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Document 52011AE0817

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle“ KOM(2010) 618 endg.

    ABl. C 218 vom 23.7.2011, p. 135–139 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    23.7.2011   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 218/135


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle“

    KOM(2010) 618 endg.

    2011/C 218/28

    Berichterstatter: Richard ADAMS

    Die Europäische Kommission beschloss am 1. Februar 2011, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

    Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle

    KOM(2010) 618 endg.

    Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 29. März 2011 an.

    Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 471. Plenartagung am 4./5. Mai 2011 (Sitzung vom 4. Mai) mit 146 gegen 7 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1   Schlussfolgerungen

    1.2   Die Ausarbeitung dieser Richtlinie hat mehr als zehn Jahren in Anspruch genommen; der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss begrüßt sie als klaren Schritt in die richtige Richtung, da sie verbindliche Mindeststandards für die geplante Bewirtschaftung des bestehenden umfangreichen Aufkommens an radioaktiven Abfällen in der EU festlegt.

    1.3   In dieser Richtlinie stehen erfreulicherweise Transparenz und Beteiligung der Öffentlichkeit im Vordergrund; durch die Anforderung, sowohl die Kosten als auch die Finanzierung der Vorschläge abzuschätzen, wird ein grundlegendes analytisches Instrument zur Verfügung stehen. Zum ersten Mal werden auf internationaler Ebene vereinbarte Sicherheitsstandards in der EU rechtsverbindlich und durchsetzbar. Die EU sollte mit Nachbarländern zusammenarbeiten und sie zur Annahme vergleichbarer Sicherheitsstandards ermutigen.

    1.4   Die Ausarbeitung dieser Richtlinie war jedoch kein leichtes Unterfangen. Der Grad der wissenschaftlichen Gewissheit ist nach wie vor umstritten, und die Schwierigkeiten bei der Erstellung noch weit in der Zukunft liegender politischer und sozialer Szenarien liegen auf der Hand.

    1.4.1   Es herrscht zwar ein breiter wissenschaftlicher Konsens über die allgemeine technische Machbarkeit der Endlagerung in tiefen geologischen Formationen, doch wird in mehreren Bereichen immer noch über den Grad an wissenschaftlicher Gewissheit bzw. die Eignung diskutiert. Die Frage kann kaum zur Zufriedenheit aller Interessenträger gelöst werden, was vor allem an den inhärenten Eigenschaften hochaktiver Abfälle, ihrer Interaktion mit ihrer unmittelbaren Umgebung und den anvisierten geologischen Zeiträumen liegt. Die derzeitig betriebenen Zwischenlager sind mittelfristig absolut untragbar; dies unterstreicht den Handlungsbedarf.

    1.4.2   Darüber hinaus gibt es weiterhin lebhafte und nicht enden wollende Diskussionen über die Frage, welches Sicherheits- und Risikoniveau als vertretbar erachtet werden kann. Was bedeutet es eigentlich auf die Praxis bezogen, der Sicherheit von Mensch und Umwelt höchste Priorität einzuräumen? In der Praxis wird der Sicherheitsnachweis im Rahmen der Beschlussfassung der Mitgliedstaaten letztlich auf einer Mischung aus qualitativen und quantitativen Argumenten gründen, in dem Bestreben, Unsicherheiten so weit wie möglich auszuräumen.

    1.4.3   Je länger die Laufzeit, desto stärker nimmt das Vertrauen in die politische und institutionelle Beständigkeit und in die Kompetenz des Verwaltungssystems ab. Daher ist die passive Sicherheit ein wichtiger Faktor, der auch dann noch greifen muss, wenn Aufsicht und Wissen über eine Lagerstätte schon nicht mehr vorhanden sind.

    1.4.4   Die Weiterentwicklung der Kernenergie und ihr künftiger Beitrag zum Energiemix der Mitgliedstaaten hängen in gewissem Maße von ihrer Akzeptanz in der Öffentlichkeit und ihrer finanziellen Tragfähigkeit ab. Die Debatte über die Nutzung bzw. die Entwicklung der Kernkraft lenkt erheblich von der unmittelbaren und dringenden Notwendigkeit ab, eine Lösung für das immer größere Problem der radioaktiven Abfälle zu finden, zumal dieses durch neue und bereits laufende Stilllegungen von Kernkraftwerken noch weiter verschärft wird. Die öffentliche Meinung in der EU bezüglich Kernenergie ist stark gespalten, doch ist die Mehrheit der Unionsbürger der Ansicht, dass ein EU-Instrument zur Bewirtschaftung radioaktiver Abfälle zweckdienlich wäre (siehe „Einstellung zu radioaktiven Abfällen“, Eurobarometer-Umfrage, Juni 2008.).

