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Dokuments 52023AE2448
Opinion of the European Economic and Social Committee on competitiveness and Industry (Exploratory opinion)
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Wettbewerbsfähigkeit und Industrie“ (Sondierungsstellungnahme)
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Wettbewerbsfähigkeit und Industrie“ (Sondierungsstellungnahme)
EESC 2023/02448
ABl. C, C/2024/875, 6.2.2024, ELI: http://data.europa.eu/eli/C/2024/875/oj (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, GA, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)
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Amtsblatt |
DE Serie C |
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C/2024/875 |
6.2.2024 |
Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Wettbewerbsfähigkeit und Industrie“
(Sondierungsstellungnahme)
(C/2024/875)
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Berichterstatter: |
Andrés BARCELÓ DELGADO |
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Ko-Berichterstatter: |
Angelo PAGLIARA |
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Befassung |
Vorsitz des Rates der Europäischen Union, 23.3.2023 |
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Rechtsgrundlage |
Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union |
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Zuständige Fachgruppe |
Fachgruppe Binnenmarkt, Produktion, Verbrauch |
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Annahme in der Fachgruppe |
3.10.2023 |
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Verabschiedung im Plenum |
25.10.2023 |
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Plenartagung Nr. |
582 |
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Ergebnis der Abstimmung (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen) |
196/1/4 |
1. Schlussfolgerungen und Empfehlungen
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1.1. |
Eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität der Industrie ist für die EU ein wichtiger Hebel zur Förderung des Wirtschaftswachstums, zur grünen und digitalen Umstellung auf eine klimaneutrale Wirtschaft, zur Förderung guter Arbeitsplätze sowie zur Wahrung des europäischen sozialen Models. |
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1.2. |
Die Antwort Europas auf die zahlreichen beispiellosen Herausforderungen und Megatrends, die sich auf die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie auswirken, muss auf dem historischen Erfolg des sozialen Dialogs aufbauen, damit alle Beteiligten weiterhin Engagement zeigen und ein Gefühl der Verantwortung für diese Politikmaßnahmen entwickeln. |
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1.3. |
Es bedarf einer koordinierten, proaktiven Steuerung der industriepolitischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten. Eine gut funktionierende öffentliche Verwaltung und ein wachstumsfördernder Rechtsrahmen (Bürokratieabbau, Verfahrensvereinfachung, Korruptionsbekämpfung, Normensetzung für neue Produkte/Märkte) sind für die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie sowie für die Vermeidung von Marktverzerrungen und unfairem Wettbewerb ausschlaggebend. |
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1.4. |
Der Binnenmarkt muss weiter vertieft werden. Er muss der größte Trumpf der europäischen Industrie bleiben. Das bedeutet auch, dass der Gefahr der Zersplitterung durch unterschiedliche Ansätze für staatliche Beihilfen begegnet werden muss. Nach wie vor geht nichts ohne eine solide Regelung staatlicher Beihilfen. Die europäische Industriepolitik und die damit verbundene Finanzierung sollten auf EU-Ebene koordiniert werden. |
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1.5. |
Die Herausforderungen der Dekarbonisierung müssen in Chancen für die Entwicklung und Markteinführung neuer nachhaltiger Produkte und Dienstleistungen verwandelt werden. |
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1.6. |
