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Document 62014CJ0376

    C

    Rechtssache C‑376/14 PPU

    C

    gegen

    M

    (Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court [Irland])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung — Eilvorabentscheidungsverfahren — Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen — Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung — Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 — Widerrechtliches Zurückhalten — Gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes“

    Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 9. Oktober 2014

    1. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003 – Antrag auf Rückgabe eines Kindes – Verbringung des Kindes im Einklang mit einer vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidung, die später durch eine Entscheidung aufgehoben wurde, mit der der Aufenthalt des Kindes im Ursprungsmitgliedstaat bestimmt wurde – Pflicht des mit einem Antrag auf Rückgabe des Kindes befassten Gerichts, zu prüfen, wo das Kind unmittelbar vor dem behaupteten widerrechtlichen Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte

      (Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 2 Nr. 11 und Art. 11)

    2. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003 – Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes – Beurteilungskriterien – Verbringung des Kindes im Einklang mit einer vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidung, die später durch eine Entscheidung aufgehoben wurde, mit der der Aufenthalt des Kindes im Ursprungsmitgliedstaat bestimmt wurde – Beurteilung aller besonderen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls durch das mit einem Rückgabeantrag befasste Gericht des Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht wurde

      (Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 2 Nr. 11 und Art. 8, 10 und 11)

    3. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003 – Verbringung eines Kindes im Einklang mit einer vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidung, die später durch eine Entscheidung aufgehoben wurde, mit der der Aufenthalt des Kindes im Ursprungsmitgliedstaat bestimmt wurde – Kind, das unmittelbar vor dem Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch in diesem Mitgliedstaat hatte – Widerrechtliches Zurückhalten – Kind, das unmittelbar vor dem Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht mehr im Ursprungsmitgliedstaat hatte – Entscheidung über den Rückgabeantrag unbeschadet der Anwendung der Vorschriften über die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen

      (Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 11)

    1.  Art. 2 Nr. 11 und Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung sind dahin auszulegen, dass in dem Fall, dass die Verbringung des Kindes im Einklang mit einer vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidung erfolgt ist, die später durch eine gerichtliche Entscheidung aufgehoben wurde, mit der der Aufenthalt des Kindes bei dem im Ursprungsmitgliedstaat wohnenden Elternteil bestimmt wurde, das mit einem Antrag auf Rückgabe des Kindes befasste Gericht des Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht wurde, im Zuge einer Beurteilung aller besonderen Umstände des Einzelfalls zu prüfen hat, ob das Kind unmittelbar vor dem behaupteten widerrechtlichen Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch im Ursprungsmitgliedstaat hatte. Im Rahmen dieser Beurteilung ist zu berücksichtigen, dass die die Verbringung gestattende Gerichtsentscheidung vorläufig vollstreckbar und mit einem Rechtsmittel angefochten war.

      Nach der Definition des widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens in Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003, die ganz ähnlich formuliert ist wie die in Art. 3 des Haager Übereinkommens von 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, kann das Verbringen oder Zurückhalten nämlich nur dann als widerrechtlich im Sinne der Verordnung angesehen werden, wenn dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Aus dieser Definition ergibt sich, dass ein Verbringen oder Zurückhalten dann widerrechtlich im Sinne von Art. 2 Nr. 11 der Verordnung ist, wenn das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ursprungsmitgliedstaat hatte und es unter Verletzung des nach dem Recht dieses Mitgliedstaats übertragenen Sorgerechts erfolgt.

      Nach Art. 11 Abs. 1 der Verordnung gelten die Abs. 2 bis 8 dieses Artikels, wenn der Sorgeberechtigte bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 beantragt, um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich „in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte“. Folglich gelten sie nicht, wenn das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Ursprungsmitgliedstaat hatte. Es ergibt sich demnach sowohl aus Art. 2 Nr. 11 als auch aus Art. 11 Abs. 1 der Verordnung, dass Art. 11 nur angewandt werden kann, um dem Rückgabeantrag stattzugeben, wenn das Kind unmittelbar vor dem behaupteten widerrechtlichen Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ursprungsmitgliedstaat hatte.