    1.5   Der Ausschuss will daher die ambivalente Haltung der Bürger konstruktiv angehen und einschlägige Empfehlungen aussprechen, um die Europäische Kommission in ihren Bemühungen um eine Lösung zu unterstützen.

    1.6   Empfehlungen

    1.6.1   In Ziffer 4 und 5 dieser Stellungnahme bringt der Ausschuss einige spezifische Anmerkungen, Vorschläge und Empfehlungen vor und fordert die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und den Rat auf, diese umfassend zu berücksichtigen. Darüber hinaus empfiehlt er ganz allgemein, dass

    die Mitgliedstaaten die Prioritätensetzung in den Richtlinienbestimmungen zugunsten der Sicherheit anerkennen und diese Richtlinie zügig und kohärent in ihre nationale Gesetzgebung umsetzen, um das dringliche Problem des stetig wachsenden radioaktiven Müllbergs anzugehen;

    die Regierungen, die Atomindustrie und die einschlägigen wissenschaftlichen Kreise mehr Anstrengungen unternehmen, um der Öffentlichkeit zusätzliche detaillierte und transparente Informationen einschl. Risikobewertungen über die Optionen für die Bewirtschaftung radioaktiver Abfälle zur Verfügung zu stellen.

    2.   Einleitung

    2.1   Durch die Schäden, die das Erdbeben und der Tsunami bei vier Reaktorblöcken des Kernkraftwerks Fukushima I in Nordjapan ausgelöst haben, ist das Thema nukleare Sicherheit gegenwärtig Gegenstand starken Interesses und großer Besorgnis. Die Richtlinie über nukleare Sicherheit (siehe Ziffer 5.6) und die zuständigen einzelstaatlichen Behörden beschäftigen sich mit den Bedingungen für einen sicheren Betrieb und Vorkehrungen für die Sicherheit von Kernkraftwerken in der EU. Am 21. März vereinbarten die Mitgliedstaaten, die Zusammenarbeit ihrer jeweiligen Regulierungsbehörden für Kernenergie zu verbessern und die Europäische Gruppe der Regulierungsbehörden für nukleare Sicherheit (ENSREG) aufzufordern, Modalitäten für die für alle Kernkraftwerke der EU vorgeschlagenen Stresstests (umfassende Risiko- und Sicherheitsbewertung) zu definieren. Angesichts der tiefen Besorgnis der Öffentlichkeit infolge des gravierenden Störfalls von Fukushima wird der Ausschuss aus Gründen der Dringlichkeit und Transparenz sich um seine umfassende Einbindung in einen Dialog mit der Zivilgesellschaft zu dieser Thematik und angrenzenden Fragenkomplexen bemühen, insbesondere im Wege einer Neuausrichtung der Arbeitsgruppe „Transparenz“ des Europäischen Kernenergieforums (ENEF), bei der der Ausschuss derzeit den Vorsitz innehat, und der Mitarbeit in den Arbeitgruppen „Gefahren“ und „Chancen“.

    2.2   Technisch gesehen müssen die Folgen des Störfalls von Fukushima und ihr möglicher unmittelbarer Stellenwert für die Richtlinie über radioaktive Abfälle erst umfassend analysiert werden. Andererseits hat er verständlicherweise die Besorgnis und das Bewusstsein der Öffentlichkeit in Sachen nukleare Sicherheit erhöht und kann nach Einschätzung des Ausschusses bei der laufenden Debatte über diese Problematik sehr aufschlussreich sein.

