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Document 52018DC0647

MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DEN EUROPÄISCHEN RAT, DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT UND DEN RAT Mehr Gewicht auf der internationalen Bühne: eine effizientere Beschlussfassung für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

COM/2018/647 final

Brüssel, den 12.9.2018

COM(2018) 647 final

MITTEILUNG DER KOMMISSION

Mehr Gewicht auf der internationalen Bühne: eine effizientere Beschlussfassung für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik


















1.Einleitung

Dank der in den letzten 60 Jahren vollzogenen Schritte zur europäischen Integration blicken die Unionsbürgerinnen und -bürger heute in eine gemeinsame Zukunft. Europa steht damit vor einer einfachen Frage: Wollen die Europäer selber über ihre gemeinsame Zukunft entscheiden oder wollen sie diese Entscheidung anderen überlassen? Will die Europäische Union eine tragende Säule der im Entstehen begriffenen multipolaren Weltordnung sein oder nur Spielball?

Die Herausforderungen, mit denen Europa heute konfrontiert ist, werden weiter bestehen: Der globale Wettbewerb wird sich verschärfen, das Tempo des technologischen Wandels wird zunehmen, die geopolitische Instabilität wird wachsen, die Auswirkungen des Klimawandels werden spürbar werden und die Migration in die EU wird sich aufgrund der demografischen Entwicklungen fortsetzen.

In der Erklärung von Rom 1 aus dem Jahr 2017‚ die anlässlich des 60. Jahrestags der Unterzeichnung des Vertrags von Rom angenommen wurde, wurde anerkannt, dass eine stärkere Europäische Union eine Notwendigkeit sei. Die Staats- und Regierungschefs betonten insbesondere, dass die EU zu einem stärkeren globalen Akteur werden sollte. Sie muss besser in der Lage sein, die Weltpolitik mitzugestalten, und auch besser gewappnet sein, um international Verantwortung zu übernehmen. Die Europäische Union muss ihre Weltpolitikfähigkeit 2 stärken. Die vorliegende Mitteilung ist ein Beitrag zur Debatte der Staats- und Regierungschefs, die auf ihrer Tagung in Sibiu am 9. Mai 2019 fortgesetzt werden soll.

In der komplexen, vernetzten und von Gegensätzen geprägten Welt von heute 3 muss die EU ihre Bürgerinnen und Bürger schützen, ihre Werte und Interessen fördern, die auf Regeln beruhende internationale Ordnung unterstützen und Stabilität in ihre Nachbarschaft und darüber hinaus exportieren. Die EU muss auch in der Lage sein, der Erwartung von Drittländern, internationalen Organisationen und anderen internationalen Akteuren, dass sie eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung regionaler und globaler Herausforderungen spielt, gerecht zu werden.

Kein Mitgliedstaat allein kann diesen Herausforderungen begegnen oder diese Chancen nutzen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen ihre Kräfte bündeln, um gemeinsame Interessen und Werte zu fördern.

In seiner Rede zur Lage der Union 2018 hat Präsident Juncker eine Reihe von Maßnahmen genannt, die zu diesem Zweck umgesetzt werden müssen. Die EU muss noch enger mit ihren Partnern in der ganzen Welt zusammenarbeiten. Sie sollte ihre Partnerschaft mit Afrika ausbauen, indem sie insbesondere eine Allianz für nachhaltige Investitionen und Arbeitsplätze in die Wege leitet. Die EU muss auf eigenen Beinen stehen können. So muss sie beispielsweise die internationale Rolle des Euro stärken. Sie muss auch bei ihrer Reaktion auf Geschehnisse in der Welt mit einer einzigen, klaren und starken Stimme sprechen.

Um diese Ziele zu erreichen und damit zu einem stärkeren globalen Akteur zu werden, muss sich die EU mit den erforderlichen Instrumenten ausstatten und dazu insbesondere ihre Entscheidungsfindung effizienter gestalten.

Zu diesem Zweck schlug Präsident Juncker in seiner Rede zur Lage der Union 2017 vor, „zu prüfen, welche außenpolitischen Beschlüsse nicht mehr einstimmig, sondern mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden können 4 . Dies könne auf der Grundlage der bestehenden Verträge geschehen. In der Erklärung von Meseberg „Das Versprechen Europas für Sicherheit und Wohlstand erneuern“ vom Juni 2018 befassten sich die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron mit derselben Frage. Sie riefen dazu auf, sowohl „neue Möglichkeiten, wie die EU-Entscheidungsfindung in unserer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschleunigt und effizienter gemacht werden kann“ als auch „im Rahmen einer breiteren Debatte über Mehrheitsentscheidungen in EU-Politikfeldern Möglichkeiten der Nutzung von Mehrheitsentscheidungen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ zu prüfen 5 .

Diese Diskussion wird seit Langem geführt. Seit ihrer Gründung ist die EU in vielen Bereichen schrittweise von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit übergegangen. Die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit ist seit ihrer Einführung im Rahmen der Einheitlichen Europäischen Akte 6 zum Regelentscheidungsverfahren in der EU, auch im Bereich Justiz und Inneres, geworden. Für den Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit gibt es seit Langem einen einfachen, einleuchtenden Grund. Die Mitgliedstaaten haben nämlich erkannt, dass in Fällen, in denen sie in einem bestimmten Politikbereich ehrgeizige Ziele verfolgen, häufig der Punkt erreicht wird, an dem die Einstimmigkeitsregel die Fortschritte bremst und die EU mitunter daran hindert‚ sich den sich wandelnden Realitäten anzupassen. In dieser Hinsicht war der Übergang zur qualifizierten Mehrheit für die EU bisher jedes Mal auch ein wichtiger Schritt nach vorne.

Auf der Grundlage einer Kompromisskultur eröffnet die qualifizierte Mehrheit mehr Raum für Diskussionen und pragmatische Lösungen, die den Interessen aller Beteiligten Rechnung tragen. Durch eine flexible, effiziente und zügige Beschlussfassung ist die Union in Politikbereichen wie Umwelt- und Verbraucherschutz, Datenschutz sowie freier und fairer Handel weltweit zum Referenzmodell und Standardsetzer geworden.

