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Document 62007TJ0234

Leitsätze des Urteils

Schlüsselwörter
Leitsätze

Schlüsselwörter

1. Nichtigkeitsklage – Zulässigkeit – Natürliche oder juristische Personen – Verpflichtung eines Unternehmens, das Adressat einer Mitteilung der Beschwerdepunkte ist, die darin angeführten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte im Verwaltungsverfahren anzugreifen – Einschränkung des Rechts, Klage zu erheben – Verstoß gegen die tragenden Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Wahrung der Verteidigungsrechte

(Art. 81 EG, 82 EG und 230 Abs. 4 EG)

2. Wettbewerb – Kartelle – Beweis – Einziger und fortgesetzter Verstoß, der sich aus einem komplexen System einer Abstimmung ergibt

(Art. 81 Abs. 1 EG)

3. Handlungen der Organe – Begründung – Pflicht – Umfang – Entscheidung über die Anwendung der Wettbewerbsregeln – An mehrere Adressaten gerichtete Entscheidung

(Art. 81 EG und 253 EG)

4. Wettbewerb – Unionsvorschriften – Zuwiderhandlungen – Zurechnung – Muttergesellschaft und Tochtergesellschaften – Wirtschaftliche Einheit – Beurteilungskriterien – Widerlegliche Vermutung, dass eine Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf Tochtergesellschaften ausübt, deren Kapital sie zu 100 % hält

(Art. 81 EG und 82 EG; Verordnung Nr. 1/2003 des Rates, Art. 23 Abs. 2)

Leitsätze

1. Im Bereich der Wettbewerbsregeln gibt es keine unionsrechtliche Vorschrift, die den Adressaten einer Mitteilung der Beschwerdepunkte zwingt, die verschiedenen darin angeführten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte im Verwaltungsverfahren anzugreifen, um das Recht, dies später im Stadium des Gerichtsverfahrens zu tun, nicht zu verwirken. Das ausdrückliche oder stillschweigende Eingeständnis tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte durch ein Unternehmen während des Verwaltungsverfahrens vor der Kommission kann zwar ein ergänzendes Beweismittel bei der Beurteilung der Begründetheit einer Klage darstellen, kann aber nicht die Ausübung des Rechts natürlicher und juristischer Personen aus dem Vertrag, beim Gericht Klage zu erheben, an sich einschränken.

Mangels einer entsprechenden ausdrücklichen Rechtsgrundlage verstieße eine solche Einschränkung gegen die tragenden Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Wahrung der Verteidigungsrechte. Zudem wird das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiert.

(vgl. Randnrn. 37-38, 40)

2. Im Bereich der Wettbewerbsregeln genügt hinsichtlich einer einzigen, fortgesetzten Zuwiderhandlung, die in der Abstimmung von Preisen und Preiserhöhungen für ein bestimmtes Erzeugnis in einem Mitgliedstaat besteht und auf einem komplexen System einer Abstimmung, das die betroffenen Unternehmen umgesetzt haben, beruht, ein isolierter Hinweis auf die Beteiligung eines Unternehmens an dieser Abstimmung nicht, um die Beteiligung dieses Unternehmens an einer derartigen Zuwiderhandlung nachzuweisen. Die Teilnahme des Verwaltungsratsvorsitzenden des beschuldigten Unternehmens an einem Treffen, bei dem es um ein einziges Segment des fraglichen Markts ging, stellt einen solchen isolierten Hinweis dar.

(vgl. Randnrn. 63, 65-67, 71)

3. Betrifft eine Entscheidung zur Anwendung von Art. 81 EG eine Mehrzahl von Adressaten und stellt sich die Frage, wem die festgestellte Zuwiderhandlung zuzurechnen ist, muss sie im Hinblick auf jeden der Adressaten hinreichend begründet sein, insbesondere aber im Hinblick auf diejenigen, denen die Zuwiderhandlung in der Entscheidung zur Last gelegt wird.

Daher muss eine solche Entscheidung hinsichtlich einer Muttergesellschaft, die für das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft zur Verantwortung gezogen wird, eine eingehende Darstellung der Gründe enthalten, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, die Zuwiderhandlung dieser Gesellschaft zuzurechnen.

Wenn insoweit in einer Entscheidung der Kommission, mit der ein Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln festgestellt wird, die wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen zwischen dem betreffenden Unternehmen und seiner Tochtergesellschaft mit Stillschweigen übergangen werden und der Name der Tochtergesellschaft nirgendwo in der Begründung genannt wird, legt die Kommission nicht die Gründe dar, aus denen dem fraglichen Unternehmen das Verhalten seiner Tochtergesellschaft zuzurechnen sein soll. Die Kommission nimmt dem Unternehmen daher die Möglichkeit, die Richtigkeit dieser Zurechnung gegebenenfalls vor dem Gericht anzufechten und die Vermutung der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses durch die Muttergesellschaft auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft zu widerlegen, und versetzt das Gericht nicht in die Lage, seine Kontrollaufgabe in dieser Hinsicht wahrzunehmen.

(vgl. Randnrn. 77-78, 88-91)

4. Einer Muttergesellschaft kann das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft insbesondere dann zugerechnet werden, wenn die Tochtergesellschaft trotz eigener Rechtspersönlichkeit ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt, und zwar vor allem wegen der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen, die die beiden Rechtssubjekte verbinden. In einem solchen Fall sind nämlich die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft Teil ein und derselben wirtschaftlichen Einheit und bilden damit ein Unternehmen. Weil eine Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft ein Unternehmen im Sinne von Art. 81 EG bilden, kann die Kommission demnach eine Entscheidung, mit der Geldbußen verhängt werden, an die Muttergesellschaft richten, ohne dass deren persönliche Beteiligung an der Zuwiderhandlung nachzuweisen wäre.

In dem besonderen Fall, dass eine Muttergesellschaft 100 % des Kapitals ihrer Tochtergesellschaft hält, die gegen die Wettbewerbsregeln verstoßen hat, kann zum einen diese Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten dieser Tochtergesellschaft ausüben und besteht zum anderen eine widerlegliche Vermutung, dass diese Muttergesellschaft tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft ausübt. Unter diesen Umständen genügt es, dass die Kommission nachweist, dass die Muttergesellschaft das gesamte Kapital der Tochtergesellschaft hält, um anzunehmen, dass die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftspolitik dieses Tochterunternehmens ausübt. Die Kommission kann in der Folge dem Mutterunternehmen als Gesamtschuldner die Haftung für die Zahlung der gegen dessen Tochterunternehmen verhängten Geldbuße zuweisen, sofern die vom Mutterunternehmen, dem es obliegt, diese Vermutung zu widerlegen, vorgelegten Beweise nicht für den Nachweis ausreichen, dass sein Tochterunternehmen auf dem Markt eigenständig auftritt.

(vgl. Randnrn. 80-83)

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