    2.3   Im November 2010 waren in der EU 143 Kernkraftwerke (Reaktoren) in 14 Mitgliedstaaten in Betrieb. Darüber hinaus gibt es zahlreiche stillgelegte Kraftwerke und andere kerntechnische Anlagen wie Wiederaufarbeitungsanlagen, in denen radioaktive Abfälle anfallen. Jedes Jahr erzeugt die EU in der Regel 280 m3 hochaktiver Abfälle, 3 600 t abgebrannter Brennelemente und 5 100 m3 langlebig radioaktiver Abfälle, für die es keine Entsorgungswege gibt (siehe Sechster Lagebericht über die Entsorgung radioaktiver Abfälle und abgebrannter Brennstoffe in der Europäischen Union, SEK(2008) 2416); darüber hinaus fallen auch schwächer radioaktive Abfälle an, die großteils routinemäßig entsorgt werden. Hoch radioaktive Abfälle (High Level Waste - HLW) sind langlebige Radionuklide und hochgradig wärmeentwickelnd. Sie machen 10 % des Gesamtabfallvolumens aus, enthalten rund 99 % der Radioaktivität des gesamten Abfalls und umfassen Spaltprodukte und ausgediente Brennelemente.

    2.4   Diese Abfälle entstehen bei der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente und bei ihrer direkten Endlagerung sowie beim herkömmlichen Betrieb von Kernkraftwerken und bei ihrer Stilllegung. Zahlreiche weitere Kernkraftwerke sind geplant, einige in Mitgliedstaaten, die bislang noch über keine Erfahrung mit Kernkraft verfügen. Wird der dabei entstehende Atommüll, der in einigen Fällen über zehntausende Jahre eine Bedrohung bleibt, nicht bewirtschaftet und kontrolliert, entstehen erhebliche Gefahren für Gesundheit, Sicherheit und Gefahrenabwehr. Radioaktive Abfälle enthalten naturgemäß Isotope von Elementen, bei deren radioaktivem Zerfall ionisierende Strahlung entsteht, die für Mensch und Umwelt gefährlich sein kann.

    2.5   Die Entscheidungen, die im 21. Jahrhundert getroffen werden, werden sich noch zehntausend Jahre später auswirken. Die Bewirtschaftung von Abfällen aus dem Kernbrennstoffkreislauf ist einer der Schwerpunkte dieser Richtlinie, die jedoch auch radioaktive Abfälle aus Forschung, Medizin und Industrie behandelt. Aufgrund der Zunahme der Stromerzeugung aus Kernkraft stieg das Volumen an hochaktiven Abfällen im Zeitraum 2000-2005 jährlich um durchschnittlich 1,5 %. Die Stilllegung älterer Kraftwerke trägt nun zu einem weiteren Anstieg dieses Aufkommens bei. Ende 2004 waren in Europa schätzungsweise 220 000 m3 langlebig schwach- bis mittelaktive Abfälle, 7 000 m3 hochaktive Abfälle und 38 000 Tonnen abgebrannter Brennelemente gelagert. (Diese Zahlen sind ungewiss, da in Wiederaufarbeitungsländern wie dem Vereinigten Königreich und Frankreich abgebrannte Brennelemente und wieder angereichertes Plutonium und Uran derzeit nicht als radioaktiver Abfall eingestuft werden, da Brennelemente wiederverwertbar sind und wieder angereichertes Plutonium und Uran zur Herstellung neuer Brennelemente verwendet werden können.)

    2.6   Das erste kommerzielle Kernkraftwerk ging vor 54 Jahren ans Netz. Genauso lange schon wird eine Debatte über die Abfallbewirtschaftung geführt. Es herrscht ganz allgemein Einigkeit darüber, dass die langfristige Zwischenlagerung in jedem Fall eine geeignete Anfangslösung ist. Es gibt nach wie vor keine Endlager für hochaktive Abfälle in der EU; Schweden, Finnland und Frankreich planen jedoch die Inbetriebnahme derartiger Lager bis 2025. Ziel sind Konzipierung und Bau von Anlagen, die durch passive Sicherheitssysteme in Form technischer und stabiler geologischer Barrieren langfristig sicher sind und bei denen nach Verschluss nicht auf Überwachung, menschliche Eingriffe oder behördliche Kontrolle vertraut werden muss. Die meisten Staaten verfügen – abgesehen von Vorkehrungen für eine sichere längerfristige Zwischenlagerung (bis zu 100 Jahre) – über keinerlei Strategie für die endgültige Entsorgung abgebrannter Brennstoffe (siehe Sechster Lagebericht über die Entsorgung radioaktiver Abfälle und abgebrannter Brennstoffe in der Europäischen Union, SEK(2008) 2416).