Der offene, regelbasierte Handel ist zu fördern, und gleichzeitig müssen strategische Abhängigkeiten verringert werden. Die EU muss an den Grundsätzen eines freien, aber fairen Handels, die derzeit von verschiedenen Akteuren in Frage gestellt werden, festhalten. Gleichzeitig muss sie aber auch ihre offene strategische Autonomie wahren. |
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1.7. |
Die EU muss Lösungen für die bessere Qualifizierung und die Alterung der Bevölkerung finden. Die EU braucht kompetente Arbeitskräfte für die Industrie 4.0. Sie muss etwas gegen den Arbeitskräftemangel tun und sich um die Entwicklung allgemeiner digitaler Kompetenzen auf allen Ebenen der Erwerbsbevölkerung bemühen. |
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1.8. |
FEI muss intensiviert und die Einführung neuer industrieller Anwendungen auf den europäischen Märkten muss stärker unterstützt werden. |
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1.9. |
Dekarbonisierte Energie muss zu stabilen, wettbewerbsfähigen Preisen verlässlich zur Verfügung stehen, um klimasichere energieintensive Industriezweige, die nach wie vor das Rückgrat der europäischen Industrie bilden, zu stützen. |
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1.10. |
Die Chancen der digitalen Revolution müssen in vollem Umfang genutzt werden, denn sie können die komparativen Vorteile der europäischen Industrie verbessern und zugleich zur Bewältigung gesellschaftlicher Aufgaben beitragen. |
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1.11. |
Die Entwicklung einer modernen, interoperablen und strategischen europäischen Infrastruktur ist für den Aufbau einer intelligenten, wettbewerbsfähigen, grünen und widerstandsfähigen Industrie von zentraler Bedeutung. |
2. Allgemeine Bemerkungen
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2.1. |
Der spanische Ratsvorsitz hat vier Prioritäten für das zweite Halbjahr 2023 festgelegt:
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2.2. |
Der spanische Ratsvorsitz hat den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) um eine Sondierungsstellungnahme zum Thema „Wettbewerbsfähigkeit und europäische Industrie“ ersucht. |
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2.3. |
Bislang gründete die wirtschaftliche Stärke der Europäischen Union darauf, dass sie über den größten Binnenmarkt der Welt verfügt und einer der am stärksten nach außen orientierten Wirtschaftsräume der Welt ist (1). Mit ihrem Grünen Deal hat die EU nun auch eine führende Rolle bei der Dekarbonisierung ihrer Wirtschaft übernommen, die aber ohne angemessene Übergangsmaßnahmen sehr kostspielig für die Industrie und die Arbeitnehmer werden könnte. |
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2.4. |
Der EWSA hat sich in einer kürzlich verabschiedeten Stellungnahme mit dem Thema „30 Jahre Binnenmarkt“ befasst. Darin bringt er seine Bedenken über die Lockerung der Beihilfevorschriften zum Ausdruck, denn sie könnte zu weiteren Asymmetrien zwischen den Mitgliedstaaten führen und dadurch die Widerstandsfähigkeit des Binnenmarkts gefährden. Die Kommission hat einen Befristeten Rahmen zur Krisenbewältigung und zur Gestaltung des Wandels angenommen, um den Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft weiter zu unterstützen, doch richtet sich diese Hilfe nur an zwei Mitgliedstaaten. Bislang wurden 77 % der von der Kommission genehmigten Zuschüsse von Ländern abgerufen, auf die nur 44 % des BIP der Union entfallen. |
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2.5. |