      (vgl. Rn. 46-49, 57, Tenor 1)

    2.  Sinn und Bedeutung des Begriffs „gewöhnlicher Aufenthalt“ in den Art. 8 und 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung ist anhand des Ziels zu ermitteln, das namentlich aus dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung hervorgeht, wonach die in ihr festgelegten Zuständigkeitsvorschriften dem Wohl des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet wurden.

      Der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes ist vom nationalen Gericht unter Berücksichtigung aller besonderen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls festzustellen. Dabei sind neben der körperlichen Anwesenheit des Kindes in einem Mitgliedstaat andere Faktoren heranzuziehen, die belegen können, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende oder gelegentliche Anwesenheit handelt und dass der Aufenthalt des Kindes Ausdruck einer gewissen Integration in ein soziales und familiäres Umfeld ist.

      Hierfür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Die Absicht der Eltern oder eines Elternteils, sich mit dem Kind dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, die sich in bestimmten äußeren Umständen, wie in dem Erwerb oder der Anmietung einer Wohnung in diesem Mitgliedstaat, manifestiert, kann ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes sein.

      Die Dauer des Aufenthalts kann im Rahmen der Beurteilung aller besonderen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls nur als Indiz dienen.

      Der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ des Kindes in Art. 2 Nr. 11 und Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 kann keinen anderen Inhalt haben als der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ in den Art. 8 und 10 der Verordnung. Daher hat das mit einem Rückgabeantrag nach dem Haager Übereinkommen von 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung und Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 befasste Gericht des Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht worden ist, unter Berücksichtigung aller besonderen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls und Heranziehung der genannten Beurteilungskriterien zu prüfen, ob das Kind unmittelbar vor dem behaupteten widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ursprungsmitgliedstaat hatte.

      Bei der Prüfung namentlich der Gründe für den Aufenthalt des Kindes im Mitgliedstaat, in das es verbracht wurde, und der Absicht des Elternteils, der es dorthin mitgenommen hat, ist zu berücksichtigen, dass die gerichtliche Entscheidung, die die Verbringung gestattet hat, vorläufig vollstreckbar und mit einem Rechtsmittel angefochten war. Diese Gesichtspunkte lassen nämlich nicht auf eine Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes schließen.

      In Anbetracht der Notwendigkeit, das Wohl des Kindes zu schützen, sind diese Gesichtspunkte bei der Beurteilung aller besonderen Umstände gegen andere Gesichtspunkte abzuwägen, die eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld seit seiner Verbringung belegen können, namentlich die Zeit, die zwischen der Verbringung und der gerichtlichen Entscheidung vergangen ist, mit der die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und der Aufenthalt des Kindes beim im Ursprungsmitgliedstaat wohnenden Elternteil bestimmt wurde. Dagegen darf die Zeit, die seit dieser Entscheidung vergangen ist, keinesfalls berücksichtigt werden.

      (vgl. Rn. 50-56)

    3.  Die Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung ist dahin auszulegen, dass in dem Fall, dass die Verbringung des Kindes im Einklang mit einer vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidung erfolgt ist, die später durch eine gerichtliche Entscheidung aufgehoben wurde, mit der der Aufenthalt des Kindes bei dem im Ursprungsmitgliedstaat wohnenden Elternteil bestimmt wurde, die unterlassene Rückführung des Kindes in diesen Mitgliedstaat im Anschluss an diese zweite Entscheidung widerrechtlich ist und Art. 11 der Verordnung Anwendung findet, wenn angenommen wird, dass das Kind unmittelbar vor diesem Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch im Ursprungsmitgliedstaat hatte.