    2.7   93 % der Unionsbürger sind der Ansicht, dass dringend eine Lösung für die Behandlung radioaktiver Abfälle gefunden werden muss und diese nicht künftigen Generationen überlassen werden darf. Die Mehrheit der Unionsbürger in allen Mitgliedstaaten stimmt zu, dass die EU die Normen harmonisieren und das Recht haben sollte, nationale Verfahren zu überwachen (siehe „Einstellung zu radioaktiven Abfällen“, Eurobarometer-Umfrage, Juni 2008).

    2.8   Die geltenden EU-Rechtvorschriften wurden als unangemessen erachtet. Mit Richtlinie 2009/71/Euratom wurde ein von allen 27 EU-Mitgliedstaaten unterstützter Gemeinschaftsrahmen für die nukleare Sicherheit kerntechnischer Anlagen geschaffen; dieser Vorschlag für eine Richtlinie über die Entsorgung radioaktiver Abfälle (KOM(2010) 618 endg.) ist der logische nächste Schritt.

    2.9   Der Energiemix und die Entscheidung für oder gegen Kernenergie fallen in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten und sind daher nicht Gegenstand dieser Richtlinie. Allerdings geht die Nutzung von Kernenergie auch unweigerlich mit dem Entstehen radioaktiver Abfälle in großer Menge einher, die eine potenziell erhebliche, langfristige und grenzübergreifende Gefahr darstellen. Selbst wenn sämtliche Kernkraftwerke zum gegenwärtigen Zeitpunkt stillgelegt würden, müssten immer noch die bereits angefallenen Abfälle bewirtschaftet werden. Es ist im Interesse aller Unionsbürger, dass radioaktive Abfälle so sicher wie möglich gelagert werden. Vor diesem Hintergrund hat die Europäische Kommission nun diese Richtlinie zur Schaffung eines Rahmens für eine verantwortungsvolle Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle vorgelegt.

    2.10   Der Ausschuss hat sich zuletzt 2003 mit dieser Thematik beschäftigt (1) und die Dringlichkeit von Maßnahmen angesichts der Erweiterung und die Bedeutung des Verursacherprinzips hervorgehoben. Der Richtlinienvorschlag, der Gegenstand dieser Stellungnahme war, wurde nicht angenommen, da die Mitgliedstaaten einige Aspekte als zu stark regulierend erachteten und mehr Bedenkzeit forderten.

    3.   Zusammenfassung der vorgeschlagenen Richtlinie

    3.1   Die Mitgliedstaaten müssen innerhalb von vier Jahren nach Annahme der Richtlinie nationale Programme erstellen und notifizieren, in denen der aktuelle Standort der radioaktiven Abfälle und die Pläne für ihre Bewirtschaftung und Entsorgung enthalten sind.

    3.2   Mit einem rechtsverbindlichen und durchsetzbaren Rahmen wird sichergestellt, dass alle Mitgliedstaaten die von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) entwickelten gemeinsamen Sicherheitsstandards für alle Stufen der Bewirtschaftung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle bis zur Entsorgung einhalten.

    3.3   Die nationalen Programme umfassen eine Bestandsaufnahme der radioaktiven Abfälle, Bewirtschaftungspläne von der Entstehung bis zur Endlagerung, Pläne für den Zeitraum nach dem Verschluss eines Endlagers, Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten, Zeitpläne und größere Zwischenetappen für die Umsetzung, eine Beschreibung der Tätigkeiten, die erforderlich sind, um Lösungen für die Entsorgung umzusetzen, eine Abschätzung der Programmkosten und eine Beschreibung der geltenden Finanzregelungen. In der Richtlinie wird keiner bestimmten Art der Entsorgung Vorrang eingeräumt.

    3.4   Der Richtlinienvorschlag enthält einen Artikel zur Transparenz, um die Verfügbarkeit von Informationen für die Öffentlichkeit und ihre effektive Beteiligung an der Entscheidungsfindung im Zusammenhang mit bestimmten Aspekten der Entsorgung radioaktiver Abfälle sicherzustellen.