Die EU spielt auf der Weltbühne eine immer wichtigere Rolle und gilt weithin als Vorkämpferin für universelle Werte. Von ihrer Unterstützung bei der Normalisierung der Beziehungen zwischen Belgrad und Pristina über ihre Reaktion auf die Völkerrechtsverletzungen durch die Russische Föderation auf der Krim-Halbinsel und in der Ostukraine bis hin zu ihrer Rolle als Initiatorin und Vermittlerin in den Verhandlungen über das iranische Nuklearprogramm hat sich die Union unablässig für Frieden und Wohlstand in ihrer Nachbarschaft und darüber hinaus eingesetzt.

Ein Ausbau der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit würde jedoch die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik weiter stärken. In dieser Mitteilung wird dargelegt, warum eine effizientere Beschlussfassung in einigen Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik notwendig ist, welche Möglichkeiten für eine effizientere Beschlussfassung im Vertrag über die Europäische Union vorgesehen sind und in welchen konkreten Bereichen der Rat sinnvollerweise mit qualifizierter Mehrheit beschließen könnte‚ statt an der Einstimmigkeit festzuhalten. Die Besonderheiten der Außenpolitik spiegeln sich in den Verträgen wider. Die Verträge sehen maßgeschneiderte Schutzklauseln vor, die auch weiterhin gelten würden. Zu einem späteren Zeitpunkt könnte die Kommission prüfen, wie die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit zur weiteren Stärkung der Beziehungen der Union zu Drittländern genutzt werden könnte.

2.Gründe für die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik

Im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik werden die meisten EU-Beschlüsse einstimmig gefasst. Dies hat die Union in der Regel nicht daran gehindert‚ in außenpolitischen Angelegenheiten aktiv zu sein und eindeutig Stellung zu beziehen. Dadurch wird jedoch die Fähigkeit der EU, auf der Weltbühne schnell und effektiv zu handeln, zunehmend eingeschränkt. In der internationalen Politik ist oft Eile geboten, und die Glaubwürdigkeit eines internationalen Akteurs hängt von seiner Fähigkeit ab, schnell und kohärent auf internationale Krisen und Ereignisse zu reagieren. Ebenso hängen Stärke, Wirksamkeit und Wirkung eines internationalen Akteurs davon ab, ob dieser in der Lage ist, auf internationaler Ebene und in globalen Foren kohärent und effizient zu handeln.

Seit dem Vertrag von Maastricht von 1992, mit dem die Mitgliedstaaten die Europäische Union zum ersten Mal ermächtigten, in außen- und sicherheitspolitischen Angelegenheiten tätig zu werden, wurden durch die substanzielle Weiterentwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erhebliche Fortschritte erzielt. Dennoch gibt es immer noch Fälle, in denen sich die EU nicht – oder nicht schnell genug – auf einen tragfähigen gemeinsamen Standpunkt einigen kann (siehe Abschnitt 3).

Dafür zahlen die Union und ihre Mitgliedstaaten einen hohen politischen Preis: Die EU-Organe werden an einem entschlossenen Handeln gehindert, die Mitgliedstaaten, die international eine aktivere Rolle spielen, müssen sich auf die Vertretung ihrer jeweiligen Standpunkte beschränken und können nicht das kombinierte Gewicht der EU-28 in die Waagschale werfen und die Mitgliedstaaten, die nicht mit am Verhandlungstisch sitzen, können keinen direkten Einfluss auf die betreffende Angelegenheit nehmen.

Die Tatsache, dass solche Fälle immer noch auftreten, zeigt, dass das Einstimmigkeitsprinzip die Union daran hindert, ihr volles Potenzial in der Außenpolitik zu entfalten. Angesichts einer möglichen Erweiterung der EU im Jahr 2025 wird die Überwindung dieser Beschränkungen von entscheidender Bedeutung sein. Die EU muss stärker und solider werden, bevor sie größer werden kann 7 .

Daher sollten in Zukunft bestimmte Beschlüsse der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden. Die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit würde die Union zu einem stärkeren, wirksameren und glaubwürdigeren internationalen Akteur machen, da sie es der Union erleichtern würde,

·auf der Weltbühne auf der Grundlage robuster und kohärenter Standpunkte zu agieren,

·rasch und effizient auf drängende außenpolitische Herausforderungen zu reagieren, und zwar sowohl in den Fällen, in denen ein neuer Standpunkt festgelegt werden muss, als auch bei der Umsetzung einer bereits vereinbarten Strategie,

·die Widerstandsfähigkeit der EU dadurch zu stärken, dass die Mitgliedstaaten vor gezieltem Druck durch Drittländer, die versuchen, die EU zu spalten, geschützt werden.

Zusammengenommen würden diese Faktoren der Union helfen, durch geeintes Handeln ihr volles Gewicht zur Geltung zu bringen und mehr zu sein als die Summe ihrer Teile. Die Erfahrung aus anderen Politikbereichen, in denen die qualifizierte Mehrheit die Regel ist, zeigt, dass die qualifizierte Mehrheit gemeinsame Lösungen fördert. In der Praxis hat sich erwiesen, dass in Fällen, in denen die qualifizierte Mehrheit gilt, Entscheidungen in den meisten Fällen de facto im Konsens getroffen werden. Die Aussicht auf eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit wirkt als starker Katalysator dafür, durch Kompromissfindung, Konsensbildung und die Einbeziehung aller Akteure eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung zu finden und damit Einigkeit zu erzielen. Das Streben nach Einigkeit führt zu größerer Eigenverantwortung für die gefassten Beschlüsse, die „im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität 8 umzusetzen sind.

Aufgrund der Besonderheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik enthält der Vertrag zum Schutz der Kerninteressen und Vorrechte der Mitgliedstaaten eine Reihe wichtiger Schutzklauseln für den Fall, dass die qualifizierte Mehrheit zur Anwendung kommt (siehe Abschnitt 4).

Aufgrund dieser Schutzklauseln und der Kompromisskultur der EU würde die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit genauso gut in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik funktionieren wie bereits in anderen Politikbereichen der EU. 

