigkeit der Gemeinschaft betreffenden Grundsätze, die bereits seit dem AETR‑Urteil anerkannt sind. Daher lässt
sich nicht sagen, dass die von der Kommission aus dieser Rechtsprechung hergeleitete Argumentation eine neue Rüge gegenüber
den bereits im vorgerichtlichen Verfahren erhobenen Rügen bildete.
37.
Die deutsche Regierung beantragt weiterhin, die Klage für erledigt zu erklären, soweit sie Abkommen Deutschlands mit Staaten
betrifft, die am 1. Mai 2004 Mitglieder der Europäischen Union geworden sind.
38.
Insoweit ist nur auf die ständige Rechtsprechung zu verweisen, wonach „das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Lage
zu beurteilen [ist], in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme
gesetzt wurde; später eingetretene Veränderungen kann der Gerichtshof nicht berücksichtigen“
(16)
.
39.
Wie erwähnt, lief die hier in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzte Frist bereits am 28. April 2000 aus, also
gut vier Jahre vor Erweiterung der Europäischen Union.
40.
Vorbehaltlich der unten in Nummer 63 enthaltenen Einschränkung ist die Klage daher meiner Auffassung nach zulässig.
B –
Zur Begründetheit der Rügen
1. Vorbemerkung
41.
In ihrer Klageschrift bringt die Kommission drei Rügen vor, mit denen sie beanstandet, Deutschland habe erstens die ausschließliche
Kompetenz der Gemeinschaft für den Abschluss internationaler Abkommen über die Binnenschifffahrt, zweitens Artikel 10 EG und
drittens die Verordnung Nr. 1356/96 verletzt.
42.
Es sei vorausgeschickt, dass die gleichen Rügen zuvor gegen das Großherzogtum Luxemburg erhoben worden sind, das ebenfalls
Abkommen mit Drittstaaten in dem fraglichen Bereich geschlossen hatte. In jener, derzeit beim Gerichtshof noch anhängigen
Rechtssache
(17)
hat Generalanwalt Léger seine Schlussanträge am 25. November 2004 verlesen. Da ich mich diesen Schlussanträgen in der Sache
anschließen möchte, werde ich mich weitgehend auf die dort entwickelten Argumente beziehen.
2. Zur ersten Rüge
43.
Mit dieser Rüge legt die Kommission, wie erwähnt, der Bundesrepublik Deutschland zur Last, sie habe die ausschließliche Zuständigkeit
der Gemeinschaft zum Abschluss internationaler Abkommen über die Binnenschifffahrt verletzt, so wie diese nach den Grundsätzen
bestehe, die der Gerichtshof seit dem AETR-Urteil herausgearbeitet habe.
44.
Die Kommission ist insbesondere der Auffassung, dass die bilateralen Abkommen mit Rumänien, Polen und der Ukraine, speziell
deren Regelung (Artikel 6), wonach die nationalen Behörden die Unternehmer der beteiligten Drittländer zur Kabotage in Deutschland
zulassen können, gegen die gemeinschaftliche Regelung der Verordnung Nr. 3921/91 verstießen, durch die die für die Kabotage
in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft geltenden Voraussetzungen seit 1. Januar 1993 abschließend harmonisiert worden seien.
Indem sich die deutsche Regierung die Befugnis vorbehalten habe, Unternehmern von Drittländern einseitig Zugangsrechte zum
gemeinschaftlichen Verkehrsnetz zu gewähren, habe sie die ausschließliche Außenkompetenz der Gemeinschaft verletzt.
45.
Unter Bezugnahme auf die „Open Skies“-Urteile hebt die Kommission hervor, dass die Verordnung Nr. 3921/91 nicht nur die Unternehmer
der Gemeinschaft betreffe, sondern auch die von Drittländern. Dies bestätige Artikel 6 der Verordnung, der im Hinblick auf
die Mannheimer Akte die Zugangsrechte der schweizerischen Unternehmer anerkenne.
46.
Die vorliegende Rüge kann meiner Auffassung nach nicht durchgreifen, und zwar aus den Gründen, die Generalanwalt Léger in
den Nummern 46 bis 63 seiner genannten Schlussanträge bereits eingehend dargelegt hat; daher kann ich mich hier darauf beschränken,
nur die grundlegenden Darlegungen aus diesen Schlussanträgen in Erinnerung zu bringen.
47.
So möchte ich zunächst daran erinnern, dass nach der bekannten Rechtsprechung des Gerichtshofes, insbesondere nach dem schon
mehrfach genannten AETR-Urteil, eine ausschließliche Außenkompetenz der Gemeinschaft, soweit sie nicht ausdrücklich in Rechtsnormen
vorgesehen ist, stillschweigend „in allen Fällen [entstehen kann], in denen von der internen Zuständigkeit bereits Gebrauch
gemacht worden ist, um Maßnahmen zur Verwirklichung einer gemeinsamen Politik zu treffen“
(18)
.
48.
So sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes „in den Bereichen, in denen die Gemeinschaft zur Verwirklichung einer vom
Vertrag vorgesehenen gemeinsamen Politik Vorschriften erlassen hat, die in irgendeiner Form gemeinsame Rechtsnormen vorsehen,
... die Mitgliedstaaten weder einzeln noch selbst gemeinsam handelnd berechtigt, mit dritten Staaten Verpflichtungen einzugehen,
die diese Normen
beeinträchtigen“ . Denn „[i]n dem Maße, wie diese Gemeinschaftsrechtsetzung fortschreitet, kann nur die Gemeinschaft mit Wirkung für den gesamten
Geltungsbereich der Gemeinschaftsrechtsordnung vertragliche Verpflichtungen gegenüber dritten Staaten übernehmen und erfüllen“
(19)
.
49.