Abgesehen von der anhaltend schwierigen Lage der Welthandelsorganisation (WTO) gab es in den letzten drei Jahren eine Abfolge sehr einschneidender Ereignisse, die die internationale Landschaft erschüttert und die nationale Politikagenda der größten Länder der Welt durcheinandergebracht haben. Die COVID-19-Pandemie, die anschließende Krise der Lieferketten, der kalte Wirtschaftskrieg der Vereinigten Staaten mit China, die russische Invasion der Ukraine und die von Russland betriebene Nutzung von Energie als Kriegswaffe haben gezeigt, dass der derzeitige Status quo nicht als selbstverständlich angesehen werden kann und dass aktives politisches Handeln geboten ist. Und so löst sich die etablierte multilaterale, regelbasierte Nachkriegsordnung, die Europa Sicherheit und Wohlstand bescherte, nach und nach auf (und die WTO steckt in einer tiefen Krise). Als Folge nimmt die Globalisierung der Lieferketten ab, Protektionismus und unlauterer Wettbewerb sind auf dem Vormarsch, und der Welthandel wächst langsamer. Das bedeutet im Weiteren, dass in den Vorstellungen von freiem Handel und Wettbewerbsfähigkeit nicht nur die Erfordernisse der Nachhaltigkeit (Klimawandel und Menschenrechte) mitzuberücksichtigen sind, sondern nun auch Fragen der offenen strategischen Autonomie und der Sicherheit. |
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2.6. |
Tatsächlich verschiebt sich das Kräfteverhältnis in der Weltwirtschaft, und der Globalisierungsprozess wird zunehmend von neuen Akteuren (z. B. den BRICS-Staaten) mit unterschiedlichen Wirtschaftsmodellen und Werten (und begleitet von einer verstärkten politischen und staatlichen Einflussnahme) angetrieben. Die wichtigsten Wirtschaftsmächte der Welt haben sich um eine Verbesserung der Lage bemüht, und die EU ist sich der zunehmenden Ungleichgewichte in ihren Beziehungen zu Handels- und Technologiepartnern wie China, Indien, den USA und Südkorea bewusst. Diese Ungleichgewichte treten unabhängig davon auf, ob diese Länder gemeinsame politische oder umweltpolitische Werte haben oder nicht. |
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2.7. |
China wird zunehmend als systemischer Rivale aufgefasst. Die chinesische Staatsführung denkt nicht daran, die Rahmenbedingungen für Unternehmen zu lockern, sondern verschärft in einigen Wirtschaftsbereichen vielmehr die mangelnde Gegenseitigkeit beim Marktzugang und die ungleichen Wettbewerbsbedingungen. Die Europäische Kommission hat erklärt, dass China immer selbstbewusster auftritt und den Wettbewerb immer mehr forciert (2). Der 20. Kongress der Kommunistischen Partei Chinas hat weitgehend bestätigt, was sich bereits abgezeichnet hatte: die Partei festigt ihren Griff um den Staat und die Staatsunternehmen, das politische System Chinas wird zunehmend ideologisiert und eine hypernationalistische Rhetorik gibt den Ton an. |
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2.8. |
In den USA markiert der unlängst in Kraft getretene Inflation Reduction Act (IRA) einen wichtigen Durchbruch in der Industriepolitik und der staatlichen Intervention. Er reicht weit über die Verringerung der Inflation hinaus und umfasst ein breites Paket von Anreizen, mit denen Investitionen ins Land geholt werden sollen. Im Zuge dieses umfassenden und überaus protektionistischen Gesetzespakets sollen in den kommenden zehn Jahren fast 400 Mrd. USD eingesetzt werden, u. a. um die Energiepreise für energieintensive Industriezweige in den USA erheblich zu senken. Die Veränderungen der internationalen Wettbewerbsbedingungen, die sich aus dem IRA ergeben, stellen die EU als Industriestandort vor große Herausforderungen. |
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2.9. |
Der EWSA fordert die europäischen Behörden zu einem ausgewogenen Ansatz zwischen der notwendigen Bekämpfung der Inflation und der in die Höhe schnellenden Zinssätzen auf, die sich negativ auf die Investitionen und die Bevölkerung auswirken. |
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2.10. |
Der europäische Grüne Deal wurde zur neuen langfristigen Wachstumsstrategie erklärt, mit deren Hilfe die EU-Wirtschaft bis 2050 klimaneutral werden und den Klimawandel angehen soll. Eine Kernfrage ist, wie die Industrie diese Übergänge vollziehen kann, ohne an Wettbewerbsfähigkeit einzubüßen. Wie können europäische Unternehmen globale Marktteilnehmer bleiben und gleichzeitig auf CO2-neutrale und kreislauforientierte Produkte umstellen, wenn ihre internationalen Wettbewerber dies nicht auch tun? Schieflagen im Wettbewerb müssen rechtzeitig erkannt und in einer Weise angegangen werden, dass die Wettbewerbsfähigkeit und die Beschäftigung steigt und der Grüne Deal nicht beeinträchtigt wird. |