    3.5   Die Mitgliedstaaten legen der Europäischen Kommission einen Bericht über die Durchführung der Richtlinienbestimmungen vor; in der Folge unterbreitet die Europäische Kommission dem Rat und dem Europäischen Parlament einen Bericht über die Fortschritte. Die Mitgliedstaaten laden außerdem zu einer Prüfung ihres nationalen Programms durch internationale Experten ein, über deren Ergebnisse der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten berichtet wird.

    4.   Allgemeine Bemerkungen

    4.1   In dieser Stellungnahme greift der Ausschuss in erster Linie das praktische und dringende Problem der bereits angefallenen und weiter anfallenden radioaktiven Abfälle auf. Diese Abfälle entstehen größtenteils (über 90 %) bei Tätigkeiten in Verbindung mit der Erzeugung von Kernenergie. Die Entscheidung, die Kernkraft in den Energiemix aufzunehmen oder ihren Anteil daran auszuweiten, obliegt zwar den Mitgliedstaaten, doch kann sich die daran gekoppelte Abfallbewirtschaftung langfristig grenz- und generationsübergreifend auswirken.

    4.2   Die öffentliche Meinung über Kernenergie in Ländern, in denen Kernkraftwerke betrieben werden, würde sich erheblich verändern (und zwar zugunsten der Erzeugung von Kernenergie), wenn die Bürger die Gewissheit hätten, dass es eine sichere und dauerhafte Lösung für die Bewirtschaftung von radioaktiven Abfällen gibt (siehe „Einstellung zu radioaktiven Abfällen“, Eurobarometer-Umfrage, Juni 2008). Eine derartige Gewissheit kann es jedoch in erster Linie aufgrund der langfristigen Gefahr, die von hoch radioaktiven Abfällen ausgeht, der Zweifel an der Sicherheit der Endlagerung in tiefen geologischen Formationen, der Frage, ob das mit derartigen Lagerstätten verbundene Gefahrenpotenzial im öffentlichen Bewusstsein künftiger Generationen verankert bleiben wird, und der Unsicherheit in Bezug auf die Machbarkeit anderer Endlagerungsoptionen nicht geben.

    4.3   Angesichts des langsamen Fortschritts einiger Mitgliedstaaten bei der Vorlage von langfristigen Bewirtschaftungsplänen für radioaktive Abfälle sollte diese Richtlinie, für deren Ausarbeitung selbst mehrere Jahre erforderlich waren, dazu beitragen, die umfassende Erstellung nationaler Bewirtschaftungsprogramme voranzubringen. Es gibt mittlerweile sehr wohl Beispiele für sinnvolle Methoden, die als Referenz herangezogen werden können. Mit dem Richtlinienvorschlag sollen grundlegende Elemente der unter der Schirmherrschaft der IAEO vereinbarten Sicherheitsstandards mittels EU-Vorschrift rechtsverbindlich und durchsetzbar gemacht werden. Der Ausschuss begrüßt diesen Ansatz.

    4.4   Die EU verfügt bereits über einen umfangreichen Bestand an Rechtsvorschriften zur Abfallbewirtschaftung einschl. gefährlicher Abfälle (2). Auch wenn in der Richtlinie ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass sie nicht auf diesen bestehenden Rechtsvorschriften, sondern auf einer anderen Rechtsgrundlage beruht, namentlich Kapitel 3 des Euratom-Vertrags, sollte die Gelegenheit genutzt werden, in den Erwägungsgründen dieser Richtlinie die Grundsätze zu bekräftigen, die im bestehenden Rechtskorpus für gefährliche Abfälle verankert sind.

    4.5   Das Verursacherprinzip wurde durch die Anforderung einer angemessenen und gesicherten Finanzierung der Vorschläge zur Abfallbewirtschaftung eingeschränkt, indem „die Verantwortung der Erzeuger radioaktiver Abfälle angemessen zu berücksichtigen ist“. Daraus könnten sich Fragen in Bezug auf Quersubventionierungen und damit den Wettbewerb im Energiemarkt ergeben. Der Ausschuss empfiehlt daher, in der Richtlinie eindeutig zu betonen, dass die Finanzierung der Abfallbewirtschaftung gemäß dem Verursacherprinzip (in diesem Falle das Unternehmen, das durch den Betrieb von Kernreaktoren radioaktive Abfälle erzeugt) erfolgen muss, ausgenommen in Fällen höherer Gewalt, bei denen ein Eingreifen seitens des Staates erforderlich sein könnte.