Das Beispiel der Handelspolitik

Die Handelspolitik ist ein Bereich, in dem die qualifizierte Mehrheit bereits gilt 9 . Es handelt sich dabei um einen Politikbereich der EU, in dem der Rat häufig Beschlüsse fassen muss. Trotz der unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten hat der Rat jedoch bis zum heutigen Tag nur selten eine förmliche Abstimmung abgehalten.  Die Mitgliedstaaten haben stets eine Entscheidung im Konsens bevorzugt. Ausschlaggebend war das gemeinsame Interesse der Union, das mehr ist als die Summe der Interessen der Mitgliedstaaten. Damit war die EU bislang in der Lage, ihr Potenzial im Welthandel voll auszuschöpfen.

Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit wird nicht alle Probleme lösen, mit denen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik konfrontiert ist. Zu den noch bestehenden Herausforderungen zählen u. a. die Förderung einer stärkeren Konvergenz zwischen den Interessen der Mitgliedstaaten und die Schaffung einer gemeinsamen außenpolitischen Kultur. Dies ist das Kernziel der Globalen Strategie der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik, die von allen Mitgliedstaaten begrüßt wird. Mit der Zeit kann die Festlegung von EU-Standpunkten in einem pragmatischen Prozess, zu dem die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit den Anreiz bietet, auch die Herausbildung gemeinsamer Ziele und Interessen fördern, die alle Mitgliedstaaten verfolgen wollen. Als weitere Herausforderung muss gewährleistet werden, dass die Mitgliedstaaten die im Rat vereinbarten Standpunkte in ihren bilateralen Beziehungen zu Drittländern wirksam umsetzen und verteidigen. Die Ambitionen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sollten auch in der Haushaltskapazität der Union im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen ihren Niederschlag finden.

3.Beispiele für Fälle, in denen die Einstimmigkeitsregel die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU schwächt

In den letzten Jahren wurden im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik viele wichtige Entscheidungen getroffen. In ihren Außenbeziehungen hat die Union auch andere Instrumente zur Förderung ihrer Werte in der Welt eingesetzt, bei denen die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit gilt.

Beispiele für EU-Rechtsakte zur Förderung ihrer Werte in der Welt, die der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit unterliegen

·Im Rahmen des Allgemeinen Präferenzsystems werden Drittländern Handelspräferenzen gewährt. Bei Ländern, die grundlegende Menschenrechte missachten, können diese Präferenzen ausgesetzt werden – mit erheblichen wirtschaftlichen Folgen. So hat die EU bei Myanmar, Belarus und Sri Lanka Handelspräferenzen aufgrund schwerer Menschenrechtsverletzungen entweder ausgesetzt oder aufgehoben.

·EU-Rechtsakte über Ausfuhrkontrollen bei Waren, die zu Folterzwecken und zur Vollstreckung der Todesstrafe verwendet werden könnten, sowie bei Gütern mit doppeltem Verwendungszweck werden mit qualifizierter Mehrheit angenommen.

Es gab Fälle, in denen aufgrund der Einstimmigkeitsregel EU-Beschlüsse zu wichtigen Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere zu Menschenrechten, EU-Sanktionen oder für die EU strategisch wichtigen Regionen, blockiert, verzögert oder verwässert wurden. Diese Fälle unterstreichen die Notwendigkeit, die Effizienz der Union in der Außenpolitik zu erhöhen.

Fälle, in denen die Einstimmigkeitsregel Beschlüsse im Rahmen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verhindert oder erheblich verzögert oder sich negativ auf deren Inhalt ausgewirkt hat

Menschenrechte

Die Förderung der Menschenrechte zählt zu den Hauptzielen der EU. In den letzten Jahren gab es einige Fälle, in denen ein Mitgliedstaat oder mehrere Mitgliedstaaten aus Gründen, die nicht mit den Menschenrechten verbunden waren, die Festlegung von Standpunkte der Union verzögert oder blockiert oder den Inhalt von Standpunkten verwässert haben. Dies geschah sowohl im Rahmen der bilateralen Beziehungen der Union zu Drittländern als auch innerhalb internationaler Organisationen. Jeder dieser Fälle hat die Fähigkeit der Union geschwächt, die Achtung der Menschenrechte auf internationaler Ebene zu fördern, sich negativ auf ihre Glaubwürdigkeit ausgewirkt und sie daran gehindert, ihre Ziele zu erreichen.

·Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf ist das zentrale globale Forum für die Erörterung der Menschenrechte. Die Tagesordnung gliedert sich in 10 Punkten. Die wichtigsten länderspezifischen Menschenrechtsfragen werden unter Punkt 4 erörtert.

Im Juni 2017 war die EU zum ersten Mal nicht in der Lage, im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen einen Standpunkt zu einer Frage unter Punkt 4 abzugeben. Dies war das Ergebnis von Einwänden einer begrenzten Anzahl von Mitgliedstaaten, die den wesentlichen Inhalt der Bewertungen nicht in Frage stellten. Die betreffenden Mitgliedstaaten sprachen sich gegen die ausdrückliche Bezugnahme auf zwei Drittländer aus, die alle anderen Mitgliedstaaten aufgrund ihrer Menschenrechtsbilanz namentlich erwähnen wollten. Da diese Differenzen nicht überwunden werden konnten, konnte die EU ihre Stimme nicht einbringen.  

·Im September 2017 hat ein Mitgliedstaat aufgrund einer Frage in den Beziehungen zu einem Drittland die Annahme sowohl des strategischen Arbeitsplans der EU für den VN-Menschenrechtsrat als auch der Erklärung der EU zu Punkt 4 erheblich hinausgezögert. Im Oktober blockierte derselbe Mitgliedstaat den Entwurf einer EU-Erklärung, die auf der Sitzung des Dritten Ausschusses der VN-Vollversammlung abgegeben werden sollte, und zwang damit alle anderen, einen – im Vergleich zu allen anderen Verweisen in der Erklärung – sowohl in der Substanz als auch in der Länge allgemein als unverhältnismäßig erachten Verweis auf einen bestimmten Fall zu akzeptieren.

·Im Februar 2018 führten vereinzelte Einwände einer begrenzten Zahl von Mitgliedstaaten zu erheblichen Verzögerungen bei der Annahme der jährlichen Prioritäten im Bereich der Menschenrechte, die die EU in den VN-Foren verfolgen wollte. Letztlich sahen sich die anderen Mitgliedstaaten gezwungen, eine Verwässerung der Prioritäten zu akzeptieren.