Diese in Frage stehende „Beeinträchtigung“ hat der Gerichtshof bei verschiedenen Gelegenheiten näher erläutert, zuletzt in
den „Open Skies“-Urteilen, in denen er klargestellt hat, dass sie keinen Widerspruch zwischen den einseitig von den Mitgliedstaaten
eingegangenen internationalen Verpflichtungen und dem Gemeinschaftsrecht voraussetzt; sie tritt vielmehr schon dann ein, wenn
diese „völkerrechtlichen Verpflichtungen in den Anwendungsbereich der gemeinsamen Rechtsnormen fallen ... oder jedenfalls
ein Gebiet erfassen, das bereits weitgehend von solchen Rechtsnormen erfasst ist“
(20)
.
50.
Daraus folgt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes weiter, dass die Gemeinschaft, wenn sie „in ihre internen Rechtsetzungsakte
Klauseln über die Behandlung der Angehörigen von Drittstaaten aufgenommen oder ... sie ihren Organen ausdrücklich eine Zuständigkeit
zu Verhandlungen mit Drittstaaten übertragen [hat], ... eine ausschließliche Außenkompetenz nach Maßgabe des von diesen Rechtsakten
erfassten Bereichs [erwirbt]“
(21)
.
51.
Aber „[d]ies gilt – selbst in Ermangelung einer ausdrücklichen Klausel, mit der die Organe zu Verhandlungen mit Drittstaaten
ermächtigt werden – auch dann, wenn die Gemeinschaft eine vollständige Harmonisierung auf einem bestimmten Gebiet verwirklicht
hat, denn die insoweit erlassenen gemeinsamen Rechtsnormen könnten im Sinne des [AETR-Urteils] beeinträchtigt werden, wenn
die Mitgliedstaaten die Freiheit zu Verhandlungen mit Drittstaaten behielten“
(22)
.
52.
Im vorliegenden Fall jedoch scheint mir die Verordnung Nr. 3921/91, wie Generalanwalt Léger in seinen genannten Schlussanträgen
und die deutsche Regierung in der vorliegenden Rechtssache ausgeführt haben, keinerlei Klausel zu enthalten, die die Behandlung
der Unternehmer von Drittländern festlegt.
53.
Wie oben dargelegt, regelt die Verordnung nämlich nur die Voraussetzungen für die Zulassung von (gemeinschaftlichen) nichtansässigen
Unternehmern zum Güter- oder Personenverkehr in der Binnenschifffahrt eines Mitgliedstaats. Es handelt sich um Bestimmungen
nur für solche Unternehmer, die in einem Mitgliedstaat niedergelassen sind und Schiffe einsetzen, die entweder natürlichen
Personen mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat und der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats oder juristischen Personen mit
Sitz in einem Mitgliedstaat gehören, die ihrerseits mehrheitlich im Eigentum von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten stehen.
54.
Folglich können die hier fraglichen bilateralen Abkommen über die Behandlung von Unternehmern der beteiligten Drittländer
die Bestimmungen der Verordnung Nr. 3921/91, die nur die Unternehmer der Gemeinschaft betreffen, nicht im Sinne der zitierten
Rechtsprechung des Gerichtshofes beeinträchtigen.
55.
Wie der Gerichtshof im Übrigen in seiner „Open Skies“-Rechtsprechung angemerkt hat, zeigt schon der Umstand, dass die Verordnung
die Lage der Unternehmer von Drittstaaten, die innerhalb der Gemeinschaft tätig sind, gerade nicht regelt, dass die mit der
Verordnung durchgeführte Harmonisierung nicht vollständig ist
(23)
.
56.
Da somit im hier fraglichen Bereich keine gemeinsamen Rechtsnormen bestehen, deren Anwendung durch etwaige von den Mitgliedstaaten
eigenständig geschlossene Abkommen beeinträchtigt werden könnten, kann die Kommission im vorliegenden Fall keine ausschließliche
Außenkompetenz im Sinne der AETR-Rechtsprechung in Anspruch nehmen.
57.
Folglich können die Aushandlung, der Abschluss, die Ratifizierung und das Inkrafttreten der bilateralen Abkommen zwischen
Deutschland einerseits und Rumänien, Polen und der Ukraine andererseits keine Verletzung der ausschließlichen Außenkompetenz
der Gemeinschaft darstellen.
58.
Meiner Auffassung nach ist daher die erste Rüge als unbegründet zurückzuweisen.
3. Zur zweiten Rüge
59.
Mit dieser Rüge legt die Kommission Deutschland zur Last, es habe gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 10 EG verstoßen,
indem es, nachdem der Rat die Kommission zur Aushandlung eines Abkommens im Namen der Gemeinschaft ermächtigt habe, die bilateralen
Abkommen mit Rumänien, Polen und der Ukraine ratifiziert und angewandt und so die Durchführung des Beschlusses des Rates gefährdet
habe.
60.
Sowohl die Aushandlung als auch der Abschluss eines Abkommens durch die Gemeinschaft seien gefährdet, wenn einseitig die Initiativen
eines Mitgliedstaats dazwischenträten. Vor allem werde die Verhandlungsposition der Kommission gegenüber Drittländern geschwächt,
wenn die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten uneinheitlich aufträten.
61.
Gerade um solche Konsequenzen zu vermeiden, habe sie verschiedene Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, mit Schreiben vom
20. April 1993 aufgefordert, sich jeder Initiative zu enthalten, die den ungestörten Verlauf der aufgenommenen Verhandlungen
auf Gemeinschaftsebene beeinträchtigen könnte, und in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Ratifizierung bereits paraphierter
oder unterzeichneter bilateraler Abkommen sowie auf die Aufnahme neuer Verhandlungen mit Ländern Zentral- und Osteuropas im
Bereich der Binnenschifffahrt zu verzichten.
62.
In ihrer Erwiderung hat die Kommission hinzugefügt, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen Artikel 10 EG auch durch das
Abkommen mit der Tschechoslowakei verstoßen habe, da sie dieses im Jahr 1993, also nach dem Beschluss des Rates, auf die Tschechische
Republik und die Slowakei „umgeschrieben“
(24)
habe.