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2.11. |
Die Digitalisierung sowohl der Produktionsprozesse als auch der Endprodukte hat eine neue industrielle Revolution quer durch alle Wirtschaftsbereiche ausgelöst. Mit Hilfe künstlicher Intelligenz krempelt sie die Art und Weise um, wie wir unsere Produkte entwickeln, gestalten und herstellen und unsere Arbeit organisieren. |
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2.12. |
Der Wettbewerb um natürliche Ressourcen nimmt aufgrund der Digitalisierung und des übergeordneten Ziels der Eindämmung des Klimawandels zu. Der exponentielle Anstieg der Nachfrage nach knappen natürlichen, nicht regenerativen Ressourcen findet seinen Niederschlag bereits in Versorgungsrisiken und Preisschwankungen. Eine sichere Versorgung mit kritischen Rohstoffen und Komponenten ist mittlerweile eine große Sorge der europäischen Industrie, auf die mit Pragmatismus und Realismus angemessen reagiert werden muss. |
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2.13. |
Die Beendigung der Abhängigkeit von Kohle und Erdöl, die unserer Gesellschaft in der Vergangenheit einen beispiellosen Wohlstand gebracht haben, wird für die Industrie der größte Wandel seit der industriellen Revolution sein. Die Umstellung auf eine klimaneutrale Wirtschaft wird zu erheblichen Umbrüchen in den meisten jetzigen Industriezweigen führen, insbesondere in den energieintensiven Industrien, bei der Erzeugung und Verteilung von Energie und im Verkehrsökosystem. Sie wird das Konsumverhalten drastisch verändern und das Aufkommen neuer Geschäftsmodelle wie der Sharing Economy oder der Kreislaufwirtschaft begünstigen. |
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2.14. |
Die Alterung der Gesellschaft hat gegenwärtig eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung und einen Arbeitskräftemangel in allen Bereichen der Wirtschaft zur Folge. Dies schmälert das Wachstumspotenzial Europas. Aufgrund interner Migrationsströme kann es zu Ungleichgewichten auf dem Arbeitsmarkt kommen. Außerdem fehlt es der europäischen Bevölkerung an MINT-Kompetenzen, und fast die Hälfte der EU-Bevölkerung hat nur geringe oder gar keine digitalen Kompetenzen. Die Nachfrage nach MINT-Fähigkeiten, Datenkompetenz und einem Mix aus kognitiven sowie sozialen und emotionalen Kompetenzen (wie Problemlösung, Kreativität, Kommunikation, gemeinsames Arbeiten und aktives Lernen) wird jedoch in Zukunft nur noch größer werden. Die EU muss die digitalen Kompetenzen ihrer Beschäftigten verbessern, Strategien einer lebensbegleitenden Bildung entwerfen und überlegen, wie qualifizierte legale Zuwanderer besser einbezogen werden können. |
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2.15. |
All diese Megatrends werden eine systemische Transformation unserer Volkswirtschaften und Gesellschaften bewirken, die nicht durch die politischen Rezepte der Vergangenheit bewältigt werden kann, sondern eine mutige Politik der EU mit proaktiven Maßnahmen erfordert, um die notwendigen Voraussetzungen für eine langfristige Zukunft der europäischen Industrie zu schaffen. |
3. Besondere Bemerkungen
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3.1. |
Die traditionelle Stärke der europäischen Industrie war ihr erheblicher Produktivitätsvorsprung. Sonst hätten wir nie unser heutiges Niveau an Industrialisierung und Wohlstand erreicht. Sozialer Zusammenhalt und Wohlstand können nicht ohne die Industrie gesichert werden, wozu unter anderem auch gehört, dass Verzerrungen in den Bereichen Soziales und Steuern in der EU vermieden werden. |
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3.2. |