    4.6   Der Ausschuss hält fest, dass nur radioaktive Abfälle aus dem Betrieb ziviler Kernreaktoren unter die Bestimmungen dieser Richtlinie fallen. In einigen Ländern wurden erhebliche Ressourcen für die Bewirtschaftung radioaktiver Abfälle aus dem militärischen Bereich bereitgestellt. Gemeinsame Programme für radioaktive Abfälle aus ziviler und militärischer Produktion erfordern weitergehende Sicherheitsüberlegungen. Da jedoch für die Bewirtschaftung radioaktiver Abfälle aus nichtziviler Produktion erhebliche technologische und finanzielle Ressourcen sowie eine Endlagerungskapazität in einigen Mitgliedstaaten erforderlich sind, sollten eventuell doch gezielt Verbindungen zu dieser Richtlinie hergestellt werden.

    5.   Besondere Bemerkungen

    5.1   Radioaktive Abfälle wurden ausdrücklich aus den EU-Abfallrichtlinien (3) ausgenommen; diese enthalten jedoch viele wichtige Grundsätze, die berücksichtigt werden sollten. Der Ausschuss schlägt daher vor, dass in den Erwägungsgründen dieser Richtlinie ein besonderer Verweis auf die Richtlinie 91/689/EWG über gefährliche Abfälle aufgenommen und darauf hingewiesen wird, dass diese neue Richtlinie eine Ergänzung zu der bestehenden Richtlinie ist.

    5.2   Der Ausschuss schlägt außerdem vor, dass die Bestimmung in Artikel 2, dass „diese Richtlinie […] nicht für genehmigte Freisetzungen [gilt]“, geändert wird, um sehr wohl auf diese Anwendung zu finden. Derartige Freisetzungen sind EU-weit nicht einheitlich geregelt, und infolge unterschiedlicher Auslegungen sind sie ein umstrittenes Thema zwischen Mitgliedstaaten (siehe den Rechtsstreit zwischen dem Vereinigten Königreich und Irland in Bezug auf die Einleitung radioaktiver Abwässer in die Irische See).

    5.3   Der Ausschuss hat sich stets für Abfallvermeidung eingesetzt, wie sie von der EU unterstützt und in ihrer Richtlinie 2006/12/EG über Abfälle zur Priorität erhoben wurde. Wie in zahlreichen Industriesektoren entstehen auch bei der Erzeugung von Kernenergie erhebliche Mengen an gefährlichen Abfällen. Die Mitgliedstaaten sind derzeit geteilter Meinung in der Frage, ob es aus wirtschaftlichem, sozialem und ökologischem Blickwinkel nachhaltige Alternativen zur Kernenergie gibt und ob die Erzeugung von radioaktiven Abfällen in Zukunft vermeidbar ist oder nicht. Zur Lösung dieser Frage und in Anbetracht der Tatsache, dass die Mehrheit der Ausschussmitglieder der Meinung sind, dass die Kernenergie für den Übergang der EU zu einer CO2-armen Wirtschaft erforderlich sein wird, schlägt der Ausschuss vor, in der Richtlinie zu empfehlen, dass der Großteil der radioaktiven Abfälle nach Möglichkeit und in dem Maße, wie bessere und nachhaltige Alternativen entwickelt werden, an der Quelle beseitigt werden sollte.

    5.4   In Artikel 3 Absatz 3 wird „Endlagerung“ als die Einlagerung abgebrannter Brennelemente oder radioaktiver Abfälle in einer zugelassenen Anlage definiert, wobei eine Rückholung nicht beabsichtigt ist. Der Ausschuss betont, dass es unterschiedliche Meinungen in Bezug auf die Reversibilität der Entsorgungsentscheidung und die Rückholbarkeit der Abfälle gibt. Seiner Ansicht nach sollten diese beiden Aspekte bei der Entwicklung von Entsorgungskonzepten nicht ausgeklammert werden, wobei die einschlägige Sicherheitsanalyse zu berücksichtigen ist.