·Solche Schwierigkeiten sind auch in den bilateralen Beziehungen der EU zu Drittländern aufgetreten. Vor dem Hintergrund eines neuen Gesetzes, das den Spielraum für nichtstaatliche Organisationen in Ägypten stark einschränkte, hat eine begrenzte Anzahl von Mitgliedstaaten den Wunsch aller anderen Mitgliedstaaten, klare Formulierungen zu den Themen Menschenrechte und Zivilgesellschaft in den Entwurf der Partnerschaftsprioritäten der EU mit Ägypten aufzunehmen, blockiert und sich letztlich weitgehend dagegen ausgesprochen. Infolgedessen konnte der rechtliche Rahmen für die bilateralen Beziehungen zu Ägypten nicht rechtzeitig erneuert werden und lag nicht wie geplant Anfang 2017 vor.

Sonstige EU-Erklärungen zur Außenpolitik

·Im Juli 2016 war die EU nicht in der Lage, zügig ihre Unterstützung für den zum Thema Südchinesisches Meer gefällten Schiedsspruch eines Schiedsgerichts im Rahmen des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen auszusprechen, weil eine begrenzte Zahl von Mitgliedstaaten dagegen einen Einwand erhob, der keinen Bezug zu dem betreffenden Schiedsspruch hatte. Nach mehreren Tagen intensiver Verhandlungen konnte schließlich eine Erklärung dazu abgegeben werden. Damit konnte die EU zwar verspätet zur Einhaltung des Völkerrechts aufrufen, war jedoch nicht imstande, die Umsetzung des Schiedsspruchs zu fordern. Dies war vor allem im Hinblick auf die Gipfeltreffen EU-China und ASEM (Asien-Europa-Treffen), die zur gleichen Zeit stattfanden, besonders problematisch.

·Im Dezember 2017 und im Mai 2018 wurde die EU durch das Erfordernis der Einstimmigkeit zu allen Aspekten umfassender EU-Entwürfe daran gehindert, einheitliche Erklärungen zu den Entwicklungen im Hinblick auf Jerusalem abzugeben – dies trotz des weiter bestehenden Einvernehmens der Mitgliedstaaten in Bezug auf den seit Langem gefestigten Standpunkt der EU zum Status von Jerusalem gemäß dem Völkerrecht.

In beiden Fällen war die Union nicht in der Lage, rechtzeitig und in robuster Weise auf eine Entwicklung auf internationaler Ebene zu reagieren, zu der ihr Standpunkt schon seit Langem klar war.

EU-Sanktionen

·Im Februar 2017 blockierte ein Mitgliedstaat die Verlängerung des Waffenembargos gegen Belarus so lange‚ bis sich alle anderen Mitgliedstaaten schließlich bereit erklärten, eine bestimmte Kategorie von Kleinwaffen vom Embargo auszunehmen. Nur so konnte ein vollständiges Auslaufen des Waffenembargos verhindert werden. Ein Jahr später machte derselbe Mitgliedstaat seine Zustimmung zur Verlängerung des Waffenembargos davon abhängig, dass die Ausnahmeregelung auf eine weitere Waffenkategorie ausweitet wird. Alle anderen Mitgliedstaaten haben dies letztendlich aus dem gleichen Grund wie zuvor akzeptiert.

·Im Sommer 2017 blockierte ein Mitgliedstaat die Annahme von gezielten restriktiven Maßnahmen der EU gegenüber Venezuela als Reaktion auf innenpolitische Entwicklungen in diesem Land, die – wie die EU im Vorfeld erklärt hatte – Anlass zur Annahme dieser Maßnahmen bieten würden, sollten sie eintreten. Die einschlägigen restriktiven Maßnahmen wurden letztlich erst im November 2017 nach einer weiteren erheblichen Verschlechterung der Lage vor Ort angenommen.

Diese Beispiele zeigen‚ dass die Einstimmigkeitsregel für Abstimmungen im Rat die Fähigkeit der Europäischen Union einschränkt, rasch und entschlossen auf internationale Entwicklungen zu reagieren. Die Sanktionsregelungen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik werden zwar einstimmig beschlossen, die Regelung zum Schutz vor den Auswirkungen von Sanktionen, die sogenannte „Blocking-Verordnung“ 10 , unterliegt jedoch der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit, sodass sie als Reaktion auf internationale Entwicklungen zügig aktualisiert werden kann.

Zivile Missionen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik

·In noch jüngerer Zeit wurde 2018 der Ausweitung der mit Kapazitätsaufbau betrauten Mission in der Sahelzone von einem Mitgliedstaat solange blockiert‚ bis ein anderer Mitgliedstaat seine Vorbehalte im Hinblick auf eine andere Mission in Irak fallen ließ. Bedauerlicherweise war dies nicht der erste Fall, in dem ein Mitgliedstaat Fortschritte in einer GSVP-Angelegenheit verzögert oder blockiert hat, weil sich ein anderer Mitgliedstaat in einer anderen Angelegenheit ähnlich verhalten hat. Solche Situationen haben die EU zwar letztlich nie daran gehindert, voranzukommen, doch sie haben – in einigen Fällen – zu Verzögerungen bei der Annahme der erforderlichen Beschlüsse geführt.

Zu Verzögerungen infolge der Einstimmigkeitsregel kommt es aber nicht nur bei Beschlüssen zur Einrichtung von Missionen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, sondern auch bei Fragen der praktischen Umsetzung, wie z. B. der Billigung der verbindlichen Halbjahresberichte, die dem Rat bei jeder zivilen Mission im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik regelmäßig vorzulegen sind.

 

Diese und ähnliche Situationen waren nicht auf unüberwindbare Unterschiede bei den langfristigen Interessen zurückzuführen, sondern darauf, dass das Vetorecht es einzelnen Mitgliedstaaten ermöglichte, aus Gründen, die nicht immer mit der jeweiligen Frage zusammenhingen, die Beschlussfassung zu blockieren, und ihnen keinen Anreiz bot, einen konstruktiven Kompromiss zu suchen.