63.
Ich möchte gleich sagen, dass ich dies für eine neue und verschiedene Rüge im Verhältnis zu den Rügen halte, die im vorgerichtlichen
Verfahren und in der Klageschrift erhoben worden sind. Ich halte diese Rüge daher für unzulässig.
64.
Die deutsche Regierung macht in diesem Zusammenhang vor allem geltend, dass die Erteilung des Verhandlungsmandats durch den
Rat als solche den Mitgliedstaaten noch keine „Stand-still“-Verpflichtung auferlegen könne, weil dies darauf hinausliefe,
der Gemeinschaft auch dann eine ausschließliche Außenkompetenz zuzuerkennen, wenn die erforderlichen Voraussetzungen im Sinne
der „Open Skies“‑Rechtsprechung nicht erfüllt seien.
65.
Nach Auffassung der deutschen Regierung würde es außerdem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzen, wenn sich bereits
die Erteilung des Verhandlungsmandats durch den Rat dahin auswirkte, dass die Mitgliedstaaten am Abschluss von bilateralen
Abkommen gehindert wären, bis möglicherweise ein Abkommen auf Gemeinschaftsebene geschlossen werde. Statt das Tätigwerden
der Mitgliedstaaten zu unterbinden, seien die Gemeinschaftsorgane, wie der Gerichtshof in den „Open Skies“‑Urteilen
(25)
ausgeführt habe, gehalten, „im Rahmen der von ihnen erlassenen gemeinsamen Vorschriften konzertierte Aktionen gegenüber Drittländern
vorzusehen oder den Mitgliedstaaten ein bestimmtes Verhalten in ihren Außenbeziehungen vorzuschreiben“.
66.
Jedenfalls habe die deutsche Regierung keine andere Wahl gehabt, denn wären die bilateralen Abkommen nicht geschlossen worden,
so wäre hinsichtlich der Bedingungen des Zugangs der rumänischen, polnischen und ukrainischen Unternehmer zu den deutschen
Wasserstraßen (und umgekehrt) bis zum etwaigen – und alles andere als sicheren – Abschluss eines Abkommens auf Gemeinschaftsebene
eine Art rechtliches Vakuum entstanden.
67.
Gerade um jede Beeinträchtigung der gemeinschaftlichen Initiative zu vermeiden, habe Deutschland der Kommission jede denkbare
Kooperation angeboten. So habe Deutschland i) während der Aushandlung der Abkommen die Kommission konsultiert, ii) sich verpflichtet
– und dies seinen Vertragspartnern auch mitgeteilt –, die bilateralen Abkommen zu kündigen, sobald der Gemeinschaft der Abschluss
ihres eigenen Abkommens gelänge, und iii) die Kündigungsfrist, wie von der Kommission gewünscht, auf sechs Monate reduziert.
68.
Für die Prüfung dieser Rüge möchte ich zunächst anmerken, dass die Kommission damit das Verhalten der Bundesrepublik Deutschland
von einer anderen Richtung her angreift.
69.
Sie rügt damit nicht mehr eine Verletzung der ausschließlichen Außenkompetenz der Gemeinschaft, sondern einen Verstoß gegen
Artikel 10 EG unter dem Gesichtspunkt des Schadens, den das Verhalten der Bundesrepublik Deutschland für das Tätigwerden der
Gemeinschaft bewirken konnte, nachdem der Rat der Kommission das Verhandlungsmandat erteilt hatte.
70.
Wie daraus folgt, macht die Kommission, anders als die deutsche Regierung befürchtet (und beanstandet), nicht geltend, dass
aus diesem Verhandlungsmandat eine ausschließliche Gemeinschaftszuständigkeit hervorgegangen sei.
71.
Wie gleich zu erörtern sein wird, gilt zwar die in dieser Bestimmung vorgesehene Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit
unabhängig davon, welcher Art die Zuständigkeit der Gemeinschaft in einem bestimmten Bereich ist, und damit offenkundig auch
dann, wenn es sich um eine ausschließliche Zuständigkeit handelt. Dennoch wäre es für die Kommission, wenn es sich tatsächlich
um eine ausschließliche Zuständigkeit handelte, einfacher gewesen, das Verhalten der deutschen Regierung als rechtswidrig
zu beanstanden. Sie hätte dann nämlich, wie sie es im Rahmen der oben geprüften Rüge tatsächlich getan hat, nur geltend zu
machen brauchen, dass sich diese Rechtswidrigkeit bereits daraus ergebe, dass Deutschland die in Frage stehenden Abkommen
unter Verletzung der Gemeinschaftskompetenz geschlossen habe, ohne dass irgendeine konkrete Beeinträchtigung der Wahrnehmung
dieser Zuständigkeit hätte nachgewiesen werden müssen.
72.
Wie ausgeführt, hat die Kommission diese Argumentationslinie jedoch – wie ich meine, zu Recht – nicht verfolgt. Denn eine
ausschließliche Außenkompetenz der Gemeinschaft lässt sich meines Erachtens im vorliegenden Fall nicht statuieren.
73.
Zwar kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes – außer in den oben genannten Fällen (vgl. oben, Nrn. 47 ff.), in denen
interne Zuständigkeiten bereits ausgeübt wurden, um der Durchführung von Gemeinschaftspolitiken dienende Maßnahmen zu erlassen
– eine ausschließliche Außenkompetenz implizit auch dann entstehen, wenn „der Abschluss [einer] völkerrechtlichen Vereinbarung
[durch die Gemeinschaft] …
erforderlich ist, um Ziele des Vertrages zu verwirklichen, die sich durch die Aufstellung autonomer Regeln nicht erreichen lassen“
(26)
.
74.