Mehrere Indikatoren haben jedoch in den letzten Jahrzehnten auf eine Verschlechterung der industriellen Basis der EU hingedeutet. Die Energiepreise sind in der EU deutlich höher als in anderen Teilen der Welt. Die EU investiert nur 2,2 % ihres BIP in FuE, gegenüber 2,8 % in den USA und 3,3 % in Japan. Nur sechs europäische Unternehmen gehören zu den 25 weltweit führenden FuE-Firmen; vier davon gehören zur Automobilindustrie. Die EU läuft zunehmend Gefahr, in der digitalen Wirtschaft abgehängt zu werden: Von den 20 weltgrößten Technologieunternehmen ist nur eines europäisch (SAP). Der Risikokapitalmarkt, der die Expansion innovativer Unternehmen ermöglicht, ist in den USA um ein Vielfaches größer als in der EU. Während 1999 nur 5 % der weltweiten Bruttoinvestitionen in China getätigt wurden, waren es 2020 bereits 29 % — mehr als in jeder anderen Region der Welt. |
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3.3. |
Dieses Zurückfallen ist nicht auf einen einzelnen Faktor allein zurückzuführen, sondern auf eine Kombination sich überlagernder Bedingungen, aufgrund derer die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie im internationalen Vergleich eher absackte als anstieg. |
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3.4. |
Überregulierung ist ein Bremsklotz für die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Industrieunternehmen. In den vergangenen fünf Jahren wurden auf EU-Ebene mehr als 5 000 Seiten an Rechtsvorschriften erlassen. Diese „Inflation“ an Vorschriften ist oft vermengt mit Initiativen der Mitgliedstaaten, die die Richtlinien in vielen Fällen mit zusätzlichen eigenen Anforderungen umsetzen. Die Europäische Kommission ist sich der Reibungsverluste bewusst, welche die Regulierung für die europäische Industrie mit sich bringt. So hat sie bei der Ausarbeitung des ehrgeizigen Netto-Null-Industrie-Gesetzes (NZIA) die erste Säule ihres Plans mit „Ein vorhersehbares und vereinfachtes Regelungsumfeld“ betitelt. In dieser Hinsicht begrüßt der EWSA die im NZIA enthaltenen Vorschläge, die Genehmigungsverfahren für industrielle Tätigkeiten zu verkürzen und Reallabore einzuführen, sowie den Vorschlag, alle europäischen Politiken und Rechtsvorschriften einer Prüfung in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit zu unterziehen. |
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3.5. |
Die Energiepreise schlagen ebenfalls auf die Kostenbasis der europäischen Industrie durch. Auf der einen Seite belasten sie die energieintensiven Wirtschaftszweige, wie weithin zu erwarten war. Andererseits stehen aber auch normale Industriezweige, in denen Energie nicht der wichtigste Input ist, vor gestiegenen Kosten. Die Inflationszahlen in Europa sind Ausdruck dessen, denn die zugrunde liegende Kerninflation ist nach der am VPI gemessenen Gesamtinflation gestiegen. Wirtschaftswissenschaftler gingen davon aus, dass die Preise kein Problem mehr sein würden, wenn die Inflation im Energiebereich zurückgeht. Da die Energiepreise aber immer noch nicht auf das Vorkrisenniveau zurückgegangen sind, findet bei den meisten Güter ein Aufholprozess statt, bei dem versucht wird, diese Mehrkosten preislich unterzubringen. |
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3.6. |
Es gibt strukturelle Gründe für höhere Energiekosten in Europa. Die EU ist nach wie vor von fossilen Brennstoffen abhängig, die zum großen Teil importiert werden müssen, wobei wir uns den Beschränkungen ausländischer Akteure aussetzen. Die ölproduzierenden Länder regeln ihre Produktion so, dass sie die Weltmarktpreise steuern können, und Russland setzt Erdgaslieferungen sehr aggressiv als Waffe ein. |
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3.7. |
Es gibt andere Gründe, die nicht struktureller Art sind, sondern von EU-internen Beschlüssen abhängen, wie z. B. die Strompreisbildung. Der Strommarkt ist stark reguliert und hat etwa 20 Jahre lang gut funktioniert. In der jüngsten Stresssituation kam er jedoch aus dem Tritt. In den Strompreis sind die CO2-Emissionsrechte eingepreist, unabhängig davon, ob der Strom unter Freisetzung von CO2 erzeugt wird oder nicht. Dies muss in Richtung auf wettbewerbsfähige Preise, die die Elektrifizierung und Dekarbonisierung fördern und zugleich die künftige Versorgungssicherheit gewährleisten, sorgsam überarbeitet werden. |
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3.8. |