Es sei darauf hingewiesen, dass in den meisten der oben als Beispiele genannten Fälle dank der harten Arbeit aller Beteiligten Lösungen gefunden werden konnten. Diese Lösungen hatten jedoch ihren Preis. Die langwierigen Diskussionen, die auf ein „Veto“ folgten, waren oft kontrovers und haben dem Einfluss und dem Zusammenhalt der EU geschadet.

4.Der bestehende Rahmen für die Beschlussfassung im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik

Der Vertrag über die Europäische Union legt als allgemeine Regel fest, dass der Rat Beschlüsse im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik einstimmig fasst (Artikel 24 Absatz 1 und Artikel 31 Absatz 1 EUV) 11 . Diese Regel wurde mit dem Vertrag von Maastricht eingeführt. Daneben besteht die Regel der qualifizierten Mehrheit, die bereits in bestimmten Fällen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zur Anwendung kommt.

4.1.Die Einstimmigkeit ist zwar die allgemeine Regel für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik....

Der Grundsatz der Einstimmigkeit in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik steht im Gegensatz zu anderen Bereichen des auswärtigen Handelns der EU (wie z. B. Entwicklung und internationale Zusammenarbeit oder Handel), in denen als allgemeine Regel die qualifizierte Mehrheit gilt 12 .

In Anerkennung der Schwierigkeiten, zu denen diese Regel führen kann, enthält der Vertrag über die Europäische Union eine Bestimmung, mit der die flexiblere und damit auch effektivere Gestaltung der einstimmigen Beschlussfassung ermöglicht werden soll.

Die sogenannte „konstruktive Stimmenthaltung“ (Artikel 31 Absatz 1 Absatz 2 EUV) sieht das Recht eines Mitgliedstaats vor, sich bei einer der Einstimmigkeit unterliegenden Abstimmung im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Stimme zu enthalten und diese Stimmenthaltung durch eine förmliche Erklärung zu begründen. Der Mitgliedstaat ist zwar nicht verpflichtet, den betreffenden Beschluss umzusetzen, muss jedoch im Geiste der Solidarität von Maßnahmen absehen, die die Union an der Umsetzung des Beschlusses hindern könnten.

Bisher wurde die konstruktive Stimmenthaltung nur einmal von einem Mitgliedstaat in Anspruch genommen, und zwar im Jahr 2008 13 , als die EU beschloss, eine zivile Mission der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Kosovo* einzurichten.

Hinweis – Abstimmungsverfahren im Rat

Einfache Mehrheit (Artikel 238 AEUV): Eine einfache Mehrheit besteht aus 15 der 28 Mitgliedstaaten.

Qualifizierte Mehrheit (Artikel 16 EUV und Artikel 238 Absatz 3 AEUV): Seit 2014 gilt als qualifizierte Mehrheit eine Mehrheit von 55 % der Mitglieder des Rates (16 von 28 Mitgliedern), sofern auf die betreffenden Mitgliedstaaten mindestens 65 % der EU-Gesamtbevölkerung entfallen. Die Stimmenthaltung gilt als Gegenstimme.

Einstimmigkeit (Artikel 238 Absatz 4 AEUV): Alle Mitgliedstaaten müssen sich vor der Annahme eines Beschlusses einigen. Die Stimmenthaltung steht der einstimmigen Annahme eines Beschlusses durch den Rat nicht entgegen.

4.2....doch die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit ist in bestimmten Fällen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vorgesehen...

Der Europäische Rat hat bereits 1990 erklärt, dass zur Umsetzung zuvor vereinbarter Maßnahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit in Erwägung gezogen werden sollte 14 . Zu diesem Zweck haben sich die Mitgliedstaaten durch sukzessive Vertragsänderungen auf einen schrittweisen Übergang zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit verständigt. Artikel 31 Absatz 2 EUV birgt ein großes Potenzial, das bisher nicht ausgeschöpft wurde.

Nach Artikel 31 Absatz 2 EUV beschließt der Rat in folgenden Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit qualifizierter Mehrheit 15 :

Nach Artikel 31 Absatz 2 EUV kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, wenn er

·auf der Grundlage eines Beschlusses des Europäischen Rates über die strategischen Interessen und Ziele der Union nach Artikel 22 Absatz 1 EUV einen Beschluss erlässt, mit dem eine Aktion oder ein Standpunkt der Union festgelegt wird;“

Diese Bestimmung bietet dem Europäischen Rat die Möglichkeit, einen einstimmigen Beschluss anzunehmen, in dem die strategischen Interessen und Ziele der EU in einem oder mehreren spezifischen Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik festgelegt werden. Nach Festlegung der strategischen Ziele und Grundsätze der geplanten Aktion bzw. des geplanten Standpunkts durch den Europäischen Rat könnte der Rat dann alle Beschlüsse zur Umsetzung der strategischen Entscheidungen des Europäischen Rates mit qualifizierter Mehrheit fassen.

·auf einen Vorschlag hin, den ihm der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik auf spezielles Ersuchen des Europäischen Rates unterbreitet hat, das auf dessen eigene Initiative oder auf eine Initiative des Hohen Vertreters zurückgeht, einen Beschluss erlässt, mit dem eine Aktion oder ein Standpunkt der Union festgelegt wird;“

Diese Bestimmung ermöglicht es dem Europäischen Rat (entweder auf eigene Initiative oder auf Vorschlag des Hohen Vertreters), einstimmig den Hohen Vertreter aufzufordern, dem Rat einen Vorschlag für einen Beschluss zur Festlegung einer Aktion oder eines Standpunkts der Union vorzulegen. In solchen Fällen würde der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen. Der mögliche Inhalt eines solchen Ersuchens des Europäischen Rates ist in den Verträgen nicht festgelegt und könnte somit sämtliche Bereiche der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik betreffen.

Fälle, in denen Artikel 31 Absatz 2 EUV die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit vorschreibt: 

·Wenn der Rateinen Beschluss zur Durchführung eines Beschlusses, mit dem eine Aktion oder ein Standpunkts der Union festgelegt, erlässt;“ 

Gemäß dieser Bestimmung erlässt der Rat nach einstimmiger Festlegung einer Aktion oder eines Standpunkts alle weiteren Durchführungsbeschlüsse mit qualifizierter Mehrheit.