In diesem Fall allerdings kann die Außenkompetenz der Gemeinschaft, auch wenn sie als „erforderlich“ gilt, aus den Gründen,
die ich in meinen Schlussanträgen in den Rechtssachen „Open Skies“ dargestellt habe, zu einer ausschließlichen Zuständigkeit
erst durch ihre tatsächliche Ausübung werden, weil nämlich nur dann die Übernahme völkerrechtlicher Verpflichtungen in diesem
Bereich durch die Mitgliedstaaten die Verwirklichung des von der Gemeinschaft verfolgten Zieles gefährden könnte, für das
das Abkommen als erforderlich angesehen wurde
(27)
. Andernfalls bleibt die Zuständigkeit eine bloß potenzielle und bleiben die Mitgliedstaaten frei, völkerrechtliche Verpflichtungen
in dem betreffenden Bereich einzugehen, wenn auch unter Beachtung der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit mit den Gemeinschaftsorganen
(28)
.
75.
Indessen lässt sich diese Alternative im vorliegenden Fall weniger eindeutig ausmachen. Denn einerseits wurde noch kein gemeinschaftliches
Abkommen geschlossen, das automatisch eine ausschließliche Gemeinschaftskompetenz hätte entstehen lassen können, andererseits
jedoch hatte der Rat mit seinem Beschluss der Kommission bereits ein entsprechendes Verhandlungsmandat erteilt. Damit stellt
sich die Frage, ob nicht dieser Beschluss selbst als eine konkrete Ausübung der Gemeinschaftskompetenz angesehen werden kann
und damit
bereits als solcher eine ausschließliche Außenkompetenz begründen konnte, oder ob hierfür der tatsächliche Abschluss des Abkommens gemäß Artikel
300 Absatz 2 EG unerlässlich ist.
76.
Insoweit habe ich bereits darauf hingewiesen, dass sich der Gerichtshof in seinem Gutachten 1/76, in dem die vorliegende Fallgestaltung
erstmals geprüft wurde, nicht auf die bloße Aushandlung, sondern auf den
„Abschluss“ und die „
Inkraftsetzung der völkerrechtlichen Vereinbarung“ bezogen hat
(29)
; diese Bezugnahme hat er in späteren Gutachten bestätigt
(30)
.
77.
Ich möchte weiter darauf hinweisen, dass die Aushandlung eines Abkommens auf Gemeinschaftsebene lange Zeit in Anspruch nehmen
und auch einen negativen Ausgang haben kann. Es erschiene überzogen (oder, um die Argumentation der deutschen Regierung aufzugreifen,
in Widerspruch zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit), bei Verzögerungen in den Verhandlungen jedes Tätigwerden eines Mitgliedstaats
auszuschließen, insbesondere wenn es für die Vermeidung eines rechtlichen Vakuums erforderlich ist.
78.
Meines Erachtens bestreitet daher die deutsche Regierung zu Recht, dass im vorliegenden Fall bereits das Verhandlungsmandat
genügen konnte, um eine ausschließliche Außenkompetenz der Gemeinschaft zu begründen, und dies erklärt auch, warum sich die
Kommission darauf beschränkt hat, nur geltend zu machen, dass das Verhalten Deutschlands nach der Erteilung des Verhandlungsmandats
durch den Rat gegen Artikel 10 EG verstoße.
79.
Dies bedeutet aber, wie klarzustellen ist, nicht, dass Artikel 10 EG nicht auch bei der Verletzung einer ausschließlichen
Zuständigkeit geltend gemacht werden könnte. Wie sich nämlich bereits aus dem Wortlaut der Bestimmung ergibt und wie auch
Generalanwalt Léger in der Rechtssache Kommission/Luxemburg in Erinnerung gebracht hat
(31)
, ist der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit allgemein anwendbar und kann daher unabhängig von der Art der in Frage stehenden
Zuständigkeit geltend gemacht werden
(32)
. Ist diese Zuständigkeit jedoch ausschließlicher Art, so ist es natürlich auch ihre Verletzung, die in erster Linie und unmittelbar
gerügt werden kann (wie es die Kommission im Rahmen ihrer ersten Rüge auch getan hat), während die etwaige Geltendmachung
von Artikel 10 EG in diesem Fall nur eine Nebenfolge dieser Rüge ist. Im Rahmen der hier zu prüfenden Rüge macht die Kommission
jedoch, wie erwähnt, allein und eigenständig einen Verstoß gegen Artikel 10 EG geltend.
80.
Damit ist im vorliegenden Fall im Licht von Artikel 10 EG nur zu beurteilen, ob das beanstandete Verhalten Deutschlands (d.
h. die Ratifizierung der vor Erlass des Beschlusses des Rates unterzeichneten bilateralen Abkommen) tatsächlich geeignet war,
die Verwirklichung der von der Gemeinschaft verfolgten und in dem Verhandlungsmandat definierten Ziele zu beeinträchtigen.
81.
Nun bildete dieses Mandat, um die Formulierung des Gerichtshofes aufzugreifen, tatsächlich „den Ausgangspunkt eines abgestimmten
gemeinschaftlichen Vorgehens“
(33)
zur Verwirklichung eines Zieles des Vertrages, hier in Wirklichkeit umso mehr, als es sich nicht nur um einen einfachen Vorschlag
der Kommission handelte, sondern um eine Entscheidung des Rates. Aus diesem „abgestimmten Vorgehen“ folgte somit die Verpflichtung
der Mitgliedstaaten, sich, wie es in Artikel 10 EG heißt, „aller Maßnahmen“ zu enthalten, „welche die Verwirklichung der Ziele
[des] Vertrages gefährden könnten“.
82.
Meines Erachtens ist aber schwer zu bestreiten, dass zu derartigen Maßnahmen auch die Ratifizierung von bilateralen Abkommen
durch einen Mitgliedstaat gerade in einem Bereich gehört, in dem die Gemeinschaft sich anschickt, ein eigenes Abkommen auszuhandeln.
83.