      Wird dagegen angenommen, dass das Kind zu diesem Zeitpunkt seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht mehr im Ursprungsmitgliedstaat hatte, ergeht die Entscheidung über die Zurückweisung des auf diese Bestimmung gestützten Rückgabeantrags unbeschadet der Anwendung der Vorschriften über die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen in Kapitel III der Verordnung.

      Insoweit kann der Umstand, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes im Anschluss an ein erstinstanzliches Urteil möglicherweise während des Rechtsmittelverfahrens geändert hat und dass das mit einem Rückgabeantrag nach dem Haager Übereinkommen von 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung und Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 befasste Gericht diese Änderung gegebenenfalls feststellt, kein Gesichtspunkt sein, auf den sich der Elternteil, der ein Kind unter Verletzung des Sorgerechts zurückhält, berufen kann, um die durch sein rechtswidriges Handeln geschaffene Sachlage aufrechtzuerhalten und sich der Vollstreckung der im Ursprungsmitgliedstaat ergangenen Entscheidung über die elterliche Verantwortung zu widersetzen, die dort vollstreckbar ist und zugestellt worden ist.

      Der in Abschnitt 2 des Kapitels III dieser Verordnung vorgesehene Mechanismus würde nämlich umgangen und ausgehöhlt, wenn die von einem mit einem solchen Antrag befassten Gericht getroffene Feststellung, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes geändert hat, es ermöglichen würde, diese Sachlage aufrechtzuerhalten und die Vollstreckung einer solchen Entscheidung zu verhindern.

      Ebenso wenig kann sich die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine solche Entscheidung des Ursprungsmitgliedstaats über die Ausübung der elterlichen Verantwortung auf die Vollstreckung dieser Entscheidung auswirken.

      (vgl. Rn. 67-69, Tenor 2)

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    Rechtssache C‑376/14 PPU

    C

    gegen

    M

    (Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court [Irland])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung — Eilvorabentscheidungsverfahren — Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen — Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung — Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 — Widerrechtliches Zurückhalten — Gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes“

    Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 9. Oktober 2014

    1. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen — Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung — Verordnung Nr. 2201/2003 — Antrag auf Rückgabe eines Kindes — Verbringung des Kindes im Einklang mit einer vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidung, die später durch eine Entscheidung aufgehoben wurde, mit der der Aufenthalt des Kindes im Ursprungsmitgliedstaat bestimmt wurde — Pflicht des mit einem Antrag auf Rückgabe des Kindes befassten Gerichts, zu prüfen, wo das Kind unmittelbar vor dem behaupteten widerrechtlichen Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte

      (Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 2 Nr. 11 und Art. 11)

    2. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen — Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung — Verordnung Nr. 2201/2003 — Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes — Beurteilungskriterien — Verbringung des Kindes im Einklang mit einer vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidung, die später durch eine Entscheidung aufgehoben wurde, mit der der Aufenthalt des Kindes im Ursprungsmitgliedstaat bestimmt wurde — Beurteilung aller besonderen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls durch das mit einem Rückgabeantrag befasste Gericht des Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht wurde

      (Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 2 Nr. 11 und Art. 8, 10 und 11)

    3. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen — Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung — Verordnung Nr. 2201/2003 — Verbringung eines Kindes im Einklang mit einer vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidung, die später durch eine Entscheidung aufgehoben wurde, mit der der Aufenthalt des Kindes im Ursprungsmitgliedstaat bestimmt wurde — Kind, das unmittelbar vor dem Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch in diesem Mitgliedstaat hatte — Widerrechtliches Zurückhalten — Kind, das unmittelbar vor dem Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht mehr im Ursprungsmitgliedstaat hatte — Entscheidung über den Rückgabeantrag unbeschadet der Anwendung der Vorschriften über die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen

      (Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 11)