· wenn der Rat „nach Artikel 33 einen Sonderbeauftragten ernennt.“

Die Sonderbeauftragten haben ein Mandat hinsichtlich bestimmter Themen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Die qualifizierte Mehrheit hat sich in der Praxis bewährt und eine zügige Beschlussfassung – sogar ohne formelle Abstimmung – ermöglicht. Wie in anderen Bereichen, in denen die qualifizierte Mehrheit gilt, beschließt der Rat im Konsens über die Ernennung von Sondervertretern.

Der Vertrag über die Europäische Union enthält zwei wichtige Schutzklauseln im Hinblick auf die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit in Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik .

Schutzklauseln bei der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik

·Artikel 31 Artikel 2 EUV sieht eine Art „Notbremse“ vor. Demnach kann ein Mitglied des Rates „aus wesentlichen Gründen der nationalen Politik, die es auch nennen muss“ eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit ablehnen; in diesem Fall erfolgt keine Abstimmung. Sollten die anschließenden Konsultationen zwischen dem Hohen Vertreter und dem betreffenden Mitgliedstaat nicht erfolgreich verlaufen, kann der Rat der EU mit qualifizierter Mehrheit veranlassen, dass die Fragen im Hinblick auf einen einstimmigen Beschluss an den Europäischen Rat verwiesen wird.

·Nach Artikel 31 Absatz 4 EUV sind Beschlüsse mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen vom Anwendungsbereich von Artikel 31 Absatz 2 EUV ausgenommen. Damit ist sichergestellt, dass Beschlüsse mit solchen Bezügen nicht mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden.

4.3.… und die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik könnte noch stärker ausgeweitet werden

Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die Möglichkeit eingeführt, die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit auszuweiten. Auf der Grundlage der sogenannten „Brückenklausel“ des Artikels 31 Absatz 3 EUV kann der Europäische Rat einstimmig einen Beschluss erlassen, in dem vorgesehen ist, dass der Rat in anderen als den in Artikel 31 Absatz 2 EUV genannten Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit qualifizierter Mehrheit beschließt.

Die Mitgliedstaaten haben also eindeutig erkannt, dass es angebracht sein kann, dass der Rat über die in Artikel 31 Absatz 2 EUV vorgesehenen Sonderfälle hinaus mit qualifizierter Mehrheit beschließt, wenn die Europäische Union zu einem wirklich leistungs- und handlungsfähigen Akteur in außen- und sicherheitspolitischen Angelegenheiten werden will.

Beide in Abschnitt 4.2 beschriebenen Schutzklauseln werden auch nach Inanspruchnahme der „Brückenklausel“ des Artikels 31 Absatz 3 EUV weiterhin gelten.

5.Konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik durch eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit

Die Kommission fordert daher die Mitgliedstaaten auf, das Potenzial des EUV in Bezug auf die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu nutzen. Sie schlägt nicht vor, dass der Rat in sämtlichen Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit qualifizierter Mehrheit beschließt. Der Schwerpunkt sollte vielmehr auf Bereichen liegen, in denen die qualifizierte Mehrheit einen Mehrwert bieten würde.

Die Vertragsbestimmungen über die „konstruktive Stimmenthaltung“ nach Artikel 31 Absatz 1 EUV und die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit nach Artikel 31 Absatz 2 EUV bergen ein großes Potenzial. Wären diese Instrumente genutzt worden, so hätten einige der in Abschnitt 3 beschriebenen Situationen vermieden werden können. Die Kommission fordert daher die Mitglieder des Rates auf, dieses Potenzial durch Anwendung der Verträge in Wort und Geist in vollem Umfang zu nutzen. 

In diesem Zusammenhang sind Schlussfolgerungen des Rates ein nützliches Instrument, um eine politische Einigung über EU-Standpunkte zu spezifischen außenpolitischen Fragen zu erzielen. Allerdings sollte der Rat davon absehen, mithilfe paralleler oder informeller Verfahren Standpunkte zu Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik oder zu anderen Angelegenheiten im gegenseitigen Einvernehmen 16 festzulegen, wenn er dazu die im Vertrag vorgesehenen Instrumente nutzen könnte. Auf diese Weise könnte das Potenzial des Artikel 31 Absätze 1, 2 und 3 EUV ausgeschöpft werden.

Wenn es sich um Fragen handelt‚ die nicht die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, sondern die externen Aspekte einer Politik betreffen, die den Bestimmungen des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union unterliegt, sollten die entsprechenden Rechtsgrundlagen für die Beschlussfassung – und somit nicht die Einstimmigkeitsregel – gelten. Das Potenzial des dichten Netzes der EU-Delegationen in Ländern weltweit und bei internationalen Organisationen sollte voll ausgeschöpft werden 17 . 

Ausschöpfung des Potenzials der bestehenden Bestimmungen über die qualifizierte Mehrheit gemäß Artikel 31 Absatz 2 EUV

Der Rat hat bereits Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit gefasst, um im Rahmen von restriktiven Maßnahmen der EU die Listen der Personen und Einrichtungen, die dem Einfrieren von Vermögenswerten und einem Reiseverbot unterliegen, im Einklang mit Änderungen internationaler Sanktionsregelungen der Vereinten Nationen anzupassen und gelegentlich auch um im Rahmen autonomer EU-Sanktionen Änderungen der Listen vorzunehmen, wenn diese Änderungen vom Rat nicht als sensibel eingestuft wurden 18 . Die Kommission schlägt vor, dass der Rat bei sämtlichen EU-Sanktionsregelungen, d. h. auch bei autonomen Maßnahmen, Beschlüsse zur Änderung der einschlägigen Listen konsequent mit qualifizierter Mehrheit gemäß den Verfahren des Artikels 31 Absatz 2 EUV (dritter Gedankenstrich) fasst.

Der Europäische Rat hat das Vorrecht, die strategischen Interessen und Ziele der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU sowohl hinsichtlich einzelner Themen als auch im Hinblick auf die Beziehungen zu einem bestimmten Land oder einer bestimmten Region festzulegen 19 . Die Kommission schlägt vor, dass der Europäische Rat in Beschlüssen über thematische oder geografische Strategien, Prioritäten oder Leitlinien den Umfang und die Bedingungen festgelegt, in dem bzw. nach denen der Rat Beschlüsse zu ihrer Umsetzung mit qualifizierter Mehrheit gemäß Artikel 31 Absatz 2 EUV (erster Gedankenstrich) erlassen kann.