Tatsächlich liegt es auf der Hand, dass eine solche Initiative geeignet ist, ein gemeinsames Tätigwerden, das die Gemeinschaftsorgane
unternehmen wollen, zu beschränken, wenn nicht zu schwächen, und jedenfalls die Organe daran hindert, als Vertreter einer
gemeinsamen Position aller Mitgliedstaaten aufzutreten, ohne dass andererseits eine Gewähr dafür bestünde, dass das von dem
betreffenden Mitgliedstaat geschlossene Abkommen dem gemeinsamen Interesse entspräche und in dem von den Organen gewollten
und beschlossenen Sinne ausfiele. Noch weniger gibt es eine Gewähr dafür, dass die in dem Abkommen dieses Mitgliedstaats vereinbarte
Regelung mit der übereinstimmt, die die Gemeinschaft in dem gemeinsamen Abkommen festlegen möchte.
84.
Ich meine daher, dass die Ratifizierung der bereits unterzeichneten bilateralen Abkommen durch Deutschland in einem Bereich,
der von dem Verhandlungsmandat des Rates abgedeckt war, für sich genommen eine jener Maßnahmen darstellt, „welche die Verwirklichung
der Ziele [des] Vertrages gefährden könnten“.
85.
Wie erwähnt, wendet die deutsche Regierung hiergegen weiter ein, sie habe, da das Gemeinschaftsabkommen noch nicht zustande
gekommen sei, keine andere Wahl als die Ratifizierung der bilateralen Abkommen gehabt, da umgehend Rechtsnormen im Hinblick
auf die Unternehmer der Drittländer hätten erlassen werden müssen.
86.
Dazu ist jedoch anzumerken, dass die Mitgliedstaaten, selbst wenn es sich so verhielte, nach Artikel 10 EG stets nur im Einklang
mit der in dieser Bestimmung niedergelegten Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit handeln dürfen, also alles Denkbare tun
müssen, um zu vermeiden, dass ihr Handeln die Ausübung der Gemeinschaftskompetenzen beeinträchtigt.
87.
Denn wie der Gerichtshof bei anderer Gelegenheit klargestellt hat, verpflichtet die „Notwendigkeit einer geschlossenen völkerrechtlichen
Vertretung der Gemeinschaft“ die Mitgliedstaaten auch bei geteilter Zuständigkeit zwischen ihnen und der Gemeinschaft zu „einer
engen Zusammenarbeit ... sowohl bei der Aushandlung und dem Abschluss eines Übereinkommens wie bei dessen Durchführung“
(34)
. Wie ich bereits in meinen Schlussanträgen in den Rechtssachen „Open Skies“
(35)
hervorgehoben habe, besteht diese Verpflichtung auch dann, wenn die Gemeinschaft aus internen oder externen Gründen nicht
imstande ist, die zur Erreichung der von ihr verfolgten Zwecke erforderlichen Abkommen unmittelbar zu schließen und dies daher
mittels der „Mitgliedstaaten“ tun muss, „die im Interesse der Gemeinschaft gemeinsam handeln“
(36)
. Alles dies gilt offenkundig erst recht, wenn die Gemeinschaftsorgane beschlossen haben, selbst unmittelbar in einem bestimmten
Bereich tätig zu werden.
88.
Auch in einer Situation, wie sie die deutsche Regierung beschreibt, in der die Mitgliedstaaten Schwierigkeiten und Verzögerungen
zu begegnen haben, die sich der Kommission bei der Ausübung ihrer eigenen Zuständigkeit stellen, dürfen sie nur im Einklang
mit der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit handeln und müssen demgemäß jede Beeinträchtigung einer Verwirklichung der von
der Gemeinschaft verfolgten Ziele vermeiden.
89.
Das bedeutet insbesondere, dass sie in enger Zusammenarbeit mit den Gemeinschaftsorganen handeln und die nötigen Initiativen
mit diesen abstimmen müssen. Wie der Gerichtshof ebenfalls klargestellt hat, ist der Mitgliedstaat, der Maßnahmen in einem
Bereich erlassen möchte, in dem auch die Gemeinschaft tätig zu werden beabsichtigt, aber ihre eigene Zuständigkeit noch nicht
voll ausgeübt hat, verpflichtet, „die Billigung der Kommission [einzuholen], die in allen Phasen des Verfahrens zu konsultieren
ist“
(37)
.
90.
Dies ist meiner Auffassung nach im vorliegenden Fall nicht geschehen. Denn was die Handlungen anbelangt, die nach dem Beschluss
des Rates über die Erteilung des Verhandlungsmandats vorgenommen wurden, so hat Deutschland die Kommission zu ihnen nicht
mehr konsultiert.
91.
Die gesamte Kooperation, auf deren Erbringung sich Deutschland beruft (vgl. oben, Nr. 67), fällt chronologisch in Wirklichkeit
in die Phase der Aushandlung und Unterzeichnung der Abkommen und damit in die Zeit
vor dem Beschluss des Rates.
92.
Der Erlass dieses Beschlusses bewirkte jedoch, wie aufgezeigt, eine tiefgreifende Veränderung des rechtlichen Rahmens, in
den sich die fraglichen Abkommen einfügten, und hätte vor deren Ratifizierung eine neue und engere Phase der Zusammenarbeit
mit der Kommission erforderlich gemacht.
93.
Dem kann nicht, wie es Deutschland tut, entgegengehalten werden, dass die Kommission im Zeitpunkt der Unterzeichnung der bilateralen
Abkommen keine Einwände erhoben hatte. Bereits was die Abkommen mit Rumänien und Polen angeht, konnte nicht sicher davon ausgegangen
werden, dass die Kommission nach dem Erlass des Beschlusses des Rates zu diesen Abkommen weiterhin die gleiche Position einnehmen
würde wie zuvor. Dies gilt erst recht für das Abkommen mit der Ukraine, da vor seiner Ratifizierung schon das oben genannte
Schreiben eingegangen war, in dem die Kommission ausdrücklich darum ersucht hatte, in dem unter das Verhandlungsmandat fallenden
Bereich keinerlei Abkommen mehr zu ratifizieren.