    5.5   Gemäß Artikel 4 Absatz 3 sind radioaktive Abfälle in dem Mitgliedstaat endzulagern, in dem sie entstanden sind, es sei denn, Mitgliedstaaten treffen untereinander Vereinbarungen, Endlager in einem der Mitgliedstaaten gemeinsam zu nutzen. Der Ausschuss empfiehlt, von dieser Option intensiv Gebrauch zu machen, um die besonders geeigneten Lagerstätten bestmöglich zu nutzen. Er begrüßt die klare Ansage, dass die in den Mitgliedstaaten entstandenen radioaktiven Abfälle ausschließlich in der EU bewirtschaftet werden sollen, und die Möglichkeit zur Errichtung gemeinsamer Endlager. Dies soll jedoch nicht die Rückführung von radioaktiven Abfällen aus der Wiederaufarbeitung von Brennelementen in Herkunftsländer außerhalb der EU ausschließen. Um alle Zweifel auszuschalten, sollte dieser Punkt jedoch ausdrücklich in die Begründung oder die Erwägungsgründe aufgenommen werden.

    5.6   Der Ausschuss wirft die Frage auf, ob eine alle zehn Jahre durchgeführte Selbstbewertung des nationalen Rahmens seitens der Mitgliedstaaten gekoppelt an eine Prüfung durch internationale Experten (siehe Artikel 16) wirklich Gelegenheit bietet, Know-how und bewährte Verfahren umfassend zu konsolidieren. Außerdem stellt sich die Frage, ob auch durchweg ein ausreichendes Maß an Objektivität, Strenge und unabhängiger Analyse angewendet wird. Die Mitgliedstaaten werden erhebliche Kosten für die Berichterstattung und damit verbundene Tätigkeiten zu tragen haben. Der Ausschuss ist der Meinung, dass zu gegebener Zeit ein mit der Aufsicht über die Bewirtschaftung radioaktiver Abfälle in der EU betrautes Kontrollgremium eingerichtet werden sollte. Dadurch würden nicht nur die Berichterstattungsstandards und die Verbreitung bewährter Verfahren verbessert, sondern auch ein effizienter Kostenaufteilungsmechanismus geschaffen und die Durchsetzung der Richtlinie über nukleare Sicherheit (4) gestärkt werden.

    5.7   Der Ausschuss befürwortet ausdrücklich die Absicht der Europäischen Kommission, die Unterstützung für die Forschung zur Endlagerung von radioaktiven Abfällen in geologischen Formationen und zur Koordinierung der Forschungsanstrengungen in der EU fortzuführen. Er betont, dass diese Programme angemessen gefördert und breit angelegt werden sollten, und fordert die Mitgliedstaaten auf, diesen Punkt in ihren nationalen Forschungsprogrammen und in gemeinsamen Forschungsvorhaben unter den FuE-Rahmenprogrammen der EU aufzugreifen.

    Brüssel, den 4. Mai 2011

    Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Staffan NILSSON


    (1)  Siehe ABl. C 133 vom 6. Juni 2003, S. 70.

    (2)  ABl. L 377 vom 31. Dezember 1991, S. 20.

    (3)  ABl. L 312 vom 22. November 2008, S. 3.

    (4)  ABl. L 172 vom 2. Juli 2009, S. 18.


    ANHANG

    zu der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Die folgende Textstelle der Stellungnahme der Fachgruppe wurde zugunsten eines im Plenum angenommenen Änderungsantrags geändert, erhielt jedoch mindestens ein Viertel der Stimmen:

    Ziffer 5.5

    Gemäß Artikel 4 Absatz 3 sind radioaktive Abfälle in dem Mitgliedstaat endzulagern, in dem sie entstanden sind, es sei denn, Mitgliedstaaten treffen untereinander Vereinbarungen, Endlager in einem der Mitgliedstaaten zu nutzen. Der Ausschuss begrüßt die klare Ansage, dass die in den Mitgliedstaaten entstandenen radioaktiven Abfälle ausschließlich in der EU bewirtschaftet werden sollen, und die Möglichkeit zur Errichtung gemeinsamer Endlager. Dies soll jedoch nicht die Rückführung von radioaktiven Abfällen aus der Wiederaufarbeitung von Brennelementen in Herkunftsländer außerhalb der EU ausschließen. Um alle Zweifel auszuschalten, sollte dieser Punkt jedoch ausdrücklich in die Begründung oder die Erwägungsgründe aufgenommen werden.

    Abstimmungsergebnis:

    Ja-Stimmen

    :

    67

    Nein-Stimmen

    :

    57

    Enthaltungen

    :

    26


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