Die Ausschöpfung des Potenzials der bestehenden Bestimmungen über die qualifizierte Mehrheit gemäß Artikel 31 Absatz 2 EUV würde zwar zu erheblichen Verbesserungen führen, würde aber nicht ausreichen, um viele der festgestellten Defizite zu beseitigen. Dazu schlägt die Kommission vor, auch strukturelle Lösungen zur Verbesserung der Beschlussfassung im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik durch Rückgriff auf die „Brückenklausel“ nach Artikel 31 Absatz 3 EUV zu prüfen.

Die Kommission hat drei spezifische Bereiche ermittelt‚ in denen die Anwendung der „Brückenklausel“ nach Artikel 31 Absatz 3 EUV unmittelbare Vorteile bieten würde.

5.1.EU-Standpunkte zu den Menschenrechten in multilateralen Foren

Die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte zählen zu den Grundprinzipien, die für die Gründung, Entwicklung und Erweiterung der EU und die Ausrichtung ihres auswärtigen Handelns maßgeblich waren 20 . Politische Einigkeit im Bereich der Menschenrechte ist eine entscheidende Voraussetzung für die Wahrung der internationalen Glaubwürdigkeit und der „weichen Macht“ der EU innerhalb und außerhalb multilateraler Foren.

Wenn EU-Standpunkte zu Menschenrechten in internationalen Foren im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erörtert werden, werden sie derzeit einvernehmlich festgelegt, in der Regel in Form von Schlussfolgerungen des Rates. Der Übergang zu einer qualifizierten Mehrheit wird die EU in die Lage versetzen, effizienter und rechtzeitiger zu handeln. Eine Situation wie im Juni 2017, als die Union nicht imstande war, eine Erklärung zu Punkt 4 („Vom Menschenrechtsrat zu erörternde Menschenrechtsangelegenheiten“) auf der Tagesordnung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen abzugeben, wäre nicht mehr möglich.

Die Kommission schlägt daher vor, dass der Europäische Rat einstimmig einen Beschluss auf der Grundlage von Artikel 31 Absatz 3 EUV erlässt, in dem festgelegt wird, dass EU-Standpunkte zu den Menschenrechten in internationalen Foren in Form von mit qualifizierter Mehrheit gefassten Ratsbeschlüssen angenommen werden. 

5.2.Annahme und Änderung von EU-Sanktionsregelungen

Die Sanktionspolitik zählt zu den wirksamsten außen- und sicherheitspolitischen Instrumenten der EU, denn sie versetzt die Union in die Lage, ihre beträchtliche wirtschaftliche Macht zur Förderung ihrer außenpolitischen Ziele einzusetzen. Dabei ist ein einheitliches Vorgehen von entscheidender Bedeutung, um die Gleichheit der Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt und die Wirksamkeit der gemeinsamen Vorschriften im Schengen-Raum zu wahren.

In den letzten Jahren hat die Anwendung restriktiver Maßnahmen durch die EU an Häufigkeit und Intensität zugenommen, was den Willen der EU belegt, durch politischen und wirtschaftlichen Druck auf Entwicklungen zu reagieren bzw. solche Entwicklungen zu beeinflussen oder abzuwehren. Wie im Bereich der Handelspolitik, in dem die qualifizierte Mehrheit gilt, liegt auch bei Sanktionsverhandlungen der Schwerpunkt auf der Festlegung gemeinsamer politischer Ziele und der Schaffung eines angemessenes Gleichgewichts zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Mitgliedstaaten. Die Fähigkeit der EU zu entschlossenem Handeln entsprechend ihren geopolitischen Interessen – zumeist im Rahmen einer internationalen Mobilisierung gegen schwere Verletzungen des Völkerrechts – liegt im gemeinsamen Interesse aller Mitgliedstaaten.

Die Kommission schlägt daher vor, dass der Europäische Rat einstimmig einen Beschluss auf der Grundlage von Artikel 31 Absatz 3 EUV erlässt, in dem festgelegt wird, dass der Rat Beschlüsse zur Einrichtung von Sanktionsregelungen mit qualifizierter Mehrheit erlässt 21 . 

5.3.Zivile Missionen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Zivile Missionen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik spielen eine wichtige Rolle im weltweiten Engagement der EU für Frieden und Sicherheit. Beschlüsse zur Einrichtung und Durchführung ziviler Mission fasst der Rat derzeit einstimmig 22 .

In einem dynamischen internationalen Umfeld muss die EU ihr Instrumentarium rasch einsetzen können, um während Krisen oder in der Zeit danach die nationalen Behörden und/oder lokalen Gemeinschaften zügig, direkt und sichtbar zu unterstützen. Da die EU darum bemüht ist, Stabilität in ihrer Nachbarschaft zu fördern, dürfte die Zahl der zivilen Missionen zunehmen. Angesichts der sich ständig verändernden Rahmenbedingungen beim Einsatz vor Ort benötigen solche Missionen effiziente und flexible Verwaltungsstrukturen.

Die Kommission schlägt daher vor, dass der Europäische Rat einstimmig einen Beschluss auf der Grundlage von Artikel 31 Absatz 3 EUV erlässt, in dem festgelegt wird, dass der Rat alle Beschlüsse über zivile Missionen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit qualifizierter Mehrheit erlässt. 

Dafür sollten zunächst alle Missionen zum Kapazitätsaufbau im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und zur Reform des Sicherheitssektors in Erwägung gezogen werden, da sie in der Regel mit dem Einsatz anderer EU-Instrumente einhergehen, die im Rat der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit unterliegen.

Auf jeden Fall könnte der Europäische Rat beschließen, dass der Rat nach der einstimmigen Einrichtung einer zivilen Mission im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sämtliche Beschlüsse über ihre Durchführung mit qualifizierter Mehrheit fasst 23 .