94.
Hätte Deutschland nach dem Beschluss des Rates seine Pflicht zu einem Vorgehen „in enger Zusammenarbeit“ mit der Kommission
erfüllt, so hätte diese in geeigneter Weise und rechtzeitig die Überlegungen der Gemeinschaft darlegen und die nötigen Hinweise
geben können, um sicherzustellen, dass die einseitige Initiative des betreffenden Mitgliedstaats bei gleichzeitiger Einhaltung
der bereits eingegangenen internationalen Verpflichtungen im Einklang mit den gemeinschaftlichen Erfordernissen und jedenfalls
ohne deren Beeinträchtigung fortgeführt werden könnte.
95.
Die Kommission hätte beispielsweise Änderungen verlangen können, um sicherzustellen, dass die in den bilateralen Abkommen
enthaltene Regelung der Sache nach mit der Regelung übereinstimmte, die sie selbst entsprechend den vom Rat erhaltenen Leitlinien
in das Gemeinschaftsabkommen aufnehmen wollte. Außerdem hätte die Kommission, selbst wenn sie ein Inkrafttreten der bilateralen
Abkommen für notwendig gehalten hätte, um das von Deutschland bis zum Abschluss eines Gemeinschaftsabkommens befürchtete rechtliche
Vakuum (vgl. oben, Nr. 66) zu vermeiden, dennoch bestimmte Änderungen dieser Abkommen erbitten können, um beispielsweise sicherzustellen,
dass diese Abkommen nur vorläufiger Art sein und automatisch außer Kraft treten würden, sobald ein Abkommen auf Gemeinschaftsebene
geschlossen würde.
96.
Nichts hiervon hat Deutschland unternommen. Vielmehr hat es, anstatt die Ratifizierung aufzuschieben, um sich mit der Kommission
abzustimmen und deren etwaige Hinweise abzuwarten, die Ratifizierung einseitig durchgeführt und so das Inkrafttreten der Abkommen
ermöglicht.
97.
Daraus folgt meiner Auffassung nach, dass Deutschland, indem es die Ratifizierung der fraglichen Abkommen durchführte und
hierbei jede Form von Zusammenarbeit mit der Kommission unterließ, nicht in Einklang mit den Erfordernissen des Artikels 10
EG und mit den Grundsätzen gehandelt hat, die der Gerichtshof insoweit herausgearbeitet hat.
98.
Ich schlage daher vor, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 10 EG verstoßen
hat, und damit der vorliegenden Rüge stattzugeben.
4. Zur dritten Rüge
99.
Die Kommission macht schließlich geltend, dass die bilateralen Abkommen mit Ungarn, der Tschechoslowakei, Rumänien, Polen
und der Ukraine mit der Verordnung Nr. 1356/96 unvereinbar seien.
100.
Mit dieser Verordnung sei es insbesondere unvereinbar, dass in den Abkommen Bestimmungen enthalten seien, wonach in Drittländern
registrierte Schiffe auf der Grundlage einer von den deutschen Behörden erteilten Erlaubnis Beförderungsleistungen zwischen
Deutschland und anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft erbringen dürften (Artikel 5 der Abkommen).
101.
Damit habe sich die Bundesrepublik Deutschland die Befugnis vorbehalten, zu Wasserstraßen innerhalb der Gemeinschaft Unternehmer
zuzulassen, die die in der Verordnung Nr. 1356/96 festgelegten Voraussetzungen (vgl. oben, Nr. 15, und unten, Nr. 104) nicht
erfüllten. Darin liege ein Verstoß gegen die mit der Verordnung geschaffene Regelung, da die ungarischen, tschechischen, slowakischen,
polnischen, rumänischen und ukrainischen Unternehmer – die nach den bilateralen Abkommen zu Beförderungsleistungen zwischen
Deutschland und anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zugelassen werden könnten – die seinerzeit in der Verordnung festgelegten
Voraussetzungen nicht erfüllten.
102.
Auch diese Rüge erscheint mir nicht stichhaltig, und zwar aus den Gründen, die zum einen die deutsche Regierung und zum anderen
Generalanwalt Léger in seinen bereits genannten Schlussanträgen
(38)
dargelegt haben.
103.
Erstens ist daran zu erinnern, dass der Hauptzweck der Verordnung Nr. 1356/96 darin liegt, durch die Aufhebung aller Beschränkungen
aufgrund der Staatsangehörigkeit oder des Sitzes des Dienstleistenden die Dienstleistungsfreiheit im Binnenschiffsgüter- und
-personenverkehr zwischen Mitgliedstaaten zu verwirklichen.
104.
So gewährleisten die Artikel 1 und 2 der Verordnung Nr. 1356/96 die Dienstleistungsfreiheit in der Binnenschifffahrt zwischen
den Mitgliedstaaten für jede Person, die i) in einem Mitgliedstaat in Übereinstimmung mit dessen Rechtsvorschriften niedergelassen
und dort zur Durchführung von grenzüberschreitenden Güter‑ und Personenbeförderungen in der Binnenschifffahrt befugt ist,
die ii) für diese Beförderungen Binnenschiffe einsetzt, die in einem Mitgliedstaat eingetragen sind oder für die eine Bescheinigung
über die Zugehörigkeit zur Flotte eines Mitgliedstaats vorliegt, und die iii) die Bedingungen gemäß Artikel 2 der Verordnung
Nr. 3921/91 erfüllt, also Schiffe einsetzt, die entweder natürlichen Personen gehören, die in einem Mitgliedstaat wohnen und
die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats haben, oder aber juristischen Personen mit Sitz in einem Mitgliedstaat, die ihrerseits
mehrheitlich Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten gehören.
105.