Im Allgemeinen sind „dekarbonisierte Produkte“ (batteriebetriebene Elektrofahrzeuge, grüner Stahl, Wärmepumpen, Biochemikalien usw.) teurer als die Produkte, die sie ersetzen, insbesondere bis eine kritische Masse erreicht ist. Um Inflationseffekte zu vermeiden und die Einführung CO2-neutraler Produkte zu fördern und sie für alle erschwinglich zu machen, ist es wichtig, dass die Regulierungsbehörden unter gebührender Berücksichtigung des Grundsatzes der Technologieneutralität einen unterstützenden Rahmen entwickeln. In der Anfangsphase sollten Preisunterschiede durch Zuschüsse und Steueranreize ausgeglichen bzw. zusätzliche Kapital- und Betriebskosten infolge der Dekarbonisierung kompensiert werden. Zur Unterstützung von Arbeitnehmern und Industrien sollten die im Rahmen des Fonds für einen gerechten Übergang, des Innovationsfonds, des Modernisierungsfonds und des neuen Klima-Sozialfonds (ab 2026) verfügbaren Finanzmittel in vollem Umfang genutzt werden. |
4. Bauelemente einer wettbewerbsfähigen europäischen Industrie
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4.1. |
Grundlage einer Politik zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit muss die europäische soziale Marktwirtschaft sein. Die Förderung des sozialen Dialogs und die Gewährleistung von Tarifverhandlungen sind von größter Bedeutung, um wirtschaftliche und soziale Bestrebungen in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen, die Auswirkungen auf die Beschäftigung zu bewältigen und die richtigen Kompetenzen für einen reibungslosen Übergang zu neuen nachhaltigen und wettbewerbsfähigen industriellen Prozessen bereitzustellen. |
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4.2. |
Der Grüne Deal und die Digitale Dekade bieten ausgezeichnete Möglichkeiten, den doppelten Übergang — den grünen und den digitalen Wandel — zu vollziehen, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, die europäische Industrie zu modernisieren und Wettbewerbsvorteile auf den Weltmärkten zu erlangen. Diese Initiativen werden der europäischen Industrie helfen, industrielle Fähigkeiten von Weltrang in strategischen Wertschöpfungsketten zu entwickeln, und sie werden der EU beim Umbau zu einer klimaneutralen Wirtschaft weltweit eine Spitzenposition verschaffen. Diese Übergänge müssen kosteneffizient bewerkstelligt werden. Es muss dafür gesorgt werden, dass die Industrie ihre Fähigkeit behält, den Cashflow zu generieren, den sie für Investitionen in ihre Transformation benötigt. |
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4.3. |
Die Steigerung der öffentlichen und privaten Investitionen in industrielle FEI ist der Schlüssel zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, denn Wissen ist zum wichtigsten Produktionsfaktor geworden, und die Industrie von morgen wird von dem Wissen geformt, das heute generiert wird. Die EU kann auf eine lange Tradition von Spitzenleistungen in der wissenschaftlichen Forschung zurückblicken, doch hapert es bei der Umsetzung in marktreife Produkte. Nötig ist eine bessere Unterstützung in den letzten Phasen des Innovationsprozesses, insbesondere für bahnbrechende Innovationen in strategischen Sektoren (Demonstrationsprojekte, Pilotanlagen). Zudem muss sichergestellt werden, dass die Ergebnisse von FuE, die mit EU-Mitteln finanziert wurde, ihre erste industrielle Anwendung in der EU finden. |
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4.4. |
Die EU muss die regelbasierte Handelsordnung wahren, die auf den Grundsätzen eines freien, aber fairen Handels beruht. Darüber hinaus muss sie der neuen Dimension der wirtschaftlichen Sicherheit in den Handelsbeziehungen Raum geben. Dies erfordert eine weitere Ratifizierung von Handels- und Investitionsabkommen und eine verstärkte Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Ländern, die Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs und die Sicherung des Zugangs zu kritischen Rohstoffen und Komponenten. |
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4.5. |