    1.  Art. 2 Nr. 11 und Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung sind dahin auszulegen, dass in dem Fall, dass die Verbringung des Kindes im Einklang mit einer vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidung erfolgt ist, die später durch eine gerichtliche Entscheidung aufgehoben wurde, mit der der Aufenthalt des Kindes bei dem im Ursprungsmitgliedstaat wohnenden Elternteil bestimmt wurde, das mit einem Antrag auf Rückgabe des Kindes befasste Gericht des Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht wurde, im Zuge einer Beurteilung aller besonderen Umstände des Einzelfalls zu prüfen hat, ob das Kind unmittelbar vor dem behaupteten widerrechtlichen Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch im Ursprungsmitgliedstaat hatte. Im Rahmen dieser Beurteilung ist zu berücksichtigen, dass die die Verbringung gestattende Gerichtsentscheidung vorläufig vollstreckbar und mit einem Rechtsmittel angefochten war.

      Nach der Definition des widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens in Art. 2 Nr. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003, die ganz ähnlich formuliert ist wie die in Art. 3 des Haager Übereinkommens von 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, kann das Verbringen oder Zurückhalten nämlich nur dann als widerrechtlich im Sinne der Verordnung angesehen werden, wenn dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Aus dieser Definition ergibt sich, dass ein Verbringen oder Zurückhalten dann widerrechtlich im Sinne von Art. 2 Nr. 11 der Verordnung ist, wenn das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ursprungsmitgliedstaat hatte und es unter Verletzung des nach dem Recht dieses Mitgliedstaats übertragenen Sorgerechts erfolgt.

      Nach Art. 11 Abs. 1 der Verordnung gelten die Abs. 2 bis 8 dieses Artikels, wenn der Sorgeberechtigte bei den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats eine Entscheidung auf der Grundlage des Haager Übereinkommens von 1980 beantragt, um die Rückgabe eines Kindes zu erwirken, das widerrechtlich „in einen anderen als den Mitgliedstaat verbracht wurde oder dort zurückgehalten wird, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte“. Folglich gelten sie nicht, wenn das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Ursprungsmitgliedstaat hatte. Es ergibt sich demnach sowohl aus Art. 2 Nr. 11 als auch aus Art. 11 Abs. 1 der Verordnung, dass Art. 11 nur angewandt werden kann, um dem Rückgabeantrag stattzugeben, wenn das Kind unmittelbar vor dem behaupteten widerrechtlichen Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ursprungsmitgliedstaat hatte.

      (vgl. Rn. 46-49, 57, Tenor 1)

    2.  Sinn und Bedeutung des Begriffs „gewöhnlicher Aufenthalt“ in den Art. 8 und 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung ist anhand des Ziels zu ermitteln, das namentlich aus dem zwölften Erwägungsgrund der Verordnung hervorgeht, wonach die in ihr festgelegten Zuständigkeitsvorschriften dem Wohl des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet wurden.

      Der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes ist vom nationalen Gericht unter Berücksichtigung aller besonderen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls festzustellen. Dabei sind neben der körperlichen Anwesenheit des Kindes in einem Mitgliedstaat andere Faktoren heranzuziehen, die belegen können, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende oder gelegentliche Anwesenheit handelt und dass der Aufenthalt des Kindes Ausdruck einer gewissen Integration in ein soziales und familiäres Umfeld ist.

      Hierfür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Die Absicht der Eltern oder eines Elternteils, sich mit dem Kind dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, die sich in bestimmten äußeren Umständen, wie in dem Erwerb oder der Anmietung einer Wohnung in diesem Mitgliedstaat, manifestiert, kann ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes sein.

      Die Dauer des Aufenthalts kann im Rahmen der Beurteilung aller besonderen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls nur als Indiz dienen.

      Der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ des Kindes in Art. 2 Nr. 11 und Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 kann keinen anderen Inhalt haben als der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ in den Art. 8 und 10 der Verordnung. Daher hat das mit einem Rückgabeantrag nach dem Haager Übereinkommen von 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung und Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 befasste Gericht des Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht worden ist, unter Berücksichtigung aller besonderen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls und Heranziehung der genannten Beurteilungskriterien zu prüfen, ob das Kind unmittelbar vor dem behaupteten widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ursprungsmitgliedstaat hatte.