6.Fazit

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU wurde seit ihrer Einrichtung erheblich gestärkt. Sie kann z. B. im Hinblick auf den westlichen Balkan, die Unterstützung der Ukraine und das Nuklearprogramm Irans beachtliche Erfolge vorweisen. Die Partner der EU in der Welt erwarten, dass die Union ihre Werte verteidigt und sich international für eine auf Regeln beruhende multilaterale Ordnung einsetzt.

Es wächst die Erkenntnis, dass die schwierige internationale Lage, in der wir uns befinden, eine neue „Gangart“ in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erfordert. Die EU muss zu einem stärkeren internationalen Akteur werden, damit sie weiterhin unsere Zukunft gestalten, unsere gemeinsame Souveränität wahren und einen positiven internationalen Einfluss ausüben kann.

In einigen Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik lässt sich die Beschlussfassung effizienter gestalten. Dadurch kann die Europäische Union ihre Handlungsfähigkeit stärken.

Aus diesem Grund spricht sich die Kommission dafür aus, das Potenzial des Vertrags über die Europäische Union auszuschöpfen, indem sämtliche Möglichkeiten im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere die Möglichkeit zur Ausweitung der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit, in Anspruch genommen werden.

Als Beitrag zum Aufbau einer geeinteren, stärkeren und demokratischeren Union mit Blick auf das Jahr 2022 ersucht die Europäische Kommission die Staats- und Regierungschefs, auf ihrer Tagung am 9. Mai 2019 in Sibiu die in dieser Mitteilung unterbreiteten Vorschläge zu billigen. Der Rat sollte in den folgenden drei Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mit qualifizierter Mehrheit beschließen:

·Fragen der Menschenrechte in multilateralen Foren,

·Sanktionspolitik und

·zivile Missionen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- Verteidigungspolitik.

(1)       Erklärung von Rom Erklärung der Staats- und Regierungschefs von 27 Mitgliedstaaten und der Führungsspitzen des Europäischen Rates, des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission.
(2)      Dieser Begriff wurde von Präsident Juncker in seiner Rede auf der 54. Sicherheitskonferenz von München geprägt.
(3)       Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union , Juni 2017.
(4)      Präsident Junckers  Rede zur Lage der Union 2017 .
(5)     Meseberg-Erklärung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Bereits im Rahmen des Europäischen Konvents erkannten verschiedene Mitgliedstaaten an, wie wichtig eine Kursänderung und die Einführung einer qualifizierten Mehrheit seien. Diesen Standpunkt vertraten vor allem Frankreich und Deutschland (Réf. Contribution franco-allemande à la Convention européenne sur l'architecture institutionnelle de l'Union du 15 janvier 2003, faite à Paris et à Berlin; Contribution de M. Dominique de Villepin et M. Joschka Fischer).
(6)      Für weitere Informationen siehe „ Building Europe through the Treaties in den Zusammenfassungen des EU-Rechts auf EUR-Lex.
(7)      Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Eine glaubwürdige Erweiterungsperspektive für und ein verstärktes Engagement der EU gegenüber dem westlichen Balkan (COM(2018) 65 final).
(8)      Artikel 24 Absatz 3 EUV.
(9)      Mit sehr wenigen an Bedingungen geknüpften Ausnahmen nach Artikel 218 Absatz 8 Unterabsatz 1 AEUV.
(10)      Verordnung (EG) Nr. 2271/96 des Rates vom 22. November 1996 zum Schutz vor den Auswirkungen der extraterritorialen Anwendung von einem Drittland erlassener Rechtsakte sowie von darauf beruhenden oder sich daraus ergebenden Maßnahmen ABl. L 309 vom 29.11.1996, S. 1.
(11)      Zu den anderen Bereichen, in denen Beschlüsse einstimmig gefasst werden müssen, zählen Steuern, soziale Sicherheit/Sozialschutz, der Beitritt neuer Länder zur EU und die operative polizeiliche Zusammenarbeit.
(12)      Während für andere Bereiche des auswärtigen Handelns der EU die Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union gelten, unterliegt die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik den Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union.
(13)      Gemeinsame Aktion 2008/124/GASP des Rates vom 4. Februar 2008 (ABl. L 42 vom 16.2.2008, S. 92).*    Diese Bezeichnung berührt nicht die Standpunkte zum Status und steht im Einklang mit der Resolution 1244/1999 des VN-Sicherheitsrates und dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovos.
(14)      Siehe Schlussfolgerungen des Rates zur Vorbereitung der Regierungskonferenz vor dem Abschluss des Vertrags von Maastricht   http .
(15)      Weitere Artikel des Vertrags über die Europäischen, die eine Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit vorsehen: Artikel 41 Absatz 3, Artikel 45 Absatz 2 und Artikel 46 Absatz 2 EUV. Vor kurzem hat eine große Mehrheit der Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Artikel 46 Absatz 2 EUV beschlossen, die europäische Kooperation im Bereich der Verteidigung durch einen mit qualifizierter Mehrheit gefassten Beschluss zur Einrichtung einer Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit und Verteidigung voranzubringen. Durch die Einrichtung einer solchen Form der Zusammenarbeit lässt sich die Handlungsfähigkeit der EU als internationaler Sicherheitsakteur stärken und die Wirksamkeit der Verteidigungsausgaben der Mitgliedstaaten maximieren.
(16)      Nach dem Verfahren des gegenseitigen Einvernehmens, das nicht in den Verträgen vorgesehen ist, können sich alle Mitgliedstaaten in einer bestimmten Frage ohne die Möglichkeit einer Stimmenthaltung einigen.
(17)      Artikel 221 AEUV.
(18)      Siehe Durchführungsbeschluss (GASP) 2018/1086 des Rates vom 30. Juli 2018 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Libyen, ABl. L 194 vom 31.7.2018, S. 150.
(19)      Artikel 22 Absätze 1 und  2 sowie Artikel 26 Absatz 1.
(20)      Wie in Artikel 21 EUV vorgesehen.
(21)      Über die bereits im ersten Kästchen im Abschnitt 5 genannte Möglichkeit hinaus.
(22)      Nach Artikel 42 Absatz 4 EUV, Artikel 43 Absatz 2 und Artikel 28 AEUV.
(23)      Einschließlich Beschlüsse aufgrund einer Befugnisübertragung.
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