Energieintensive Industrien stehen nicht vor einem evolutionären, sondern vor einem disruptiven Wandel. Ihre Dekarbonisierung bei gleichzeitiger Steigerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit erfordert ein starkes wirtschaftliches und politisches Engagement und enorme Investitionen. Dies bedeutet einen sicheren Zugang zu Energie aus erneuerbaren Quellen zu wettbewerbsfähigen Preisen, FuE-Förderung zur Erhöhung des Technologie-Reifegrads der vielen Niedrigemissionstechnologien, die Schaffung von Märkten für CO2-arme Produkte unter Einbeziehung des öffentlichen Auftragswesens, die Vermeidung der Verlagerung von CO2-Emissionen in andere Weltregionen („Carbon Leakage“), die Einführung von Differenzverträgen zur Bewältigung der hohen Produktionskosten nachhaltiger Produkte und die Gewährleistung eines „gerechten Übergangs“ für die vom Strukturwandel betroffenen Arbeitnehmer. |
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4.6. |
Der Binnenmarkt bietet der europäischen Industrie die Möglichkeit, 440 Mio. Menschen zu erreichen. Er zieht zudem Investitionen aus Drittstaaten an, und die europäischen Unternehmen können von dort aus auch externe Märkte erschließen und expandieren. Es besteht jedoch die Gefahr von Marktverzerrungen aufgrund interner Hürden und des zunehmenden Umfangs staatlicher Beihilfen der Mitgliedstaaten. Unter den Mitgliedstaaten müssen auch weiterhin gleiche Ausgangsbedingungen bestehen, denn große Unterschiede in der Höhe staatlicher Beihilfen lösen einen Subventionswettlauf aus, der letztlich zu einer weniger effizienten Nutzung knapper Ressourcen führt. Regelungen für staatliche Beihilfen sollten daher vorzugsweise europäisch koordiniert/finanziert sein. |
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4.7. |
Die Digitalisierung bietet die Chance, die komparativen Vorteile der europäischen Industrie erheblich zu verbessern und Tätigkeiten in neuen Industriebereichen zu entwickeln. In dieser Hinsicht ist es wichtig, den digitalen Binnenmarkt rasch zu verwirklichen, die digitale Infrastruktur zu modernisieren (5G, Hochgeschwindigkeits-Breitbandnetze), in die neuen digitalen Märkte zu investieren (KI, Internet der Dinge, fortgeschrittene Fertigung, Cloud-Computing, Big Data) und Datenräume für industrielle Ökosysteme einzurichten, um den Datenaustausch zu fördern. |
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4.8. |
Innovativen neuen Unternehmen muss es möglich sein, sich Mittel zu beschaffen, um wachsen zu können. KMU sind hauptsächlich auf Banken angewiesen, die aber oft nicht das Risikokapital bereitstellen, das sie brauchen. In den letzten Jahren gab es zwar Fortschritte bei einem besseren Zugang zu Kapital, doch insbesondere der Mangel an Wachstumskapital behindert die Expansion junger innovativer Unternehmen. Anreize für private Investitionen sollten geschaffen werden durch die Weiterentwicklung eines europäischen Marktes für Risikokapital, Risikominderungsinstrumente (Bürgschaften, Steuergutschriften, finanzielle Anreize) für strategische Investitionen und die Entwicklung von Alternativen zu öffentlichen Märkten (einschließlich Business Angels, öffentliche Startkapitalfonds, öffentliche Investmentfonds, Genossenschaften). |
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4.9. |
Wichtig ist, dafür zu sorgen, dass die europäische Infrastruktur (Verkehr, Energie und Digitales) vernetzt und interoperabel ist, dass die Energieversorgungsinfrastruktur dem Einsatz von erneuerbaren Energien, Wasserstoff und CO2-Abscheidung, -Nutzung und -Speicherung (CCS/CCU) Rechnung trägt und dass eine Infrastruktur für das Energiemanagement aufgebaut wird (nachfrageseitige Steuerung, intelligente Netze, bidirektionale Verbindungen, Energiespeicherung). Auch die Infrastruktur zur Unterstützung der Kreislaufwirtschaft (Sammlung, Sortierung, Bearbeitung und Transport) muss ausgebaut werden. |
Brüssel, den 25. Oktober 2023
Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses
Oliver RÖPKE
(1) https://european-union.europa.eu/priorities-and-actions/actions-topic/trade_de.
(2) https://www.eeas.europa.eu/eeas/china-speech-high-representativevice-president-josep-borrell-ep-debate-eu-china-relations_en.
ELI: http://data.europa.eu/eli/C/2024/875/oj
ISSN 1977-088X (electronic edition)