      Bei der Prüfung namentlich der Gründe für den Aufenthalt des Kindes im Mitgliedstaat, in das es verbracht wurde, und der Absicht des Elternteils, der es dorthin mitgenommen hat, ist zu berücksichtigen, dass die gerichtliche Entscheidung, die die Verbringung gestattet hat, vorläufig vollstreckbar und mit einem Rechtsmittel angefochten war. Diese Gesichtspunkte lassen nämlich nicht auf eine Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes schließen.

      In Anbetracht der Notwendigkeit, das Wohl des Kindes zu schützen, sind diese Gesichtspunkte bei der Beurteilung aller besonderen Umstände gegen andere Gesichtspunkte abzuwägen, die eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld seit seiner Verbringung belegen können, namentlich die Zeit, die zwischen der Verbringung und der gerichtlichen Entscheidung vergangen ist, mit der die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und der Aufenthalt des Kindes beim im Ursprungsmitgliedstaat wohnenden Elternteil bestimmt wurde. Dagegen darf die Zeit, die seit dieser Entscheidung vergangen ist, keinesfalls berücksichtigt werden.

      (vgl. Rn. 50-56)

    3.  Die Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung ist dahin auszulegen, dass in dem Fall, dass die Verbringung des Kindes im Einklang mit einer vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidung erfolgt ist, die später durch eine gerichtliche Entscheidung aufgehoben wurde, mit der der Aufenthalt des Kindes bei dem im Ursprungsmitgliedstaat wohnenden Elternteil bestimmt wurde, die unterlassene Rückführung des Kindes in diesen Mitgliedstaat im Anschluss an diese zweite Entscheidung widerrechtlich ist und Art. 11 der Verordnung Anwendung findet, wenn angenommen wird, dass das Kind unmittelbar vor diesem Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch im Ursprungsmitgliedstaat hatte.

      Wird dagegen angenommen, dass das Kind zu diesem Zeitpunkt seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht mehr im Ursprungsmitgliedstaat hatte, ergeht die Entscheidung über die Zurückweisung des auf diese Bestimmung gestützten Rückgabeantrags unbeschadet der Anwendung der Vorschriften über die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen in Kapitel III der Verordnung.

      Insoweit kann der Umstand, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes im Anschluss an ein erstinstanzliches Urteil möglicherweise während des Rechtsmittelverfahrens geändert hat und dass das mit einem Rückgabeantrag nach dem Haager Übereinkommen von 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung und Art. 11 der Verordnung Nr. 2201/2003 befasste Gericht diese Änderung gegebenenfalls feststellt, kein Gesichtspunkt sein, auf den sich der Elternteil, der ein Kind unter Verletzung des Sorgerechts zurückhält, berufen kann, um die durch sein rechtswidriges Handeln geschaffene Sachlage aufrechtzuerhalten und sich der Vollstreckung der im Ursprungsmitgliedstaat ergangenen Entscheidung über die elterliche Verantwortung zu widersetzen, die dort vollstreckbar ist und zugestellt worden ist.

      Der in Abschnitt 2 des Kapitels III dieser Verordnung vorgesehene Mechanismus würde nämlich umgangen und ausgehöhlt, wenn die von einem mit einem solchen Antrag befassten Gericht getroffene Feststellung, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes geändert hat, es ermöglichen würde, diese Sachlage aufrechtzuerhalten und die Vollstreckung einer solchen Entscheidung zu verhindern.

      Ebenso wenig kann sich die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine solche Entscheidung des Ursprungsmitgliedstaats über die Ausübung der elterlichen Verantwortung auf die Vollstreckung dieser Entscheidung auswirken.

      (vgl. Rn. 67-69, Tenor 2)

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