Dass mit dieser Regelung für die in einem Mitgliedstaat ansässigen Unternehmer die Dienstleistungsfreiheit für Beförderungsleistungen
in der Binnenschifffahrt zwischen den Mitgliedstaaten hergestellt wurde, kann jedoch nicht als ein absolutes Verbot verstanden
werden, solche Leistungen zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft auch mit Schiffen zu erbringen, die in Drittländern
registriert sind. Zwar lässt sich die Verordnung Nr. 1356/96 tatsächlich, wie die Kommission darlegt, als ein Regelungsinstrument
ansehen, das für die Binnenschifffahrt auf dem Gebiet der Gemeinschaft eine Gemeinschaftspräferenz normiert. Mir scheint indessen,
dass sich diese Präferenz darin erschöpft, dass die Dienstleistungsfreiheit nur für Unternehmer eingeführt wurde, die einem
Mitgliedstaat eng verbunden sind, während nichts in der Verordnung darauf hinweist, dass sie außerdem bezwecken oder bewirken
sollte, generell die Erbringung der fraglichen Dienstleistungen zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten mittels Schiffen zu
unterbinden, die in Drittländern registriert sind.
106.
Zum anderen enthalten die fraglichen bilateralen Abkommen auch keine Regelung der Dienstleistungsfreiheit zugunsten der Schiffe
aus den beteiligten Drittländern, sondern eröffnen den Führern dieser Schiffe nur die Möglichkeit, Beförderungsleistungen
zwischen Deutschland und anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft nach Maßgabe einer von den zuständigen deutschen Behörden
zu erteilenden Erlaubnis zu erbringen. Eine solche Regelung kann nicht als Dienstleistungsfreiheit im Binnenschiffsgüter-
und -personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zugunsten der ungarischen, tschechischen, slowakischen,
rumänischen, polnischen und ukrainischen Unternehmer angesehen werden.
107.
Angesichts der unterschiedlichen Natur der sich aus den fraglichen bilateralen Abkommen ergebenden Regelung einerseits und
der Regelung der Verordnung Nr. 1356/96 andererseits gelange ich somit zu dem Ergebnis, dass die Kommission der deutschen
Regierung zu Unrecht zur Last legt, sie habe das Wesen und die Tragweite der in der Verordnung enthaltenen Rechtsnormen über
die Dienstleistungsfreiheit in der innergemeinschaftlichen Binnenschifffahrt verändert.
108.
Meiner Auffassung nach hat die Kommission somit nicht aufgezeigt, dass die Abkommen der Bundesrepublik Deutschland mit Ungarn,
der Tschechoslowakei, Rumänien, Polen und der Ukraine mit der Verordnung Nr. 1356/96 unvereinbar wären.
109.
Ich meine daher, dass auch die dritte Rüge als unbegründet zurückzuweisen ist.
V – Kosten
110.
Nach Artikel 69 § 3 der Verfahrensordnung kann der Gerichtshof die Kosten teilen oder beschließen, dass jede Partei ihre eigenen
Kosten trägt, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt. Da ich vorschlage, der Klage der Kommission nur teilweise
stattzugeben, sind meiner Auffassung nach jeder Partei ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.
VI – Ergebnis
111.
Nach alledem schlage ich vor, wie folgt zu entscheiden:
- 1.
- Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 10 EG verstoßen, dass sie eigenständig bilaterale
Abkommen über die Binnenschifffahrt mit Rumänien, Polen und der Ukraine ratifizierte und in Kraft setzte, nachdem der Rat
seinen Beschluss vom 7. Dezember 1992 über die Aufnahme von Verhandlungen zwischen der Gemeinschaft und den betreffenden Drittländern
zur Festlegung der Bedingungen für den Binnenschiffsgüter‑ und ‑personenverkehr erlassen hatte.
- 2.
- Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
- 3.
- Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften und die Bundesrepublik Deutschland tragen jeweils ihre eigenen Kosten.
- 1 –
- Originalsprache: Italienisch.
- 2 –
- ABl. L 373, S. 1.
- 3 –
- ABl. L 175, S. 7.
- 4 –
- Artikel 75 EWG‑Vertrag als Rechtsgrundlage der Verordnung Nr. 3921/91 sah das Konsultationsverfahren anstelle des später durch
Artikel 75 EG‑Vertrag und Artikel 71 EG vorgesehenen Mitentscheidungsverfahrens vor.
- 5 –
- Dieses am 17. Oktober 1868 in Mannheim unterzeichnete Abkommen legt die Grundsätze der freien Schifffahrt auf dem Rhein und
der Gleichbehandlung der Schiffseigner und -flotten fest. Es gilt für das Königreich Belgien, die Bundesrepublik Deutschland,
die Französische Republik, das Königreich der Niederlande, das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland und
für die Schweizerische Eidgenossenschaft.
- 6 –
- Dieses Abkommen, mit dem die freie Schifffahrt auf der Donau gewährleistet werden soll, wurde am 18. August 1948 in Belgrad
von Bulgarien, Ungarn, Rumänien, der Tschechoslowakei, der Ukraine, der Sowjetunion und Jugoslawien unterzeichnet.
- 7 –
- Dok. 10828/92 Trans 178 Relex 72. Da für die vorliegende Klage die Zeit vor dem 1. Mai 2004, dem Datum des Beitritts verschiedener
der genannten Länder zur Europäischen Union, entscheidungserheblich ist, werden diese Länder im Folgenden als „Drittländer“
bezeichnet.
- 8 –
- KOM(96) 634 endg.
- 9 –
- BGBl. 1989 II, S. 1026.
- 10 –
- BGBl. 1989 II, S. 1035.
- 11 –
- BGBl. 1993 II, S. 770.
- 12 –
- BGBl. 1993 II, S. 779.
- 13 –
- BGBl. 1994 II, S. 258.
- 14 –
- Urteil vom 31. März 1971 in der Rechtssache 22/70 (Kommission/Rat, sog. „AETR‑Urteil“, Slg. 1971, 263).
- 15 –
- Urteile vom 5. Novembre 2002 in den Rechtssachen C‑466/98 (Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 2002, I‑9427), C‑467/98
(Kommission/Dänemark, Slg. 2002, I‑9519), C‑468/98 (Kommission/Schweden, Slg. 2002, I‑9575), C‑469/98 (Kommission/Finnland,
Slg. 2002, I‑9627), C‑471/98 (Kommission/Belgien, Slg. 2002, I‑9681), C‑472/98 (Kommission/Luxemburg, Slg. 2002, I‑9741),
C‑475/98 (Kommission/Österreich, Slg. 2002, I‑9797) und C‑476/98 (Kommission/Deutschland, Slg. 2002, I‑9855).
- 16 –
- Vgl. aus vielen Beispielen Urteil vom 12. September 2002 in der Rechtssache C‑152/00 (Kommission/Frankreich, Slg. 2002, I‑6973,
Randnr. 15).
- 17 –
- C‑266/03 (Kommission/Luxemburg).
- 18 –
- Vgl. Gutachten 1/76 vom 26. April 1977 (Slg. 1977, 741, Randnr. 4) und Urteil Kommission/Deutschland (Randnr. 82).
- 19 –
- AETR-Urteil (Randnrn. 16/19). Hervorhebung von mir.
- 20 –
- Vgl. insbesondere Urteil Kommission/Deutschland (Randnr. 108). Es sei mir gestattet, für eine eingehendere Analyse des Begriffs
der „Beeinträchtigung“ auf meine Schlussanträge in den Rechtssachen „Open Skies“ zu verweisen (Schlussanträge vom 31. Januar
2002, Nrn. 63 ff.).
- 21 –
- Urteil Kommission/Deutschland (Randnr. 109).
- 22 –
- Ebenda (Randnr. 110).
- 23 –
- Vgl. Urteil Kommission/Deutschland (Randnr. 119).
- 24 –
- [Betrifft nicht die deutsche Fassung].
- 25 –
- Vgl. insbesondere Urteil Kommission/Deutschland (Randnr. 112).
- 26 –
- Vgl. zuletzt insbesondere Urteil Kommission/Deutschland (Randnr. 83, Hervorhebung von mir). Wie erwähnt, wurde eine Außenkompetenz
dieser Art erstmals in dem Gutachten 1/76 (Randnrn. 3 und 4) anerkannt.
- 27 –
- Vgl. meine Schlussanträge in den Rechtssachen „Open Skies“ (Nr. 49).
- 28 –
- Ebenda (Nr. 54 und Fußnote 26).
- 29 –
- Gutachten 1/76 (Randnr. 4). Hervorhebung von mir.
- 30 –
- In diesen hat der Gerichtshof festgestellt, dass in dem Fall, „in dem der Abschluss einer völkerrechtlichen Vereinbarung erforderlich
ist, um die Ziele des Vertrages zu verwirklichen, die sich durch die Aufstellung autonomer gemeinsamer Regeln nicht erreichen
lassen“, die „auf die internen Handlungsermächtigungen der Gemeinschaft gestützte externe Zuständigkeit ausgeübt werden kann, ohne dass zuvor ein interner Rechtsakt erlassen worden ist, und dass sie damit zu einer ausschließlichen Zuständigkeit werden kann“ (Gutachten 2/92 vom 24. März 1995, Slg. 1995, I-521, Randnr. 32; Hervorhebung von mir). Vgl. analog Gutachten
1/94 vom 15. November 1994 (Slg. 1994, I-5267, Randnr. 85).
- 31 –
- Ein Unterschied jener Rechtssache im Vergleich zum vorliegenden Fall bestand darin, dass die bilateralen Abkommen des Großherzogtums
Luxemburg noch nicht (wie die der Bundesrepublik Deutschland) ratifiziert worden waren; sie waren allerdings ebenfalls nach
dem Beschluss des Rates unterzeichnet worden. Außerdem hatte das Großherzogtum anders als die Bundesrepublik Deutschland die
Kommission in der Phase vor Unterzeichnung der bilateralen Abkommen nicht konsultiert.
- 32 –
- In den Nrn. 71 und 72 seiner Schlussanträge verweist Generalanwalt Léger auf das Urteil vom 5. Mai 1981 in der Rechtssache
804/79 (Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1981, 1045, Randnr. 28), in dem der Gerichtshof in einem Bereich (Fischerei)
der ausschließlichen Gemeinschaftszuständigkeit zu entscheiden hatte, das aber meines Erachtens gleichwohl den obigen Schluss
stützt. So heißt es in dem Urteil, dass „die Mitgliedstaaten [gemäß Artikel 10 EG] verpflichtet [sind], der Gemeinschaft die
Erfüllung ihrer Aufgabe zu erleichtern und alle Maßnahmen zu unterlassen, welche die Verwirklichung der Ziele des Vertrages
gefährden könnten. In einer Situation, in der die Kommission dem Rat zur Befriedigung dringender Erhaltungsbedürfnisse Vorschläge
unterbreitet hat, die, obgleich sie vom Rat nicht angenommen worden sind, den Ausgangspunkt eines abgestimmten gemeinschaftlichen Vorgehens darstellen, erlegt diese Bestimmung den Mitgliedstaaten besondere Handlungs- und Unterlassungspflichten auf“ (Hervorhebung
von mir).
- 33 –
- Urteil vom 5. Mai 1981 (Kommission/Vereinigtes Königreich, Randnr. 28).
- 34 –
- Gutachten 2/91 vom 19. März 1993 (Slg. 1993, I-1061, Randnr. 36).
- 35 –
- Nr. 74.
- 36 –
- Gutachten 2/91 (Randnrn. 5 und 37).
- 37 –
- Urteil vom 4. Oktober 1979 in der Rechtssache 141/78 (Frankreich/Vereinigtes Königreich, Slg. 1979, 2923, Randnr. 9).
- 38 –
- Nrn. 82 bis 91.